Zum Inhalt der Seite

Demonheart

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Aufgesang: 1-3

1-3: YURI
 

Die Erde begann zu beben.

Zuerst war es nur eine schwache Vibration, die Yuri und seine Gefährten, verwundet und völlig erschöpft von der soeben gefochtenen Schlacht, unter den Sohlen spürten, dann begann die Steinplattform unter ihnen zu zerspringen. Risse durchzogen den Fels wie feine Äste, wurden jäh krachend zu klaffenden Spalten, aus denen Hitze und Staub heraufwirbelten. Spitze steinerne Gebilde stießen durch die Bruchstellen empor wie Speere. Der Lärm wurde unerträglich, die Luft schien sich in Asche zu verwandeln und brannte ihnen in den Lungen.

Yuris Blick zuckte hektisch über die stolpernde kleine Gruppe seiner Freunde, während unter seinen Füßen dröhnend der Boden zerbarst. Sie mussten sich beeilen. Was hatte ihr besiegter Feind, der die Welt um ein Haar in Chaos und Verdammnis gestürzt hatte, mit seinem letzten Atem gesagt?

Von diesem Ort könnt ihr nicht in die Gegenwart zurückkehren …

Aber wohin dann? Wohin wollten sie zurückkehren?

Inmitten von flirrendem Nichts kauerte Yuri sich zu den anderen Sieben, deren konsternierte Gesichter genauso viel Kummer und Ratlosigkeit zeigten wie sein eigenes. Er sah in die Augen des weißen Wolfes Blanca, der vor Erschöpfung wie ein Blasebalg hechelte, bis er jäh ruckartig den Kopf hob und ein leises Winseln ausstieß.

Etwas geschah dort draußen. Die Winde, die um die Felsen pfiffen, sangen nun klarer. Yuri sah seine Gefährten plötzlich in ein helles, reines Licht gehüllt. Sie würden nicht hier sterben, keiner von ihnen, er wusste es. Ihre unfassbare Tat, ihr Opfer hatte ihnen eine Reise zurück in die Welt der Lebenden erkauft, die ihm nach all den Strapazen, den Kämpfen und der Trauer wie ein fernes Paradies erschien. Yuri wusste nicht, ob er zurückkehren konnte.

Schon begannen zwei seiner Mitstreiter sanft empor zu schweben, die zerbrechende Dimension wie einen Traum unter sich zurücklassend. Ihre Silhouetten verblassten vor ihm, als seien sie selbst der Traum gewesen, der nun im Geist des erwachten Träumers an Bedeutung verlor. Ihre Gesichter wurden friedlich. Sie durften ziehen.

Und Yuri wusste, dass er der Einzige von ihnen war, der nicht so aufwachen würde, wie er eingeschlafen war. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Nach wenigen Sekunden hatte er jeden seiner Freunde an das Nichts verloren. Nur Karin blieb mit ihm in der sterbenden Welt des falschen Gottes zurück. Karin, die grazile deutsche Fechterin, schaute ihn fest an, die Augen angefüllt mit Furcht und Fürsorge und all den anderen Gefühlen, die sie für ihn empfand und die er nicht erwidern konnte, weil sein Herz bereits gebrochen war.

Dann kehrte der bekannte Schmerz in seiner Brust zurück. Stechend, als würde der Misteldorn von neuem hineingestoßen, zwischen die Rippen ins weiche Fleisch. Das grelle Pulsieren über dem Herzen war so stark wie nie zuvor, und er presste hilflos die Hand darauf. Karin sah es. Der Fluch. Sie wussten es beide.

Yuri fasste sich mühsam. »Scheint, als wäre die Zeit um«, sagte er leise. Sein Hals war trocken, trotzdem klang seine Stimme fest und viel ruhiger, als sein Innerstes sich in diesem Moment anfühlte. »Es ist der Fluch der Mistel. Ich wusste, dass ich von geborgter Zeit lebe.« Und nun, nach all der Zeit, in der er gehofft hatte, dem grausamen Finale doch noch irgendwie entgehen zu können, war es soweit. Endlich … Endlich würde all das ein Ende haben. Wenn auch alles Bangen umsonst gewesen war, so war Yuri sein Dasein in dieser Einsamkeit doch so leid. Umgeben von Freunden, und doch so isoliert, der klaffenden Leere in seinem Inneren ausgeliefert.

