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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
... Uuuund es geht weiter! Komplett anzeigen

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Ouvertüre: 2-2

2-2: DANTE
 

Seitdem der reiche Japaner, oder was auch immer er sein wollte, von seinem Büro verschwunden war, hatte Dante sich nicht gerührt. Er stand noch immer an genau derselben Stelle vor seiner nun geschlossenen Tür mit ihren filigranen Verzierungen und starrte auf die getönte Glaseinfassung.

Eigentlich hatte er über Trish und die überfällige Suche nach ihr grübeln wollen, doch nun kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem komischen Vogel zurück, der ausgesehen hatte wie die finstere Verzerrung einer japanischen Comicfigur und der so überhaupt nicht auf Dantes Einschüchterungstaktik angesprungen war.

Der hielt sich allen Ernstes für einen Dämon? Wie kam man auf so was?

Nicht, dass es nicht möglich gewesen wäre. Die Welt war voll von Dämonen, die in menschlicher Gestalt herumliefen und ihr Unheil auf subtilere Weise verübten als das niedere Gesocks, mit dem er fast täglich zu tun hatte. Aber Dante kannte sich mit Teufeln aus. Er glaubte, sie mittlerweile in jeder Form und Gestalt erkennen zu können. Und: Sein Sensor schlug auch dann an, wenn ein besonders hoch entwickelter Dämon die Kontrolle über einen menschlichen Körper ausübte. Bei dem reichen Japaner war das nicht der Fall gewesen. Der war völlig er selbst. Verhärmt und einsam hatte er ausgesehen, Düsternis ausstrahlend wie andere Männer seines Status den Duft ihres Aftershaves. Aber er hatte als normaler Mensch mit ihm gesprochen. Kein verräterisches Flackern in den Augen, kein unterschwelliges Grollen in der Stimmlage, das normale Menschen nicht hören konnten, kein auffälliges Zucken der Muskeln, wenn der Dämon den ihm fremden Leib nur unbeholfen kontrollierte. Sondern einfach nur ein Mensch. Ein reicher, trauriger und vielleicht geistesgestörter Mensch.

Hätte ihn zu den Cops oder zu einem Arzt schicken können, dachte Dante. Aber im Moment hatte er weder Zeit noch Muße für Mitleid und Hilfsbereitschaft. Manchmal mussten die Leute einfach mal selber zurechtkommen. Ich bin doch kein Seelsorger für jedes arme Schwein, das an meiner Tür vorbeikommt.

Im Übrigen konnte Dante reiche Leute nicht ausstehen. Die meisten dieser Schurken beuteten Schwächere bis auf das letzte Hemd aus und saßen sich auf deren harter Arbeit die Ärsche platt. Die Welt war ungerecht, vor allem in Sachen Geld. Ihm war bewusst, dass er selbst kein Sinnbild der Tugendhaftigkeit war. Doch Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren Tugenden, an denen er festhielt. Er hielt nichts von Lügen, Betrügen und dem Ausnutzen von Schwäche; er fand, dass richtige Männer das nicht nötig haben sollten. Leider wurden richtige Männer immer seltener. Genauso wie richtige Frauen. Schade eigentlich.

Auf seinem Weg in die Küche machte er einen großen Schritt über ein Billard-Queue, das im Weg lag. Er dachte gar nicht daran, es aufzuheben. In dem Moment, als er den Teekessel in die Spüle gestellt und das Wasser aufgedreht hatte, klingelte sein Telefon – ein antikes Telefon aus den Zwanzigern mit einem Messinggehäuse, einer gläsernen Wählscheibe und schrillem, dennoch melodischem Klingeln, das er dreimal ignorierte, bevor er abnahm.

Nach dem dritten Klingeln verstummte das Gerät.

Auch das noch.

Das bedeutete, es waren die Cops.

Missmutig drehte Dante den Wasserhahn zu, ließ den Kessel stehen und ging wieder ins Büro, wo er den Hörer nahm und auf der schnurrenden Wählscheibe 911 wählte. Als der Anruf durchgestellt wurde und am anderen Ende jemand abnahm, sagte er so freundlich wie möglich: »Hey. Du hast angerufen.«

»Na Gott sei Dank, du bist zu Hause«, murrte es am anderen Ende. »Los, warm anziehen. Wir brauchen dich in Hallow Hills.«

»Es ist immer Hallow Hills, oder?« Dämonen schienen den düsteren Vorort zu lieben. »Wie auch immer, du weißt, dass ich mich ohne offiziellen Auftrag vom Police Department gar nicht erst über meine Türschwelle bewege.«

