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Der Edelig-Mord

Magister Magicae 8
von

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Die Konsequenzen

Victor schaute abwägend auf das Handydisplay. Das Handy war stumm geschalten und summte nur im Vibrationsalarm. Victor war gerade eher zufällig darauf gestoßen, weil es ansonsten grabesstill war. Auf dem Display stand als eingehender Anruf nur eine Nummer, kein Name. Aber wer sollte auf diesem Handy schon groß anrufen? Diese Nummer dürfte kaum jemand kennen. Nach kurzem Überlegen ging er doch ran. "Wer spricht da?", wollte er ohne jede Begrüßung oder Namensmeldung wissen. Aus einer Intuition heraus auf Englisch, da auch Urnue klassischerweise immer Englisch sprach.

Am anderen Ende herrschte zunächst irritiertes Schweigen. "Ähm ... Hier ist Nyu", meldete sich dann doch noch eine junge Mädchenstimme. "Und mit wem spreche ich?"

"Ah", machte Victor erkennend. Er erinnerte sich gut an die Harpyie, die der Schutzgeist von Rupperts jüngerem Sohn war. "Hier ist Akomowarov."

Abermals schien die Anruferin überlegen und den Namen erst einordnen zu müssen. "Dragomir?"

"Ja, so nennen Ruppert und Urnue mich wohl für gewöhnlich."

"Warum hast du Urnues Telefon?", wollte Nyu verwirrt wissen.

"Weil ich bei ihm bin. Er kann gerade nicht reden."

"Geht es ihm gut?"

Victor musterte den schlafenden Genius. Rupperts Tod lag bereits einen Tag zurück. Victor hatte sich in einem billigen Motel eingemietet, das keine blöden Fragen stellte, und sich mit Urnue in dem Zimmer verschanzt, um ihn unter Aufsicht zu halten. Den konnte man im Moment weder alleine lassen, noch auf andere Leute loslassen. Der Wiesel-Tiergeist war gestern gar nicht mehr ansprechbar gewesen und hatte sich jeglicher Kommunikation und jeglichem Essensangebot verweigert. Er hatte sich gleich in Straßenklamotten auf dem Bett zusammengekauert und den Rest des Tages einfach nur noch Rotz und Wasser geheult, bis er sich irgendwann in den Schlaf geweint hatte. Jetzt, am nächsten Vormittag, schlief er immer noch, wenn auch sehr unruhig. "Körperlich schon. Es geht so", beantwortete Victor Nyus Frage. "Was ist denn los?"

"Was los ist!?", maulte Nyu verständnislos. "Das wollte ich euch fragen! Rupperts Handy ist seit gestern aus und Urnue geht auch nicht ans Telefon! Die Jungs sind in heller Aufregung!"

"Das glaube ich gern."

Urnue regte sich müde, offenbar geweckt von dem Gequatsche im Zimmer, blinzelte die Augen auf, entdeckte Victor mit seinem Handy, und war sofort hellwach. "He! Gib mir das scheiß Telefon wieder!", verlangte er sauer und schnappte es Victor aus der Hand. Da der drüben auf der anderen Bettseite saß, war Urnues Armreichweite dafür ausreichend. Mürrisch hielt er sich das Handy selber ans Ohr, fragte wer dran sei, und setzte das Gespräch mit Nyu dann eigenverantwortlich fort. Erstaunlich offen und unverblümt berichtete er ihr, was vorgefallen war. Er war psychisch selber noch viel zu sehr im Eimer, um auf andere Rücksicht nehmen oder schonend vorgehen zu können. Er warf Nyu eiskalt die Fakten an den Kopf und ließ sie ebenso geschockt zurück, wie er selbst sich fühlte. Danach zog er das Telefonat auch nicht mehr unnötig in die Länge, sondern würgte das Gespräch sehr schnell und konsequent wieder ab.
 

Urnue schmiss das Telefon lieblos neben sich auf die Bettdecke, verschränkte die Arme und starrte zur Decke hinauf, als müsse er irgendwas überlegen.

Victor sah ihn eine Weile besorgt an, wartete aber vergeblich darauf, dass er was sagte. "Wie geht es dir, U.?", erkundigte er sich also behutsam.