Karins Augen glitzerten, als sie mit dünner Stimme fragte: »Hast du Angst?«

Yuri schüttelte den Kopf, obwohl alles in ihm angesichts dessen, was mit ihm geschehen würde, wie im Fieber bebte. »Nein.«

»Wirst du … deine Erinnerungen auch verlieren?«

Der Schmerz wurde noch größer. Nur noch Augenblicke trennten sie beide vom Ende dieses letzten gemeinsamen Moments. »Niemals.« Es klang überzeugt. Voller falscher Zuversicht verbarg dieses eine Wort eine schreckliche Lüge.

»Yuri …«

»Sieh mich nicht so an.« Noch immer sah er viel zu viel in ihren Augen. Er konnte ihr nichts davon zurückgeben. Jetzt schon gar nicht mehr. Sie würden einander niemals wiedersehen. »Wir sehen uns bald«, hörte er sich lügen. Sein Blick ging an ihrem von Kummer verzerrten Gesicht vorbei.

»Bitte … versprich es mir. Ich will dich nicht für immer verlieren.«

Er versprach es ihr.

Dann hob auch sie langsam vom Boden ab. Zusammen mit Steinen und Felsen, die unaufhörlich vorüberströmten, glitt sie lautlos auf einem unmerklichen Strom aus Licht aufwärts.

Aus einem Reflex heraus griff Yuri noch einmal nach ihrer Hand und bekam sie zu fassen. »Karin!«, rief er.

»Was?«

»Danke!« Es war das Einzige, das er ihr mit auf den Weg geben konnte.

Auf ihren bleichen Zügen breitete sich ein liebevolles, trauriges Lächeln aus. Noch immer fühlten ihre Finger sich warm und wirklich an. Yuri zwang sich, sie loszulassen. Es kostete ihn mehr Überwindung, als er für möglich gehalten hätte.

Als ihre Gestalt sich in weißem Schein auflöste, sagte er leise in die Stille: »Ich sehe euch alle eines Tages wieder.« Und dies war die letzte Lüge, die er laut aussprechen würde. Als könnte sie irgendetwas ändern.

Nun war er allein. Allein in einer Welt, die um ihn herum zerfiel. Eine sterbende Öde aus nacktem Fels und darüber ein fahler, farbloser Himmel. Sein Herz pochte schmerzhaft.

Das Abenteuer ist vorüber, dachte er wehmütig. Ich habe viel verloren. War es das am Ende wirklich wert? Wird die neue Zukunft in irgendeiner Weise besser sein? Sie hatten alles dafür gegeben, alles versucht. Meine Geschichte ist jetzt vorüber. Ich kann es fühlen … Er schluckte hart. Am Ende raubt die Mistel mir meine Seele. Selbst wenn ich zurückkomme, ich bin dann nicht mehr das, was ich war. Seine Hand lag noch immer auf seiner Brust, fühlte das heftige Flattern seines Herzens. … Aber wenn das bedeutet, dass ich den Rest meines Lebens in Frieden verbringen kann … Ich schätze, ich könnte mir kaum mehr erhoffen.

Mit einem letzten bebenden Atemzug schloss er die Augen. Auch seine Finger, die kalt und klamm geworden waren, entkrampften sich. Er fühlte, wie sein Körper von wärmendem Licht umhüllt wurde. Zusammen mit ihm würde seine Seele sich in nichts auflösen – und ohne sie würde er irgendwie, irgendwo weiter existieren …

Und dann war der alptraumhafte Ort endlich auf immer verschwunden.
 

Ein harter Schlag auf den Rücken riss Yuri aus einer Reise durch geräuschlose Schatten. Eben noch war er körperlos durch das Nichts geglitten, nun strömten Sinneswahrnehmungen auf ihn ein, Geräusche, Kälte, grelles Licht. Sein Körper fühlte sich so lebendig an, dass jede Muskelfaser unter Strom zu stehen schien.

Das war nicht … richtig.

Reglos blieb Yuri auf dem Rücken liegen, die Augen fest zusammengekniffen. Seine Gedanken kreisten wild. Er lebte – oder besser, er lebte, das war das Besondere daran, er befand sich hier, was bedeutete, dass seine Seele noch immer in seinem Körper war.