»Und DU weißt, dass du kein E-Mail-Konto hast«, schnarrte es. »Herrgott, du hast nicht mal ein Faxgerät!« Chief Fordham klang genauso vergnügt wie jeden Mittwochabend, seit er sein Amt angetreten hatte. »Meine Ansage muss dir jetzt offiziell genug sein. Paulus-Kirche. Mach schnell.«

Dante zwang sich, seine Verdrossenheit im Zaum zu halten, und knirschte: »Bin auf dem Weg«, ehe er den Hörer zurück auf die Gabel schnippte und seinem Schreibtisch einen Tritt gab, der die massive Eiche nicht beeindruckte.

Er musste zugeben, dass er mit dem Chief auch nicht tauschen wollte. Das Konzept, dass in jedem Kaff ein Typ an die Spitze der Macht gewählt wurde und dann als Sheriff jegliche Polizeigewalt innehatte – völlig egal, ob er dazu ausgebildet war oder nicht – hatte ihn schon immer mehr verwundert als fasziniert; aber in einem Police Department sollte es keine Wahlen geben, sondern Ernennungen. Klar standen die geltenden Gesetze in Büchern, aber Beachtung fand meistens sowieso nur das eine, das jeden Bürger ermutigte, eine Waffe zu führen, damit er sein Hab und Gut selbst beschützen konnte.

Jedenfalls musste die Entwicklung eines heldenhaften Plans wieder verschoben werden. Dante würde diese Sache mit Trishs Verschwinden nicht den Cops anvertrauen, auch wenn es fähige Leute unter ihnen gab. Es war … zu persönlich.

Dennoch musste er jetzt erst einmal für die Polizei irgendwas umbringen.

Ergeben packte Dante den Kragen seines roten Mantels, der mit seinen Metallbeschlägen, seiner Lederhaut und der Fütterung gute zwanzig Pfund wog, und warf ihn um die Schultern, ehe er zur rechten Wand trat und Rebellion von der Halterung nahm. Wäre der reiche Japaner weiter hereingekommen, hätte er das Schwert sehen können und wäre vielleicht von alleine verduftet. Die mehr als armlange Klinge mit dem breiten, wie eine Teufelsfratze aussehenden Griff jagte Fremden oft noch mehr Angst ein als die Trophäen, die an der hinteren Wand und auch neben der Tür aufgehängt waren: Köpfe erlegter Monster mit im Tode verzerrten Grimassen und entblößten Fangzähnen. Es gab wenig, das dekorativer war.

In den beiden Holstern, die an seinem breiten Gürtel aufgezogen waren, versenkte Dante Ebony und Ivory, seine handgefertigten Pistolen, die ihn auf jeden Einsatz begleiteten. Dann marschierte er zur Tür und dachte einen kurzen Moment darüber nach, sie einzutreten. Doch was sollte das, wenn sowieso niemand zusah und Trish nicht genervt die Augen verdrehte? Also öffnete und schloss er die Pforten zu seinem Reich wie ein normaler Mensch und trat hinaus in die Dunkelheit.
 

Dantes Wohnort – das einzige auf Landkarten verzeichnete Kuriositätenkabinett der Welt – war eine mittelgroße Stadt an der oberen Ostküste. Sie hatte Anbindung ans Schnellzugnetz, wenn auch keinen an den Luftverkehr; ein eigener Flughafen war lange geplant gewesen, jedoch schlussendlich nie gebaut worden (schließlich hatte man mit Eastport City ein Hinterland-Drehkreuz ganz in der Nähe). Die Stadt lag zum großen Teil in einen flachen Talkessel, aus dem sie, vor allem im östlichen Teil, bereits herauszukriechen begann wie ein schäumender Sud; allein in den letzten zwanzig Jahren hatte massiver Zuzug sie dramatisch wachsen lassen. Quer durch das Tal floss der River Tyke, ein eher schmaler und träger Strom, dessen einzige Qualität darin bestand, im Sommer malerisch auszusehen. Wegen seines schwachen Gefälles lieferte er den Mühlen nur wenig Energie und führte auch nicht besonders viel Fisch; ein durchweg gewöhnlicher Fluss, den immerhin die kleinen Segelboote und schwimmenden Lokale im Zentrum optisch aufwerteten. Die Stadt zählte etwa achtzigtausend Einwohner, vielleicht hunderttausend mit den wenigen Vororten. Anstelle eines Flughafens gab es ein zumindest eigenes Wissenschaftszentrum sowie eine international renommierte Universität, und als sich rasch entwickelnder Forschungsstandort wurde der Ort vornehmlich bei jungen Akademikern zunehmend beliebter. Die Außenbezirke, vor allem Spatts, Hob’s Town und natürlich Hallow Hills, waren recht beschaulich mit ihrer vorherrschend gotischen und viktorianischen Architektur, doch im Inneren der Stadt pulsierte das moderne Leben, und Wolkenkratzer durchzackten die Skyline, die vom Rand des Tals aus bei Sonnenschein an die schillernden Facetten eines Kristallclusters erinnerte.

Kurz gefasst war die Stadt einerseits klein genug, um unauffällig und uninteressant zu wirken und nicht als erster Anlaufpunkt für Suchende in Frage zu kommen, dabei aber gleichzeitig auch groß genug, um darin in der Anonymität unterzutauchen und nicht so schnell bekannt zu werden wie ein bunter Hund. Eigenschaften, die Dante sehr an ihr schätzte und mit denen die kleineren Nachbarorte Capulet City und Enamel City nicht punkten konnten.

Was Hallow Hills betraf, den äußersten der Vororte: Dieser Bezirk war speziell.
 

Die Paulus-Kapelle stand seit dem Versterben des Grundstückseigentümers nutzlos herum. Sie gehörte nun der Stadtgemeinde, doch diese unterhielt sie nicht, da die Restaurierung sich nicht mehr lohnte, seit die viel größere (und dekorativere) Wallis Church auf dem gleichnamigen Platz stand. Nun verfiel das Gemäuer so vor sich hin. Vor wenigen Jahren noch war von einigen Nostalgikern des Viertels ein Aufruf gestartet worden, Sponsoren für eine Sanierung an Land zu ziehen, um die Kirche wieder einem Nutzen zuführen zu können; doch bei grandioser Erfolglosigkeit war diese Bewegung schnell wieder eingeschlafen.

Dante bremste das Motorrad kurz hinter dem Ortsschild von Hallow Hills und ließ es dort stehen. Schon von Weitem konnte er die Vorderseite der kleinen, windschiefen Kapelle sehen, vor der ein wild blinkender, aber nicht jaulender Streifenwagen stand, umrundet von drei ratlos nach oben blickenden Gestalten in blauen Uniformen. Ganz vorn stand breitbeinig Chief Fordham, als Einziger in Jeans und khakifarbenem Polohemd und mit seinem albernen Rangerhut auf dem Kopf. Als er Dante sah, nickte er ihm zu, aber seine grimmige Miene blieb steinern. Nur Fordham schaffte es, seine Mundwinkel so zu verziehen, dass sein Mund wie ein umgedrehtes U aussah.

»Da bist du ja endlich«, seufzte der Chief, als Dante in aller Ruhe an die Gruppe herangetreten war. »Hat ja ewig gedauert. Dabei höre ich immer wieder jemanden behaupten, du könntest fliegen. Und toll, du schleppst allen Ernstes wieder dieses Schlachtmesser an.«

»Ich erinnere mich, dass irgendjemand hat gesagt, ich soll arbeiten.«

Fordham brummte. Dante ließ sich aus Prinzip nicht von ihm aufziehen. Es mochte sein, dass er zurzeit ein wenig emotional instabil war, doch für den Moment hatte er seine Coolness zurück gewonnen. Lässig fragte er: »Wo ist das Ding?«

»Ist dir etwa nichts aufgefallen?«, fragte der Chief mürrisch. »Guck nach oben.«

Dante hob den Kopf. Oh. Erst jetzt bemerkte er, dass das halbe Dach der Kirche fehlte. Oder besser: Es befand sich nicht mehr dort, wo Dächer sich normalerweise befanden. Vermutlich lag es in Trümmern im Inneren des Gebäudes, direkt unter dem klaffenden Loch.

Dante schnalzte mit der Zunge. »Naja, war ja nur eine Frage der Zeit, bis es den Kasten zerlegt.«

»Würdest du bitte noch weiter nach oben sehen?« Fordham gestikulierte ungeduldig.

Folgsam legte Dante den Kopf in den Nacken und spähte, soweit es möglich war, von unten über den Dachrand der Kapelle. Den noch halb stehenden Teil der Turmkuppel, dessen Glaseinlagen in bunten Splittern über die die Ziegel verstreut lagen, hatte er zunächst nicht weiter beachtet, doch nun sah er, dass dort ein dunkler Schatten hockte. Der Umriss erinnerte entfernt an einen Menschen, doch aus dem in Schwärze liegendem Gesicht starrten zwei rot glühende Augen direkt auf sie herab.

Oh, dachte er aufs Neue. »Er beobachtet uns.«

»Richtig erkannt, Sherlock.«

Das Ding kauerte halb unter dem Dachloch auf einem Balken, ein Bein angewinkelt, und quittierte Dantes drohenden Blick mit keiner Regung. Es hatte lange Hörner, die seitlich aus den Schläfen herauswuchsen und in halber Windung nach vorn zeigten. Dante schärfte seinen Blick noch ein wenig mehr; ja, Krallen hatte das Ding auch, und wie. Er überlegte, wo er es am besten packen sollte. Dämonen kämpften in aller Regel nach einem vorhersehbaren Schema, und wie bei einem Computercode folgte auf einen bestimmten Input immer die gleiche Reaktion. Diese Dinger hatten eine Art Battle Mode, ein abrufbares Verhaltensprogramm, das sie mehr instinktiv denn überlegt kämpfen ließ. Jede Spezies war eigen in Sachen Angriff und Abwehr, aber einmal durchschaut, waren sie unproblematisch zu töten – wenn man über die nötige Stärke und die richtigen Waffen verfügte.

»Na dann«, sagte Dante und legte Rebellions Klinge quer über die Schultern, ehe er sich gemächlich in Bewegung setzte. Let’s rock.

Er gab den Polizisten ein halbherziges Handzeichen und schlenderte durch das offenstehende Eingangsportal ins völlig demolierte Innere der Kapelle.
 

Wie erwartet sah es dort drinnen noch chaotischer aus als bei ihm zu Hause. Dachstücke, sowohl behauene Steinbrocken als auch ganze Elemente des Buntglasfensters, lagen herum wie langweilig gewordene Bauklötze, und noch immer rieselte Staub aus dem gähnenden Loch in der Decke, durch das ein dünner Strahl silbrigen Mondlichts hereinfiel. Die alten Bänke waren kreuz und quer verstreut und umgeworfen, mindestens drei waren durchgebrochen. Auf dem Altar brannte noch eine einzelne Kerze; alle anderen lagen auf dem Boden in erstarrten Lachen ihres geschmolzenen Wachses, unschuldig weiße Flecke inmitten des stummen Chaos.

Dante schaute nach oben zum Dachbalken, auf dem der Teufel hockte wie eine Eule. Sie musterten einander. Jeden Moment würde das Ding die Geduld verlieren und durch das Loch im Dach zu ihm hinunter springen.

»Dante!«, hörte er Chief Fordham von außen krähen. »Wie lange wird’s dauern?«

»Zehn Minuten«, antwortete Dante. »Ihr bewacht die Tür.«

»Worauf du wetten kannst.«

Er hörte die schwere Kirchentür zufallen, erst die eine Seite, dann die andere. Dann Stille.

Als sich einige Sekunden später immer noch nichts regte, rief Dante Richtung Decke: »Brauchst du noch lange? Ich hab heute noch was vor.«

Kurz darauf polterte ein tiefes, abgehacktes Gelächter zu ihm hinunter. »Eine kleine Ratte ist aus ihrem Loch gekrochen und mischt sich in meine Pläne ein?«

Erstaunt nahm Dante den Klang der Stimme zur Kenntnis. Es war die eines Menschen – zumindest oberflächlich. Getragen wurde sie vom donnernden Bass eines Dämons, ihr Unterton nicht hörbar für Fordham und die anderen Polizisten. Es war ein Teufel, der in einem Menschen saß.

Ein ungutes Gefühl befiel Dante. Schnell riss er den Blick von der fehlenden Kuppel los und ließ ihn durch das Kircheninnere gleiten, von einer Seite zur anderen, unter jede der Bänke. Was, wenn irgendwo –

– oh ja. Dort lag der schwarze Mantel, daneben der Reiserucksack. Bull’s Eye.

Der reiche Japaner hatte die Wahrheit gesagt. Jetzt waren alle Warnzeichen vorhanden, alle, die bei seinem Auftritt auf Dantes Türschwelle gefehlt hatten: die boshafte Aura, die trockene Hitze, der stechende Geruch nach schwarzer Erde, nassem Stein und kalter Asche.

»Komm runter!«, rief Dante, und die Mischung aus Ärger und Bestürzung verlieh seiner Stimme zusätzliche Kraft. »Los, komm spielen!«

Er wusste, was er tun musste. Der Gedanke schmeckte ihm gar nicht. Einen starken Teufel vom Körper eines Menschen zu lösen war so gut wie unmöglich. Diese Monster ließen nicht los, sie klammerten sich wie Parasiten an das blanke Leben ihres Opfers, infiltrierten dessen Geist und schleusten ihre eigenen zerstörerischen Überzeugungen ein. Ein derartig versklavter Mensch litt solcherlei Qualen, dass es eine Erlösung für ihn war, zusammen mit seinem Peiniger sein Leben auszuhauchen, und nicht selten bettelten die Opfer in lichten Momenten sogar um den Tod, um von ihrem Dasein als leere Marionetten befreit zu werden.

Dante hasste diesen Job. Es war selten nötig, aber wenn, dann war es das Übelste, das er aufgrund seiner Berufung zu tun gezwungen war. Dieses Verhalten, das das pure Böse in der Natur von Teufeln offenbarte, ließ ihn die Höllenbrut nur noch tiefer verabscheuen.

Und dieser Mann – er kannte nicht mal seinen Namen – war zu ihm gekommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Zweifellos hatte er gewusst, was ihm bevorstand. Und er hatte seine letzte Hoffnung in Dante gesetzt.

Und Dante hatte ihn im Stich gelassen.

Nun war es zu spät. Das Monster hatte die Kontrolle übernommen; jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Nur eine gute halbe Stunde war es her, dass Dante hätte eingreifen können, dieses Leben vielleicht hätte retten können.

Am besten hoffte einfach niemand mehr darauf, dass er irgendwas rettete.

»Komm runter!«, brüllte er ein zweites Mal zum Dach hinauf.

Und das Ding lärmte zurück: »Du erbärmliche Kreatur forderst mich heraus? Ich werde dich zum Schweigen bringen!«

Das typische Drohgeschwätz lenkte Dante nicht von einer bemerkenswerten Tatsache ab: Er störte dieses Vieh bei irgendwas. Es hockte dort oben, weil es mit irgendetwas beschäftigt war. Vielleicht damit, den armen Kerl, in dem es haust, in Schach zu halten. Zeit, es abzulenken.

»Weißt du, ich bin kein Exorzist, aber irgendwas sagt mir, dass dein Wirt mit Bibelzitaten nicht weit kommen würde.« Er hob die sehr schwere, sehr staubige Ausgabe des Neuen Testaments vom Altar und warf sie nach dem Biest – locker die zehn Fuß hoch, mit schönem Linksdrall, sodass sich der Wälzer drehte wie eine Frisbee und dem Dämon zwischen die Beine pflügte.

Das dem Aufschlag folgende Aufheulen war eindeutig mehr Wut als Schmerz. Welches Monster rechnete schon damit, dass ein Mensch auf diese Art werfen konnte?

Die Provokation zeigte Wirkung. Über Dante krachte es, dann verdunkelte sich das Mondlicht, und aus dem Loch in der Kuppel stürzte sich das Monster auf ihn herab. Aus seinem Rücken ragten riesige Flügel, die sich im freien Fall entfalteten und mit nur einem einzigen mächtigen Schlag sämtlichen Staub aufwirbelten, den die Trümmer auf dem Boden verteilt hatten. Sie waren nicht ledrig und klauenbewehrt, sondern schwarz befiedert wie die eines dunklen Engels, und ihr Luftstoß beim Aufprall des Teufels riss Dante fast von den Füßen.

Die bläulichen Lippen zu einem Grinsen verzerrend richtete sich das Ungetüm vor ihm auf. Es war der reiche Japaner von vorhin. Sein Hemd hing in Fetzen, wo Flügel und Krallen es zerrissen hatten, und die zerkratzte Haut, die sich über stählerne Muskeln und Sehnen spannte, glänzte feucht von Schweiß. Der junge Mann bleckte messerscharfe Zähne und taxierte Dante aus leuchtenden Augen mit schlitzförmiger Pupille. Auf Brust und Stirn glommen gezackte Linien wie tätowierte Blitze, und die Hörner waren drohend auf Dantes Brust gerichtet. Auf der Stirn leuchtete ein rotes Auge wie ein in die Haut gebrannter Rubin.

Dante musterte das Monster und verzog angewidert das Gesicht. »Bah, auf dritte Augen reagiere ich allergisch.«

»Du bist meinem Plan im Weg!«, grollte der Teufel.

»Komm an mir vorbei, dann reden wir drüber.«

Dante wollte diese Sache schnell hinter sich bringen. Das Mistvieh konnte fliegen, was hieß, dass es jederzeit verduften und sich auf Wehrlose stürzen konnte, wenn ihm danach war. Er musste es im Inneren der Kirche zur Strecke bringen. Also griff er es an. Von vorn. Mit dem Schwert. Die Bengrenzung des Raumes machte es ihm leicht, an das Biest heranzukommen, es konnte nach nirgendwo entkommen außer nach oben – dachte er. Dann aber wich es seinen Schwertstreichen unerwartet wendig aus; schlimmer noch, es parierte sie sogar mit Hieben seiner gepanzerten Pranken. Jedes Aufeinandertreffen der beiden ließ Funken regnen. Schon nach wenigen Vorstößen hatte der Dämon den Spieß umgedreht und trieb Dante zur Wand, mit Schlägen und Tritten. Dante wehrte alles ab, aber er war ehrlich verdutzt. Die überaus koordinierten, vorausschauenden Attacken und Abwehrmanöver sprachen eine glasklare Sprache.

Ein Karateka, kam ihm die längst überfällige Kenntnis. Und dann: Ernsthaft?

Der Karate-Dämon bemerkte sein Zögern und fletschte die Zähne, einem Grinsen nicht unähnlich. Parasitäre Teufel bedienten sich immer der Fähigkeiten ihres Wirts, dessen Körper die physischen Limits vorgab.

Dante schnaubte. »War ja klar. Kaum verwirrt sich ein Japaner zu mir, ist er ein Martial Arts-Profi. Hättest du dir nicht einen Bonsai-Gärtner aussuchen können?«

»Du hältst mich von meiner Suche ab. Stirb!«, fauchte das Ungetüm, dann sprang es ihn wieder an.

Dante machte einen Ausfall zu Seite, ehe die Krallen dort auf die Wand trafen, wo eben noch seine Brust gewesen war. Leichtfüßig brachte er sich hinter dem nächsten Pfeiler in Deckung. Gut, ganz so einfach war die Sache nicht: Im Nahkampf war er diesem Monster rein technisch unterlegen. Also musste er anders vorgehen. Irgendwie … anders. Er war kein guter Stratege. Meistens probierte er einfach etwas aus und sah zu, was herauskam.

Gerade erhob das Ding drohend seine gewaltigen Fäuste und ballte sie so fest, dass die Krallen ins Fleisch der Handballen schnitten. Dünne Rinnsale sickerten bis hinunter zu den Ellenbogen, aus denen ebenfalls zwei dolchartige Stacheln wuchsen. »Kämpfe, Mensch!«, dröhnte der Dämon.

Dante beschloss, ihm den Gefallen zu tun. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er Ivory aus ihrem Halfter gerissen und jagte dem Monster die erste Kugel mitten in das glühende dritte Auge.

Es schrie auf – menschlich und teuflisch zugleich –, machte einen schwankenden Schritt rückwärts und tat dann genau das, was Dante erwartet hatte: Das getroffene, blutende Auge sprang auf und feuerte einen heißen, pfeifenden Strahl aus plasmatischem Licht in Dantes Richtung. Der Laser zerteilte die umgestürzte Bank, vor der Dante gerade noch gestanden hatte, glatt in zwei rauchende Hälften. Dante hatte das Manöver kommen sehen und entkam durch einen mühelosen Rückwärtssalto, der ihn auf der schmalen Lehne einer weiteren Bank landen ließ.

»Bist du fertig?«, spottete er. »Dann bin ich jetzt dran.« Er hatte den winzigen Zeitraum erkannt, der dem Abfeuern des tödlichen Lasers voranging, und den nächsten dieser Art würde er nutzen, um den Kampf zu Ende zu bringen.

Der Teufel senkte den Kopf und stürzte auf ihn zu wie ein Stier auf den Matador. Der Zorn über Dantes Unverfrorenheit ließ seinen beherrschten Kampfstil in rohe Brutalität umschlagen.

Auf der nur wenige Zoll breiten Holzleiste balancierend zog Dante blitzschnell Rebellion vor den Körper und schlug mit diesem ersten Hieb die Hörner des Teufels aus dem Weg. Wie geplant wich dieser getroffen vor ihm zurück und verharrte einen winzigen Moment, um die Energie für seinen nächsten Blaster-Angriff zu sammeln. Das langte völlig. Zu spät riss der Dämon die blutigen Fäuste hoch; seine ungeschützte Kehle lag plötzlich an Rebellions Schneide, seine Schulterblätter an der Wand, die Flügel eingeklemmt.

Dante spannte die Muskeln seines Schwertarms. Nur ein kurzer Druck auf den Griff fehlte, dann würde das Metall über die Gurgel fahren und die Knorpelspangen der Luftröhre wie ein Tranchiermesser durchtrennen.

Er zögerte eine Sekunde. Dann noch eine.

Verdammt. Das hier war der Kerl, der in seiner Tür gestanden hatte. Der reiche Japaner mit dem harten, verzweifelten Blick, der ihm besiegt den Rücken gekehrt hatte und gegangen war. Um hier und jetzt mit durchgeschnittener Kehle zu Boden zu fallen und an seinem eigenen Blut zu ersticken. Muss dieser ätzende Tag denn immer noch schlimmer werden?

Das Monster grollte. Beide Augen waren fest auf Dante gerichtet, seine ganze Haltung pure Provokation, obwohl es so gut wie tot war.

Dante sah dem Wesen direkt in die Augen. »Weißt du, ich fürchte, das hier ist nicht mein Stil.« Und er nahm die Klinge weg.

Sofort duckte sich der Teufel mit einem geschmeidigen Manöver beiseite, fächerte die Flügel – Staub wirbelte auf wie Pulverschnee – und riss die Faust hoch, um sie in Dantes Unterbauch zu rammen. Dante reagierte schnell und ließ sich rückwärts von der Bank fallen, um auf den Händen zu landen und sich zurück in eine aufrechte Position zu katapultieren. Kurz flog Rebellion kreiselnd durch die Luft, dann landete der Griff zielsicher in seiner ausgestreckten Hand. Zirkusreif. Dante grinste den Karate-Dämon an. Ihm gefiel die wuchtige Eleganz, mit der das Biest kämpfte, aber sie setzte ihn keineswegs schachmatt.

»He, wollen wir mal was Anderes versuchen?«

Von Dantes Gewandtheit sichtbar aus dem Konzept gebracht, ging der Teufel erneut in Angriffsstellung. Wieder schnellte seine krallenbewehrte Faust vor. Dante ließ ihn an sich vorbeilaufen, erklomm leichtfüßig die nächste Bank und verließ sie auch sofort wieder, als sein Gegner mit einem heiseren Wutschrei auf das Möbelstück eindrosch und es mit beiden Fäusten brutal zertrümmerte.

Mitleidig blickte Dante auf diese geballte Ladung Kraft und Hass hinunter. »Wird Zeit, dass wir dich zurückverwandeln«, stellte er fest.

Und er packte das Schwert und rammte es mit beiden Händen zwischen die Hörner des aufspringenden Monsters, sodass es sich zwischen den beiden Spitzen verkeilte. Mit aller Kraft drehte er den Körper und lenkte allen Schwung, der aus dieser Bewegung entstand, in Rebellion.

Die Klinge schleuderte den Teufel durch die Luft, gut mannshoch und mehr als doppelt so weit. Hilflos schlugen die Flügel, doch auf dem kurzen Weg konnte auch ihr Aufwind nicht verhindern, dass der ganze Körper rücklings gegen die steinerne Wand geschmettert wurde. Es krachte, Knochen knirschten, das Gemäuer erzitterte und ließ erneut Steine herabregnen.
 

Ein dunkelviolettes Licht blitzte auf und hüllte den still liegenden Leib des Dämons ein. Geblendet wandte Dante den Kopf ab und schützte seine Augen. Das Licht schien kurzzeitig den ganzen demolierten Raum zu erfüllen, dann verblasste es langsam und verschwand schließlich zur Gänze. Schummriges Halbdunkel kehrte zurück.

Sobald Dante wieder vage Umrisse erkennen konnte, ging er dorthin, wo der reiche Japaner in seinem zerfetzten Hemd am Boden lag. Halb befürchtete er, das Biest würde doch noch einmal aufspringen, aber alles blieb ruhig. Als Dante auf ihn herabschaute, sah er nicht den Dämon, sondern nur den jungen Mann.

»Du kannst dich also zurückverwandeln. Besser als nichts, würd ich sagen.« Er schlenderte zu den Überresten der zerstörten Bänke, um den Mantel und den Rucksack aufzulesen.

Der bewusstlose Mann lag völlig still, fast leblos. Dante ließ die Sachen neben ihm auf den Stein fallen, dann kniete er sich zu ihm und betrachtete ihn prüfend. Glücklicherweise hatte der arme Kerl keine Kopfverletzung davongetragen. Seine Atmung war flach und beschleunigt, aber unbeeinträchtigt. Dante bemerkte dunkle Flecken von trocknendem Blut, die ihm während des rasanten Kampfes im Halbdunkel nicht aufgefallen waren. Vorsichtig streckte er die Finger aus und berührte die Wunde in der Flanke des Mannes. Es war eine Stichwunde, und sie blutete noch. Das war … seltsam. Die Teufelskräfte hätten die Verletzung heilen müssen. Es sei denn …

Dante verdrängte den Gedanken vorerst. Erst mal musste die Wunde versorgt werden, denn obwohl sie nicht groß war, war sie sicher tief. Die Wundränder sahen glatt aus, also war die Klinge kurz und scharf gewesen. Keine Machete, kein Buschmesser. Ein Springmesser vielleicht.

»Dante!« Fordhams ärgerliche Stimme durchschnitt die Stille in mindestens ebensolcher Schärfe. »Du hast gesagt, zehn Minuten! Bist du fertig?«

»Was glaubst du?« Dante rieb die blutigen Fingerspitzen an seiner Hose ab und schaute zur Tür. »He, Chief, kann dein Team den Typen zusammenflicken?«

Statt einer Antwort wurde die Tür aufgestoßen. Chief Fordham trat ein, nur um angesichts des heillosen Chaos im Inneren wie erstarrt stehen zu bleiben. »Allmächtiger!« Sein bestürzter Blick fiel auf den Verletzten, und er kam langsam näher. »… Ist er das?«

»Ja. Lebt.«

»Lebt?«, wiederholte Fordham konsterniert. »Wieso hast du ihn nicht kaltgemacht? Was soll das heißen, wir sollen den zusammenflicken?«

»Mein Job ist es, Teufel zu töten. Das hier ist ein Mensch«, erklärte Dante, als wäre Fordham ein Idiot. Was er auch war. »Kann einer von deinen Leuten die Stichwunde nähen?«

Der Chief knurrte und spuckte aus. »Hör mal, wenn das der Kerl ist – oder das Ding, oder was auch immer –, dann glaubst du doch nicht im Ernst, dass ich den mit zum Department nehme oder sogar in eine Klinik bringe! Von mir aus kann das Sani-Team die Wunde nähen, wenn du das willst. Es ist ja dein Fall.« Fordham machte es sich einfach, wie immer. »Aber alles darüber hinaus ist nicht unser Problem. Wenn du das Ding aufpäppeln willst, dann mach’s selber.«

Dante hatte nichts Anderes erwartet. Er zuckte die Achseln. »Okay.«

»Okay?« Fordham wirkte fast enttäuscht. Wahrscheinlich hatte er gehofft, Dante zu ärgern.

»Ja, okay, von mir aus«, gab Dante gelassen zurück. Er war schwer zu ärgern. Es sei denn, man entführte Trish.

»Wie du meinst. Komisch. Wenn ich es von dir gewohnt wäre, dass du kranke Kätzchen von der Straße aufsammelst, na gut – aber seit wann kümmerst du dich um Andere?«

Die korrekte Antwort hätte gelautet: Ich bin es ihm schuldig. Aber Dante hatte keine Lust, vor Fordham seinen Moralkodex auszubreiten. »Lass das mal meine Sorge sein.«

»Wenn der ausbüxt, bist du verantwortlich.«

»Wird nicht passieren. Was ist, holst du jetzt jemanden oder gucken wir ihm weiter beim Bluten zu?«

Mit einer harten Bewegung rückte der Chief seinen Hut gerade und verzog den Mund erneut zu einem umgedrehten U. »Gefällt mir nicht, die Sache. Aber wie du willst. Ist ja dein Patient.« Und er drehte um und knirschte zurück zum Ausgang, bereits einen Befehl an den Einsatzsanitäter bellend, der sich – in der vergeblichen Hoffnung, nichts mit der Sache zu tun haben zu müssen – hinter dem Streifenwagen herumdrückte.

Dante sah ihm verdrossen nach und blieb minutenlang allein mit dem Verletzten zurück. Die Kirche war nun so still, als sei der tobende Dämon nur ein böser Traum des verwahrlosenden Gemäuers gewesen.



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