Urnue schenkte ihm endlich einen - wenn auch schlecht gelaunten - Blick. "Lass die Finger von meinem Telefon."

"Schon gut, das sagtest du ja bereits. Aber das war nicht meine Frage."

Der Wiesel-Genius antwortete nicht.

"Möchtest du was essen? Du hast seit gestern nichts me-"

"Nein!", blaffte Urnue ihn genervt an.

Victor beobachtete diese Stimmung mit Sorge. Gestern war Urnue noch verzweifelt und affektlabil gewesen, hatte die ganze Zeit geheult und sich gequält. Heute schien der Schmerz einer finsteren, schwelenden Laune gewichen zu sein. Sein Selbstmitleid war in eine Art Hass umgeschlagen, von der Urnue selbst noch nicht wusste, auf wen er ihn richten sollte. Darum bekam vorläufig Victor ihn ab, mangels anderer Opfer. Victor nahm es dem Wiesel-Tiergeist nicht übel. Im Gegenteil war ihm das sogar lieber, als wenn Urnue sich in Selbsthass verfranst hätte. "Wie du möchtest. ... Was wirst du jetzt machen?"

„Ich schätze, ich geh zuerst mal zur Polizei. Die werden eine Menge Fragen an mich haben. Ich werde ihnen zwar kaum eine davon beantworten können, aber ich will zumindest nicht den Eindruck erwecken, untergetaucht zu sein, oder sowas.“

Victor zog kein sehr begeistertes Gesicht, nickte aber trotzdem. "Du solltest dir aber wirklich gut überlegen, was du der Polizei erzählst, und was nicht", hatte er sofort kluge Ratschläge parat. "Über die Motus, meine ich. Ich habe hart dafür gearbeitet, alle Hinweise auf Ruppert zu verschleiern. Eigentlich sollte die Polizei ihm nichts anlasten können und ihn bestenfalls gar nicht mit der Motus in Verbindung bringen können. Sieh zu, dass es dabei bleibt, ja?"

"Jetzt macht´s ja auch keinen Unterschied mehr. Sie werden ihn wohl kaum einbuchten. Er ist tot."

"Sicher, aber du selber lebst noch. Rate doch mal, was sie mit dir als Rupperts Schutzgeist machen werden. Sie werden unterstellen, dass du in alles mit involviert warst und genauso schuldig bist wie alle anderen auch. Es dürfte dir schwer fallen, sie vom Gegenteil zu überzeugen."

Urnue schnaufte unwillig, sah ihm aber auch weiterhin nicht in die Augen.

"Die Polizei wird dich fragen, ob du einen Verdacht hast, wer der Täter gewesen sein könnte. Ob Ruppert Feinde hatte. Oder ob es Gründe gab, warum jemand ihn tot sehen wollte. Lass dich einfach nicht auf Mutmaßungen über den Täter ein, egal wie sehr sie nachbohren. Du weißt nicht, wer es war, und dabei solltest du es gegenüber der Polizei auch belassen."

"Sag mir nicht, was ich der Polizei erzählen darf, und was nicht, Dragomir!", schnauzte Urnue ihn giftig an. Er sprang vom Bett hoch. "Ich werde ihnen ALLES sagen, was ich weiß! Ich will schließlich, dass der Täter gefunden wird!" Er stürmte zur Tür hinaus und ließ diese krachend hinter sich ins Schloss fliegen.

Seufzend fuhr Victor sich mit dem Ärmel über die Stirn. Sein Blick fiel dabei eher zufällig auf die Kommode direkt neben der Tür. Der Autoschlüssel war weg. Victor musste nicht groß rätseln, wo der war. Er hörte ja draußen den Motor starten. Wirklich unvernünftig. Er wusste genau, dass Urnue keinen Führerschein hatte. Ruppert hatte es ihm immer verboten. Victor war einfach mal gespannt, ob er seinen Wagen in einem Stück wiedersehen würde.
 

Die Tür des kleinen Motel-Bungalows ging erst knapp 3 Stunden später wieder auf, Urnue kam hereinspaziert und die Tür fiel hinter ihm wieder zu. Deutlich leiser als beim letzten Mal.