Aber wo waren sie hier, seine Seele und er?

Ein scharfes, zischendes Brummen jagte an ihm vorüber. Er zuckte zusammen und schlug die Augen auf, um sich aufspringend in Sicherheit zu bringen. Hart landete er nach diesem ungeschickten Manöver auf Händen und Knien. Er hatte auf Asphalt gelegen, kaltem, ungewöhnlich glattem Straßenteer, und was ihn fast gestreift hätte, war ein Automobil gewesen. Er sah den Lichtkegel des lärmenden Fahrzeugs in die Dämmerung tauchen und hob den Kopf, um direkt oberhalb in eine Straßenlaterne zu sehen. Ihr gelber Schein beleuchtete seine Gestalt und warf einen scharfen Schatten unter ihn. Er sah sein wirres Haar, den Saum seines im Hochschnellen halb umgeschlagenen Mantels.

Augenblick.

Was?

Der Mantel …

Yuri packte das Revers des abgetragenen Kleidungsstücks und zog es über dem verwaschenen roten Shirt zurück, das darunter zum Vorschein kam.

Moment, Sekunde. Diese Kleidung … Er hatte sie zuletzt getragen, als …

Nein, das war unmöglich.

Er zog den linken Handschuh aus und schob die Finger unter den Saum des Oberteils, presste sie auf seine nackte Brust.

Keine Narbe. Kein Schmerz. Keine Mistel hatte ihn verletzt und mit dem Fluch beladen, der seine Seele tilgte. Noch nicht …

In grenzenloser Verwirrung ließ Yuri sich auf sein Hinterteil fallen und sah einmal ganz um sich. Er befand sich auf einer schmutzigen, ziemlich einsamen Straße. In regelmäßigen Abständen reckten sich magere Alleebäume dem Himmel entgegen. Die Ebenmäßigkeit der Straße verblüffte Yuri in demselben Maße wie die friedlich dastehenden, absonderlichen Fahrzeuge. Es mussten Automobile sein, doch es waren mehr, als er je gesehen hatte, und sie sahen aus wie Raumschiffe. Zum ersten Mal hatte er Automobile in Paris sehen, wo sie die neusten Luxusgüter waren. Doch die klobigen vierrädrigen Ungetüme, die laut tuckerten und mächtige Wolken stinkenden schwarzen Rauchs ausstießen, waren nicht zu vergleichen mit dem, was ihn nur einen Moment zuvor fast überfahren hätte. Das, war er kannte, waren Kutschen ohne Pferde, mit Handkurbeln für die Richtungsvorgabe; ihre Türen gingen nach vorn auf, und Ersatzräder klebten außen am Blech. Diese Wagen hier sahen so vollkommen anders aus: runder, farbiger, glänzender …

Die Tore der Zeit, dachte er. Ich bin selber Schuld, dass sie so weit offen standen.

Er kam aus dem Jahr 1915, und er trug seine Kleidung aus 1913 – doch er war nicht in 1913. Niemals. Vielleicht war er nicht mal auf der Erde. Wenn er diese ihm unbekannte Welt betrachtete … war er vielleicht sogar …?

Nein, es hatte keinen Sinn, diese Gedanken und Fragen jetzt im Kopf hin und her zu wälzen. Er war auf der Erde, davon musste er ausgehen, in der Welt der Menschen, denn schließlich konnte er an diesem seltsamen Ort all die Errungenschaften der Zivilisation entdecken: Häuser, Straßen, Fahrzeuge. Wo genau er war und vor allem wann, das würde er jetzt herausfinden müssen.

Umständlich erhob Yuri sich auf die Füße – wobei er feststellte, dass er gesund und unverletzt war, denn nichts tat ihm weh – und rieb den Straßenstaub vom schwarzen Stoff seiner Hose. Wohin? Er lauschte und folgte dem leisen Brummen der Fahrzeuge in Richtung einer Kreuzung. Nein, die Automobile hier tuckerten nicht, sie liefen viel glatter und fuhren so schnell über die ferne Kreuzung hin und her, dass er ihnen kaum mit den Augen folgen konnte. Und so viele davon! Schnellen Schrittes hielt er auf die große Querstraße zu, auf der die Gefährte unterwegs waren, und als er in sie einbog, war er plötzlich mitten unter Menschen, die eilig an ihm vorübergingen, ihn nicht beachteten, ihn lediglich umrundeten wie ein unbewegliches Hindernis. Die meisten starrten geradeaus, hatten die Hände tief in den Taschen von Kleidungsstücken vergraben, die auf Yuri teils vertraut, teils fremd und fast außerirdisch wirkten, und mieden seinen Blick. Einen Moment lang stand Yuri einfach völlig still inmitten dieses Flusses aus Körpern und streckte schließlich langsam eine Hand aus, weil er einfach nicht glauben konnte, dass das hier wirklich passierte.

