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Demonheart

von

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Akt XIII - Der verbotene Ort: 17-3

17-3: YURI
 

Yuri quälte sich.

Seine Fingerknöchel rieben sich an der Rinde des Seelenbaumes blutig, während er immer wieder hilflos an den Ketten zog und sich fast die Schultern ausrenkte.

Er wusste nicht, welcher der beiden Kämpfe, die er mit ansehen musste, schlimmer war. Devils Kampf gegen Dante fühlte er eher, als dass er ihn wirklich sehen konnte, doch gelegentlich huschten Bilder quer durch das Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und was sie zeigten, gefiel ihm nicht. Der parasitäre Dämon gab sich alle Mühe, Dante zu zermürben und seine menschlichen Schwächen auszunutzen. Dante indes scheute davor zurück, die ganz harten Geschütze aufzufahren. Zwar rechnete ihm Yuri diese Rücksichtnahme hoch an, doch wann immer er durch Devils Augen die Unentschlossenheit des Jägers sah, spürte er seine eigene Hilflosigkeit noch stärker in sich aufwallen. Mit seinem Devil Trigger hätte Dante Devil schnell schachmatt setzen können, doch gegen genau diesen Angriff war der Teufel immun: Er absorbierte die dämonische Energie, wie er es schon bei Yuri getan hatte. Und damit hatte Dante ein echtes Problem. Denn ohne seinen Devil Trigger konnte er nicht fliegen.

Yuri kniff die Augen zusammen, verscheuchte die flüchtigen Eindrücke von Dante, Trish und blitzdurchzuckter Finsternis. Viel realer und viel entscheidender als das war, was er von seiner gefesselten Position aus hinter der weit offen stehenden Doppeltür sehen konnte. Sehen musste. Die weite, leblose Fläche, auf der die Kontrahenten ihren erbitterten, alles entscheidenden Kampf ausfochten, schien näher zu rücken, wenn er sich darauf konzentrierte. Der aus dem Erdboden aufsteigende Nebel verbarg nicht genug.

Jin quälte sich noch viel mehr als er. Yuri wusste, warum: Gegen sich selbst zu kämpfen war die unangenehmste Erfahrung, die er je hatte machen müssen. Außerdem sah er, dass Devil Jin anders kämpfte als Jin, und das war vielleicht noch schlimmer. Devil Jin kopierte nicht Jins eigenen Stil, sondern verwendete Angriffe, die in Jins Repertoire nicht nur nicht vorkamen, sondern in Jin auch noch sichtbare Abscheu auslösten. Verbarg Jin auch seine Gefühle für gewöhnlich sehr gut, jetzt im Kampf war er ein offenes Buch, und Yuri beobachtete angespannt jede seiner Regungen.

Er konnte nicht sagen, wer von beiden überlegen war. Jin hatte einen guten Start hingelegt, war sein geflügeltes Ebenbild mutig angegangen, hatte dessen Deckung gleich zu Beginn mehrfach durchbrochen. Seine Angst – von der Yuri wusste, dass sie da war, weil er sie von sich selbst kannte – blieb unter Kontrolle, kam nicht an die Oberfläche. Jin war wild entschlossen, dies hier zu beenden, weil er wusste, wie verheerend die Folgen waren, wenn er verlor. Seine Angst war der Antrieb, der ihm die Kraft gab, Devil Jin immer wieder frontal anzugreifen – dieses Wesen, das wie er selbst aussah, verfälscht und entfremdet durch die bedrohlich aufragenden Hörner, die kräftigen Flügel und die Augen, die so fremd und widerwärtig waren, dass man sie nicht ansehen konnte. Jin stellte sich dieser Abnormität, deren Macht über sich er kannte. Und zweifellos gehörte er damit zu den ganz wenigen Menschen, die dazu in der Lage waren; in der Lage, gegen das zu kämpfen, was sie zutiefst fürchteten.

Doch Devil Jin war mehr als nur ein Spiegelbild, erschaffen von Jins Angst. Während die Aufmerksamkeit des Dämons draußen in der realen Welt ganz und gar Dante und Trish galt, konzentrierte ein Teil von Devils Unterbewusstsein sich darauf, die Kontrolle über Jin aufrecht zu erhalten. Devil investierte so viel Kraft, wie er entbehren konnte, in diese mentale Schlacht gegen seinen aufbegehrenden Wirt. Jin wusste das sehr genau. Spätestens seit Devil diese Art zu kämpfen verstanden und damit begonnen hatte, Jins Vorstöße zu parieren, war das Kräfteverhältnis wieder ausgeglichen. Nicht lange danach hatte auch Jins böser Zwilling angefangen auszuteilen, und er wurde immer besser darin. Jin blockte ihn nur schwerfällig, teils geradezu laienhaft, und es wurde keineswegs besser, als ihm das bewusst wurde und seine Verzweiflung wieder zu wachsen begann.