Victor sah aus seiner Tageszeitung auf. Um Magie-Sachbücher zu lesen, fehlte ihm die Konzentration. Er musterte das Gesicht seines Kameraden, um abzuschätzen, wie die Zeugenaussage bei der Polizei ihm bekommen war. Ob er nun nachdenklich oder deprimiert war, oder immer noch so ziellos wütend wie vorhin. Aber Urnues Gesicht war zu verschlossen, um irgendwas dergleichen zu erkennen. „Hey. Wie sieht´s aus?“

Auf diese Frage hin schnaubte Urnue doch abfällig. „Rupperts Leiche ist weg“, gab er bloß zu Protokoll. Etwas säuerlich, als würde er der Polizei schlampige Arbeit unterstellen. „Sie sind deinem anonymen Hinweis gestern zwar gefolgt, aber sie haben nichtmal einen Blutspritzer gefunden, geschweige denn eine Leiche. Jemand muss gründlich aufgeräumt haben, nachdem wir weg waren. Es ist alles verschwunden. Rupperts Aktentasche, sein Handy, ... Sogar sein Auto. Alles. Als wäre er nie dort gewesen.“

Das war zu erwarten, dachte Victor, sagte aber nichts. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, irgendwas über diesen Mord zu wissen. „Und was tun sie jetzt?“

„Suchen. Meine Aussage, dass ich die Leiche doch mit eigenen Augen gesehen habe, reicht ihnen nicht. Ohne Leiche können sie vorläufig nicht mehr als eine Vermissten-Suche einleiten.“

„Bist du mir jetzt böse?“, hakte Victor vorsichtig nach.

„Nein. Wahrscheinlich war es ganz gut, dass du mich gleich von der Leiche weggeschleppt hast. Wären wir noch dort gewesen, als die zum Aufräumen wiederkamen, hätten sie uns sicher gleich mit beseitigt.“ Urnue kam herüber und pflanzte sich frustriert auf die Bettkante.

„Die? Wie kommst du darauf, dass es mehrere waren?“

„Keine Ahnung“, seufzte Urnue und fuhr sich müde über die Augen. „Das war nur so dahingesagt. Ich kann mir zumindest nicht vorstellen, dass einer alleine all die Spuren beseitigen konnte.“

„Und wie fühlst du dich jetzt?“

„Komisch“, gab Urnue nach kurzem Überlegen zu. "Ruppert hat mich zwar in letzter Zeit etwas besser behandelt, seitdem du ihn so zusammengefaltet hast. Aber die 25 Jahre davor hat er damit bei weitem nicht wieder gutgemacht. … Um ehrlich zu sein …“, sinnierte er vor sich hin, „hab ich mich noch nie so frei gefühlt wie jetzt.“ Er überdachte das einen Moment. „Das macht mir schon ein schlechtes Gewissen. Immerhin war er ja mein Schützling. Aber sicher kommt die richtige Trauer noch, wenn ich wieder etwas zur Ruhe komme", versuchte er sich einzureden.

„Du machst durchaus den Eindruck, als wäre es dir nicht egal“, gab Victor ruhig zurück. „Du siehst echt fertig und elend aus.“

„Ja, bin ich auch. Ich will sterben“, gab Urnue trübselig zu. „Aber nicht, wegen Ruppert. Sondern weil mir das Wissen so zusetzt, dass ich als Schutzgeist versagt habe. Es wäre besser gewesen, wenn ich mit gestorben wäre. Das hätte kein so schändliches Bild von mir gezeichnet, wie wenn mein Schützling stirbt und ich noch lebe.“

„Ach U., sag doch sowas nicht“, bat Victor mild. „Es könnte eine Bedeutung haben, dass du noch lebst, hm?“

„Welche denn?“, hielt Urnue zynisch dagegen und schaute Victor endlich in die Augen. „Soll ich den Mörder von Ruppert finden?“

„Ja. - Und vielleicht nicht nur den von Ruppert.“

„Soll ich etwa so werden wie du? Und Motus-Mitglieder jagen?“

Der Russe zuckte beiläufig mit den Schultern. „Warum nicht?“

„Oh Gott“, stöhnte Urnue, als wäre diese Idee das blödeste, was er je gehört hatte, und griff sich an die Stirn. Er schaute wieder weg. „Dragomir, ich hab gerade echt andere Probleme.“

„Ich sag ja nicht, dass du noch heute Nachmittag damit anfangen sollst.“

Eine Weile herrschte Schweigen.

