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Raum und Zeit

(Titelvorschläge werden entgegengenommen)
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Asgard, Palast - 1530

„Du zerfällst hier drinnen noch zu Staub, Bruder!“

Loki richtete seinen Blick verärgert gegen die Decke, aber reagierte nicht darauf, dass Thor hereingeplatzt war. Lokis Bruder warf eine mitgebrachte Aprikose in die Luft und fing sie wieder auf. Dann biss er herzhaft hinein, spuckte den Kern aus und zertrat ihn unter seiner Stiefelsohle zu Staub.

Loki dachte gar nicht daran, Thor zu beachten und richtete seine unterbrochene Aufmerksamkeit wieder auf seine Studien. Sein Bruder hingegen bewegte sich mit schweren Schritten durch die Bibliothek, in der Loki schon seit dem frühen Morgen saß, und würdigte die Bücher, das Wissen und all die Weisheit, die sich hier sammelte, keines Blickes.

Keine Überraschung.

Die Bibliothek des Palastes bestand aus einer einzigen großzügigen Halle, in deren Wände bis zu den hohen Decke Regale geschlagen worden waren. Es gab säulenbesetzte Alkoven, in denen die Asen sich zum Studieren und Lesen zurückziehen konnten, aber bis auf Loki lag die Halle verlassen dar. Heute war er der Einzige, der sich für die ordentlich sortierten Werke, die Lokis Familie besaß und ihrem Volk zugänglich machte, interessierte.

Draußen vor den schmalen Fenstern war bereits die Sonne untergegangen und erst jetzt realisierte Loki, wie lange er schon hier auf dem gedrechselten Stuhl gesessen haben musste.

Er hatte sich wie stets an einen goldbeschlagenen Schreibtisch in einer nur spärlich beleuchteten Ecke zurückgezogen, einen Ort, den er bevorzugte, weil er nicht vom Haupteingang einzusehen war. Eine flammenlose Fackel direkt über ihm beleuchtete die Werke, in die er sich vertieft hatte. Staubkörnchen tanzten im schummerigen Schein. Hier konnte er sich auch an belebten Tagen in Ruhe seinen Studien widmen.

„Alle sind unten und feiern. Es gibt Wein!“ Thor klang, als erwartete er eine Reaktion. Als keine kam, setzte er hinzu: „Komm, du warst schon lange nicht mehr dabei. Vergnügst du dich nicht mehr gern?“

Loki starrte auf den Satz, den er seit Thors Unterbrechung bereits dreimal gelesen hatte, ohne ihn zu verinnerlichen, und musterte dann doch mit angespannten Lippen seinen Bruder. Er wusste, dass Thor ihn ohnehin nicht in Frieden lassen würde, wenn er ihn nur weiterhin ignorierte. Vermutlich wurde er Thor schneller wieder los, wenn er ihn beachtete, als wenn er noch weiter um Lokis Aufmerksamkeit betteln musste.

„Was willst du?“

Du hast den Silberhirsch erlegt, du solltest ihn auch genießen!“, erklärte Thor großzügig, als wäre das selbstverständlich.

„Ich bin nicht hungrig. Und ein Silberhirsch stellt ohnehin kein schwieriges Ziel dar.“ Am gestrigen Tag hatte Loki das Wild mit einem einzigen geschickt geworfenen Messer erlegt. Der Rest der Jagdgesellschaft war enttäuscht gewesen, dass ihr Vergnügen nach schon so kurzer Zeit geendet hatte. Ein Silberhirsch war selten und flink und versprach normalerweise eine herrliche Jagd. Er war sehr wohl ein schwieriges Ziel.

Thor tat überrascht: „Seit wann so bescheiden, Bruder?“

Geistesabwesend warf er Mjölnir in die Luft, nur um den Hammer jedes Mal wieder aufzufangen. Einmal, zweimal, dreimal… Loki beachtete die Angeberei gar nicht, sondern erwiderte gleichmütig: „Ist sonst noch etwas?“

Anstatt zu antworten, griff Thor abrupt Lokis Rückenlehne und zog sie so weit zurück, dass Loki drohte, nach hinten überzuzufallen. Er schrie auf. Instinktiv warf Loki sich nach vorne und sprang augenblicklich auf die Füße, sobald seine Zehen den Boden berührten.

Mit einem Dolch an Thors Kehle fuhr Loki seinen Bruder an: „Was ist bloß mit dir! Fällt es dir wirklich so schwer, dich zu benehmen, als hättest du Verstand? Fällt es dir so schwer, mich in Frieden zu lassen?“

„Es bereitet mir einfach zu viel Freude, dich zu sehen“, grinste Thor, ohne sich einschüchtern zu lassen, „Und ich dachte, du steht auf Tricks.“

„Das ist kein Trick“, gab Loki beleidigt zurück und ließ das Messer sinken. Dann verbarg er seine Waffe wieder dort, wo er sie hergeholt hatte, und ließ sich erneut nieder.

„Was liest du da überhaupt?“, fragte Thor und griff sich das Pergament, über dem sein Bruder zuletzt gebrütet hatte.

„Nichts, was du verstehst“, gab Loki unwirsch zurück und schnappte nach der Schrift, aber Thor war schneller. Mit verengten Augen betrachtete er die Schriftzeichen, die offensichtlich keine asgardischen Runen waren.

„Diese Wörter sind doch erfunden!“

„Alle Wörter sind erfunden“, gab Loki umgehend zurück, „Und das ist Deutsch.“

„Du warst in Midgard? Ich dachte, die Menschen interessieren dich nicht.“

„Tun sie auch nicht. Ich habe lediglich Informationen eingeholt.“

Thor legte das, was er inzwischen als Brief identifiziert hatte, zurück auf den Tisch. „Was besagt er?“

„Ein Mann namens Martin Luther schreibt, dass die Sterblichen keinen freien Willen haben können, da ihr Gott bereits alles für sie entschieden hat.“ Loki lächelte andächtig und legte den Kopf schief. „Da sie uns für Götter halten, eine wirklich erfreuliche Ansicht, meinst du nicht?“

Thor lachte auf. „Sie sind ein seltsames Geschlecht, ja. Aber ich bezweifle, dass unsere Existenz ihnen die Freiheit nimmt.“

„Unsere Existenz vielleicht nicht“, sagte Loki leise, mehr zu sich selbst denn zu Thor, der bereits wieder mit seinem Hammer spielte. Das Licht der flammenlosen Fackel spiegelte sich in Mjölnirs Silber und ein Knoten bildete sich in Lokis Magen, je länger er zuschaute.

„Loki, denkst du nicht, dass du genug studiert hast? Es sieht dir nicht ähnlich, dich tagelang mit langweiligen Schriften zu beschäftigen. Komm mit.“ Er zögerte. „Mutter würde sich freuen.“

Für einen Moment verzog sich Lokis Miene und Thor dachte schon, sein Bruder würde ablehnen, aber dann seufzte er und mit dem Wisch seiner Hand sammelte Loki seine losen Pergamente ein. Nachdem er sie in den versiegelten Schubladen des Schreibtisches verstaut hatte, hob er drei Finger der rechten Hand, machte eine kleine Bewegung und beschwor seinen Umhang, die goldenen Schulterplatten und Armschienen.

Thor schlug ihm begeistert auf den Rücken und Loki rang sich ein Lächeln ab.

Dann folgte er ihm hinaus.



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