»He!«, blaffte die blonde Frau, die gegen seinen Arm gestoßen war. »Pass doch auf, du Idiot! Du bist nicht alleine auf der Welt!« Dann wandte sie sich schnaubend ab und stöckelte weiter.

Hab verstanden, dachte Yuri, seltsam erleichtert, und rückte näher an die Wand des Gebäudes zu seiner Rechten, damit die Leute an ihm vorübergehen konnten.

Also war all das hier real. Er war unter Menschen, die Englisch sprachen. Er würde mit ihnen reden können. Auch wenn ihre vorüberrauschenden Unterhaltungen in seinen Ohren anders klangen als jedes Englisch, das er je gehört hatte.

Yuri schaute über die Schulter, um nach jemandem Ausschau zu halten, der es nicht ganz so eilig hatte, ihn hinter sich zu lassen.

Ein bärtiger Mann mit einer grauen Mütze warf ihm einen abschätzigen Blick zu, als er vorüber ging, und Yuri nutzte diesen Moment, um ihn anzusprechen.

»Äh, ’tschuldigung … Wo bitte bin ich hier?« Hoffentlich verstand ihn der Typ.

»In der 274th Street«, kam die ebenso unspektakuläre wie nichtssagende Antwort.

»Ähm.« Yuri beeilte sich, etwas präziser zu werden, denn der Bärtige schien seinetwegen nicht anhalten zu wollen. »Ich meine die Stadt. Das Land … und das Jahr.«

Nun blieb der Mann doch stehen. Er starrte Yuri mit hochgezogenen Brauen an, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Was ist denn los mit dir, Junge? Hast du was an den Kopf gekriegt?« Er murmelte noch etwas Leiseres hinterher, das wie »Isses denn zu fassen« klang, und setzte dann schnell seinen Weg fort.

Yuri sah ihm verdrossen nach. Sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich gerade vom Himmel gefallen bin? Ihm war klar, dass derlei Fragen ihn nur wie einen Verrückten aussehen lassen würden, und so entschied er sich, erst einmal in den Menschenstrom einzutauchen und sich von ihm mittreiben zu lassen, bis ihm etwas Besseres einfiel.

Obwohl Yuri nicht gerade dafür bekannt war, dass ihm bessere Dinge einfielen.

Einen Fuß vor den anderen setzend grübelte er, während rechts und links die sonderbarsten Geschäfte und Wohnhäuser vorüber zogen. Und dann, als in der Mitte der geradezu abnorm riesigen, mehrspurigen und mit weißen Linien bemalten Straße ein kleines einsames Häuschen in sein Blickfeld geriet, kam ihm der großartige Gedanke: Das war ein Kiosk! Ganz sicher! Und ein Kiosk hatte Zeitungen! In einer Zeitung stand immer alles drin. Datum und Ort wurden in großen Lettern auf die erste Seite gedruckt, zumindest in seiner Zeit. Zielstrebig schob Yuri sich aus dem Pulk heraus und steuerte das Verkaufshäuschen an, wo in einer Metallhalterung gleich mehrere Stapel der grauen Papierbündel auslagen. Es waren überraschend viele verschiedene, auch Zeitungen in anderen Sprachen waren darunter, französische, deutsche und sogar chinesische. Yuri konnte also immer noch nicht sagen, wo er sich befand, doch das Datum sprang ihm von sämtlichen Titelseiten schwarz auf Weiß entgegen:

Wednesday, February 5, 2008.

Yuri stand wie erstarrt.

Zwei.Tausend.Acht!

