Undercover
Es war ein sonniger Tag in Philadelphia.
Laute Schlürfgeräusche durchdrangen die morgendliche Stille in dem kleinen Café an der Ecke von Market Street und John F. Kennedy Boulevard.
„... Clint.”
Das Geräusch endete abrupt.
„Mmh?“, machte Clint und sah von seiner Eisschokolade auf, den Strohhalm zwischen den Lippen.
„Der Plan war eigentlich, nicht auffällig zu sein“, entgegnete Natasha mit hochgezogener Augenbraue. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit lächerlich großen, runden Gläsern, die ihr nicht hätte stehen dürfen, aber es trotzdem tat, weil die Welt ganz klar ungerecht war.
Clint stützte das Kinn in die Hand und erwiderte unbeeindruckt ihren Blick.
„Der Plan war auch, nicht undercover zu gehen, und trotzdem sind wir hier“, meinte er leicht säuerlich.
„Stell dich nicht so an“, sagte Natasha und riss ein Zuckerpäckchen auf, um den Inhalt in ihren tiefschwarzen Kaffee zu schütten, bevor sie ihn mit ihrem Teelöffel umrührte.
Clint verdrehte die Augen. „Im Ernst, Nat, sehe ich vielleicht so aus, als würde ich noch als Student durchgehen?“
Er machte eine Geste, die sein Outfit einschloss, das aus einer kurzen Trainingshose, einem T-Shirt mit dem Logo der örtlichen Footballmannschaft und einer Sporttasche bestand, in der er seinen Bogen verstaut hatte. Vielleicht hätte er vor fünfzehn Jahren noch jemanden damit überzeugt, aber mittlerweile...?
Ein amüsierter Ausdruck legte sich auf Natashas Gesicht.
„Als Langzeitstudent vielleicht“, erwiderte sie.
„Oh, haha“, sagte Clint trocken. „Du mich auch.“
„Falls es dich beruhigt: ich habe gehört, Männer mit ersten Falten sollen auf viele Frauen attraktiver wirken, als Männer ohne welche.“
„Ich... bin mir gerade nicht sicher, ob das ein Kompliment sein soll oder nicht.“
„Oh, du kennst mich“, entgegnete Natasha nur, als wäre das Antwort genug.
Clint seufzte innerlich auf. Nur weil sie vor einigen Monaten damit angefangen hatten, zwischen den Missionen – und manchmal auch mittendrin – miteinander zu schlafen, bedeutete das nicht, dass er ihre Gedanken lesen konnte.
Er musste jedoch zugeben, dass er oft ahnte, was sie bewegte. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie während ihrer stets stressigen und riskanten Einsätze ununterbrochen zusammenhockten und dabei sowohl die besten, als auch die schlechtesten Seiten des jeweils anderen erlebt hatten, die sie zu so einer vertrauten Seele für ihn gemacht hatte.
„Heißt das, du findest mich attraktiv?“, fragte er unschuldig.
Natasha schloss ihre Hände um ihre Kaffeetasse und war für einen Moment sehr still.
„Ist das nicht offensichtlich?“, erwiderte sie dann und hob die Tasse an ihre Lippen, um einen Schluck daraus zu trinken.
Ihre Locken verbargen dabei den Großteil ihres Gesichts vor seinem Blick, doch Clint meinte sehen zu können, wie sich ihre Wangen röteten, und ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.
Er wusste, dass es ihn eines Tages kompromittieren würde, mit der Frau, für die er Gefühle hatte, lebensgefährliche Mission zu erledigen, doch er hoffte, dass dieser Tag noch weit entfernt war.
Noch waren sie jung – oder in Clints Fall: relativ jung, danke der Nachfrage – und verliebt und verdammt, er wollte diese eine gute Sache in seinem Leben genießen, solange er sie noch hatte.
Das Leben hatte ihn schließlich früh genug gelehrt, dass Glück nie von Dauer war.
Die nächsten Minuten verstrichen in entspanntem Schweigen, in dem sie sich in Ruhe ihren Getränken widmeten, bis auf einmal die Tür aufging und ein ganzer Pulk von Studenten in den Raum strömte. Offenbar war die erste Vorlesung des Tages vorüber.
Binnen weniger Augenblicke war das Café von lauten Unterhaltungen und Gelächter erfüllt, und jeder einzelne Tisch war besetzt.
Den beiden Agenten in der Ecke des Raumes schenkte dabei niemand weiter Beachtung.
Natashas Haltung veränderte sich minimal, als sich erneut die Tür öffnete.
„Zielperson auf neun Uhr“, sagte sie leise und trank von ihrem Kaffee.
Clint sah unauffällig zur Seite.
Coulson hatte sie auf einen Dozenten der University of Pennsylvania aufmerksam gemacht, der unter der Hand Forschungsgeheimnisse an ausländische Regierungen verkaufte. Dabei sollte er seine Kontaktpersonen häufig in diesem Café treffen, um seine Geschäfte abzuwickeln.
„Wer ist der Typ, mit dem er spricht? Erkennst du ihn?“, fragte Clint.
Natasha schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, als hätte er gerade einen besonders raffinierten Witz gemacht. Clint wusste, dass sie es nur tat, um eine soziale Interaktion zu simulieren und ihre Deckung zu wahren, da ihre Zielperson gerade in ihre Richtung sah, aber er spürte trotzdem Schmetterlinge im Bauch.
„Nein“, erwiderte Natasha schließlich, als der Mann wieder den Blick abgewandt hatte. „Sieht aber europäisch aus.“
„Russisch?“, fragte Clint.
Natasha machte eine konzentrierte Miene, während sie für einen Moment lauschte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Schwer zu sagen. Es ist zu laut hier drin, um seinen Akzent auszumachen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihn weiter zu beschatten, sobald er das Café verlässt.“
„Dann sollte ich wohl schneller trinken“, sagte Clint und schloss die Lippen um seinen Strohhalm. Erneut erfüllten laute Schlürfgeräusche den Raum.
Natasha konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen, doch das Lächeln, das sie ihm schenkte, war echt.
„Ich schwöre, bei der nächsten Mission nehme ich mir einen anderen Partner“, sagte sie. „Vielleicht Sitwell. Er kam mir immer recht professionell vor.“
„Ich bin professionell“, entgegnete Clint beleidigt. „Und außerdem ist Sitwell ein langweiliger Sesselpupser.“
Nachdem Natasha aufgehört hatte zu lachen und sich die Tränen aus dem Augenwinkel gewischt hatte, meinte sie: „Es sind so Dinge wie der letzte Teil deiner Aussage, die mich den ersten Teil deiner Aussage stark bezweifeln lassen.“
„Komm schon“, sagte Clint, „sei ehrlich. Ich weiß doch, dass du niemand anderen außer mir willst.“
„Du hast eindeutig eine viel zu hohe Meinung von dir“, erwiderte Natasha amüsiert.
„Vielleicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich bringe dich auch zum Lachen.“
Ein sanfter Ausdruck trat auf Natashas Gesicht.
„Ja“, sagte sie leise. „Ja, das tust du.“
Dieses Mal war Clint derjenige, der vor Verlegenheit nicht wusste, was er sagen sollte, und so senkte er nur den Blick und trank den Rest seiner Eisschokolade.
Als sich der Geschäftspartner ihrer Zielperson wenige Minuten später erhob, um das Café zu verlassen, folgten ihm die beiden Agenten in unauffälligem Abstand.
Und falls sich ihre Hände dabei wie zufällig fanden und sich ihre Finger verschränkten, nun... Clint war sicher der letzte, der sich darüber beschwere würde.