„Glaubst du denn, dass Ruppert von ehemaligen Motus-Typen umgebracht wurde?“, nahm Urnue das Thema dann doch wieder auf.

„Ich weiß nicht recht. Die Motus jagt eigentlich keine Menschen.“

„Das hat nichts zu sagen", wusste der Wiesel-Genius. "Ruppert hatte auch innerhalb der Motus genug Feinde. Er saß auf dem ganzen Geld und hat es nicht rausgerückt. Erst recht nicht mehr nachdem die Motus aufgeflogen war. Ich glaub aber trotzdem nicht, dass es Motus-Leute waren. Die Jungs von der Motus hätten die Leiche nicht einfach stundenlang da rumliegen lassen. Die waren immer arg drauf bedacht, die Beweise zu beseitigen. Denn ‚ohne Leiche keine Mordanklage‘, wie das Motto immer so schön hieß.“

„Ja. Und dich hätten sie sicher auch nicht am Leben gelassen“, pflichtete Victor ihm bei.

„Hör mal … Eins musst du mir aber trotzdem mal verraten“, meinte der Wiesel-Genius. Er drehte sich auf der Bettkante, wodurch er ein Bein hochlegen musste, wandte sich damit seinem Retter aber endlich ganz zu. „Was hattest DU eigentlich hier auf den Orkney-Inseln verloren?“

Victor atmete innerlich tief durch. Jetzt musste er sich zusammennehmen, um glaubwürdig zu sein. Natürlich hatte er diese Frage kommen sehen. Und er hatte wirklich lange überlegt, wie er das Urnue plausibel machen sollte. „Ein Hellseher hat mich hergeschickt. Er hatte ein komisches Gefühl. Allerdings hatte ich keine Ahnung, dass es um Ruppert gehen würde. Oder um einen Mord.“ Das klang doch plausibel, oder? Dass ein Hellseher mit im Spiel war, war ja sogar die Wahrheit. Und trotzdem war es weit genug von der Realität entfernt, um Urnue nicht zu blöden Nachfragen zu veranlassen.
 

Urnue ließ sich nach hinten umfallen, verschränkte die Arme und setzte einen leeren Gesichtsausdruck auf. „Ich bin echt am Arsch“, fasste er seine Überlegungen zusammen. Kurz lag Stille im Raum. Dann wurde er doch noch ausführlicher: „Ich hab absolut gar nichts mehr. Ruppert hat mein Leben lang dafür gesorgt, dass ich wirklich gar nichts habe. Kein eigenes Geld, keine Familie, keinen Freundeskreis bei dem ich jetzt unterkommen könnte, keine Ausbildung mit der ich jetzt eine Arbeit finden könnte … nur eine Handvoll Klamotten im Kleiderschrank und mein nacktes Leben, das ist alles.“

„Josh und Danny werden dich doch sicher aufnehmen, oder?“ Mit Rupperts Söhnen war Urnue doch immer gut ausgekommen.

„Josh wohnt in einer Studenten-WG. Und Danny ist noch minderjährig. Der wird auf direktestem Wege zurück zu seiner Mutter müssen. Die ist die nächste Sorgeberechtigte. … Ich schätze, mir bleibt nur, mich irgendwie bis nach Italien durchzuschlagen. Mit sehr viel Glück finde ich vielleicht meine Eltern wieder, wenn sie noch leben. Nach 25 Jahren Kontaktsperre …“

„Urnue“, unterbrach Victor diesen Gedankengang sanft.

Der Genius sah fragend auf und hatte tatsächlich Tränenränder in den Augen.

„Urnue. Bleib doch bei mir“, schlug Victor in einem um Vernunft bittenden Ton vor. „Du kannst bei mir bleiben. Es wird an nichts fehlen, das verspreche ich dir.“



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