Er war von der Asuka-Steinplattform aus fast hundert Jahre in die Zukunft gereist?! Fassungslos starrte er auf sie erste Seite der New York Times, die seine Finger krampfartig umklammert hielten. Was sollte er jetzt machen? Wie kam er hier wieder weg? Er gehörte hier nicht hin!

Neben ihm räusperte sich jemand. Sein Blick zuckte hoch.

»Ähem, junger Mann. Wenn Sie die Zeitung ganz lesen wollen, müssen Sie sie schon kaufen«, erinnerte ihn eine dicke Frau, die sich aus dem Fenster des Häuschens beugte und beim Reden auf einem Kaugummi kaute.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis diese Information Yuris völlig leerstehendes Hirn durchquert hatte. »Oh … Äh … Nein. Danke.« Wie ein Schlafwandler legte er die Zeitung zurück und blieb ratlos an Ort und Stelle stehen.

Die Frau betrachtete ihn argwöhnisch. »Geht’s Ihnen gut, Mister? Sie sind blass wie’n Ziegenkäse.«

Yuri schluckte. »Geht schon.« Nein, eigentlich ging überhaupt nichts. Er war hier verloren. Er kam nicht weiter. Warum hatte er hier landen müssen? Was sollte das? »Hören Sie«, seufzte er schließlich, »ich glaube, ich brauche Hilfe. Ich … gehöre nicht hierher.« Nun hatte er es ausgesprochen.

Der Blick der Dicken hatte sich indes nicht verändert. »Wie, nicht hierher?«, hakte sie nach und musterte ihn prüfend.

»Na, ich …« Da kam Yuri eine Idee. Er befand sich fast hundert Jahre in der Zukunft! Natürlich! Zeitreisen waren hier keine realitätsfernen Träumereien mehr wie in seiner eigenen Welt. Ganz sicher nicht! Vorsichtige Erleichterung stieg in ihm auf. Die technischen Möglichkeiten dieser Zeit vermochte er sich nicht einmal auszumalen. Tapfer fragte er: »Sagen Sie, gibt’s hier so was wie … eine Institution für … Zeitreisen?«

Die Frau starrte ihn an. Sie hörte sogar auf, ihr Kaugummi mit den Kiefern zu malträtieren. »Klar«, sagte sie dann, in einem etwas veränderten Ton. »Einen Moment. Ich ruf da für Sie an, okay?«

Nun endgültig von Erleichterung durchflutet ließ Yuri den angehaltenen Atem ausströmen. »Oh, gut. Sehr gut. Äh, vielen Dank.«

Die Dicke lächelte breit und griff nach ihrem Telefonhörer. Zumindest glaubte Yuri, dass es einer war, denn er hing an einem Kabel. Telefone gab es also noch. Die Frau wandte sich hinter dem Verkaufstresen von ihm ab, sodass er nicht genau verstehen konnte, was sie sagte. Ihre Worte drangen nur noch gedämpft an seine Ohren: »… ist ein junger Mann, der … verirrt … braucht dringend … Zeitreise. … Ja. … glaube nicht, dass er US-Bürger ist … Sie können … eher weiterhelfen als ich. … Ja? Oh, gut … fühle mich auch nicht unbedingt … ja … meine ich. Sehr schön … bis gleich …« Schon nach kaum einer Minute beugte die Frau sich wieder zu ihm über die Theke. »Alles klar, Mister. Die sind in fünf Minuten da und nehmen Sie mit.«

Gott sei Dank, dachte Yuri, ehrlich dankbar. Endlich jemand, der sich seines Problems annehmen würde. »Ah, prima. Hätte nicht gedacht, dass das heu– … äh, dass das so leicht ist.«

Er fragte sich, was diese Leute unternehmen würden. Ihn zurück ins Jahr 1915 schicken? Vielleicht konnte er die Anderen doch wiedersehen. Vielleicht war gar nicht alles verloren. Vielleicht hatte der Fluch seine Wirkung gar nicht entfaltet! Vielleicht …

… vielleicht sollte er lieber nach 1913 zurückkehren. Dorthin, wo es eine Möglichkeit gab, Alice zu retten. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Sollte er diese Möglichkeit bekommen, würde er alles versuchen … Er würde –

»Na sehen Sie mal!« Die feiste Frau zeigte auf die Straße, die ihnen gegenüber lag und auf dem gerade neben einigen anderen auch ein zweifarbiges Fahrzeug in Schwarz und Weiß herangefahren kam. »Diese netten Herren kümmern sich gleich persönlich um Sie.«

Yuri beobachtete das Auto, wie es aus dem Verkehr ausscherte und auf ihn und den Kiosk zuhielt. Er konnte die Buchstaben auf der Seite lesen – POLICE –, ein vertrautes und Sicherheit erweckendes Wort. Darauf hätte er eigentlich auch selber kommen können, sich an die Polizei zu wenden. Die waren schließlich für ihre Bürger da. Sicherlich würden sie dafür sorgen, dass er so schnell wie möglich wieder nach Hause kam.

