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Die letzte Hoffnung

von

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12. Tischgespräche

Die ersten Sterne funkelten schon am Himmel und mit der Abendstimmung lockte es vermehrt Gäste in Mr. Pings Restaurant. Es war ein lauwarmer Sommerabend, sodass man sich gemütlich auf der Terrasse niederlassen konnte. Auch Yin-Yu wollte es sich nicht nehmen lassen, mit ihren Kindern dort zu speisen. Den Rest des Tages hatten sie nur damit verbracht ihre Zimmer zu begutachten, zumal die Kinder sich darüber immer gestritten hatten, wer welches Bett beziehen durfte. Sheng war der Einzige, der sich den ganzen Tag über hat nicht blicken lassen, obwohl Meister Shifu sich nochmal nach ihm erkundigt hatte, weil er als Kung-Fu-Teilnehmer normalerweise im Palast sein sollte. Da Shifu nichts anderes einfiel, wies er die Furiosen Fünf an, sich nach ihm umzusehen.

So kam es, dass Tigress, Monkey, Viper, Crane und Mantis die Pfauenfamilie vor dem Eingang des Restaurants antraf. Doch auf ihre Frage, ob die Mutter wüsste, wo Sheng war, musste sie verneinen.

„Nein, ich hab ihn heute nicht mehr gesehen“, gab Yin-Yu zur Antwort.

„Er hat noch nicht mal sein Bett gewählt“, beschwerte sich Zedong. „Dabei hätte ich gerne mit ihm eine Kissenschlacht gemacht.“

Yin-Yus Blick wanderte zu ihrer älteren Tochter Xia, doch auch sie hatte keine Ahnung wo Sheng sich befinden könnte.

„Ich nehme an, er wird kommen, wenn er Hunger hat“, schloss Yin-Yu die Fragerei ab und schob ihre kleinen Kinder ins Restaurant rein.

Die fünf Kung-Fu-Meister sahen einander an. Dann begaben auch sie sich auf die Restaurant-Terrasse, in der Hoffnung, dass Sheng dort irgendwann auftauchen würde. Wang befand sich nicht unter den Gästen, da dieser es vorgezogen hatte früh zu Bett zu gehen.

Yin-Yu wählte einen Tisch an der Seite, den Mr. Ping sogar für sie reserviert hatte. Knappe zwei Tische weiter saßen Mr. Pongs Familie. Sie grüßten einander kurz, dann begaben sich die Pfauenvögel auf ihre Plätze.

Die Furiosen Fünf mussten einen Tisch weiter hinten nehmen, weil es schon ziemlich voll war.

„Was meint ihr, Leute?“, begann Monkey, nachdem ein jeder seinen Platz eingenommen hatte. „Findet ihr wirklich, wir hätten Po alleine gehen lassen sollen?“

Mantis vibrierte mit den Antennen. „Was hätten wir denn machen sollen? An die Leine konnten wir ihn nicht nehmen.“

„Aber wenigstens überreden“, fügte Monkey hinzu.

„Po und überreden?“ Viper schüttelte den Kopf. „Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, dann kann man ihm doch schwer wieder davon abbringen. Erinnere dich nur mal daran, wie er sich heimlich in die Feuerwerkfabrik reingeschlichen hatte, obwohl wir es ihm verboten hatten.“

Crane nickte. „Viel hätte nicht gefehlt, und wir hätten ihn noch in die Luft gejagt. Obwohl Shen es dann selber getan hatte…“

„Jetzt hört schon auf!“, unterbrach Tigress das Gespräch. Sie hatte keine Lust alte Geschichten nochmal aufleben zu lassen, die ihr sowieso wieder Sorgen bereiten würden. Sie hatte immer noch ein wenig Bedenken, dass der weiße Pfau vielleicht doch noch die Beherrschung verlieren würde und es wirklich nochmal zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden ehemaligen Kontrahenten kommen könnte. „Sagt mir was ihr essen wollt, dann bestell ich vorne.“

Die vier Freunde gaben ihre Esswünsche durch, dann begab sich die Tigerin zur Küche. Dort stand auch schon Yin-Yu und bestellte für ihre Kinder. Als die zwei Frauen einander sahen, nickten sie sich kurz zu. Yin-Yu fühlte sich dazu gedrängt, irgendetwas zu sagen, sie wusste nur nicht was. Schließlich lächelte sie die Tigerin an. „Guten Appetit“, wünschte sie ihr und begab sich wieder zu ihrem Tisch. Etwas anderes, dass sie hoffte, dass es dem Drachenkrieger gut geht, wollte sie nicht mal erwähnen. Zwar zweifelte sie nicht daran, dass Shen sich benehmen würde, doch sie wusste, dass er sehr leicht ausrasten konnte, wenn ihm etwas nicht passte. Und es schien für Shen sehr wichtig zu sein, etwas über seinen Bruder in Erfahrung zu bringen.

Endlich war auch Tigress mit dem Bestellen an der Reihe. Sie war überrascht, als sie Mr. Pings Bruder Pong ebenfalls in der Küche stehen sah. Der dickere Gänserich winkte ihr kurz zu und während Mr. Ping die Bestellung für Tigress fertig machte, beobachtete Mr. Pong die Arbeit.

„Also Bruder“, begann er mit prüfendem Blick. „Ich finde, du schnibbelst das Gemüse zu dünn. Da muss auch mehr in die Suppe rein.“

Mr. Ping verdrehte die Augen. „Ich bereite das Essen so zu wie ich es von Vater gelernt habe.“

Pong verzog den Schnabel. „Natürlich. Wie immer.“

Mr. Ping kniff genervt die Augen zusammen. Dann reichte er Tigress die Schüsseln raus. Die Tigerin bedanke sich nochmal, dann verschwand sie wieder. Yin-Yu sah zu wie sie sich an den Tisch zu ihren Freunden begab. Dann ließ sie nachdenklich ihren Blick über die Terrasse schweifen und wünschte sich, dass Shen neben ihr sitzen würde.

Sie hielt inne als sie im nächsten Moment Liu und Xiang am Eingang stehen sah. Xiang verzog schlagartig das Gesicht und wich zurück vom Terrasseneingang als hätte er gerade Kakerlaken in der Küche entdeckt. Die Pfauenhenne beobachtete wie Liu auf ihn einredete, aber Xiang schüttelte nur energisch den Kopf.
 

„Aber du kannst doch nicht einfach ohne Essen ins Bett gehen“, gab Liu zu bedenken.

Doch Xiang wollte sich von ihr nicht überreden lassen, ins Restaurant zu gehen. „Dann hol mir was raus. Aber da rein gehe ich nicht!“

„Ach, komm schon“, versuchte sie ihn zu ermuntern. „Sie werden dich schon nicht zusammenschlagen.“

„Es genügt schon, wenn die mich ansehen!“

„Du musst ja nicht mit ihnen an einen Tisch sitzen.“ Sie zog erneut an seinem Flügel, doch der blaue Pfau riss sich einfach von ihr los.

„Mach doch was du willst“, murrte er und humpelte davon. „Aber ich esse draußen!“

Enttäuscht sah Liu zu wie Xiang mit der Krücke die Straße runterschlurfte. Sie fragte sich, wenn sein Bein gesund wäre, ob er dann bessere Laune hätte. Aber seit dem Unfall sind jetzt schon fast 6 Jahre vergangen. Dass er sein Bein wieder normal bewegen könnte, war praktisch unmöglich.

Nachdenklich begab sie sich ins Restaurant. Da der Tisch der Pfauenfamilie nicht allzu weit von der Küche entfernt stand, erhob Yin-Yu sich von ihrem Platz, als Liu an ihnen vorbeikam.

„Möchtest du dich zu uns setzen?“, fragte sie.

Liu sah sie überrascht an. „Oh, nachher. Ich muss Xiang erst sein Essen raustragen.“

„Isst er nicht mit uns mit?“, fragte Shenmi enttäuscht.

Liu sah das weiße Pfauenmädchen mit warmem Blick an. Es tat ihr gut, wenn noch jemand anderes außer sie sich um Xiang bemühte. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nun, ich glaube nicht. Er isst gerne alleine.“ Dann wandte sie sich an Mr. Ping. „Eine Schüssel zum Mitnehmen bitte.“

Xia sagte nichts, doch sie schien erleichtert zu sein nicht mit Xiang auf derselben Terrasse essen zu müssen. Kaum hatte Liu das Essen erhalten, ging sie nach draußen. Shenmi folgte ihr mit den Augen und beobachtete wie Liu mit der Schüssel in den Flügeln die Terrasse verließ und auf die Straße verschwand. Seufzend stocherte das weiße Mädchen in ihren Nudeln herum.

„Wieso hast du ihn Onkel genannt?“

Xias Frage ließ die Kleine kurz zusammenzucken. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass Xia Xiang immer noch nicht leiden konnte.

Schüchtern sah sie zu ihrer älteren Schwester hoch. „Ich wollte nur was Nettes sagen“, antwortete sie leise.

Xia schnaubte, dann aß sie weiter ihr Essen.
 

Suchend sah Liu sich um. Schließlich fand sie Xiang nahe der Flussbrücke. Dort hatte er sich auf einer Mauer niedergelassen und starrte düster ins Leere. Langsam ging sie zu ihm rüber.

„Hier, bitte schön.“ Sie hielt ihm die Schüssel hin.

Xiang schenkte ihr nur einen kurzen Seitenblick, dann riss er ihr die Schüssel aus den Flügeln. Ohne Dank stellte er sie auf seinen Schoß ab und schien zu warten bis Liu wieder verschwunden war.

Liu war sein Verhalten bereits gewohnt und verabschiedete sich. „Guten Appetit.“

Ohne auf eine Antwort von Xiang zu warten, sie wusste, dass er ohnehin nicht antworten würde, begab sie sich zurück ins Restaurant. Dort bestellte sie für sich noch was. Doch als sie sich an den Tisch zu Yin-Yu setzen wollte, zögerte sie. Zwar sah Shenmi neugierig auf, und Yin-Yu winkte sie zu sich heran, nur Xia war die Einzige, die ihr einen säuerlichen Blick zu warf. Zedong, Fantao und Jian bildeten die Ausnahme. Sie waren zu sehr damit beschäftig sich die Nudeln wieder aus den Federn zu ziehen, die sie sich spaßeshalber zugeworfen hatten. Da brachten auch die mahnenden Worte ihrer Mutter nichts. Liu lächelte und zupfte Zedong eine Nudel heraus.

„Hey, meine!“, beschwerte sich der Pfauenjunge und nahm sie ihr wieder ab.

„Kinder sind ganz schön aufregend“, meinte die jüngere Pfauenhenne.

Yin-Yu seufzte. „Tja, jeden Tag stellen sie was anderes an.“

Liu kicherte. „Dann weiß ich ja, worauf ich mich demnächst einstellen muss.“

Xia sah überrascht auf. „Planen Sie Nachwuchs?“

Liu setzte sich. „Es ist sogar schon da. In ein paar Tagen ist es soweit.“

Xia fielen fast die Essstäbchen aus den Fingerfedern. „Sie bekommen Kinder?“

Liu sah zu Yin-Yu rüber. „Hat sie das euch noch nicht gesagt?“

Yin-Yu wiegte den Kopf. „Ich dachte, dass du es selber sagen möchtest.“

Lius Blick wanderte wieder zu Xia, die nicht gerade freundlich dreinschaute. Sie seufzte und versuchte zu lächeln. „Nun genauer gesagt, nur eins. Aber ich freu mich schon darauf.“

Doch Xia schien das nicht friedlich zu stimmen. „Halten Sie das für klug?“, fragte sie mit säuerlichem Unterton.

Liu sah sie verständnislos an. „Wie meinen?“

Xia schluckte eine böse Bemerkung herunter. Dass Xiang sie als kleines Kind heimlich verletzt und bedroht hatte, wollte sie gegenüber ihrer Mutter nicht erwähnen, weshalb sie eine indirekte Antwort gab. „Ich spreche davon, ob es klug ist, ein kleines Kind in seine Nähe zu lassen.“

„Du meinst Xiang?“ Liu rieb sich nervös die Flügel. „Nun, ich kann ja verstehen, dass du und er nicht so gut auskamen…“ Sie versuchte die passenden Worte zu finden. „Aber ich bin mir sicher, dass er das Kind diesmal freundlicher aufnehmen wird.“ Sie versuchte erneut zu lächeln, was ihr diesmal aber nicht so gut gelang wie vorhin. „Er hat in den Jahren, seit wir zusammen sind, einige Fortschritte gemacht.“

Xia verzog den Schnabel. „Muss ja ein toller Fortschritt gewesen sein“, bemerkte sie trocken und ihr Blick fiel dabei auf Shenmi. „Sogar zu ihr war er gemein gewesen.“

Shenmi schluckte erschrocken ihre Nudeln runter und wusste nicht, ob sie darauf was erwidern sollte.

Liu versuchte die Sachlage zu entschärfen. „Aber das ist doch vor zwei Jahren gewesen“, beteuerte sie. „Er ist in letzter Zeit viel ruhiger geworden. Sonst hätte er nie eingewilligt, mich zu heiraten.“

Xia drehte beleidigt den Kopf zur Seite. „Wer’s glaubt.“ Sie zuckte zusammen, als sie den Flügel ihrer Mutter auf ihrem Flügel spürte.

„Xia, das reicht jetzt“, meinte Yin-Yu mit ernstem Blick. „Lass uns besser von was anderem reden.“ Und wandte sich wieder Liu zu. „Wie steht es eigentlich in Mendong? Ist die Stadt immer noch dieselbe?“

Niemand hatte bemerkt, wie Shenmi ihren Platz verlassen hatte und zu Mr. Ping rübergegangen war. Das Mädchen war auf Lius Aussage, dass Xiang ruhiger geworden war, neugierig geworden und wollte sofort mit dem blauen Pfau ein Gespräch anfangen.

„Mr. Ping?”, rief sie über die Theke.

Verwundert schaute der Gänserich zu ihr nach draußen. „Ja bitte?“

„Darf ich die Schüssel kurz mit nach draußen nehmen?“, fragte das weiße Mädchen.

„Wenn du sie wieder zurückbringst.“

„Bestimmt.“

Schnell rannte das Mädchen wieder an ihren Platz und nahm ihre Schüssel in die Flügel. „Mama, darf ich kurz raus?“

Verwundert sah ihre Mutter sie an. „Mit der Schüssel?“

„Ich bring sie ja gleich wieder“, versicherte das Mädchen und lief eilig davon.

Xia wollte schon aufstehen, doch ihre Mutter hielt sie zurück. „Xia, bleib bitte sitzen.“ Beide ahnten zwar, was das Mädchen vorhatte, doch Yin-Yu hielt es für das Beste, Shenmi nicht daran zu hindern. Sie hatte mit Xiang zwar in ihren Ehejahren auch keine guten Erfahrungen gemacht, doch vielleicht war an Lius Aussage doch etwas Wahres dran.
 

Missmutig rührte Xiang in den Nudeln herum. Der Gedanke, wegen seiner Ex-Familie nicht an einem normalen Tisch sitzen zu können, ließ in ihm die Wut hochsteigen. Am liebsten wäre er sofort wieder abgereist, doch Liu konnte unmöglich mit dem Ei eine lange Strecke zurücklegen. Zudem wäre sie dann nur enttäuscht von ihm. Mit einem Seufzer ließ der blaue Pfau die Essstäbchen in den Nudeln stecken. Er gab es nur ungerne zu, doch er mochte Liu wirklich, auch wenn es anfangs für ihn ziemlich schwierig gewesen war. Er wollte eine Zeitlang nicht wahrhaben, dass er ein Mädchen seiner Art mochte. Seit seiner Kindheit hatte er das weibliche Geschlecht nur verachtet und sich geschworen, niemals ihnen das Leben zu erleichtern. Yin-Yu war zwar nie böse zu ihm gewesen, dennoch hatte er sie immer gehasst. In jeder Pfauenhenne hatte er nur seine teuflische Mutter oder seine brutale Tante gesehen. Selbst vor Liu war er immer geflüchtet, wenn sie das Zimmer betrat. Ständig glaubte er immer, er hätte alles nur geträumt und in Wahrheit würde seine Mutter hereinkommen, um ihn weiterhin zu schikanieren. Allein schon die Silhouette einer Pfauenhenne konnte ihn in Panik versetzen.

„Hi.“

Xiang schrie erschrocken auf, als die kleine Gestalt eines Pfauenmädchen neben ihm wie aus dem Nichts auftauchte. Erst als er Shenmi erkannte, beruhigte er sich wieder, wenn auch sein Herz ihm bis zum Hals schlug.

Das weiße Mädchen lächelte ihn an. „Hab ich Sie erschreckt? Entschuldige.“

Allmählich schaffte es Xiang wieder eine verärgerte Miene aufzusetzen. „Was willst du hier?!“

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Nein“, wies Xiang entschieden ab und drehte den Kopf von ihr weg. Wieso war dieses Gör schon wieder in seiner Nähe?

Das Pfauenmädchen sah ihn fragend an. „Wieso nicht?“

„Du nervst“, wimmelte der blaue Pfau sie ab. Er wollte, dass sie verschwand.

„Dann setze ich mich eben hierher.“ Mit diesen Worten begab sich das Mädchen mit der Schüssel ein Stück weiter weg auf die kleine Steinmauer und ließ sich dort nieder. Dann nahm sie die Essstäbchen und stopfte sich die Nudeln in den Schnabel.

Xiang versuchte sie zu ignorieren, doch das ständige Geklapper der Essstäbchen zerrte an seinen Nerven, bis sie schließlich rissen.

„Kann man denn hier nicht einmal in Ruhe essen?!“, schrie er. „Ich bin schon extra nicht ins Restaurant gegangen! Müsst ihr mich stattdessen jetzt noch bis auf die Straße verfolgen?!“

Shenmi sah ihn verwundert an. „Wieso? Ich hab nur gedacht, Sie brauchen jemanden zum Reden.“

Xiang verengte bösartig die Augen. „Ich kann mich sehr gut selber beschäftigen!“

„Oh.“ Shenmi rührte in ihren Nudeln herum. „Dann bleibe ich einfach sitzen. Sie müssen ja nicht reden. Dann sage ich auch nichts.“

Schüchtern aß sie ihre Nudeln weiter. Der blaue Pfau hatte seinen Blick wieder von ihr abgewandt und beide schwiegen. Doch in Xiang baute sich neue Wut auf. Die Gegenwart dieses Mädchens engte ihn innerlich ein. Mit jeder Minute spannten sich seine Muskeln immer mehr und mehr an, bis sogar seine Flügel anfingen zu zittern. Egal wie ruhig Shenmi auf ihrem Platz saß, er kam sich vor wie auf einer Folterbank. Vor allem ihre Ruhe machte ihn wahnsinnig. Sie hatte das beste Leben, dass man als Kind haben konnte und saß seelenruhig da, während er nur die Hölle durchlebt hatte.

Seine Fingerfedern bohrten sich in die Schüssel. Wieso gönnte das Leben diesem Gör mehr Ruhe als ihm?!

Mit einem lauten Knall stellte er die Schüssel auf die Steinmauer ab und sprang auf seinem linken gesunden Bein in einem gewaltigen Sprung auf Shenmi zu, den man ihm nie zugetraut hatte. „Verschwinde gefälligst!“

Shenmi schrie erschrocken auf, als Xiang sie so grob am Flügel packte. Doch im nächsten Moment packte ihn ein anderer Flügel und drückte ihn so feste, dass der blaue Pfau das Mädchen loslassen musste. Sheng drückte seinen Ex-Vater von Shenmi weg und zwang ihn auf den Boden. Xiang versuchte sich aufzurichten, doch dann wandte Sheng einen weiteren eisernen Griff an und fixierte ihn damit.

Wütend stierte Xiang ihn an. „Du verdammter…!“

Sheng würgte die nächsten Worte ab, indem er mahnend den Flügel hob. „Fass sie noch einmal so an“, drohte er, „und du kannst zu spüren bekommen, was ich in den ganzen Jahren dazugelernt habe.“

Xiang zitterte, doch dann gab er den Widerstand auf. Als Sheng spürte, dass er sich nicht mehr zur Wehr setzte lockerte er die Griffe. Er ließ vom blauen Pfau ab und wandte sich wieder seiner kleinen Schwester zu. Das Mädchen war immer noch etwas betäubt. Erst als ihr großer Bruder sie am Flügel nahm und ihre Schüssel aufhob, lebte sie wieder auf.

„Komm Shenmi“, wies Sheng sie an und beide gingen die Straße rauf.

Xiang starrte ihn wütend nach.

Als sie schon ein Stück weit weg waren, sah Sheng seine Schwester an. Diese sah traurig zu ihm hoch. Schließlich drückte Sheng ihr die Schüssel in die Flügel.

„Ich werde Mutter nichts sagen“, sicherte Sheng ihr zu. „Doch tu mir den Gefallen und halte etwas mehr Abstand von ihm.“

Daraufhin wusste Shenmi nichts zu sagen, nickte aber gehorsam. Obwohl sie viel mehr von sich selber enttäuscht war und sich fragte, ob sie etwas falsch gemacht hätte.
 

Pong runzelte die Stirn, während er immer noch in der Küche stand und seinem Bruder weiter bei der Arbeit zusah. „Du machst die Nudeln immer noch so wie Vater.“

„Natürlich“, antwortete Mr. Ping überrascht.

„Warum probierst du nicht mal was anderes aus?“

„Was anderes?“ Mr. Ping sah seinen Bruder überrascht an. „Ich hab doch schon so viel. Klöße, Nudeln- und Reisgerichte. Sogar Tofu hab ich seit ein paar Jahren auf der Speisekarte stehen. Das hatte mir Vater damals nie erlaubt.“

„Ich meinte etwas ganz anderes“, wandte Mr. Pong ein. „Eine ganz andere Geschmacksrichtung mit verschiedenen Gewürzen.“

„Wovon redest du da?“

„Na, zum Beispiel Curry. Das ist der neuste Trend in Südchina.“

Mr. Ping hob skeptisch die Augenbrauen. „Curry?“

„Ja, und das Ganze in Reis, und dann noch Bananen, oder Pfirsiche dazu.“

„Bananen? Pfirsiche? Im Reis?“

„Schmeckt fantastisch“, versicherte Mr. Pong. „Ich biete es auch in meinem Restaurant an und die Leute sind begeistert davon.“

„Also ich glaube kaum, dass das kompatibel ist“, behauptete Mr. Ping trocken. „In meine Nudeln und Reis kommt nur Gemüse rein.“

Mit diesen Worten wandte sich der Gänserich wieder den Bestellungen zu, bis sein Bruder ihn ruckartig beiseite nahm. „Ich beweise es dir“, sicherte Mr. Pong ihm zu. „Na komm ich zeig’s dir!“

Mr. Ping verzog den Schnabel. „Ich habe aber kein Corry.“

Curry“, verbesserte Mr. Pong. „Nur keine Bange. Ich hab ein paar Sachen mal mitgebracht.“

Noch ehe Mr. Ping etwas sagen konnte, war Pong auch schon nach draußen verschwunden. Und es dauerte nicht lange und er kam mit einem Stoffbeutel zurück, den er sofort auf der Arbeitsplatte ausschüttelte. Hervor kamen ein paar Behälter. Anschließend schlenderte er zu einem Regal und holte ein paar Essensachen heraus. „Okay, nehmen wir mal Reis. Und Zwiebeln. In einer Pfanne verrühren. Pfirsiche kochen…“

„Pong!“, beschwerte sich Mr. Ping. „Das ist immer noch meine Küche!“

„Aber immer noch die Küche von unserem Vater“, belehrte ihm sein Bruder.

Mürrisch sah Mr. Ping zu wie sein Bruder in wenigen Minuten das Gericht fertig hatte und in eine Schüssel gab. Der Reis war jetzt fast gelb.

„Ich bitte dich“, protestierte Mr. Ping. „Pfirsiche mit Reis und das noch mit diesem braunen Pulver drinnen. Wer soll das denn mögen?“

„Fragen wir doch mal einen der Gäste. Hey, Sie, Mister!“

Energisch winkte Mr. Pong mit dem Flügel, nachdem er Sheng am Eingang entdeckt hatte. „Kommen Sie doch mal her.“

Verwundert sah Sheng auf. „Wer? Ich?“

„Natürlich Sie! Kommen Sie mal her!“

Sheng war zwar sehr verwundert, dass man ihn sofort zur Küche bat, zuckte dann aber die Achseln. Er wies seine kleine Schwester an, schon mal zu ihrer Mutter zu gehen, dann ging er zur Theke. Auf dem Weg kam er auch an dem Tisch vorbei an dem Pongs Familie saß. Auch Liana befand sich unter ihnen. Sheng konnte nicht anderes und sah zu ihr rüber. Ihre Blicke trafen sich. Der Blick der Gans war zuerst neutral, doch der Pfau meinte, sie würde ihn insgeheim anlächeln. Schnell schaute er weg und beeilte sich an die Theke zu kommen, wo Mr. Pong ihn schon sehnsüchtig erwartete.

„Sie haben als Mitglied der hohen Gesellschaft bestimmt Sinn für gute Geschmäcke“, meinte Mr. Pong. „Hier kosten Sie mal.“

Er hielt ihm die Schüssel hin. Prüfend betrachtete der Pfau den Inhalt. „Und was ist das?“

„Nicht fragen“, wies Mr. Pong ihn an. „Einfach nur probieren.“

In der Zwischenzeit war Shenmi wieder zurück an ihrem Tisch. Ihre Mutter beobachtete sie besorgt.

„Ist etwas passiert?“, fragte sie.

Shenmi sah ruckartig zu ihr hoch. „Nein, nein, alles okay.“ Und setzte sich brav ihn.

Xia schielte kurz zu ihr rüber, stellte aber keine Fragen.

Sheng hatte unterdessen zu einem Löffel gegriffen und kostete von dem unbekannten Mahl. Er ließ es kurz im Mund zergehen, dann nickte er. „Schmeckt gut. Wie nennt man das?“

Mr. Pong wurde ein paar Zentimeter größer. „Das, Mister, ist der neue Essenstrend in Südchina. Jetzt kann ich sogar sagen, dass sogar Royals dieses Rezept empfehlen.“

„Kann ich das auch mal probieren?“, fragte ein Schwein neben Sheng.

„Ich auch!“, drängte ein Hase.

Energisch zwängten sich die Leute nach vorne. Sheng wurde ungewollt zurückgedrängt. Dabei wischte er mit seinen langen Federn über die Köpfe von ein paar Gästen.

„Oh, tut mir leid“, entschuldigte Sheng sich und drehte sich um. Doch stattdessen tunkte er versehentlich seine langen Federn in eine Suppenschüssel.

„Oh, tut mir sehr leid.“ Schnell brachte der Pfau seine Federn erneut in Sicherheit. Doch als er sich entfernten wollte, trat jemand auf seinen langen Pfauenschwanz. Sheng spürte nur einen Ruck und er wusste sofort, dass er jetzt eine Feder weniger hatte. Erschrocken wirbelte er herum und stieß gegen einen Tisch. Kurz darauf schaute er direkt in das Gesicht von Liana.

Beschämt stützte er sich auf der Tischplatte ab, wobei er unter den Federn extrem errötete.

„Oh, tut- tut mir leid“, stotterte er. „Ich bin es gar nicht gewohnt mit den langen Federn in einem engen Raum zu stehen.“

Die Gans kicherte. „Das macht doch nichts. Es ist ja nichts passiert…“

„Hallo Sheng!“ Im nächsten Moment landete Monkey neben ihm. „Der Meister hat nach dir gesucht.“

„Nach mir?“

„Du solltest im Palast sein.“

„Oh, ist er noch wach?“

Monkey kratzte sich am Kopf. „Äh, ich denke…“

„Dann haben wir vielleicht noch was zu bereden!“, fiel Sheng ihm ins Wort. „Am besten wir gehen sofort.“

Mit diesen Worten schob er den verblüfften Monkey zum Ausgang, während Sheng seiner Mutter noch zurief: „Mutter, ich bin im Palast!“ dann eilte er schnell auf die Straße. Hauptsache er war weg aus Lianas Blickfeld. Ihm war das alles immer noch total peinlich, und er konnte nur hoffen, dass sie seine Missgeschicke so schnell wie möglich wieder vergaß.
 

Allmählich leerte sich das Restaurant. Es bestellten sich noch ein paar Gäste mehr was von Pongs neuem Essen. Allerdings sehr zum Frust von Mr. Ping, dem die neue Küche gar nicht behagte. Auch Yin-Yu begab sich mit den Kindern zum Ausgang. Liu begleitete sie. Neben dem Eingang bemerkte sie eine leere Suppenschüssel, die Xiang einfach dort abgestellte hatte, nachdem er aufgegessen hatte. Anschließend hatte sich der Pfau auf sein Zimmer zurückgezogen.

Die beiden verheirateten Pfauenhennen verabschiedeten sich. Liu begab sich sofort zu ihrem Zimmer, wo es bereits dunkel war. Die Pfauenhenne sah zum Bett rüber, wo Xiang sich schon hingelegt hatte. Sie seufzte. Er schien immer noch von diesem Abend enttäuscht zu sein. Am liebsten hätte sie sich an ihn gekuschelt. Doch wenn Xiang üble Laune hatte, wollte er gar nichts von ihr.

Leise begab sie sich zu den Decken, in dem ihr Ei lag. Behutsam strich sie über die Eierschale. Sie konnte nur hoffen, dass sein Unmut mit der Geburt des Babys ein Ende hatte.
 

„Wieso schläft Sheng nicht bei uns?“ Zedong war von der Ankündigung seiner Mutter nicht begeistert, die ihrem Sohn klar machen musste, dass Sheng wahrscheinlich für die nächsten Tage im Palast übernachten würde.

„Wo bleibt denn dann der Spaß?“, beschwerte sich der Pfauenjunge weiter.

Seine Mutter legte ihre Flügel auf seine Schultern. „Junge, Sheng ist nun mal erwachsen und hat eigene Verpflichtungen, denen er nachkommen muss.“

„Wenn dafür die Kissenschlacht ausfällt, dann ist das Erwachsenenleben ziemlich öde.“

Enttäuscht verschwand der Junge in sein Zimmer, wo seine zwei Brüder schon auf den Betten herumsprangen.

„Mutter?“ Yin-Yu drehte sich zu ihrer älteren Tochter um. „Shenmi wollte noch, dass du ihr „Gute Nacht“ sagst.“

Die Pfauenhenne hob verwundert die Augenbrauen. „Aber das mache ich doch immer.“

Während Xia sich noch bettfertig machte, begab sich die Pfauenmutter ins Gästezimmer, wo Shenmi und Xia ein Bett bezogen. Das weiße Mädchen lag schon im Bett.

„Na, wie gefällt dir dein Bett?“, fragte ihre Mutter. Es war bei weitem nicht so luxuriös wie das im Palast zuhause, doch die Kinder hatten sich noch nie über Primitives beschwert. Im Gegenteil, manchmal spielten sie lieber im Matsch als mit ihren Spielsachen.

Shenmi nickte leicht. „Ganz okay.“

Nachdenklich setzte sich ihre Mutter neben sie ans Bett. „Ist etwas, Schatz?“

„Wann kommt Papa denn wieder?“, wollte Shenmi wissen.

„Das weiß ich noch nicht genau“, antwortete Yin-Yu wahrheitsgemäß. „Aber ich denke, bald.“

Vermutlich vermisste das Mädchen ihren Vater auch deswegen, weil es auch Shen war, der ihr immer „Gute Nacht“ gesagt hatte und es kam selten vor, dass er es ausfallen ließ.

Yin-Yu sah ihre Tochter an. „Möchtest du mir noch etwas sagen, Schatz?“

Shenmi schien sogar vorgehabt zu haben, etwas sagen zu wollen, doch dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

Ihre Mutter hob die Augenbrauen. „Wirklich nicht?“

Das Mädchen schüttelte erneut den Kopf. „Nein, gar nichts.“

Zwar hätte sie gerne noch etwas über Xiang gefragt, doch dann befürchtete sie, dass sie erneut jemanden verärgerte und entschied sich dafür, vorerst über den Vorfall von heute Abend zu schweigen.

Yin-Yu nickte verständnisvoll und gab ihr noch einen Kuss auf die Stirn. Dann verließ sie das Zimmer. Xia wünschte ihr ebenfalls noch eine gute Nacht, bevor sie sich zu Shenmi ins Zimmer begab. Kaum war sie weg, ging Yin-Yu an ein Fenster und schaute zum Sternenbesetzten Himmel hoch. „Ach, Shen. Ich hoffe, es geht dir gut.“
 

Am japanischen Nachthimmel blinkten die Sterne wie in China, und dennoch meinte Shen hier wäre sogar die Atmosphäre anderes. Aber vielleicht lag es auch nur an der Gesellschaft. Genervt wanderte sein Blick nach hinten. Immer lehnte sich der Panda an einem Baum oder Felsen und massierte sich seine Füße. Schon seit Stunden marschierten sie durch die einsamen Wälder, ohne auch nur auf eine Zivilisation zu stoßen.

„Shen“, keuchte der Panda, „ich will mich ja nicht beschweren…“

„Dann tu es auch gar nicht!“, unterbrach Shen ihn mit kaltem Unterton. „Wenn du nicht mithalten kannst, dann kannst du auch wieder umkehren.“

Seufzend raffte sich der Panda zu einem neuen Fußmarsch auf. „Aber könnten wir vielleicht mal eine kleine längere Pause machen?“

Shen hob aufmüpfig den Schnabel und ging einfach weiter. Mühselig folgte ihm der Panda.

Nach ein paar Metern blieb der weiße Pfau abrupt stehen und deutete an den Wegesrand. „Hier schlagen wir unser Nachtlager auf.“

Er hatte kaum ausgesprochen, da ließ der Panda sich einfach ins Gras fallen.

Wenig später brannte ein Lagerfeuer. Po hatte sich einen Schlafplatz aus Zweigen zusammengebettet, während Shen sich mit einer mitgebrachten Decke zudeckte. Als dann endlich Ruhe zwischen den beiden eingekehrt war, konnte Po sich eine Frage nicht verkneifen.

„Shen?“, fragte er leise. „Hattest du dir eigentlich schon immer einen Bruder gewünscht?“

Shen schwieg, weshalb Po weiterredete. „Also ich würde mich freuen, wenn ich erfahren würde, dass ich Geschwister hätte.“ Als abermals eine Antwort von Shen ausblieb, schielte Po neugierig zu ihm rüber. „Du nicht?“

Shen drehte sich einfach auf die Seite und kehrte dem Panda den Rücken zu.

Ernüchtert legte Po sich wieder hin. „Oh, okay. Ja, war ein langer Tag gewesen. – Na dann, gute Nacht.“

Es dauerte nicht lange und Po war im Tiefschlaf. Nur Shen schlief nicht. Ständig kreisten ihm die Gedanken um seinen Kopf herum. Vor allem beschäftige ihn eine Frage: Was machte sein Bruder gerade?



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