Gerade schlug Devil Jin die Flügel zusammen und stieß sich vom Boden hoch, um von schräg oben Jins Abwehr zu umgehen. Yuri verkrampfte sich aufs Neue, bis er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Jin reagierte, sprang dem Dämon entgegen und schlug dessen Faust hart zur Seite. Im gleichen Zug erwischte er Devil Jins Flügel und schleuderte ihn mit Schwung von sich. Keine Mauer, auf die das Monster prallen konnte, keine Bäume, nichts, nur Nebelschwaden. Devil Jin landete nicht sonderlich hart und war schnell wieder auf den Füßen.

Vielleicht, dachte Yuri, vielleicht konnte Jin dieses Match gewinnen. Er war dessen nicht so sicher gewesen, als ihm klar geworden war, dass er nicht eingreifen konnte, aber andererseits hatte Jin die Kraft, Teufel zu töten, mehrfach bewiesen. Yuri musste darauf vertrauen, dass Jin gewann, weil er nicht wusste, was sonst passierte. Womöglich war die Fusion andernfalls nicht mehr trennbar. Dante würde früher oder später auf die Idee kommen, Devil zu diesem Zwecke eins überzubraten statt nur Zahnstocher nach ihm zu werfen, doch … Was, wenn das nichts nützte, weil der Dämon Jin und Yuri unterjochte?

Er erinnerte sich daran, wie der Seraphische Glanz ihn vereinnahmt hatte. Wie er, gefangen in den dunklen Gedanken und Gefühlen des gottähnlichen Wesens, monatelang Landstriche zerstört und verseucht hatte. Bis Alice kam, zu ihm auf den Friedhof, um ihn zu erlösen …

Jetzt würde niemand kommen. Wenn Devil seinen Wirt erledigte, kamen Jin und Yuri womöglich nie wieder zurück an die Oberfläche.

Ein warmer Tropfen fiel von oben herab und streifte seine Wange. Er zuckte zusammen und erschauerte. Auch ohne hochzusehen in dieses wächserne Antlitz, das über ihm hing und sein eigenes war, wusste er, dass dem zweiten Ich langsam Tränen aus den geschlossenen Augen sickerten. Gott, er wollte nicht, dass dieses Ding seine Augen jemals öffnete. Er wollte es nicht.

Mit einem Donnern schickte Jin sein geflügeltes Alter Ego erneut auf die Bretter. Diesmal hatte er ihn schwer getroffen: An seiner noch immer zitternd erhobenen Faust klebte Blut. Auch Devil Jin blutete, als er flatternd wieder aufsprang, denn Jin hatte ihm tüchtig eine mitgegeben: Unterhalb des linken Horns lief aus einer Kopfwunde das schwarze Blut über die ganze Gesichtshälfte, verklebte die für Jin typischen Ponysträhnen und auch das linke Auge, das matter glomm als das andere. Auch Devil Jins rechter Flügel war verletzt. Er schlug kaum noch damit, und über dem Gelenk waren Federn und Haut abgeschabt, entblößten Knochen, Sehnen und Muskelstränge.

Jin atmete schwer. Er wirkte noch immer entsetzt, doch ein wenig, ein klein wenig stabiler. Außer seinen bloßen Fingerknöcheln blutete nichts an ihm. Er war nur massiv erschöpft.

Komm schon, erledige ihn, dachte Yuri und biss sich auf die Unterlippe, bis sie ebenfalls blutete.

Jin dachte das gleiche. Ihre Gedanken berührten sich kurz, als Jin einen Blick über die Schulter zu Yuri riskierte. Devil Jin hatte seine Abwehrposition noch nicht wiedergefunden; Zeit, diesen Moment der Schwäche auszunutzen.

Doch plötzlich wurde die Kampfstätte in ein blutrotes Licht getaucht.

Yuri spürte eine Welle aus Hitze über den Friedhof rollen, eine heiße Windwalze, die in der Realität Gräber aufgerissen und Steine umgestürzt hätte. Sein Seelenbaum erbebte, und dieses Beben tat ihm körperlich weh. Yuri knirschte mit den Zähnen und drückte das Kinn auf die Brust. Zwischen zusammengekniffenen Lidern blinzelte er zu der rotscheinenden Fläche: Jin, genauso gepeinigt, sank in die Knie. Seine Fäuste öffneten sich, die blutigen Finger gruben sich in den Erdboden.

Nur Devil Jin war aufrecht stehen geblieben, unbeeinträchtigt von der Druckwelle. Sein bösartig verzerrtes Gesicht erhellte sich zu einem nicht weniger gehässigen Lächeln. Seine Wunden begannen zu heilen.

Yuri wusste, dass etwas Furchtbares passierte, doch es gab nichts, das er tun konnte. Das Licht wurde greller, wütender, und dann – zwängte sich eine weitere Präsenz in seinen Verstand. Eine, die so groß und so abscheulich war, dass sie ihn beinahe zermalmte. Yuri riss an den Ketten, rang um Konzentration. Warmes Blut quoll aus seinen Ohren und rann seine Schläfen hinab. Dieses Wesen, dieser Dämon, drang nicht völlig in die Verbindung ein, denn sonst hätte es sie ohne Zweifel zerstört; stattdessen füllte es den Raum um Devil Jin aus, der erneut seine Gestalt zu verändern begann. Die Silhouette wurde durchscheinend, wuchs in die Höhe und in demselben Maße in die Breite. Es war ein Klotz von einem Ding, ein tierisch-stacheliger Klumpen mit muskelbeladenen, schuppenverklebten Extremitäten. Aus seinem wulstigen Nacken erhob sich ein Klumpen aus bleichem Knochen und nahm die Form eines Ziegenschädels an.

Unerwartet und sehr verzweifelt warf Jin sich diesem neuen Feind entgegen. Doch seine Faust stieß durch das wabernde Antlitz hindurch. Das Ding hob die Hand – sonst nichts – und zwang Jin wie durch einen unsichtbaren Griff wieder in die Knie. Jin keuchte und ließ den Kopf sinken.

»Scheiße«, zischte Yuri. »Oh, Scheiße

Endlich wurde ihm klar, was passiert war: Devil hatte seine Brücke zu Azazel geschlagen. Ihre Kräfte hatten sich vereinigt.
 

Jin war chancenlos. Er würde nichts ausrichten, Azazels Geist war kein Gegner, den er bekämpfen konnte. Yuri wusste, dass er kämpfen musste. Noch immer wirbelten seine Gedanken durcheinander, er konnte kaum klar sehen. Konzentration war unmöglich. Er konnte diese neue Macht, die Devil beigesprungen war, nicht aus seinem Geist vertreiben. Sie saß dort fest und drückte alles Andere an die Wand.

Seine Ohren schmerzten, seine Brust schmerzte. Die Außenwelt flackerte wieder vor ihm auf. Er sah durch die Augen des Dämons, mit dem er fusioniert war, sah hinunter auf Dante, der unverwandt zu ihm aufschaute. Im roten Licht, das das Monster ausstrahlte, war die Miene des Jägers schwer zu lesen, doch Yuri glaubte, in diesem langen Moment etwas in Dante zu sehen, was er noch nie in ihm gesehen hatte.

Einen Anflug von … Angst.

Natürlich. Azazel strömte seine Macht aus, ließ sie nicht nur durch Jins und Yuris Bewusstsein rollen, sondern auch durch das derjenigen, die Devil physisch gegenüberstanden. Am Rande seines flimmernden Blickfelds sah Yuri Trish und Nina schaudernd zurückstolpern. Sie konnten nicht anders, der Instinkt hatte übernommen. Flieht!, gebot ihnen diese übermächtige Präsenz. Dante blieb stehen und sah zu dem Monster auf. Er lief nicht weg. Er würde niemals weglaufen.

Doch Yuri sah den vor unterdrückter Angst fast wahnsinnigen Ausdruck in seinen Augen. Jin hatte sich getäuscht; er hatte behauptet, dass Dante keine Angst kannte, doch das war ein Irrtum. Dante hatte Angst gehabt, als er gegen Mundus gekämpft hatte – keine Panik, die einen dazu bringt, umzudrehen und wegzurennen, sondern Angst, das klamme Gefühl, aus der Situation nicht heil herauszukommen. Oh ja, Dante hatte diese Erfahrung ebenso gemacht wie jeder von ihnen. Wahrscheinlich hatten sich seine stählernen Eier ganz eng an seinen Körper gedrückt, so wie sich alle Organe am liebsten auf Briefmarkengröße zusammenfalten wollten. Yuri kannte das, so hatte er sich gefühlt, als er dem Metagott gegenübergestanden hatte. Vor allem aber, und das gab Yuri ein Gefühl absurder Verzweiflung, hatte Dante nicht nur Angst vor diesem Kampf, sondern auch vor sich selbst. Mundus hatte er mit der kanalisierten Macht Spardas bekämpft, und das hatte ihn in die Lage versetzt zu siegen, aber – und das sah Yuri jetzt in seinem Blick – ihn auch tief traumatisiert. Dante wusste, wie es war, die Kontrolle zu verlieren, machtlos zu sein gegenüber Kräften, die den eigenen Körper beherrschten. Genau wie Yuri, genau wie Jin war Dante diesen Kräften ausgeliefert gewesen, als ihn die mächtige Seele Spardas im Kampf gegen seinen Erzfeind beinahe vereinnahmt hatte. Sicher befürchtete er, diesmal nicht stark genug zu sein.

Yuri fühlte sich ihm mehr verbunden als je zuvor. Sie waren gar nicht so verschieden, sie drei waren nicht verschieden – sie waren gleich, verdammt, alle drei gleich.

Wieder wirbelte alles durcheinander.

Die Schwere der Ketten war plötzlich schmerzhaft wieder da, die blau glühenden Eisenglieder bohrten sich in Yuris Fleisch. Er merkte, dass er wie ein Irrer zog, sich dadurch die Schmerzen selbst zufügte. Jin war am Boden. Azazels Schatten thronte über ihm. Was machten sie da? War es wahr, was er sah – warf der Dämon Jin tatsächlich eine Schaufel vor die Füße?

Grab!

Nein, das passierte nicht wirklich. Das konnte nicht passieren. Solche Dinge wiederholten sich nicht.

Du bist auf einem Friedhof. Also grab!

»Nicht graben!«, schrie Yuri aus voller Kehle. »Nicht graben

Er sah sich selbst, wie er gegraben hatte, unermüdlich. Wie sein maskiertes zweites Ich ihn anschrie, ihn schlug und trat.

Grab weiter, du Idiot!

Jin streckte schwach die Hand nach der Schaufel aus. Als wäre sie unwiderstehlich, etwas, das er um jeden Preis haben musste. Schweiß und Blut liefen ihm in Strömen über das Gesicht und vermengten sich zu einem heißen Fluss über Hals und Brust.

»Hör auf, Jin! Nimm die Finger da weg!«

Kichernde Schatten umkreisten Yuri. Er fuhr herum, so weit er konnte; sie wichen aus, verspotteten ihn. Er biss nach ihnen. Er spuckte nach ihnen.

Wird’s bald, wirst du graben, du hilfloser Schwächling?

Nicht. Nicht graben. Nicht …

Mit einem Aufstöhnen packte Jin den Stiel der schweren Schaufel, versuchte, sie zu sich zu ziehen. Seine Augen waren schwarze Kiesel, in denen ein kleines, verzweifeltes Licht flackerte.

»Nein!«, schrie Yuri, und es tat so weh, dass er würgen musste.

Dann kam Alice.
 

Alice rüttelte an ihm. Ihre zarten weißen Hände zogen an seinem Mantel.

»Yuri, du gräbst dein eigenes Grab! Kannst du das denn nicht verstehen?«

Er sah sich, wie er herumfuhr und sie grob von sich stieß, als sie versuchte, ihn aufzuhalten. Sie fiel, blieb liegen.

Und Yuri warf die Schaufel weg.
 

Azazel drehte sich nach dem Seelenbaum um, schien erst jetzt die daran gefesselte, sich krümmende Gestalt zu bemerken.

Und Jin ließ die Schaufel los.

Die Erinnerungen, die Yuri umschwirrten und ihn zu ersticken drohten wie Leichentücher, fielen leer von ihm ab. Jin stand auf. Schwankte, fand seinen Stand. Endlich, er stand, bot dem Ungeheuer die Stirn.

Schwer atmend und mit krampfenden Gliedern stierte er Azazel an. Zwei Paar glühender Augen, die einander durchbohrten wie Speere.

»Jin!«, schrie Yuri, obwohl seine Kehle bereits nach Blut schmeckte. »Jin, du hast Toshin getötet! Du kannst auch Devil töten – du könntest sogar Azazel töten! Ich weiß es!«

Die riesige Geistergestalt mit dem Ziegenschädel drückte die Beine durch und stürzte sich auf Jin. Jin wich mit letzter Kraft aus, duckte sich unter dem nächsten Hieb der riesigen Klauenpranke weg. Sein eigener brutaler Angriff riss den Dämon aus seinem sicheren Stand. Ein Knie knickte ein. Beide Pranken kamen tief und schlugen wie Dampfhammer zu, doch Jin brachte sich rechtzeitig außer Reichweite.

Yuri spürte wieder einen Tropfen und schauderte. Unwillkürlich sah er hoch. Die geschlossenen Augen schwebten dunkel über ihm, kaum berührt von dem kränklichen roten Schein. Warum atmete dieser Körper, wenn er nicht lebte? Welche Art von Dasein spukte in dieser Hülle, jener Hülle, die Yuri geworden war, als der Fluch ihn endgültig zerfressen hatte? Er blendete die Geräusche aus. Jins Kampf, Dantes Kampf … keiner davon war Yuris Kampf, weil Yuri nicht kämpfen konnte. Doch als er sekundenlang starr in sein eigenes Gesicht hinauf blickte – ein fahles, lebloses Gesicht, ganz wie das von Alice, als er in Zürich erwacht war und sie tot an seiner Schulter vorfand –, wurde ihm mit einem Mal klar, was er falsch machte.

Dass der Tod nicht der Feind war, und erst recht nicht das Ende.

Er wusste, welches Schicksal ihn erwartete, wenn der Mistelfluch ihn holte.

Und er wusste auch, was passieren würde, wenn Azazel Jin überwältigte.

»Jin!«, rief er, nicht befehlend, nur entschlossen. »Hör endlich auf mit dem Scheiß und lass mich frei!«

Jin floh vor Azazels Angriff zur Seite. Ausweichen war alles, was er noch tun konnte. Yuri sah, dass auf der Stirn des Ziegenschädels ein drittes Auge hervortrat. Immer dunkler wurde dieser scharf umrissene rote Fleck, der sich gleich in Augenball und Pupille verwandeln würde. Azazel geriet an seine Grenzen – doch seine schlimmste Attacke würde das Blatt wenden, denn in diesem engen Raum konnte dem Angriff niemand entgehen.

»Ich weiß nicht, wie!«, rief Jin kraftlos zurück und brachte sich mit einer Seitwärtsrolle vor dem aufstampfenden Fuß in Sicherheit. Sein Haar war so voller Blut, dass es seine typische Form völlig verloren hatte.

»Red keinen Mist, das weißt du verdammt genau!«, bellte Yuri. »Falls du es immer noch nicht kapiert hast, ich bin dein Freund! Gibt’s das in deinem Wortschatz? Lässt du niemanden jemals dir helfen, nur weil dein Vater und Großvater Arschlöcher sind?«

Jin schlug mit einem Sprung nach Azazels Brust, doch der schwere Schuppenpanzer blockte ihn ab. An den Hals kam er nicht heran, das Biest war zu riesig.

»Hörst du mir zu? Haben alle Menschen verdient, dass du sie verabscheust? Auch die, die dir zigmal bewiesen haben, dass sie auf deiner Seite sind?«

Jin blieb auf den Knien; er war zu erschöpft, sich wieder aufzurichten. Azazels Schatten senkte sich über ihn.

»Kazama Jin, schieb endlich deinen Arsch hier rüber und befrei mich!«

Der wabernde Umriss des Teufels thronte über Jin und betrachtete ihn aus seinen pupillenlosen Augen. Das dritte von ihnen, der kreisrunde Rubin, öffnete sich langsam und füllte sich mit Licht.

Es würde zu spät sein. Jeden Moment war alles vorbei. Sie würden den Kampf verlieren, und dann würden die Anderen in der physischen Welt ihre Überreste zusammenkratzen.

Jin durfte nicht verlieren. Jeder Andere, aber nicht Jin.

»Jin …« Yuris Hals war eine steinige Wüste. Bald würde gar kein Ton mehr herauskommen.

Jin hob den Kopf. Sein Blick war unerwartet klar und konzentriert. Nicht gebrochen. Nicht besiegt. Er stemmte Hände und Knie auf den Boden – und sprang auf, stürmte noch einmal los. Nicht zu Azazel, sondern zu Yuri.

Seine blutbefleckten Finger krallten sich zitternd um die Ketten, die den Harmonixer hielten. Dann zog er. Schwach, denn mehr als das schaffte er nicht.

Die Ketten lösten sich wie durchtrennte Seile. Sie fielen einfach ab. Rasselnd landeten sie auf dem Boden, das blaue Leuchten erstarb, und dann lösten sie sich in flüchtigen Nebel auf.

Yuri taumelte nach vorn und blieb schief und breitbeinig vor seinem Baum stehen. Sein Herz hämmerte.

Er war frei.


Nachwort zu diesem Kapitel:
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