Als das Auto fast direkt vor Yuri hielt, stieg auf der Fahrerseite ein kräftiger Mann mit buschigem Oberlippenbart aus und lächelte ihn breit an. Er trug keine Uniform. »Guten Abend! Sind Sie der junge Mann mit dem Zeitreiseproblem?«

»Jap. Sorry, dass ich so spät noch Probleme mache.« Vertrauensvoll ging Yuri auf den gemütlich aussehenden Polizisten zu.

Dieser legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer der hinteren Türen. Wie viele Türen diese neuen Autos hatten! »Na, dann kommen Sie mal mit. Ich bin Anthony Green vom Hallow Hills Police Department.« Er klappte seine Brieftausche auf und zeigte Yuri eine silbern blinkende Marke mit einem Wappenvogel darauf. Ah, deshalb also keine Uniform. »Das Zeitreisebüro ist gleich nebenan. Im Handumdrehen haben wir Sie wieder in Ihrer eigenen Zeit.«

»Großartig. Ich bin froh, ehrlich.« Yuri nahm auf dem Rücksitz Platz und begegnete kurz dem Blick des Beifahrers, der ein wenig beunruhigt aussah und kein Wort des Grußes verlor.

Das Auto sah innen aus wie ein Unterseeboot. Sauberer Stoff, bewegliche Gläser an den Fenstern, weiche Formen, keine Ecken oder Kanten – und vorn, im Cockpit, lauter Hebel, Köpfe, Anzeigen … Yuri fühlte sich mit einem Mal so unwohl, dass er sich unwillkürlich in den Sitz duckte.

Green setzte sich hinter das Lenkrad, fuhr aber nicht los, sondern betrachtete Yuri durch eine Art kleinen Spiegel, der vorne mittig befestigt war. »Schnallen Sie sich bitte an.«

»Äh – was?« Yuri war verwirrt.

Green lachte. »In ihrer Zeit gibt’s keine Sicherheitsgurte, hmm?«

»Äh … Nö.«

»Schon klar. Stecken Sie das silbrige Ende in das schwarze eckige Plastikteil, bis es einrastet.«

Voller Erstaunen tat Yuri wie geheißen. Als er an dem Gurt ruckte, bewegte sich dieser kein Stück. »Wow, das verhindert also, dass man vorn rüber fliegt? Ziemlich cool!«

Der Beifahrer hüstelte nervös. Green lachte nur und startete den Motor, der ganz und gar nicht tuckerte, sondern schnurrte wie ein kleiner Brummkreisel.
 

Während der Fahrt konnte Yuri sich nicht bremsen, Anthony Green mit Fragen zu überschütten. Eigentlich hatte er sich diskret zurückhalten wollen, doch nun war sein Wissensdurst größer denn je, und er hörte sich selbst so viel plappern wie ewig nicht mehr. Er wollte alles wissen. Und Green erzählte. Ja, natürlich könne man ins Weltall fliegen und mit Außerirdischen sprechen. Klar, Zeitreisen wären gerade ganz groß in Mode, er selbst sei schon bei den alten Römern gewesen. Yuri lauschte fasziniert, hatte sogar ein paar Mal das Gefühl, das Gehörte sei allzu fantastisch, um wahr zu sein.

Hoffentlich werde ich nicht gerade komplett verarscht, flackerte kurz ein beunruhigender Gedanke in ihm auf, doch Hoffnung und Vertrauen machten diesen Zweifel sofort wieder zunichte. Bald würde er zu Hause sein, daran klammerte sich sein Verstand,

»Kann ich auch den Ort aussuchen, an dem ich landen will?«, fragte Yuri, als Green ihn gerade aus dem Wagen steigen ließ. »Denn wenn man das irgendwie einstellen kann …«

»Keine Sorge, das geht alles«, beruhigte ihn der Polizist und wies ihn mit einer Geste an, ihm und seinem Kollegen vom schwach beleuchteten Parkplatz ins Innere des Police Departments zu folgen.

Innen wie auch außen bestaunte Yuri das moderne Gebäude voller Neugier und wachsendem Wohlbehagen. Ein bisschen schade war es schon, dass er nicht länger bleiben und diese Zeit erkunden konnte. Aber wenn er dafür zurück zu Alice gelangen konnte, dann gab es nichts, das ihn hier hielt. Er musste gehen. So schnell wie möglich.

Sie betraten einen ganz winzigen, innen metallisch glänzenden Raum, der sich irgendwie mit ihnen aufwärts zu bewegen schien, und als die Türen wie von Zauberhand wieder aufglitten, waren sie auf einem anderen Flur. Wow, ein geschlossener Aufzug in einem so hohen Haus? Den niemand betätigen musste? Es wurde immer krasser.

Green schob Yuri einen kalt aussehenden Raum, in dem sich nichts befand außer einem Tisch mit je einem Stuhl auf jeder Seite. Ein einziges Fenster war in die Wand gegenüber eingelassen, es war klein und weit oben und zeigte kaum den schwarzen Himmel. Bläuliches Licht beschien das spärliche Inventar des Zimmers und den blanken Fußboden. Instinktiv blieb Yuri stehen. Wenn er bisher solche abweisend wirkenden Räume betreten hatte, war nie etwas Gutes in ihnen geschehen …

Wieder schob Green ihn vorwärts, diesmal nachdrücklicher; er legte seine großen Hände auf Yuris Schultern und drückte ihn auf einen der Stühle, dann trat er vor ihn, lächelte ihn an und nickte seinem stillen Kollegen zu, dessen Schritte sich Yuri von hinten näherten. Starke Hände packten seine Handgelenke zu beiden Seiten der Rückenlehne und zogen sie nach hinten, und ehe Yuri reagieren konnte, spürte er eiskaltes Metall und ein in der Stille nachhallendes Klicken.

Hektisch bewegte er die Arme. Nichts da – er war gefesselt. Mit Handschellen! Was zur Hölle?

»Hey!«, fuhr er auf. »Was soll denn das jetzt bitte?«

Langsam ging Green um den Tisch herum und setzte sich ihm gegenüber. Sein Lächeln war verschwunden; stattdessen war sein Gesicht nun völlig abgeklärt und kühl. »So«, sagte er mit tonloser Stimme. »Nun unterhalten wir uns noch mal genauer über Ihre Lage, was meinen Sie?«

Yuris Mund war plötzlich ganz trocken. Er war verarscht worden. Und zwar ziemlich gründlich. In seinem Kopf flossen Wut über die grobe Behandlung und Angst zusammen und bildeten dort einen brodelnden Sud. Er presste die Lippen aufeinander. Was für einen Sinn hatte es jetzt noch, etwas zu sagen?

»Wissen Sie, den geistig verwirrten, amnesischen, aber sonst völlig gesunden Mittelschichtler kaufe ich Ihnen nicht ab«, fuhr Green in sachlichem, aber unverhohlen drohenden Ton fort. »Halten Sie mich nicht für einen Idioten, mein Freund. Für wen arbeiten Sie?«

Wieder starrte Yuri ihn nur finster an.

Green verlor keine Zeit. »Also schön. Wir wissen längst, dass die SWR einen Spitzel ins Riverside Park einschleusen will, wo Tochowjiew untergebracht ist, also können Sie sich alle Dummheiten sparen. Ich will Details.«

Yuri dachte nur: Wer? Was? Sein Blick musste aussehen wie der eines besonders dummen Hundes.

Green furchte die Stirn, dann wandte er sich an seinen wie unbeteiligt dabeistehenden Kollegen. »Smith, schicken Sie nach Lockwood. Er soll maßnehmen für das Thiopenthal. Ich hab keinen Bock auf das hier.«

Yuri hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete, doch es klang alles andere als vertrauenerweckend.

Er saß mächtig in der Scheiße.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Man, that escalated quickly. Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück