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Blindes Vertrauen

Sieger Frühlings FF Wettbewerb 2004
von

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Alpha - 4: Götterdämmerung

Kapitel 5: Götterdämmerung
 

Hell leuchtete der Spiegel im Sonnenlicht, reflektierte die warmen Strahlen. In ihm bewegte sich eine Gestalt, vielleicht auch mehrere, aber ein genauer Blick blieb dem Betrachter verwehrt, als ein weißes Tuch über das Glas gehängt wurde.

"So breitet sich die Sünde aus!"
 

***
 

Blut. Überall war Blut. Ein rotes, unendliches Meer ohne Ausweg. In ihm trieb ein Schatten. Der Schatten eines Kindes, das doch kein Kind war, schon seit etlichen Jahrtausenden nicht mehr. Bewegungslos, regungslos. Tot.

"NEIN!"

Thor fuhr in die Höhe und seine schreckgeweiteten Augen blickten suchend umher. Als sie das Licht der kleinen Nachttischlampe fanden, die immer in der Nacht brannte, ließ sich der Donnergott mit einem lauten Seufzen auf sein Kissen zurück sinken. Stumm starrte er an die Decke seines Bettes, in das er sich zur Ruhe begeben hatte, nachdem er zwei von Midgars Okonomiyaki gegessen und sich davon überzeugt hatte, dass es den beiden Söhnen gut ging.

Wie spät ist es?

Thor tastete nach seiner Armbanduhr und gähnte herzhaft, als die Zeiger ihm zehn Minuten nach Mitternacht anzeigten.

Gerade zwei Stunden Schlaf!

Dennoch wusste der Donnergott aus Erfahrung, dass an weiteren Schlaf in dieser Nacht nicht zu denken war. Nicht, nachdem ihm wieder dieser Alptraum heimgesucht hatte. Während er die ersten Tage und Wochen ohne Schlaf auskam, bis sein irdischer Körper sehr krank wurde und er einsehen musste, dass er sich trotz der wenigen göttlichen Kräfte, die ihm geblieben waren, nicht vor seinen Ängsten verbergen konnte. Die Alpträume, besonders dieser Alptraum, wurde seltener, raubte ihm seit jenem Abend, an dem Mayura blutend zusammen brach, jedoch erneut den Schlaf.

Kurz nach Mitternacht.

Thor gähnte erneut und zwang sich schließlich aufzustehen. Er konnte sich nun zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden. Entweder er suchte erneut ein wenig Schlaf, um weitere Alpträume zu finden und sich am nächsten Morgen noch geräderter zu fühlen, oder aber er beschäftigte sich für den Rest der Nacht. Letztere Wahl gefiel seinem übermüdeten Körper nicht besonders, dafür aber seinen Gedanken, die alles tun würden, um nicht wieder die Bilder eines sterbenden Gottes sehen zu müssen.

Thors Blick fiel auf die eingerahmten Photographien auf seinem Schreibtisch und er biss auf seine Unterlippe, versuchte krampfhaft, den Kloß in seinem Hals hinunterzuwürgen. Zu heftig waren die Erinnerungen an jene Augenblicke, da er den erschlaffenden Körper in seinen Armen hielt und hilflos zusehen musste, wie Heimdal auf Lokis Bett verblutete und dann plötzlich verschwand.

Ich habe damals das Körbchen auf den Stufen Walhallas gefunden. War es mein Schicksal, dass ich ihn auch wieder gehen sehen musste? Auf diese brutale Weise?

Thor hatte einmal den Mut aufgebracht und Urd diese Frage gestellt. Die Schicksalsgöttin hatte ihn traurig angesehen und anschließend waren sie in eine Bar gegangen und hatten sich mit Sake fast zur Besinnungslosigkeit betrunken. Belldandy und Skuld waren nicht glücklich gewesen, sie im Morgengrauen torkelnd in einer Gasse Tokios vorzufinden.

Sake.

Der Donnergott stülpte sich einen dunklen Pullover über seinen schwarzen Schlafanzug und suchte seine Hausschuhe. Da er sie nicht finden konnte, zuckte er mit den Schultern und tapste barfuss in den finsteren Gang hinaus. Obwohl der Frühling bereits mit voller Kraft begonnen hatte, die Kirschbäume weiß und die Wiesen grün zu färben, so konnte es in der Nacht doch noch recht kühl sein. Thor fröstelte ein wenig, während er auf den kalten Dielen Richtung Küche lief. Wenn er keinen Schlaf finden würde, so könnte er sich wenigstens um das Frühstück kümmern. Natürlich war Midgar der bessere Koch, aber verschlief in letzter Zeit häufig, da er bis weit in die Nacht hinein auf seinen Vater wartete, der im Krankenhaus seine Frau besuchte oder noch durch die Straßen streifte. Zu Beginn hatte Thor befürchtet, dass Loki sich betrinken würde, so wie er es damals nach dem Tod von Hels Mutter getan hatte. Loki vertrug viel, aber auch sein Alkoholpensum stieß irgendwann an ihre Grenzen. Thor machte sich ernsthafte Gedanken, dass Loki sich vielleicht etwas antun könnte, so wie damals in Walhalla, wo er den Ritus von Niflheim durchführte.

Erleichtert hatte der Donnergott den des Unheils fast immer in dem Tempel von Mayuras Vater gefunden.

Hoffentlich ist Loki wirklich zu ihr ins Krankenhaus gegangen und starrt nicht wieder den Altar hasserfüllt an.

Thor schlug die viel zu weiten Ärmel seines Pullovers zurück und schob langsam die Tür zur Küche auf. Einst hatte das Kleidungsstück ihm gepasst, aber Mayura hatte sich immer um die Wäsche gekümmert und nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war, übernahm Thor diese Aufgabe - mit dem durchschlagenden Erfolg, dass er die Kleidung entweder ausleierte oder einging. Migar erbarmte sich schließlich seiner, las die Bedienungsanleitung der Waschmaschine durch und seitdem konnten sie wieder ohne Bedenken ihre Anziehsachen in den Schlund des weißen Ungetüms stecken.

Sake.

Der Donnergott öffnete den Kühlschrank und sah die dunkle Flasche sofort. Aber er ignorierte sie und ergriff statt dessen die Milchpackung. Seine Hände zitterten leicht, als er sich ein Glas aus dem Schrank holte und es mit der weißen Flüssigkeit füllte. Diese starrte er für eine Weile schweigend an, bevor er sie in großen Schlucken trank.

Nein, er würde sich heute nicht betrinken. Er würde es nie mehr machen, es brachte ihm nichts. Nicht einmal mehr das wunderbare Vergessen, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte, als er vor zehn Jahren begreifen musste, dass er Heimdal verloren hatte, dieser nie mehr zurückkehren würde. So zumindest sagten es ihm Loki und die anderen, die Heimdal in jener Nacht bluten gesehen hatten. Ja, sogar Thors Verstand riet ihm, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, während sein Herz hoffte. All die Jahre lang. Eine vergebliche, eine trügerische Hoffnung. Eine schmerzhafte Hoffnung, die er manchmal nicht mehr ertrug. Besonders dann nicht, wenn er wieder in die leere Wohnung gegangen und dort die ganze Nacht hindurch gewartet hatte. Auf ein Wunder, dass nicht geschehen würde. Selbst ihm als Gott nicht.

Das erste Jahr nach Heimdals Tod hatte sich Thor in die Schularbeiten gestürzt, als hinge sein Leben davon ab. Bis tief in die Nacht hinein lernte er, oft sogar zusammen mit Mayura und einigen ihrer Mitschüler, die langsam auch seine Freunde wurde. Oder bessere Bekannte, er wusste es nicht. Er würde es nie wissen, aber sie waren nett, wenn sie auch nicht verstanden, was in ihm vor ging. Nicht einmal Loki schien es zu verstehen, obwohl der Unheilsgott ebenfalls betrübt aussah. Aber Loki hatte seine Mayura, die ihn aufheiterte. Er, so erschien es dem Donnergott, hatte niemanden mehr.

Der Schulabschluss kam und plötzlich stand Thor ohne Pläne für seine Zukunft da. Für eine düstere Zukunft, die ihn nicht mehr interessierte. Er wollte nicht mehr nach Asgard zurück kehren, selbst wenn Odin ihn wieder aufgenommen hätte. Jede Ecke hätte ihn an Heimdal erinnert. An ein Kleinkind, das seine ersten unsicheren Schritte in seine wartenden Arme getan hatte. An einen frechen Jungen, der ihm die Zunge herausgestreckt und ihn aufgefordert hatte, ihn doch zu fangen. An einen jungen Mann, der ihn wütend angeblitzt hatte, um dann doch seiner Forderung nachzukommen, wenn auch zähneknirschend. An einen erwachsenen Gott, der verstohlen gelächelt hatte, wenn Lokis Kinder um ihn herum gewesen, wenn Hel in seinem Arm geschlafen, wenn Thor der Rasselbande eine lustige Geschichte vorgelesen hatte.

Das Zeugnis verbannte er in die Tiefen seines Schreibtisches in seiner winzigen Wohnung und verbrachte die folgenden Monate in einem Dämmerzustand, in dem er wahllos jeden Alkohol in sich herein schüttete, den er finden konnte. Den er mit dem wenigen Geld, das er besaß, kaufen konnte. Obwohl er Sake bevorzugte. Wenig reichte schon aus, um ihn so richtig betrunken werden zu lassen, um ihn weiter an sein Ziel des Vergessens zu bringen. Er verlor irgendwann seine Wohnung und auch seinen Lebensmut. Es war mitten im Winter nach ihrer Schulentlassung, als Thor inmitten eines Schneesturmes stehen blieb und zu verstehen begann, warum Loki den Ritus von Niflheim beschwor, um seiner toten Tochter zu folgen. Ja, er hatte sich sogar gewünscht, in jenem Sturm zu erfrieren, um wieder bei Heimdal zu sein. Um sich wieder um den schmollenden Wächter zu kümmern, wie er das sein ganzes Leben getan hatte, nachdem er eines morgens die großen Portale öffnete, um im Garten spielen zu gehen, und beinahe über das kleine Körbchen stolperte. Noch zu gut konnte er sich an die großen, roten Augen erinnern, die ihn aus dem Inneren gemustert hatten. Nie würde er das glucksende Lachen vergessen, das ihm Heimdal schenkte, da er das Baby auf den Arm nahm und zu Odin trug.

Er hatte den kleinen Gott sofort geliebt - und der Gedanke, ihn nie mehr wieder zu sehen, brach ihm das Herz, so wie der Verlust seiner Kinder Loki beinahe zerstört hatte.

Vielleicht hatte es der Unheilsgott geahnt, kannte er Thors Schmerz nur all zu gut, oder aber er hatte sich einfach Sorgen gemacht, auf jeden Fall tauchte Loki plötzlich neben ihm in dem Schneesturm auf und erklärte ihm, dass er Mayura einen Heiratsantrag gemacht und sie angenommen hätte. Die Hochzeit würde nächsten Frühling stattfinden und sie beide wollten Thor als Trauzeugen. Sie beide brauchten ihn.

Der Donnergott wäre damals gerne in dem Schneesturm stehen geblieben, aber er folgte Loki in dessen Haus, in dem er Unterschlupf und so etwas wie eine Perspektive fand. Mayura, die sich für eine Laufbahn als Polizist entschieden hatte, um später Lokis Detektei übernehmen zu können, redete so lange auf ihn ein, bis er sich schließlich zu einem Studium überwand und dieses im Sommer nach dem rauschenden Fest auch aufnahm.

Ohne Loki wäre ich jetzt auch in Niflheim.

Und wenn ich besser aufgepasst hätte, wäre Heim noch hier.

Thor strich sich einige Strähnen seines vom Schlaf wirr abstehenden Haares hinter die Ohren und stellte das Glas in die Spüle. Gerade wollte er den Kühlschrank erneut öffnen, um die Zutaten für das Frühstück hervor zu kramen und zu hoffen, dass er nicht all zu viel Lärm verursachen und jemanden wecken würde, als er den empörten Schrei vernahm.

Die Tür knallte wie von selbst wieder zu und Thor drehte sich um, starrte verwirrt in die dunkle Küche um ihn herum. Hatte er das gerade richtig gehört? Ein Schrei?

Stille.

Vollkommene Stille.

Der Donnergott runzelte seine Stirn, aber da ertönte das Geräusch erneut. Eindeutig, es war ein lautes Brüllen, das aber sofort wieder verschwand.

Bin ich jetzt schon vollkommen durchgedreht?

Thor tastete nach dem Besen, der in der Ecke stand und schlich sich leise auf den Gang hinaus. Sein Holzkatana, in das er seinen Hammer gebannt hatte, stand noch in seinem Zimmer an das Bett gelehnt, aber er dachte nicht einmal an seine eigentliche Waffe, als er auf Zehenspitzen über die Dielen lief. Das Geräusch ertönte noch zwei Mal und mit Schaudern stellte er fest, dass es sich dabei nicht um Midgar oder Fenrir handelte, die sich vielleicht verletzt hatten oder aus anderen Gründen um Hilfe riefen. Nein, diese Stimme war viel höher, jünger.

Ein Baby schreit.

Der Donnergott schüttelte seinen Kopf und hielt den Besen fester vor seinem Oberkörper. Das konnte nicht sein, in diesem Haus gab es kein Kleinkind, selbst wenn Lokis Zimmer geradezu vollgestopft war mit Spielsachen und eine verwaiste Wiege in der Ecke stand.

Ich hab doch gar nichts getrunken, wirklich nicht!

Oder befand er sich in einem anderen Traum? Einen weiteren Alptraum? Hatte ihn doch der Schlaf übermannt, bevor er aufstehen und in die Küche gehen konnte?

Die Schreie, die nun wieder vollkommen verstummt waren, kamen eindeutig aus dem Wohnzimmer. Was würde ihn erwarten, wenn er die Tür nun aufstieß? Ein weiteres Meer aus Blut? Würde nun neben Heimdal auch die kleine Hel mit in dem roten Strudel treiben? Oder würde sich Heimdal auf ihn stürzen und ihn für seinen Tod verantwortlich machen?

Will ich wirklich da rein?

Thor seufzte leise und hielt den Besen schützend vor seinen Oberkörper, während er mit seinem rechten Fuß die Tür aufschubste, die nur leicht angelehnt gewesen war. Helles Licht umhüllte ihn und geblendete kniff er seine Augen zusammen. Als er sie öffnete, war er sich sicher, in einem Traum zu wandeln, der sich später vermutlich in einen Alptraum verwandeln würde. Im Moment interessierte das den Donnergott herzlich wenig, zu sehr war er von dem Bild eingenommen, das sich ihm bot.

Mayura saß auf ihrem Lieblingsplatz auf der Couch und strahlte über das ganze Gesicht. Die junge Frau hing nicht länger an diversen Schläuchen und nervig piependen Apparaturen, ihr Körper wirkte nicht mehr ausgemergelt und krank. Nein, ihre Wangen waren gerötet und sie besaß eine gesunde Gesichtsfarbe. Kein Schmerz war mehr in ihrem Blick zu sehen, nur noch Freude. Unendliche Freude. Ihre braunen Augen ruhten liebevoll auf dem Bündel, das sie in ihren Armen hielt, die nicht länger bebten. Thor erkannte in dem Baby, das Mayura zärtlich wiegte, sofort Hel. Midgar stand hinter dem Sofa und sah mit Tränen in den Augen über Mayuras Schulter in das winzige Gesicht seiner kleinen Schwester, während Fenrir mehrfach versuchte, auf den Schoß seiner Ziehmutter zu klettern, vor Schreck aber jedes Mal zurück auf das weiche Sofakissen fiel, als Hel erschrocken aufschrie, im nächsten Moment von ihrer Mutter jedoch zärtlich getröstet wurde.

"Fenrir-chan, du darfst nicht so nah an ihr Gesicht rangehen, du erschrickst sie."

"Ja, Mommy."

Also ist das einer von den Träumen, die wundervoll anfangen und dann grässlich enden. Was wird dieses Mal geschehen? Wird Odin kommen und Mayura ihr Kind in einem Meer aus Blut verlieren? Oder wird er ein Monster schicken? Oder wird Mayura in einem hellen Licht verschwinden? So wie Heimdal verschwunden ist?

"Hallo, Thor."

Die helle Kinderstimme lenkte Thors Blick von einer strahlenden Mayura im Kreise ihrer Kinder auf Loki, der neben ihr auf dem Sofa saß und seine rechte Hand schützend auf das weiße Bündel gelegt hatte, das seine Tochter war. Der Unheilsgott wirkte noch immer so müde wie Thor ihn vor einigen Stunden, bevor er einschlief und dieser seltsame Traum begann, praktisch aus dem Haus geworfen und in die Klinik zu seiner Frau geschickt hatte. Aber er lächelte glücklich. Freude sprach aus seinem ganzen Wesen. Freude, die Thor während der letzten Wochen schmerzlich vermisst hatte, da er sie die Monate davor im Überfluss erlebte. Freude, die verrauchen würde wie dieser Traum. Ein so wunderschöner Traum. Wie grausam würde da erst der Alptraum ausfallen, in den sich das Bild vor Thor verwandeln würde? Gewiss bald?

"Hallo." Thor runzelte seine Stirn, als ihm bewusst wurde, dass Loki nicht länger in der Gestalt auf dem Sofa saß, in der er als Gott Unheil über die Menschen gebracht, in der er Mayura einen Heiratsantrag gemacht und ihr sein Wort gegeben hatte. Dieser Loki, der sich an seiner kleinen Tochter gar nicht satt sehen konnte, befand sich wieder in dem Kinderkörper, in den Odin ihn einst auf die Erde verbannt hatte. Mayura schien dies gar nichts auszumachen, denn sie beugte sich kurz zu ihm hinunter und gab ihn einen zärtlichen Kuss, woraufhin Midgar schamhaft errötete und Fenrir fröhlich auf seinem Kissen auf und ab sprang, um einen besseren Blick auf seine kleine Schwester erhaschen zu können.

Was für ein seltsamer Traum ist das? Wunschdenken und Erinnerungen gemixt?

Ein grünliches Leuchten umgab den Unheilsgott bei seinen Bewegungen. Thor konnte es nicht zuordnen. Natürlich hatte er ähnliches bereits in Walhalla gesehen, als Loki noch als nordischer Gott tätig war, noch nicht in der Verbannung lebte und die meisten seiner göttlichen Kräfte durch Odins Verstoß eingebüßt hatte. Den Rest seiner Kraft benutzte der Unheilsgott selten.

Wenn das eine Vorhersagung der Schwestern in einen Traum gepackt sein soll, so versteh ich sie nicht. Oder ist Urd mal wieder betrunken?

"Nimm endlich den Besen runter, das sieht dämlich aus!" Diese Stimme kannte Thor, obwohl er sie seit zehn Jahren nicht mehr gehört hatte. Er hätte sie überall und jederzeit wiedererkannt. "Sind hier schwarze Schlafanzüge die Mode oder was?"

Thor drehte seinen Kopf und der Besen fiel scheppernd zu Boden, als er Heimdal in dem Fernsehsessel lümmeln sah. Ja, lümmeln war der richtige Ausdruck. Der Wächter ließ seine Beine lässig über die Lehne baumeln, während er auf einem Schokoriegel kaute. Wie auch Loki saß Heimdal im Kinderkörper im Wohnzimmer und ein ähnlich grünliches Leuchten umgab auch seine Gestalt. Das rechte Auge blitzte ärgerlich, aber er schien unverletzt zu sein. Thors Blick suchte kurz den kleinen Körper ab, konnte aber zu seiner Erleichterung keine Wunden oder gar Blut sehen.

Noch nicht. Warte erst ab, wie sich dieser Traum noch entwickelt!

Aber ich muss das hier nicht verstehen, oder?

"Soll ich dir einen Tee machen, Thor-sama?" Midgar riss sich endlich von seiner Ziehmutter und seiner kleinen Schwester los und wandte sich freudig lächelnd an den Donnergott. Dieser setzte sich auf die Kante des Tisches und nickte, da er nichts besseres zu erwidern wusste.

"Und mir eine heiße Schokolade." Grinste Heimdal unverschämt, aber Thor wusste instinktiv, dass ihn etwas beschäftigte. Der Donnergott hatte den Wächter mehrere Jahrtausende um sich herum gehabt, er wusste den Gesichtsausdruck Heimdals ganz genau zu deuten. Der kleine Gott stand kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren und einen zornigen Streit vom Zaun zu brechen.

Ich habe ihn immer so gut lesen können, warum hab ich dann übersehen, dass es ihm so schlecht ging, dass er so krank war?

Thor seufzte leise und musste nicht lange auf den Wutausbruch Heimdals warten.

"Kannst du mir jetzt endlich mal erklären, was dieser ganze Scheiß soll?" fuhr der Wächter den selig lächelnden Vater an. "Du kannst dir die ganze Mühe gleich sparen, Loki, ohne mein Auge werde ich nie meine Macht zurück erlangen und ohne Macht fahr ich sowieso wieder in Niflheim ein. Du kannst mich nicht ewig davor bewahren."

"Loki hat dich aus Niflheim geholt?" fragte Thor, bevor er sich stoppen konnte. Das würde natürlich erklären, warum Loki seine Kindergestalt angenommen hatte, denn sie sparte ihm Kraft, die er vermutlich auf Heimdal übertrug, um ihm in dieser Welt zu halten. Deswegen umgab die beiden also dieses ungesund grüne Leuchten.

Thor war verblüfft darüber, dass einer seiner Träume ein wenig Logik vermittelte, normalerweise watete er ziellos durch tiefes Blut und manchmal wurde die Traumwelt sogar auf den Kopf gestellt oder verwandelte sich in einen reißenden Strudel.

"Nein, Heimdal hat Mayura Hel zurück gegeben und ich lass ihn nicht mehr nach Niflheim gehen."

"Sehr großmütig, Idiot, aber auch deine Macht wird irgendwann erschöpft sein. Also lass es gleich sein, ich bin sowieso tot."

Ein Traum mit logisch denkenden Hauptpersonen.

Absolut seltsam.

"Das glauben aber nicht alle in diesem Raum."

"Eine heiße Kartoffel und ein dummes In-die-Hände-Klatschen bringen mich auch nicht wieder ins Leben!"

"Dein Auge schon."

"Du willst es mir ja nicht geben!"

"Aber ich weiß, wo es ist... zumindest vermute ich das..."

"Weil du es mir gestohlen hast!"

"Nein, hab ich nicht, zum hunderttausendsten Mal!"

Sie streiten sich in meinen Träumen genauso wild wie damals, als Heimdal noch lebte. Ich muss wohl sehr viele Streitereien erlebt haben, um so etwas Reales zu träumen.

"Er hat es wirklich nicht, Heim, sonst hätte er dich nicht verbluten lassen." Thor wusste, dass dieser Traum vergehen würde und alles, was er sagte, würde keine Bedeutung mehr haben, aber er musste einfach etwas sagen, egal, wie sinnlos es war. Loki war wirklich unschuldig. "Er hat auch um dich getrauert. Ich habe die letzten acht Jahre hier gelebt, Heim, und ich habe nie auch nur einen Hinweis gefunden, der Lokis Verrat bestätigt hätte."

"Es war Odins Werk gewesen." Der Unheilsgott war von dem Sofa gesprungen und ging zu dem Wächter hinüber, der wild mit seiner rechten Hand in der Luft gestikulierte - und damit den Schokoriegel auf dem gesamten Sessel verteilte.

"Das glaubst du doch wohl selbst nicht!" Heimdals Auge funkelte zornig und er erhob sich seinerseits, bemerkte gar nicht, dass er mit seinen Stiefeln den sauberen Stoff beschmutzte. Midgar würde sicherlich Stunden brauchen, um den Dreck wieder zu entfernen. "Odin hat immer auf meiner Seite gestanden, als du mich verraten hast, Loki! Er wollte mir helfen, als es mir immer schlechter ging. Ihr habt euch hier beim Kartenspiel amüsiert, aber er ist in diese verdammte Wohnung gekommen und hat mit mir gesprochen, hat versucht, mich zu trösten und mich zu heilen!"

Ja, ich habe nicht gesehen, dass Heimdal litt, das werde ich mir nie vergeben.

Thor blickte kurz auf und dankte Midgar, der ihm eine Tasse Tee in die Hand drückte. Die heiße Schokolade stellte er auf den Tisch, blickte kurz auf Heimdals dreckige Stiefel, sagte jedoch nichts, als er wieder hinter seiner Ziehmutter Stellung bezog. Er kannte die Streitereien noch zu gut aus der Vergangenheit, er wusste, dass seinem Vater keine Gefahr drohte. Keine wirkliche Gefahr.

"Warum bist du dann in Niflheim eingefahren, Heimdal?" konterte Loki und Thor sah, wie Heimdal nach Luft schnappte, ihm aber offensichtlich geeignete Schimpfwörter fehlten, die er seinem Rivalen an den Kopf werfen konnte. "Meinst du nicht, dass Odin stark genug gewesen wäre, dieses Unglück zu verhindern?"

"Das glaube ich dir nicht! Das ist alles Verleumdung! Odin hat an mich geglaubt und mir immer geholfen! Er hat mich nicht verraten, so wie ihr!" Er wies auf Loki - und auch auf Thor, der leise seufzend seinen Tee umrührte. Langsam entwickelte sich der Traum in den Alptraum, den er die ganze Zeit schon erwartet hatte. Gleich würde Heimdal wieder blutend zusammen brechen, ihn verfluchen und er würde erneut schweißgebadet in seinem Bett erwachen und sich für all das hassen, was er versäumt hatte.

"Heimdal! Das..."

"Wer war denn sonst in dem Raum, als ich mein Auge verloren habe? Thor und du, niemand anderes! Kein Odin, keine Norns, nur ihr zwei, meine einst besten Freunde! Verraten habt ihr mich, alle beide!"

"Ich hab dich nie verraten." Flüsterte Thor, rührte weiterhin den Tee um, den er nicht trinken würde. Seine Brust schmerzte und er wollte so schnell wie möglich aufwachen. Es war leichter mit seiner Schuld zu leben, wenn ihm nicht ständig jemand seine Fehler unter die Nase rieb. Seinen Gedanken entkam er nicht, trotzdem war es besser, wenn sie in seinem Kopf umherschwirrten und nicht Heimdals gereizte Stimme.

"Ach ja? Seltsam, warum hab ich hier nur eine Höhle?" Heimdal lüftete mit seiner freien Hand die violetten Strähnen und deutete auf sein fehlendes Auge.

"Weil Odin..."

"Hör mir auf mit dem Scheiß! Odin liebt mich wie seinen Sohn und..."

"Odin hat sich nie auch nur einen Dreck um dich gekümmert!" Thor stellte die Tasse scheppernd auf den Tisch und zuckte leicht zusammen, als heißer Tee seine Finger verbrühte. Einen derartig realistischen Traum hatte er noch nie durchleiden müssen. "Ich habe dich damals auf den Stufen Walhallas gefunden, Heim! Nur weil ich Odin bekniete und er mir wohl so etwas wie einen Spielgefährten geben wollte, durfte ich dich behalten. Um dich hat er sich nie gesorgt, du wurdest in meine Obhut gegeben und es war ihm egal, was ich mit dir anstellte. Ich war damals selbst erst einige Jahrtausende alt, Heim, und hatte absolut keine Ahnung vom Windeln, Füttern und all den Sachen, die ein Baby benötigt. Aber ich hab's mir angelernt, ich hab ein paar andere ältere Götter genervt und hab es hinbekommen, auch wenn du mir die ersten Mahlzeiten ins Gesicht gespuckt hast."

Thor war aufgestanden und blickte direkt in Heimdals blitzendes Auge. Der Donnergott wusste, dass dieser Alptraum umso schlimmer werden würde, je mehr er sagte, aber er wollte, dass Heimdal ihn verstand. Nein, er wollte nicht länger mit dem Gedanken leben, dass der Wächter ihn gehasst haben könnte, da er kurz vor seinem Tod glaubte, Thor hätte ihn verraten.

"Ich habe dich groß gezogen, genauso wie ich mich immer um Loki gekümmert habe. Ihr wart Odin doch egal, genauso, wie ich ihm egal war."

"Diese Verleumdungen höre ich mir nicht länger an!" Heimdal schleuderte den Schokoriegel wütend auf den Fußboden und wollte aus dem Raum stapfen, aber Thor hielt ihn zurück. Der Stoff des T-Shirts fühlte sich seltsam warm und real unter seiner Hand an.

"Odin hat ein Mal für dich gesorgt, als ich nicht da war. Wie oft hab ich mich um dich gekümmert, als er sich nicht hat blicken lassen? Verdien ich für die paar Jahrtausende denn kein Vertrauen?"

"Vertrauen?" zischte Heimdal und drehte sich um, um erst zu Thor und dann zu Loki zurück zu blicken. "Ich soll euch vertrauen und Odin nicht? Ihr seid doch diejenigen, die immer behauptet haben, meine allerbesten Freunde zu sein und die mich dann verraten haben! Und euch soll ich vertrauen?"

"Heim, bitte..."

Lass mich aufwachen! Ich will diesen Alptraum nicht länger durchstehen müssen!

"Gut, dann misstraust du uns eben. Das Problem mit deinem Auge und Niflheim bleibt. Ich schick dich da nicht zurück, vergiss es, und wenn du noch so sehr rumtobst!" Loki verschränkte seine Arme vor der Brust und sah sehr zornig, aber auch sehr entschlossen aus. "Du hast mir meine Tochter gebracht, dafür stehe ich in deiner Schuld."

"Vergiss es, ich hab's nicht für dich getan, sondern für sie." Heimdal deutete auf Mayura, die Hel sanft in ihren Armen wiegte. Die junge Frau blickte von dem Baby auf und lächelte den Wächter sanft, so unendlich dankbar an.

In dem Moment entschied Hel, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit erhielt, und fing laut an zu brüllen. Sie ballte ihre kleinen Fäuste und winzige Tränen glitzerten in ihren dunkelgrünen Augen.

"Hunger?" vermutete Thor und spürte, wie Heimdal unter seiner Hand leicht zusammen zuckte, als erinnerte er sich an etwas Unangenehmes.

"Hunger und volle Windeln, vermute ich mal." Grinste Mayura, hielt ihre Tochter sicher in ihren Armen und erhob sich. Midgar und Fenrir standen sofort zu ihrer Seite. Sie würden ihre Ziehmutter und ihre kleine Schwester so schnell nicht mehr verlassen.

"Brauchst du meine Hilfe?" bot sich Thor an. Traum hin oder her, Windeln konnte er noch immer sehr gut, hatte er doch mehrere Jahrtausende an Übung gehabt.

"Arigatou, aber nein. Loki und ich haben genug Seminare darüber besucht, ich denke, ich bekomm das schon hin. Kommt, Jungs." Mayura hielt ihre Tochter sanft fest, blieb aber im Türrahmen stehen und sah zu Heimdal zurück, der das Baby in ihren Armen mit einem fast sehnsüchtigen Blick begutachtete.

"Ich danke dir von ganzem Herzen, Heimdal-kun. Außerdem würde ich mich freuen, wenn du Lokis Angebot annehmen würdest und hier bleiben könntest. Ich denke, auch Hel fände das super, nicht wahr, meine Süße?" Sie herzte das Baby, warf Loki einen Blick zu, der mehr sagte als tausend Worte, und war im nächsten Moment zur Tür hinaus, ließ einen sichtlich verwirrten Heimdal vor einer plötzlich verschlossenen Tür stehen.

"Na toll!" knurrte der Wächter und setzte sich schwungvoll auf das Sofa, wo Mayura noch vor wenigen Minuten zusammen mit ihren Kindern gesessen hatte. Heimdal verschränkte die Arme vor seiner Brust und starrte seine ehemals allerbesten Freunde skeptisch an. "Und was habt ihr jetzt vor?"

So bald wie möglich aufwachen.

Thor ergriff erneut seine Tasse und schlenderte zum Fenster hinüber. Kurz sah er hinaus, aber eine normale Frühlingsnacht hieß ihn willkommen. Nirgendwo konnte er Blut oder ein Monster erkennen, das ihn bald angreifen, ihm erneut Heimdal und Hel entreißen würde. Jeden Moment würde Mayura zu schreien beginnen und er würde zu spät kommen, um ihr zu helfen - oder wieder hilflos daneben stehen, während sie mit ihrem Leben rang - und das Leben ihres Kindes verlor.

"Wir gehen zu Odin und fordern dein Auge zurück."

"Trottel! Er hat mein Auge nicht! Wie oft..."

"Ich diskutiere nicht weiter mit dir, Heimdal. Wir haben keine Zeit für unsere üblichen Spielchen..."

"Das nennst du Spielchen? Das ist blutiger Ernst, du..."

"Dein Leben ist in Gefahr, Heimdal, und ein zweites Mal werde ich das nicht leichtfertig übersehen. Wir gehen zu Odin und fordern für dich eine zweite Chance. Entweder er gibt dir dein Auge zurück - oder nimmt dich wenigstens in Walhalla wieder auf. Es ist mir egal, was du lieber glauben willst, meinetwegen, dann halte mich eben für den Verräter, aber ich lass dich nicht mehr zurück nach Niflheim gehen! Verstanden?"

Loki fuhr sich über die müden Augen. Thor wünschte, dass Loki wenigstens in seinen Träumen nicht so erschöpft aussehen würde. Sie alle hatten ein wenig Schlaf nötig, wenn auch ohne lästige Alpträume.

"Es wird verdammt gefährlich werden, einfach nach Walhalla zu spazieren und dich Odin stellen, obwohl er dich - zu Recht - verbannt hat." Heimdal schloss sein Auge, auch er wirkte nicht viel munterer als Loki aussah und Thor sich fühlte.

"Mir bleibt kaum eine andere Wahl. Du hast Niflheim nicht verdient, genauso wenig wie meine Tochter. Du glaubst doch wohl nicht allen Ernstes, dass Odin Hel dieses Mal in Ruhe lässt, nachdem er sie mir schon zwei Mal fortgenommen hat, oder?"

"Ist mir scheißegal."

"Mir aber nicht." Loki schüttelte seinen Kopf. Thor sah, dass sein Entschluss feststand. Sie würden nach Asgard gehen und Odin zu einem letzten entscheidenden Kampf stellen. Wenn dies die Realität gewesen wäre, Thor hätte sich vermutlich erleichtert gefühlt, denn damit würde es bald vorbei sein - entweder mit einem guten oder mit einem schlechten Ende. Wie besagte schon ein altes Sprichwort? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Nach zehn schier endlosen Jahren stimmte Thor ihm aus tiefstem Herzen zu.

"Ich ruf die anderen an." Loki schaute kurz auf die große Standuhr und gähnte unterdrückt. Es war mittlerweile kurz nach ein Uhr morgens. "Am besten wir verabreden uns alle für morgen Abend oder so, ich werde Odin wohl kaum besiegen, indem ich ihn zu Boden gähne."

"Tu, was du nicht lassen kannst, meine Unterstützung hast du aber nicht."

"Hatte ich nie." Loki zuckte seine Schultern und trat näher an Heimdal heran, der ihn nicht sehen konnte. Der Wächter zuckte leicht zusammen, als er plötzlich Lokis Hand auf der seinen spürte. "Willkommen zu Hause, Heimdal."

Der Wächter verzog angewidert seinen Mund und wollte etwas Passendes kontern, aber Loki hatte den Raum bereits verlassen, um das Telefon aufzusuchen und die anderen Götter mitten in der Nacht aus ihrem Schlaf zu läuten.

In diesem Traum geschieht wenigstens mal etwas. Vielleicht ist es doch eine Vorhersehung oder die Schwestern halten es einfach nicht mehr aus, Loki so traurig zu sehen, oder aber sie wollen einfach wieder zurück nach Walhalla. Auf der Erde kann es schön sein, erst recht als gefragte Journalisten, aber die Heimat ist doch etwas anderes.

Obwohl Thor selbst nicht den Wunsch verspürte, nach Asgard zurück zu kehren. Solange er bei den Göttern beziehungsweise Menschen war, die ihm etwas bedeuteten, war er überall zu Hause.

Der Traum hat bereits zu lange angedauert, gewiss folgt gleich die Katastrophe. Heimdal wird sterben, Mayura wird weinend nach Hel suchen und Loki wird vielleicht den Ritus von Niflheim anwenden, nur, dass ich ihm dieses Mal nicht helfen kann. Werde ich im Blut waten? Werde ich schreiend aufwachen und mich für den Rest des Tages fragen, warum es mir als Gott nicht möglich gewesen war, Heimdal zu helfen?

Thor nahm einen Schluck des mittlerweile kalten Tees und seufzte tief.

Ich will einfach, dass das alles vorbei ist.

"Loki will die Revolution?" stöhnte Heimdal genervt und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Thor drehte sich um und betrachtete ihn schweigend, wünschte sich innerlich, ihn aus diesem Traum in die Wirklich nehmen zu können. "Und was willst du?"

"Meine Familie zurück. Dich zurück, Heim." Thor stellte die Tasse auf das Fensterbrett und lehnte sich gegen das Glas, das sich unter seiner Stirn realistisch kühl anfühlte. Gleich würde die Katastrophe über ihn herein brechen, selbst der schönste Traum konnte bei ihm nicht so lange halten, nicht während der letzten zehn Jahre. Er hörte, wie Heimdal vom Sofa rutschte und zu ihm hinüber ging. Erneut reichte ihm der Wächter nicht einmal bis zur Brust und beschwor somit alte Erinnerungen, in denen Thor der Vater, der ältere Bruder und der beste Freund auf einmal für den kindlichen Gott gewesen war. Als Heimdal ihm noch vertraute. Bevor er auch in ihm einen Verräter sah.

"Langsam weiß ich nicht mehr, was ich, wem ich glauben soll." Das grüne Leuchten verstärkte sich um den Kinderkörper und Heimdal fuhr sich über das intakte Auge, rieb die Wange darunter nachdenklich.

"Dann glaub dir selbst."

"Selten dämlicher Spruch, Thor, wirklich. Bist du weich geworden während der letzten zehn Jahre?"

"Vielleicht..." Thor sah weiterhin hinaus in die undurchschaubare Nacht und konnte in der Reflektion des Fensters sehen, wie sich Heimdal auf die Zehenspitzen stellte, um ebenfalls in die Dunkelheit zu blicken. Für eine Weile standen sie schweigend da, bis Heimdal schließlich an Thors überweiten Pulloverärmel zog.

"Geh ins Bett, Thor, du schläfst ja im Stehen ein. Loki wird sowieso die nächsten Stunden am Telefon hängen und ich kann ja eh nichts verhindern." Er deutete auf das grüne Leuchten und wirkte alles andere als begeistert.

"Bringt nichts." Der Donnergott schüttelte seinen Kopf. "Ich wache nie aus meinen Träumen auf, wenn ich ins Bett gehe. Da muss es schon Blut regnen oder ein Monster uns angreifen, mindestens."

Thor wandte sich erneut dem Fenster zu und wartete tatsächlich auf die unvermeidbare Katastrophe. In der Reflexion des Glases sah er Heimdals völlig entgeistertes Gesicht, hörte die leise Kinderstimme sarkastisch: "Nee, du bist nicht weich geworden, sondern einfach nur total bekloppt, sonst hättest du nie einem Bilderrahmen eine leckere Kartoffel angeboten!"

Wie bitte?

Als Thor sich umdrehte und in Heimdals hämisch grinsendes Gesicht blickte, hegte er plötzlich den irrationalen Verdacht, gar nicht zu träumen.
 

***
 

"Stör ich?" Heimdal öffnete die Tür und lugte durch den Spalt. Im Moment wollte er weder mit Loki zusammen sein, der nun seit einer halben Stunde ununterbrochen telefonierte, noch mit Thor, der ihn plötzlich seltsam anstarrte und sich in eine Salzsäule verwandelt zu haben schien. Vermutlich hatte der Wächter mit seinem Urteil "total bekloppt" sogar Recht. Aber allein wollte er sich auch nicht in irgendein Gästezimmer zurückziehen, Einsamkeit hatte er die letzten Jahre zu Genüge gespürt.

"Nein, komm ruhig rein." Mayura strahlte noch immer über das ganze Gesicht. Das Baby lag nicht länger in ihren Armen, sondern nun in der dafür vorgesehen Wiege. Die blass rosa Vorhänge waren beiseite gezogen und Heimdal konnte das kleine Mädchen darin liegen und schlafen sehen. Mayura hatte es offensichtlich gewindelt, Hel trug nun einen pinkfarbenen Schlafanzug, der gut zu ihrem Haarflaum passte.

Heimdal nickte und bemühte sich, nicht auf all zu viele Spielzeuge zu treten, so wie er das vor wenigen Stunden noch getan hatte, als Thor und Loki sich stritten, als sie ihn noch nicht sahen, als Mayura noch krank und ohne Kind im Krankenhaus lag.

Fenrir lag in einem aufgeblasenen Plastikring und schnarchte leise. Vermutlich hatte auch er die letzten Nächte nicht viel geschlafen, lange auf seinen Vater gewartet und sich Sorgen um seine Ziehmutter gemacht. Heimdal mochte den Welpen immer noch nicht, sah in ihm immer noch den größten Vaterkomplex der Götterwelt, aber er musste zugeben, dass der Höllenhund ein gutes Herz hatte, zumindest, was seine Familie betraf.

Heimdal kniete sich vor die Wiege und legte seine Hände in den Schoß. Zuerst befürchtete er, dass Mayura ihn ausfragen würde, wie er es denn geschafft hätte, aus dem Totenreich zu entkommen und ihr ihre Tochter wieder zu geben, denn darüber wusste er selbst nicht die rechte Antwort. Auch wollte er über die letzten zehn Jahre nicht sprechen, zu sehr schmerzten die Bilder an jene Erinnerungen, die er nicht mehr ändern konnte. Die unbeschwerte Zeit in Walhalla war endgültig vorbei. Ja, Loki, der ihm sein Auge geraubt hatte, hielt ihn nun in der Welt der Lebenden mit seiner eigenen Kraft und behauptete mit einem Mal, dass dies alles Odins Schuld wäre. Das konnte er einfach nicht glauben! Während Thor den älteren Bruder, den allerbesten Freund mimte, hatte Heimdal immer den Vater in dem mächtigsten aller nordischen Götter gesehen. Ein Vater verriet doch nicht seinen eigenen Sohn!

Oder?

Aber er hatte sich doch um ihn gekümmert, all die Zeit in Walhalla und später auf der Erde, als er den Auftrag hatte, Loki, den Verräter, zu vernichten.

Oder?

Heimdal ballte seine Hände, denn er erinnerte sich an Asgard nur an Loki und Thor, die ständig um ihn gewesen waren, mit denen er so manchen Streich spielte, so viele Tage verbrachte. Der Donnergott saß an seinem Bett, wenn er krank geworden war, er brachte ihn zum Lachen, wenn er sich traurig fühlte und es war auch Thor gewesen, der ihn zu Bett brachte und einem bettelnden Jungen eine Gutenachtgeschichte erzählte und noch eine und noch eine. Selbst auf der Erde war Odin ihm nur erschienen, um ihn zu ermahnen, dass er seine Mission noch immer nicht erfüllt hatte, Loki noch immer existierte. Statt dessen war Freyr mit in seine Wohnung gezogen. Auch wenn der Wettergott, der ihn trotzdem nicht vorwarnen konnte, ob er nun einen Regenschirm bräuchte oder nicht, immer nur nach seiner Schwester suchte und so manch seltsame Idee ausheckte, so war Heimdal doch nie wirklich allein gewesen. Und nachdem Freyr seine Freya fand und mit ihr auf Weltreise ging, hatte sich Thor um ihn gekümmert. Er rettete ihn aus der Grundschule, lud ihn zum Eis ein, tauchte öfter unerwartet in seiner Wohnung auf, um den Kühlschrank zu plündern, das zubereitete Mahl aber auch mit ihm zu teilen. Manchmal wachte Heimdal auf und die Wohnung, die den Abend zuvor noch total chaotisch ausgesehen hatte, war mit einem Mal aufgeräumt und ein Frühstück stand auf seinem Küchentisch. Heimdal hatte all dem wenig Beachtung geschenkt, hatte geglaubt, dass Thor dies nur tat, weil sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, immerhin hatte er sehr deutlich Stellung bezogen - für Loki, gegen Heimdal. Nun zweifelte der Wächter jedoch daran, was er seinen ehemals besten Freunde unterstellt hatte, da er sie während des letzten Tages beobachtete. Sie trauerten um ihn. Um ihn! Dabei hätten sie doch froh sein sollen, dass er endlich verschwunden war, Loki nicht länger bedrohte. Statt dessen trug Thor seit zehn Jahren Trauer! Heimdal zweifelte dieses eine Mal nicht an Lokis Worten, der Unheilsgott hatte ihn nicht sehen können, hatte nicht gewusst, dass er lauschte, warum hätte er dann lügen sollen? Eingerahmte Photos standen auf dem Schreibtisch des Donnergottes und er opferte einem Bild eine leckere Kartoffel!

Loki begibt sich in höchste Gefahr, um mich hier zu behalten, um mich nicht zurück nach Niflheim gehen zu lassen.

Heimdal hob seinen rechten Arm und betrachtete das grüne Leuchten, das seiner Bewegung sofort folgte. Es war ganz allein die Macht des Unheilsgottes, die ihn in dieser Welt hielt. Eine Tatsache, die den Wächter ungemein verwirrte.

Dankbar, dass Mayura schwieg und ihn nicht mit diversen Fragen bombardierte, hob Heimdal seinen Kopf und wollte ihr gerade sagen, dass ihm die Wiege gut gefiel, da sah er, dass die junge Frau eingeschlafen war. Sie war auf dem Boden neben der Wiege zusammengesunken, hielt eine Hand noch am Rand der kleinen Schlafstatt, so als wollte sie ihre Tochter nicht los lassen.

Wer weiß, wie lange sie nicht mehr geschlafen hat.

Heimdal holte ein Kissen, dass er unter Mayuras Kopf schob und hüllte sie vorsichtig in eine Decke. Er hatte die junge Frau gerade erst geheilt - woher auch immer diese Macht hergekommen war - er wollte nicht, dass sie sich jetzt erkältete. Wenn Loki wirklich seinen Plan umsetzte und sich gegen Odin erhob, standen der jungen Frau anstrengende Tage bevor, ein wenig Ruhe vor dem Sturm würde ihr gut tun.

Der Wächter nahm seinen Platz vor der Wiege wieder ein und schob diese sanft hin und her. Hel schmatzte in ihren Träumen und er seufzte leise. Gern würde er das kleine Mädchen in seine Arme nehmen, so wie er das den letzten Tag getan hatte. Aber er befürchtete, dass Mayura aufwachte und in Panik geriet, wenn sie dachte, er würde ihr das Kind wieder wegnehmen. Also begnügte er sich mit wenig Körperkontakt, lehnte sich vor und streichelte behutsam über die weiche Wange des Babys. Hel lächelte in ihrem Schlaf und automatisch erwiderte er das Lächeln.

Heimdal wusste nicht, was er von all dem Chaos, das aus seinem Leben geworden war, halten sollte. Er vertraute weder Loki noch sich selbst. Odin als Verräter, das konnte er ebenfalls nicht glauben. Aber Heimdal wusste ganz genau, dass dieses kleine Mädchen vor ihm ein Leben, eine richtige Familie, alles Glück dieser Welt verdient hatte. Er wollte sie wieder aufwachsen sehen, dieses Mal jedoch ohne das ewige Versteckspiel, ohne die Angst vor der Entdeckung, zusammen mit ihren Brüdern. Sie sollte groß und stolz werden und nicht in ihrem sechzehnten Lebensjahr ein jähes Ende finden.

Der Wächter hatte sich selten um andere gekümmert, war lediglich um Thor und Loki besorgt gewesen, bevor sie ihn verrieten. Aber dieses kleine, unschuldige Mädchen hatte sich in nur einem Tag in sein Herz geschlichen und er wollte, dass sie glücklich war.

Gibt es denn keine Möglichkeit, dass ich in Walhalla bleibe unter der Obhut Odins? Er würde mich nicht zurück nach Niflheim schicken. Wenn ich Loki nun vergebe und Odin ihn in Ruhe mit seiner Familie hier in Japan leben lässt, ihm seine göttliche Kraft nimmt und einen neuen Unheilsgott ernennt?

Heimdal erschrak selbst, dass er Loki wirklich seinen Verrat vergeben wollte. Aber ein Blick auf Hel sagte ihm, dass er das für das Baby tun würde.

Die Tür wurde leise geöffnet, aber Heimdal blickte nicht auf. Er vermutete, dass es sich um Midgar handelte, der sich um seine Ziehmutter sorgte oder einfach seine kleine Schwester betrachten wollte, deshalb schnappte der Wächter überrascht nach Luft, als ihn plötzlich zwei Arme umschlossen und ihn fest hielten. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob Loki ihn nur zurückgehalten hatte, um ihn nun zu überrumpeln und zu besiegen, dann aber erkannte er die Person und atmete erleichtert auf.

"Hast du endlich deine Ich-starre-Löcher-in-die-Luft-Phase überwunden?" fragte er zynisch und strampelte doch ein wenig gegen die stürmische Umarmung an, konnte sich aber nicht befreien.

Natürlich nicht, schließlich stecke ich wieder in dem beschissenen Kinderkörper.

Jeder Erwachsene war ihm bei Weitem überlegen. Nicht einmal sein Adler kam ihm zur Hilfe, wobei Heimdal gar nicht wusste, wo sich dieser befand, hatte er ihn während der letzten zehn Jahre nur in seinen Erinnerungen, jedoch nicht real an seiner Seite gesehen.

"Das ist kein Traum? Du bist wirklich wieder zurück?" Thors Stimme klang erstickt und Heimdal entschied, sich nicht umzudrehen. Er konnte erwachsene Götter einfach nicht weinen sehen.

"Dir haben sie aber ganz schön heftig auf den Kopf gehauen, oder?"

"Kein Traum?" wiederholte Thor und Heimdal schrie auf, als ihn der Donnergott ohne Vorwarnung in den Arm kniff.

"Hey! Das tut weh, du Idiot!" zischte der Wächter und wand sich erneut vergeblich in den starken Armen. "Außerdem musst du dich selbst kneifen und nicht andere, um zu unterscheiden, ob du träumst oder nicht!"

"Also träume ich nicht."

"Nein, du Volltrottel!"

"Also bist du wieder zurück, Heim..."

"Kann's ja wohl nicht verhindern, Loki hat sich's eben in den Kopf gesetzt, warum auch immer." Erwiderte Heimdal etwas zu laut, denn Mayura bewegte sich unter ihrer Decke und beide Götter verstummten peinlich berührt, aber die junge Frau wachte nicht auf, drehte sich nur auf ihren Bauch und schlief weiter. Heimdal wollte vorschlagen, dass sie ihre Unterhaltung, oder besser, ihr sich entwickelndes Streitgespräch, im Wohnzimmer fortsetzen sollten, wo sie niemanden störten, aber Thor wirkte nicht, als würde er ihn loslassen, also ließ er es bleiben, ergab sich seufzend in sein Schicksal.

"Wo bist du all die Jahre nur gewesen, Heim?"

Mayura war eingeschlafen, hatte ihn mit schmerzhaften Fragen verschont. Bei Thor schien Heimdal weniger Glück zu haben.

"Frag lieber nicht genauer nach. Das ist wirklich ein Teil meines Lebens, den ich niemandem antun will." Blockte er deshalb sofort ab und lehnte sich gegen den warmen Körper in seinem Rücken. Schon immer hatte er allein sein wollen und jedes Mal hatten Loki und besonders Thor diesen Plan vereitelt. Wie sehr er die beiden vermisste, vielleicht sogar brauchte, war ihm während seines Aufenthaltes in Niflheim bewusst geworden. Dort hatte er ganze zehn Jahre, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, in totaler Einsamkeit verbracht, war von niemandem in seinen Erinnerungen gesehen worden, hatte immer allein im Schatten gestanden, als Beobachter, von allen ignoriert. Für seinen Geschmack war das genügend Einsamkeit für den Rest seiner Existenz, die sich verkürzte je länger er auf Lokis Kraft lebte. Nachdenklich hob er seine rechte Hand und betrachtete das grüne Licht nachdenklich.

"Ich würde dir zuhören, Heim."

"Ich weiß." Erwiderte der Wächter seufzend und erkannte erstaunt, dass dies auch stimmte. Thor hatte ihm in Asgard immer zugehört, selbst dann, als er ihn mit seinen Worten vergraulen wollte, da er glaubte, dass er auf Lokis Seite stehen würde. Dennoch konnte er ihm nicht von seinen Erlebnissen aus Niflheim erzählen, von seinen Erinnerungen. Vielleicht wäre er in ein paar Jahren dazu in der Lage, aber nicht heute, selbst wenn jede Stunde seine letzte sein konnte. Deshalb wechselte er das Thema.

"Hab gehört, dass du jetzt studierst."

"Hai, ich besuche ein paar Vorlesungen und Seminare." Erwiderte Thor und lehnte sich gegen die Wand, zog Heimdal auf seinen Schoß. Der Wächter wollte ihn anfahren, dass ihn das jetzt reichte, dass er doch kein Kuscheltier wäre und er es absolut nicht mochte, so geknuddelt zu werden, schließlich war er kein Kleinkind mehr, auch wenn er in einem kindlichen Körper steckte. Dann aber hörte er Thors traurige Stimme in seinen Gedanken, als der Donnergott am letzten Abend an seinem Schreibtisch gesessen und einen kleinen Zorro hinter Glas verzweifelt angeschaut hatte.

>Ich wünschte, du wärst da, Heim.<

>Ich vermisse dich... verdammt...<

Na gut, dann soll er eben knuddeln. Aber wenn er mich zu würgen beginnt, reicht's!

"Was Loki vorhat, klingt ziemlich verrückt, nicht wahr?" flüsterte Thor nach einer langen Weile, in dem er den kleinen Wächter schweigend festgehalten hatte, so als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass Heimdal wirklich und wahrhaftig da war und es sich nicht, wie so oft während der letzten zehn Jahre, um einen Traum oder Wunsch handelte.

"Hat Loki jemals etwas getan, das nicht verrückt war?"

"Als ob du je besser gewesen wärst, Heim. Oder war das jemand anderes, der damals der Statue von Odin einen Strohhut aufsetzte und einen Schnurrbart auf das verhangene Gesicht malte?"

"Es gibt ja wohl noch ein Unterschied zwischen einer Statue und dem echten Gott. Odin ist mächtig und furchtbar wütend auf Loki." Heimdal schielte zu der Wiege und schüttelte seinen Kopf. "Ich wünschte, all dies hätte endlich ein Ende."

"Hai..."

"Seit wann sprichst du eigentlich diesen bekloppten japanischen Akzent, Thor?"

"Gewöhnt man sich über die Jahre so an. Sei du erst mal zehn Jahre in Japan, dann kommt das ganz von allein."

"Danke, ich verzichte."

Erneutes Schweigen, erneutes tiefes Luftholen von beiden.

"Thor, ich..."

"Heim, ich..."

Begannen beide zur selben Zeit.

"Du zuerst." Entschied Heimdal, der sich normalerweise nicht darum scherte, ob er jemandem ins Wort fiel.

"Weißt du noch, was ich damals zu Mayura-kuns Geburtstagsfeier in Lokis Garten gesagt habe? Wir haben sie und Loki auf der Lichtung beobachtet."

"Loki hat ihr seine Flügel gezeigt. Ganz schönes Risiko, würde ich sagen." Murrte Heimdal, wusste nicht so recht, worauf Thor hinaus wollte.

"Aber es hat sich gelohnt. Manchmal muss man einfach ein Risiko eingehen."

"Loki hat schon immer hoch gepokert."

"Und auch hoch verloren."

"Ja, ich kann mich an jenen Moment erinnern, und was willst du mir damit sagen?" fragte Heimdal ungeduldig und schloss sein Auge, als sich die Welt um ihn zu drehen begann. Er schob es auf seinen übermüdeten Körper, wollte aber nicht schlafen. Jede Minute, die er nicht in Niflheim verbringen musste, war ihm kostbar geworden, er wollte sie nicht mit Schlaf oder anderen Nichtigkeiten vergeuden.

"Ich hab damals gesagt, dass ich Lokis Entscheidung, Mayura-kun alles zu sagen, akzeptiere, weil ich ihn glücklich sehen will. Du hast extrem wütend reagiert und mich nicht ausreden lassen." Thor holte tief Luft, Heimdal konnte es spüren. "Damals hab ich dir sagen wollen, dass ich dich auch glücklich sehen will. Ihr seid mir beide verdammt wichtig, Loki und du. Ich hab mich in all den Jahren nie für einen von euch entschieden, sondern habe versucht, für euch beide gleichermaßen da zu sein. Gomen ne, wenn mir das nicht gelungen ist und du das Gefühl hattest, dass ich dich allein gelassen hätte."

"Thor..."

"Lass mich ausreden, Heim. Nachdem Loki den Ritus von Niflheim beschwor und von Odin auf die Erde verbannt wurde, bin ich immer in seiner Nähe gewesen, weil ich glaubte, dass er es erneut versuchen würde. Ich dachte, dass er noch immer zu seiner Tochter wollte und deshalb hab ich auf ihn aufgepasst. Dabei hab ich übersehen, dass es dir schlecht ging. Ich hätte mich besser um dich kümmern sollen, dann wäre das alles nicht geschehen. Das tut mir leid, Heim."

"Käse." Heimdal legte seinen Kopf in seinen Nacken, um in Thors bleiches Gesicht hinauf zu sehen. Er zuckte leicht zusammen, als ein ihm zu bekannter Schmerz durch den Kopf schoss. "Ohne mein Auge verliere ich meine Macht. Du hättest meinen Tod nur verhindern können, wenn du mir mein Auge zurückgegeben hättest."

"Dann hätte ich eher und intensiver danach suchen müssen."

"Wieso suchen? Du hast doch praktisch bei Loki gewohnt."

"Loki hat es nicht!"

"Du bist zu leichtgläubig. Loki solltest du nicht vertrauen."

"Wenn ich meiner Familie nicht vertrauen kann, wem sonst?"

Niemanden, wollte Heimdal antworten, aber der Schmerz nahm so rasch zu, dass er ihm die Luft raubte. Laut stöhnte er auf und bedeckte sein gesundes Auge in einer schützenden Geste, die Thor oft gesehen hatte und endlich zu analysieren wusste. Das grüne Licht flackerte und Blut rann im nächsten Moment aus der leeren Augenhöhle über eine vernarbte Wange.

"Heimdal?" Thor kümmerte sich nicht darum, dass seine laute Stimme Mayura oder das Baby aufwecken könnte. Er wusste nur, dass er diese Katastrophe nicht mehr zulassen würde. Nein, er würde den Wächter nie mehr gehen lassen! "Heimdal!"

"Ich hab doch gesagt... dass... dass es sinnlos ist, ich... bin schon tot..." keuchte der kleine Gott und schrie auf, als der Schmerz zu heftig wurde.

"Heimdal!"

Die Tür wurde aufgestoßen und Loki erschien im Rahmen. Er hielt das Telefon in seiner rechten Hand und Heimdal, dessen Welt erneut in Schatten zu versinken drohte, erkannte, dass das grüne Leuchten, das den Unheilsgott umgab, ebenfalls flackerte. Starke Arme hoben ihn auf und er wurde auf eine weiche Unterlage gelegt. Er grinste böse, als er bemerkte, dass sich die Geschichte wiederholte. Die Übelkeit war schlagartig in seinen Magen zurückgekehrt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich erneut auf Lokis Bett übergeben würde. Wenige Minuten blieben ihm noch in dieser Welt, wenn überhaupt, dann würde er nach Niflheim zurückkehren.

Nun, wenigstens konnte ich Hel ihrer Mutter geben.

Obwohl Heimdal gerne hier geblieben wäre, um sie aufwachsen zu sehen. Auch wollte er nicht, dass Thor weiterhin so traurig aussah und sich die Schuld für jene Ereignisse gab, die er niemals hätte verhindern können. So wie Heimdals Tod jetzt, nun bereits zum zweiten Mal.

"Heimdal! Sag was! Nicht einschlafen!" Wieder die panische Stimme, wieder die warmen Arme, die seinen schlaffen Körper so liebevoll hielten, ihn nicht gehen lassen wollten. "Heimdal, verdammt, bleib wach!"

Thor?

"Dass wir nicht viel Zeit haben, dachte ich mir schon..." Diese Stimme gehörte eindeutig zu Loki. Zwei kalte Hände wurden gegen Heimdals heiße Stirn gepresst und er atmete erleichtert auf, als die Übelkeit abnahm. Der Schatten, der seine Welt bestimmte, färbte sich von undurchdringbaren Schwarz in ein sattes Grün, durch das er Lokis Gesicht sehen konnte. Der Unheilsgott sah sehr ernst aus. Besorgt.

Besorgt um mich?

"... aber ich hab nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn steht."

Die Müdigkeit nahm zu und Heimdal vermochte nicht länger, sein Auge auf zu halten. Die schützende Hand war schon längst von seinem Gesicht gerutscht und während der Schmerz ein wenig abklang, kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück. Seine Füße juckten und er brauchte mehrere Anläufe, bis er seine Fäuste ballen konnte.

"Heim..."

"Lass ihn sich ausruhen, Thor." Die kühlen Hände verschwanden und Lokis leise Stimme hörte sich erschöpft an. "Und versuch auch, deine Kräfte zu sammeln. Ich ruf gleich noch mal die Norns an. Morgen brechen wir auf, wir dürfen keine Zeit verlieren, weil wir keine mehr haben."

Heimdal kämpfte verzweifelt gegen die Dunkelheit an, die ihn schließlich verschlang. Er lag noch immer in Thors Armen, als er einschlief.
 

***
 

Angenehmes Zwielicht empfing ihn, als er wieder zu sich kam. Müde drehte er seinen Kopf und erkannte, dass er in Lokis Bett lag. Mayura und die Wiege waren verschwunden, Fenrirs Schnarchen jedoch nicht. Heimdal erkannte den Welpen, der sich am Fuße des Bettes zusammengerollt hatte und tief und fest schlief.

Langschläfer!

Die Nacht war schon längst vorüber, helle Sonnenstrahlen versuchten vergeblich, durch die vorgezogenen Vorhänge in das Zimmer einzudringen.

Ich bin noch hier? Nicht in Niflheim?

Wie lang hab ich geschlafen?

Heimdal versuchte sich aufzurichten, aber sein Körper fühlte sich zu erschöpft an, es mochte ihm nicht gelungen. Genervt verzog er sein Gesicht und schaffte es schließlich, sich auf seine Unterarme zu stützen.

Na toll, so bin ich doch das ideale Ziel!

Der Wächter ballte seine Fäuste und befeuchtete seine aufgesprungenen Lippen mit seiner Zunge. Sein Mund war ausgetrocknet und fühlte sich pelzig an. Alles schmeckte nach Sandpapier und er hätte eine Menge für das Glas gegeben, das auf dem Nachttisch stand. So nah und doch so unerreichbar.

Ich hasse es, so hilflos zu sein!

Die Tür wurde leise geöffnet und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Er hob schwerfällig seinen Kopf und fiel zurück in das Kissen, als seine Arme ihn nicht länger unterstützten. Gegen seine Befürchtungen war es jedoch nicht Loki, der herein trat, um seinen ärgsten Rivalen so wehrlos zu sehen, sondern Thor. Früher wäre das Heimdal dennoch unglaublich peinlich gewesen, dass ihn irgendjemand so sah, jetzt fühlte er sich immer noch nicht besonders wohl in seiner Hilflosigkeit, aber wenn ihm die grausamen Erinnerungen in Niflheim eines gelehrt hatten, so war es die Erkenntnis, dass Thor schon wesentlich peinlichere Situationen mit ihm erlebt hatte.

Er hat mich gewindelt und gefüttert, wobei ich ihn öfter angespuckt habe.

"Hast du Durst, Heim?" fragte der Donnergott und stellte einen zugedeckten Teller auf den Nachttisch. Heimdal wunderte sich nur kurz, woher Thor genau wusste, was er wollte, dann nickte er aber und ließ sich in eine sitzende Haltung helfen. Das Kissen fühlte sich weich in seinem Rücken an und er trank das kühle Wasser in kleinen Schlucken, so wie der Donnergott es ihm empfahl.

Glucke!

Heimdal wollte ihn gerade aufziehen, schwieg dann aber, als er Thors bleiches Gesicht erblickte. Schlaf schien der Donnergott während der letzten Nacht keinen mehr gefunden zu haben und der Wächter ahnte, dass dies auch an seinem Anfall lag.

Eigentlich ist es ja schön, wenn sich jemand um einen sorgt...

"Was ist geschehen?" verlangte er zu wissen, nachdem er seinen ersten Durst gestillt hatte. Er fühlte sich gleich viel munterer.

"Du bist zusammen gebrochen, so wie damals vor zehn Jahren." Erklärte Thor und Heimdal bemerkte, dass dessen Hand zitterte, als er ihm das Glas wieder abnahm und es durch den Teller ersetzte. "Loki konnte dir dieses Mal jedoch durch das Band helfen, das er zwischen euch erschaffen hat, um dich in dieser Welt zu halten, Heim. Er gab dir damit seine Lebensenergie und konnte dein Sterben stoppen."

"Aber er wird es nicht ewig können."

"Nein, deswegen brechen wir nach dem Mittagessen nach Walhalla auf. Odin muss eine Lösung für diesen Schlamassel finden."

"Also glaubst du doch, dass Loki mein Auge gestohlen hat?"

"Nein, ich vertraue Loki, aber es mit Schluss sein mit diesem unterschwelligen Krieg. Odin und Loki sollten sich wieder vertragen. Und selbst wenn Loki seinen Götterstatus aufgibt, so muss Odin wenigstens dir helfen."

"Hm..." Heimdal schob seine zweifelnden Gedanken beiseite und betrachtete den Teller skeptisch, der sich warm anfühlte. "Was ist das?"

"Dein Mittagessen. Lass es dir schmecken."

"Mittagessen?" Der Wächter hob erst seine Augenbraue, dann die Abdeckung. Erstaunt blickte er auf die noch dampfende Kartoffel und grinste schließlich. "Endlich hast du's begriffen, dass man so was essen und keinem Bild opfern soll."

"Woher weißt du davon?" Thor beobachtete Heimdals klägliche Essversuche und seine Finger zuckten, als die Hälfte vom Löffel und zurück auf den Teller fiel. Der Wächter war von seinem Anfall noch sehr geschwächt, konnte das Besteck kaum halten geschweige denn sicher zu seinem Mund führen. Wenigstens schien er Hunger zu haben. Thor sah lieber einen kleinen Gott, der das halbe Bett mit Essen voll schmierte, als Blut auf die Lacken zu erbrechen.

"Mir hat keiner gesagt, dass es sich bei dem Baby um Hel handelt." Heimdal kämpfte mit der Kartoffel, seinem Leibgericht, und brummte genervt, als ihm ein weiteres Stück entkam, das er schon hatte schmecken können. "Also bin ich erst einmal einen Tag quer durch Tokio gelaufen, um zu verstehen, was hier so läuft. Dabei hab ich die Szene im Tempel gesehen, als Loki und du gestritten habt. Ihr konntet mich aber beide nicht sehen." Genervt ließ er den Löffel auf den Teller fallen und lehnte sich zurück. Es brachte nichts. Schon überlegte er, ob es nicht einfacher und vor allem effektiver wäre, seine Finger zum Essen zu gebrauchen, als Thor das Besteck ergriff und die Kartoffel fachmännisch zerteilte.

"Wie ist es dir überhaupt gelungen, mit Hel aus Niflheim zu entkommen und die Kleine zurück ins Leben zu rufen sowie Mayura-kun zu heilen?"

"Da war so eine Frau, die hat mir das Baby in die Hand gedrückt und nur in Rätseln gesprochen, war nervig, aber wenigstens eine Abwechslung." Heimdal nickte, als er Thors fragende Blicke sah und öffnete ergeben seinen Mund, um sich füttern zu lassen. Er spürte, wie Schamesröte in sein Gesicht stieg und versuchte, sich selbst einzureden, dass er sich nicht so anstellen sollte, schließlich hatte Thor ihn während seiner Kleinkindzeit ständig gefüttert. Er hatte das selbst in Niflheim gesehen.

"Bei den anderen Fragen hab ich absolut keine Ahnung." Er zuckte mit seinen Schultern und kaute langsam sein Mittagessen. Es schmeckte köstlich und Heimdal fragte sich, ob Thor extra in die Stadt gegangen war, um ihm von dem Stand eine heiße Kartoffel zu kaufen oder ob Midgar während der letzten Jahre seine Kochkünste perfektioniert hatte. Das restliche Mahl verlief in Stille, nur das Kratzen des Löffels auf Porzellan und Fenrirs Schnarchen war zu hören.

"Was immer in Walhalla auch passiert, Heim, ich lass dich nicht zurück nach Nilfheim gehen!" flüsterte Thor schließlich. Heimdal wollte zynisch erwidern, dass das nicht in seiner Macht läge und er es vor zehn Jahren auch nicht hatte verhindern können, behielt seine skeptischen Gedanken jedoch bei sich, als er die Entschlossenheit in Thors Gesicht sah.

Selbst wenn er machtlos sein wird, so macht er sich Sorgen um mich. Er kümmert sich um mich und will, dass ich glücklich bin.

Heimdal vertraute niemandem mehr, nicht einmal mehr seinen einst allerbesten Freunden, ja selbst Odins strahlende Person war in das Licht des Zweifels gerückt, aber er wusste ganz genau, dass Thor ihn nicht anlügen würde. Nicht bei einer so ernsten Sache. Nicht nach all den Ereignissen des letzten Tages.

"Gut..." antwortete er deshalb, da ihm nichts Besseres einfiel und strich sich über den Bauch, fühlte sich satt und wenigstens ein wenig zufrieden. "Wo sind Mayura und das Kleine?"

"Im Badezimmer. Hel wird noch einmal gewickelt, bevor es los geht."

"Was? Will Loki sie etwa mitnehmen?" Heimdal wollte sich aufrichten, es gelang ihm jedoch nicht.

"Mayura-kun wird Hel nicht mehr los lassen und Loki meint, dass die beiden in seiner Nähe am sichersten sind. Er will sie bei sich haben, wenn er Odin entgegen tritt. Das ist ihm sicherer als mehrere tausend Meilen entfernt in Japan, wo sich Mayura nicht verteidigen könnte."

Das leuchtete Heimdal ein, auch wenn ihm der Gedanke nicht gefiel, dass der Unheilsgott wirklich einen Menschen nach Asgard bringen wollte.

Leise klopfte es an der Tür. Thor lächelte ein müde und rief ein kurzes >Herein.<. Im nächsten Augenblick schlichen sich verschiedene Personen in den Raum und versammelten sich beinahe andächtig um das Bett.

Heimdal erkannte die Norns, Freya, Freyr und sogar Gullinbrusti, die ihn anblickten, als wäre er das achte Weltwunder. Nur Fenrir bekam von all dem nichts mit. Der ach so tolle Wachhund schnarchte laut vor sich hin.

Die sollen nicht glotzen und so dämlich grinsen!

"Es tut gut, dich wieder zu sehen!" durchbrach schließlich Urd die angespannte Stille, setzte sich auf die Matratze und zog Heimdal, der zu schwach war, um sich erfolgreich zu wehren, in ihre Arme.

"Wenn du mich jetzt auch noch kneifst, gibt's Tote!"

"Ach, wie ich diesen giftigen Blick von meinem Lieblingswächter vermisst habe." Witzelte die Schicksalsgöttin und es wirkte, als würde Gullinbrusti ihr grunzend zustimmen.

"Außerdem waren diese Trauerklöße ohne dich nicht mehr zum Aushalten!" nickte Skuld und verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Urd hat sich ständig mit Thor besoffen, war nicht gerade lustig."

"Jetzt bist du aber wieder da." Lächelte Belldandy aufmunternd.

"Und wir werden dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Odin wird seine gerechte Abreibung erhalten!" Freya streckte siegessicher beide Arme in die Höhe. Sie war dem obersten nordischen Gott noch immer sauer, dass er sie damals in den Körper eines Kindes steckte, ohne jedoch ihre Erinnerungen an ihr wahres Ich bei zu behalten. Sporadisch konnte sie sich in ihre wahre Gestalt verwandeln, aber nicht oft genug, um zu verhindern, dass sich Loki, ihr Loki, in Mayura verliebte. Zornig, wütend, ja sogar verzweifelt war sie gewesen, als sie hören musste, dass sich die beiden verlobt hatten und ihre Hochzeit planten. Auf der Feier jedoch musste sie einsehen, dass sie gegen die lebhafte, liebenswürdige und ein klein wenig verrückte Mayura keine Chance hatte und gab ihren Loki frei. Die Weltreisen mit ihrem Bruder hatten ihr geholfen, sich über ihre Gefühle im Klaren zu werden und sie erkannte, dass sie besser mit Loki befreundet war, als für den Rest ihrer Existenz einer Liebe nachzutrauern, die nie ihr gegolten hatte.

"Wir werden ihn in den Arsch treten!" rief sie siegessicher und grinste, als sich Heimdals berühmt berüchtigter Todesblick auf sie richtete.

Sie alle mögen Odin nicht.

Ich versteh das nicht, er hat doch immer nur unser Bestes gewollt.

Loki hat mich verraten, hat sie alle in diese missliche Lage gebracht. Loki und nicht Odin! Warum sieht das denn niemand?

Heimdal betrachtete erst Freya bitterböse, dann seine Hände, sah, dass das grüne Leuchten stärker, intensiver geworden war. Seine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Freyr aufsprang, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen.

"Wir haben jetzt eine Supermarktkette, Heimdal." Sagte er fröhlich grinsend. "Und im Moment sind Tomaten im Angebot. Die sind wirklich schmackhaft und im Duzend umwerfend preisgünstig."

Den Wächter wunderte diese Aussage kein bisschen, immerhin hatte er mit dem Wettergott fast ein Jahr in ein und derselben Wohnung gelebt, mit ihm Halloween gefeiert und mehrfach mit ihm einkaufen gewesen, das prägte. Die anderen Götter schienen Freyrs Art jedoch nicht gewöhnt zu sein, jedenfalls herrschte für einen Moment verwirrte Stille.

"Besonders gut schmecken sie als Salat mit ein wenig Käse." Fuhr Freyr in seiner Rede fort, als wären diese Informationen besonders wichtig für jemanden, der gerade nach zehn Jahren aus dem Totenreich zurück kam. "Aber nicht zu viel Käse, sonst wird es zu mehlig."

"Baka!" rief schließlich Freya und durchbrach somit die Stille. Die anderen Götter verzogen ihre Gesichter und brachen schließlich in schallendes Gelächter aus. Auch Heimdal musste leise kichern und fühlte sich sogar ein wenig... glücklich. Glücklich darüber, dass all diese Götter froh waren, dass er wieder unter ihnen weilte.

Nicht nur Thor, sie alle haben sich um mich gesorgt.

Heimdal blickte auf die lachenden Götter, beobachtete, wie Freya ihrem Bruder eine Kopfnuss verpasste und Gullinbrusti sie dafür warnend anquiekte. Die Norns feuerten sofort den Kampf der Geschwister an und Thors müde Augen leuchteten, während auch er leise kicherte.

Sie alle wollen mich nicht zurück nach Niflheim schicken.

Seltsam...
 

***
 

Asgard hatte sich während der letzten Jahre kein bisschen verändert. Heimdal, der seinen schwachen Körper auf einen alten Stock aus Lokis Antiquitätensammlung stützte und jegliche Hilfe entschieden ablehnte, erkannte sofort die ausladenden Gärten, Parkanlagen sowie den gewaltigen Tempel Walhallas.

Endlich bin ich wieder zu Hause!

Dennoch konnte sich keine rechte Freude bei ihm einstellen. Damals, als er auf die Erde verbannt wurde, um Loki zu finden und zu vernichten, hätte er sich wie ein kleines Kind gefreut, nach Asgard zurückkehren zu dürfen. Nun aber empfand er nichts, nur ein beklommenes Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausbreitete. So, als habe er Angst.

Ich und Angst? Niemals!

Heimdal sah sich zu den anderen um, die neben ihm auftauchten. In Walhalla durfte niemand einfach so erscheinen, außer dem höchsten Gott persönlich, deswegen waren sie außerhalb der ehrwürdigen Mauern in Asgard angekommen. Mayura hielt Hel fest an ihre Brust gedrückt und wirkte ernsthaft besorgt. Midgar und Fenrir wichen nicht von ihrer Seite. Sie würden ihre kleine Schwester und ihre Ziehmutter gegen Odin bis zum letzten Atemzug verteidigen. Entschlossenheit stand in ihren Gesichtszügen. Die Norns sahen extrem konzentriert aus und selbst Freyr blickte sich wachsam um, schien seinen Supermarkt und die wundervollen Sonderangebote vergessen zu haben. Sie alle wirkten jedoch ruhig im Vergleich zu Loki und Thor. Der Unheilsgott konnte seine wahre Gestalt noch immer nicht annehmen und das grüne Leuchten war erneut stärker geworden. Aber der Hass, der in seinen Augen brannte, ließ nicht daran zweifeln, weshalb er nach Walhalla gekommen war. Mit Sicherheit nicht, um mit Odin Tee zu trinken und ein wenig mit ihm über vergangene Zeiten zu plaudern. Thor hielt seinen Hammer in seinen Händen, den er aus dem Holzkatana geholt hatte, und Heimdal ahnte, dass der Donnergott diesen auch einsetzen würde, egal, wie schlecht seine Chancen gegen den höchsten aller nordischen Götter auch standen.

Odin wird es ihnen erklären. Sie werden erkennen, dass sie sich alle geirrt haben und Loki wird bestraft. Aber Odin wird Hel nichts antun, genauso wie er Mayura unversehrt nach Japan zurück schicken wird. Loki hat die Sünde begangen, er allein. Odin weiß das doch.

Oder?

Heimdal ärgerte sich selbst über seine Zweifel und folgte Loki, der zielstrebig den Tempel betrat. Dem Wächter kam es mit einem Mal vor, als sei er nie fort gewesen, als hätte er kein Jahr auf der Erde und keine Ewigkeit in Niflheim verbracht. Sie gingen an Thors Gemächern vorbei und er spürte, wie der Donnergott kurz stehen blieb und einen Blick hinein warf, dann jedoch seine Fäuste stärker um den Stiel seines Kriegshammers schloss und an seinen Platz an Heimdals Seite zurück kehrte.

"Es ist schön hier." Sagte Mayura und schien alles von Walhalla in sich aufzunehmen. "Ich kann mir jetzt vorstellen, wovon du immer geschwärmt hast, Loki." Sie lächelte und korrigierte das Tuch, mit dem sie Hel vor ihren Bauch gebunden hatte, so ähnlich wie Heimdal das kleine Mädchen einen ganzen Tag am Körper getragen hatte. Das Baby schlief tief und fest, bemerkte nicht, dass sie die Welt der Menschen verlassen hatten. Solange Hel bei ihrer Mutter, bei ihrer Familie war, fühlte sie sich sicher, egal, wo sie sich auch befand. Heimdal beneidete sie insgeheim für dieses Vertrauen.

"Dennoch ist Japan schöner mit seiner Kirschblüte und den kleinen Tempel und Schreinen." Fuhr sie fort und reckte sich, um besser in den kleinen Garten in der Mitte des Tempels sehen zu können. Heimdal zuckte leicht zusammen, als er an jene Erinnerung dachte, in der er weinend vor dem Brunnen kniete und Thor und Loki einen kleinen Gott trösteten, der nicht wusste, wann er seinen Göttertag feiern durfte.

"Alles in Ordnung, Heim?" flüsterte Thor, als fürchte er, dass Odin ihn hören konnte, und griff stützend nach Heimdals rechten Arm. Dieser schüttelte die Hand ab und nickte energisch.

"Klar." Zischte er, obwohl der Schmerz in seinem Kopf wieder zu nahm. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb, aber Loki sollte Odin möglichst bald finden, sonst würde jede Hilfe für den Wächter zu spät kommen.

"Stimmt, May, Japan ist mir auch sehr ans Herz gewachsen." Nickte Loki und öffnete mit Freyr und Freyas Hilfe die großen Portale, die sie in den riesigen Thronsaal führten. Der Thron selbst war jedoch verwaist, von Odin fehlte jede Spur. "Ich würde den Blütenregen im Frühling sehr vermissen."

Brauchst du auch nicht, Odin wird dich sowieso wieder verbannen!

Heimdal holte tief Luft, als die leere Augenhöhle schmerzhaft pochte und seine Welt für einen Augenblick in völliger Dunkelheit versank. Zum Glück hielt dieser Zustand nur kurz an, dann konnte er wieder sehen, wenn auch alles ein wenig verschwommen wirkte und die Säulen zu schwanken schienen. Heimdal versuchte, die eindeutigen Anzeichen eines erneuten - und wohl seines letzten - Anfalles zu ignorieren.

"Was geht hier vor sich?" schrie Skuld plötzlich und Heimdal brauchte einig wenig, um zu begreifen, dass das Schwanken der Säulen nicht nur an seinem kranken körperlichen Zustand lag, sondern dass der Tempel tatsächlich bebte. Einige Steine krachten gefährlich nahe neben ihm zu Boden und Thor zog ihn fort, hustete, als Staub aufstieg. Die drei Schicksalsgöttinnen und Freya bildeten einen Kreis um sie herum und Heimdal spürte ein seltsames Kribbeln in seinen Armen, als eine Halbkugel aus goldenen Strahlen aus dem Boden wuchs und sie einhüllte. Eine Säule neben ihnen zitterte und brach schließlich in ihre einzelnen Gesteinswürfel auseinander. Die Brocken prallten an dem Licht ab, aber an den Gesichtern der jungen Frauen konnte Heimdal erkennen, dass es nicht einfach war, diesen Schutzwall aufrecht zu erhalten, und dass ihnen jede Beschädigung der Halbkugel persönlichen Schmerz zufügte.

"Du hast es wirklich gewagt, hier her zu kommen, Loki." Odins Stimme, laut und durchdringend wie immer, füllte mit einem Mal die Luft und Heimdal schnappte nach Luft, als der Schmerz zunahm. Der Stock vermochte nicht länger, ihn zu stützen und er ging auf seine Knie. Kurz schloss er sein brennendes Auge und fühlte Wind, der ihn erfasste. Er fuhr durch seine Kleidung, einen dunklen Anzug, den er von Loki erhalten hatte, da seine anderen Sachen dreckig in der Waschmaschine lagen. Heimdal fröstelte leicht und blinzelte verwundert, als er sein Auge wieder öffnete und die goldene Strahlen verschwunden waren, genauso wie die Schicksalsgöttinnen und die Geschwister. Ja, nicht einmal mehr Gullinbrusti lief noch umher im verzweifelten Versuch, seiner Herrin zu helfen.

Was ist geschehen?

Sie befanden sich auch nicht länger im Thronsaal, sondern in einen kleineren Gemach. Heimdal hielt den Stock fester in seinen Fäusten, als er Hels Kinderzimmer erkannte. Puppen und Plüschtiere bevölkerten das Bett und eine Spiegelkommode stand verlassen in der Ecke. Das Glas war blind, eine dicke Staubschicht bedeckte die Fläschchen und Döschen auf der Ablagefläche.

Was machen wir hier?

Mayura umarmte das Baby vor ihrem Bauch schützend, während Fenrir und Migar ihre wahren Gestalten annahmen und sich als großer Wolf und furchteinflößende Schlange vor ihre Ziehmutter stellten. Die junge Frau wirkte verwirrt ob ihrer Umgebung, jedoch nicht ob ihrer Söhne. Vermutlich hatte sie sie bereits in dieser Gestalt gesehen, oder aber sie liebte sie so sehr, dass sie ihr neues Äußeres ohne zu zögern akzeptierte.

Sie hat jedes Glück verdient. Sie und Hel...

Heimdal biss sich auf die Unterlippe, als der Schmerz erneut schwindelerregende Höhen erreichte und presste sich die Hand gegen die pochende Augenhöhle. Sein gesundes Auge zwang er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Solange er noch sehen konnte, noch nicht blind und hilflos auf dem Boden lag, wollte er auch mitbekommen, was um ihn herum geschah. Thor kniete neben ihm und hatte ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter gelegt. In der anderen hielt er seinen Kriegshammer. Aber der Donnergott sah nicht zu ihm herab, sondern hatte seinen Blick stur vor sich gerichtet. Heimdal hob seinen Kopf und blinzelte geblendet, als er das bekannt gleißende Licht Odins neben dem großen Fenster sah. Die Sonne dahinter schien warm, aber Odins Strahlen waren heller. Heimdal brauchte einige Momente, um den Schatten zu sehen, der vor dem höchsten nordischen Gott stand.

Loki.

Der Unheilsgott hatte seine Sense gezogen und stellte sich Odin entgegen. Das grüne Licht wirkte schwach im Vergleich zu Odins grellen Leuchten, aber es war noch immer vorhanden. Heimdals Rettungslinie in diese Welt.

Odin wird mir helfen.

Heimdal wollte sich auf seine Beine stemmen, konnte aber nicht genügend Kraft aufbringen. Leise stöhnte er, als Odins Stimme erneut durch seine von Schmerzen vernebelten Gedanken schnitt.

"Für so dreist hätte ich selbst dich nicht gehalten, Loki. Glaubst du etwa, mich mit diesem Spielzeug besiegen zu können? Bist du wirklich so dumm und schleppst sogar deine Familie mit an?" Die Gestalt Odins drehte ihren Kopf und Midgars warnendes Zischen verriet Heimdal, dass der höchste Gott Mayura und das Baby in ihren Armen schweigend musterte. "Du bist arrogant, Loki, aber das warst du schon immer."

"Nein!" Lokis Stimme klang erschöpft in Heimdals Ohren und der Wächter wusste, dass der Unheilsgott die Hälfte seiner Macht, vielleicht sogar noch mehr, aufbrachte, um ihn am Leben zu erhalten.

"Nein, ich will dich nicht besiegen, ich will nicht einmal nach Walhalla zurück kehren." Lokis Worte waren klar und deutlich gesprochen, mit leiser Stimme aber mit viel Entschlossenheit. "Entbinde mich meiner göttlichen Pflichten, nimm mir meine übernatürlichen Kräfte und verbanne mich für den Rest meines Lebens auf die Erde, dagegen werde ich nicht ankämpfen."

"Und was willst du dann?" Odins Lachen klang höhnisch und Heimdal biss sich auf die Unterlippe, als die Worte in seinem schmerzenden Kopf dröhnten. Bald schmeckte er Blut, spürte, wie sich Thors Griff verstärkte.

"Lass Hel in Ruhe und rette Heimdal vor Nilfheim." Loki senkte seine Sense ein Stück, um anzudeuten, dass er es ernst meinte. Er beabsichtigte nicht, den höchsten aller nordischen Götter anzugreifen, sondern bat ihn offen um...

... um mein Leben.

Loki, mein ärgster Feind, bittet um MEIN Leben?

Heimdal sammelte den Rest seiner Kräfte und endlich gelang es ihm, sich zurück auf die Beine zu ziehen. Thor wollte ihn sofort stützen, aber erneut schlug er die helfende Hand beiseite. Er wollte vor Odin nicht wie ein Schwächling wirken. Nicht vor Odin! Sein ganzer Körper bebte und das grüne Licht bestand nur noch aus einem Flackern, als er langsam auf die gleißende Gestalt zustolperte. Auf den nordischen Gott, der ihn einst in Walhalla aufnahm und immer nur sein Bestes gewollt hatte. Odin würde ihm helfen, dessen war er sich ganz sicher. Loki war der Verräter.

"Odin..." keuchte er und hustete. Die Übelkeit nahm erneut zu und sein Magen verwandelte sich in ein Bienennest, aber er rang nach Atem und zwang sich zur Ruhe. Er wollte sich nicht vor Odin übergeben, dann würde er allein aus Scham sterben. "Odin..."

"Mein kleiner Heimdal." Odins Stimme hörte sich sanft, so unendlich zärtlich an wie sich Heimdal ihrer immer in seinen Gedanken erinnert hatte. Der Wächter schloss sein brennendes Auge, als sich die schimmernde Gestalt ihm näherte und er seufzte leise, als er die kühle Hand auf seiner Stirn fühlte. Behutsam strich der höchste nordische Gott violette Strähnen aus einem bleichen Kindergesicht.

"Du hast versagt."

Heimdal riss bei diesen Worten sein Auge wieder auf und schrie gepeinigt auf, als sich die Finger in seine Haare bohrten und seinen Kopf nach oben rissen. Direkt starrte er in ein verschwommenes Gesicht, sah nur die Helligkeit, die sich tief in sein Gehirn zu bohren schien, ihm unsagbare Schmerzen bereitete.

"Odin... ich..." stammelte er und hob seine Hände bittend. Der Stock fiel scheppernd zu Boden und seine Beine drohten, unter ihm nachzugeben. Aber er war fest in Odins stählernen Griff gefangen, es gab kein Entkommen.

"Wieso sollte ich diesem Wurm helfen, Loki?" fragte Odin zynisch und Heimdal schluckte, als sich die sanfte, die so zärtlich sprechende Stimme in pures Eis verwandelte. Anstelle väterlicher Zuneigung hörte er nur noch Abneigung und Verachtung aus ihr heraus. "Er hat in seiner Mission versagt, ich brauche ihn nicht länger."

Was?

Heimdal strampelte und hörte Schritte, die sich ihm näherten, dann schrie Thor gepeinigt auf und der Wächter wusste, dass der Donnergott in einer Ecke des Zimmers lag, Odin war schon immer stärker gewesen als er, hatte ihn immer auf dieselbe Weise bestraft, wenn er es gewagt hatte, gegen ihn aufzubegehren.

"Aber..." Loki schien wirklich geschockt zu sein und auch Midgar zischte etwas Unverständliches, das sich in Heimdals klingenden Ohren verdächtig nach einem Schimpfwort anhörte. Dann fing sich der Unheilsgott und fuhr mit festerer Stimme fort. "Heim hatte auch keine Chance, das musstet Ihr doch sehen, Odin. Er sollte allein gegen mich kämpfen und alle Götter, die Ihr ihm zur Unterstützung geschickt habt, schlugen sich rasch auf meine Seite. Auch bin ich stärker als Heim, ich hätte ihn immer besiegt, ganz gleich, was er auch angestellt hätte."

Wenn Heimdal nicht begriffen hätte, dass Loki ihn soeben in Schutz nahm, ja, sogar um das Leben des Wächters flehte, wäre er unsagbar wütend auf den Unheilsgott gewesen. Woher wollte dieser wissen, dass er stärker gewesen wäre, immerhin erhielten sie kaum die Gelegenheit zu einem fairen Kampf!

"Das werden wir jetzt wohl niemals erfahren, nicht wahr?" Odins Stimme war zuckersüß, ließ Heimdal erschaudern. "Ich brauche niemanden, der mir widerspricht, das solltest du langsam verstanden haben, Loki. Und ich brauche auch niemanden, der so unfähig ist wie der da." Er schüttelte Heimdal und dieser würgte, als die Übelkeit übermächtig wurde. Tränen traten in sein gesundes Auge. Es waren keine Tränen der Scham, sondern der Enttäuschung und der Traurigkeit.

Odins Worte schmerzten mehr als Lokis Verrat. Viel mehr.

"Odin..." keuchte er und strampelte mit seinen Beinen, als er plötzlich in die Luft gehoben wurde. Das Leuchten des höchsten nordischen Gottes verstärkte sich und er rang nach Atem, als seine Kehle zugedrückt wurde.

"Helft ihm, bitte!" flehte nun auch Thor und etwas raschelte hinter Heimdal, vermutlich der Donnergott, der sich von Odins letztem Angriff erholt zu haben schien.

"Das kommt davon, wenn man einmal nachgibt!" Sagte die kalte Stimme und Heimdal konnte die heißen Tränen nicht verhindern, die über seine Wange liefen. "Warum hab ich damals nur auf dich gehört und diesen Nichtsnutz aufgelesen? Man sollte eben keinen Abfall vom Boden auflesen."

"Das kann nicht Euer Ernst sein!"

"Ich hätte nie Mitleid mit dir haben sollen, dass du dich einsam fühlen könntest, Thor. Dann wäre mir dieser aufmüpfige Gott und dieser Nichtsnutz hier erspart geblieben! Nicht einmal Ragnarök konnten sie heraufbeschwören!" Odin hielt den zappelnden Heimdal noch ein wenig höher und vollkommene Schwärze umgab den Wächter, als das Band zwischen Loki und ihm durchtrennt wurde. Er konnte es nicht mehr sehen, aber er spürte es ganz genau, hörte Lokis und Thors aufgeregte Stimmen wie aus lauter Ferne, vernahm Mayuras Rufe, Fenrirs Bellen und Midgars Zischen.

Wenigstens sterbe ich nicht in Einsamkeit.

"Soll er doch verrecken, was kümmert's mich?" Die Worte bohrten sich wie ein Schwert durch seine Brust und im nächsten Moment wurde Heimdal durch die Luft geschleudert. Er kniff sein blindes Auge zusammen und bereitete sich auf den Aufprall vor, das letzte, das er wohl spüren würde. Er hoffte, dass Loki wenigstens Hel retten konnte, denn er wollte nicht auch noch die mysteriöse Frau enttäuschen.

Er schlug jedoch nie auf dem harten Steinboden auf. Statt dessen prallte er gegen etwas Weiches, Lebendiges. Gegen eine Person. Heimdal rang röchelnd nach Luft, als sich der Druck um seine Kehle verringerte. Die Dunkelheit wurde von einem blauen Licht durchdrungen und er blinzelte mehrere Male, bis sich die Schatten legten und er wieder Hels Zimmer in Walhalla sah. Der Schmerz war noch immer vorhanden, hatte aber ein erträgliches Maß erreicht.

Wie bitte?

Ich bin nicht tot?

Oder ist das die erste Erinnerung?

Heimdal blinzelte und duckte sich, als Odin gefährlich langsam auf ihn zuschwebte. Zwei warme Arme legten sich schützend um ihn, hielten ihn sanft fest.

"Das wirst du bereuen, du Narr! Niemand missachtet meine Entscheidungen, selbst du nicht!" dröhnte die Stimme durch den Raum.

"Er wurde mir in meine Obhut gegeben, Odin, ich werde nicht zulassen, dass ihm etwas zustößt! Ich werde keine Entscheidung tolerieren, die ihm Schaden zufügt!" Diese Stimme klang seltsam vertraut und zugleich so fremd. Hoch, beinahe kindlich. Heimdal hob mühsam seinen Kopf und blickte fassungslos in Thors Gesicht. Zumindest glaubte er, dass es sich bei dem Jungen neben ihn um den Donnergott handelte. Dunkle Augen blitzten zornig und braune Haare hingen in ein vor Zorn gerötetes Gesicht. Ja, ohne Zweifel, das war Thor, nur kniete der Donnergott ebenfalls in einem Kinderkörper hinter Heimdal. Ein blaues Leuchten ging von dem kindlichen Gott aus, umschloss sie beide.

Er hat seine Macht benutzt, um mich zu retten?

"Wenn ich gewusst hätte, dass es so viel Ärger bringt, hätte ich deine Einsamkeit ignoriert, Thor!"

"Wenn du etwas von Gefühlen verstanden hättest, dann hättest du gewusst, dass ich ihn lieben, dass ich mich um ihn sorgen würde, >Vater<." Thor spuckte die Anrede beinahe aus und sein Gesicht verzog sich zu seiner Fratze des Hasses. Er erwähnte selten die Beziehung, die zwischen ihm und dem ältesten nordischen Gott bestand. Loki war nicht der einzige, der an dem schönen Geschlecht Gefallen gefunden hatte, nur dass sich Odin nie so weit herab ließ und gewöhnliche Sterbliche verführte. Das Produkt seiner Lust war Thor gewesen, mit dem Odin nichts anzufangen wusste, in dem er aber großes Potential sah. Heimdal konnte sich nicht erinnern, dass Thor den höchsten Gott je anders als Odin genannt hatte. Nie hatte sich der Donnergott etwas auf seine Verwandtschaft eingebildet, ja, sie schien ihm sogar lästig zu sein.

"Du hast sie bei mir abgeladen, weil du dich nicht um sie kümmern wolltest. Aber ich habe das getan und sie sind meine Familie geworden. Wenn du ihnen weh tun willst, so werde ich das nicht länger zulassen, sondern mich dir in den Weg stellen!"

Es waren mutige Worte, aber sie waren zugleich sinnlos. Gegen Odin kamen weder Thor noch Loki an, besonders nicht in ihrem geschwächten Zustand.

Bringt Hel in Sicherheit! Schickt Mayura fort! Versteckt die Söhne!

Heimdal wollte es laut heraus schreien, aber nur ein gequältes Stöhnen entkam seinen trockenen Lippen. Müde fühlte er sich. Müde und unendlich enttäuscht.

"Das wäre eine Verschwendung, Thor. Ich habe große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber ich werde dich nicht verschonen, wenn du deine Drohung wahr machst." Odins Stimme schien die Luft zu durchschneiden. Thor zuckte nicht einmal zusammen, lediglich die Arme hielten Heimdal ein wenig fester.

"Lieber gehe ich mit ihnen unter, als ohne sie leben zu müssen!" erklärte er entschlossen. "Ich lass Heim nicht noch einmal allein in Niflheim einfahren!"

Idiot!

Vollkommener Trottel!

Rette wenigstens dein Leben und nimm Mayura und die Kinder mit!

Wieder konnte Heimdal nichts von seinen Gedanken laut formulieren, hing weiterhin hilflos in Thors Armen. Der Junge spannte seinen Körper an, als sich Odin über ihn beugte, würde jedoch nicht vor dem entscheidenden, den letzten Schlag davon laufen.

"Idiot..." gelang es Heimdal endlich zu flüstern. Als einzige Antwort verstärkte sich der Druck der Arme noch mehr, fügten ihm jedoch kein Leid zu, sondern hielten ihn warm in einer Welt, die plötzlich nur noch aus ablehnender Kälte zu bestehen schien.

"Dann stirb!"

"Ich denke, da hab ich auch noch ein Wörtchen mitzureden!" Loki stellte sich zwischen die zwei kindlichen Göttern auf dem Boden und dem höchsten Gott in der Luft. Der Unheilsgott hatte seine wahre Gestalt wieder angenommen und trug seine traditionelle Kleidung. Die Sense hielt er in seinen Fäusten vor seinen hellen Gewändern, seine dunkelgrünen Augen blitzten wütend.

"Ach so, das denkst du. Dann wirst du mit ihnen sterben. Für aufmüpfige Götter habe ich sowieso keine Verwendung."

"Aufmüpfig?!" Lokis Stimme überschlug sich beinahe, als er die Sense ein wenig hob und Odin unauffällig von seinen besten Freunden fort lockte. Langsam ging er bis zum Bett hinüber und goldene Funken schossen aus der scharfen Klinge. "Wieso bin ich aufmüpfig, wenn ich Euch ein einziges Mal die Stirn biete und >Nein< sage?"

"Ein Mal ist zu viel. Weißt du denn nicht, dass es eine Sünde ist, sich gegen den höchsten Gott zu stellen?"

Sünde?

Heimdal drehte leicht seinen Kopf, um dem Kampf, dem so aussichtslos wirkenden Kampf, zu folgen.

Ist das die Sünde, von der Odin immer gesprochen hat? Die Sünde, weswegen Loki auf die Erde verbannt und ich hinterhergeschickt wurde, um ihn zu vernichten?

"Ich sehe keine Sünde darin, mich der wahnwitzigen Idee zu verweigern, dass ich meine eigenen Freunde töten soll!"

"Aber die Prophezeiung besagte deutlich..."

"Ich scher mich einen Dreck um diese Prophezeiung!" fiel Loki dem höchsten Gott ins Wort und wich geschickt einem Angriffsblitz, tausend Mal stärker als jeder Blitz, den Thors Kriegshammer erschaffen konnte, aus. Das Bett explodierte und Federn hüllten Loki ein. Heimdal brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass es sich dabei nicht um das zerrissene Kopfkissen, sondern um Lokis eigene Flügel handelte. "Ich werde Heimdal nicht angreifen und töten, selbst wenn das Ende der Welt hereinbrechen sollte. Zu Beginn wirkten Eure giftigen Worte, aber ich habe meinen Fehler erkannt! Heimdal ist mein Freund, ich werde ihm nicht weh tun!"

Weitere Blitze folgten, verwüsteten rasch Hels ehemaliges Kinderzimmer. Glas klirrte, als die Fenster zersprangen. Midgar zischte besorgt und zusammen mit Fenrir geleitete er Mayura hinüber zu den kindlichen Göttern, zu der einzigen Ecke des Zimmers, die noch nicht vollkommen zerstört war.

"Du hast mich in der Vergangenheit dafür mächtig leiden lassen, Odin. Erst nahmst du mir meine Söhne, dann meine Tochter und verbanntest mich schließlich nach Japan. Aber ich werde meine Meinung nie ändern, egal welche Gemeinheiten du noch ausheckst." Loki sprang zu spät fort und ein Blitz durchtrennte seinen linken Flügel. Blut quoll sofort aus der Wunde und Mayura schrie gepeinigt auf, als Loki strauchelte und gegen die nächste Wand prallte. Federn flogen durch die Luft und die Übelkeit kehrte in Heimdals Magen zurück, als das blaue Licht auf seiner Haut zu flackern begann.

"Solch einen jähzornigen Gott kann ich nicht dulden!" Loki kämpfte sichtbar gegen seine Schmerzen an und es kostete ihn viel Überwindung, seine Sense wieder zu erheben und erneut gegen den höchsten nordischen Gott anzutreten. Es war ein verzweifelter Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Aber Aufgeben hätte Loki nicht ähnlich gesehen.

Weder seine Söhne noch seine Freunde können ihm helfen. Und sein unglaubliches Glück wird ihm gegenüber Odin auch nichts nützen.

Heimdal holte tief Luft, als ein zweiter Blitz Loki traf und der Gott sich in den Kinderkörper zurück flüchtete, der weniger Kraft kostete. Odin grinste hämisch, jedenfalls glaubte das der Wächter, weil das Strahlen das Gesicht des höchsten Gottes noch immer verdeckte.

"Jetzt werde ich dich lehren, was es bedeutet, mir nicht zu gehorchen!"

Da verstand Heimdal.

Lokis Sünde bestand nicht darin, dass er Midgar und Fenrir als seine Söhne aufnahm oder Hel mit einer unbekannten Frau zeugte. Er versündigte sich nicht in Odins Augen, weil er die Halbgöttin heimlich nach Walhalla brachte und aufzog. Seine Sünde bestand darin, dass er sich gegen Odin stellte - weil er mich nicht töten wollte, so wie es die Prophezeiung besagte!

Loki hob erneut seine Sense, aber sie wurde ihm aus den Händen gerissen, schlitterte über die Marmorplatten und blieb in den Trümmern der Spiegelkommode stecken. Damit war sie unerreichbar für den Unheilsgott, der mit festem Blick zu der hellen Gestalt über sich blickte. Nein, er würde sich nicht geschlagen geben. Niemals!

"Loki!"

"Daddy!"

Aufgeregtes Zischen.

Heimdal schluckte und kämpfte gegen Thors warme Arme an, als er seinen einst ärgsten Feind geschlagen auf dem Boden liegen sah, mit gebrochenem Flügel, voller Blut, jedoch nicht ohne seinen Kampfgeist, seinen Willen verloren zu haben.

Er wollte mich nie umbringen, auch wenn er damit all diese Schicksalsschläge auf sich zog.

"Hilf mir auf!" flüsterte er und blickte kurz in braune Augen. Thor nickte und er brauchte zwei Versuche, da sein kleiner Körper ebenfalls erschöpft war.

Loki ist nicht der Verräter, sondern Odin.

Odin hat mich als Abfall bezeichnet.

Verdammt...

Heimdal konzentrierte sich und im nächsten Augenblick trug auch er sein traditionelles Gewand. Mit letzter Kraft entfaltete er seine eigenen Flügel, die heftig zitterten, und nahm dieses Mal die ihm dargebotenen Hand Thors an. Der andere Gott hatte ebenfalls seine Flügel gespannt und zusammen stolperten sie langsam zu Loki hinüber. Odin, der sie bemerkt hatte, beobachtete sie höhnisch.

"Was soll das werden?" fragte er kaltschnäuzig, hielt aber in seiner letzten Attacke inne. Weder Thor noch Heimdal beachteten ihn, als sie erschöpft neben Loki auf die Knie sanken.

"Du siehst scheiße aus." Murmelte Heimdal und senkte seinen Kopf, als der Schmerz erneut hinter seiner leeren Augenhöhle zu explodieren drohte.

"Danke, gleichfalls." Grinste der Unheilsgott und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. Der Wächter zuckte nicht zusammen, schüttelte sie nicht ab. "Wenn du mir die Kneipe zeigst, spendier ich dir in Niflheim auch einen Drink."

"Nein, du bist mein Gast. Freunde sind immer meine Gäste." Lächelte Heimdal schwach zurück und sah das Verständnis sowie die sofortige Vergebung in Lokis Blick.

"Schnapsdrosseln." Schimpfte Thor erschöpft und das blaue Leuchten erstarb zu einem fast unsichtbaren Glühen. Sofort nahm der Schmerz zu und Heimdal stöhnte gequält auf, als Odins brutale Stimme wie Nadeln durch seinen Kopf stach.

"Wir rührend, aber das wird euch nichts nützen! Empfangt nun die Strafe für eure Sünden!"

Heimdal presste sein schmerzendes Auge zusammen und tastete suchend nach Thors Hand. Vielleicht verlor er die beiden nicht in Niflheim, wenn sie in Kontakt standen. Erleichtert atmete er auf, als er sie schließlich fand.

"Loki!"

"Daddy!"

Zorniges, dann schmerzvolles Zischen.

Heimdal duckte sich, erwartete den endgültigen Schlag.
 

***
 

"Jetzt ist genug!"

Die Zeit schien still zu stehen. Heimdal öffnete sein Auge einen Spalt breit und hörte Loki neben sich nach Luft schnappen, als sich Mayura über den zerstörten Boden bewegte. Fenrir bellte aufgeregt und Midgar zischte unentwegt unverständliche Worte, aber sie beide schienen von einer fremden Kraft festgehalten zu werden, konnten ihrer Ziehmutter nicht zu Hilfe eilen.

"Es reicht, Odin!"

Die junge Frau schob sich zwischen den höchsten nordischen Gott und die drei kindlichen Gestalten und hob ihre rechte Hand. Heimdal traute seinen Ohren nicht, als er das klatschende Geräusch hörte. Hatte Mayura es wirklich gewagt, Odin mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen?

Ist sie aus Sorge um ihren Ehemann vielleicht verrückt geworden?

Der höchste Gott stolperte ein paar Schritte zurück und Heimdal stockte der Atem, als das gleißende Licht, das Odin schon immer umgeben hatte, verblasste und schließlich vollkommen verschwand. Anstelle des Leuchten stand nun ein junger Mann vor ihnen, der kaum älter als Loki oder Thor in ihrer wahren Gestalt wirkte. Er trug ähnliche Kleidung wie Heimdal und ein Ährenkranz thronte in seinem blauen Haar, das ihm wirr vom Kopf stand.

Muss wohl in der Familie liegen.

Der Wächter grinste bei dem Gedanken an Thor, der sein Haar ebenfalls nie richtig bändigen konnte, und sein Unterbewusstsein fragte sich, ob es nicht er war, der langsam seinen Verstand zu verlieren schien.

Rote Augen starrten die junge Frau voller Abscheu an, aber auch voller... Angst.

Angst? Odin hat Angst vor Mayura?

Jetzt bin ich wirklich vollkommen übergeschnappt. Oder aber Niflheim beschert mir nun lächerliche Wunschträume, da ich ja schon durch alle Erinnerungen gewandert bin.

"Ich habe deinem Treiben lange genug tatenlos zugesehen, das hat nun ein Ende, Odin!" Mayura hob ihren Zeigefinger und der höchste Gott wich doch tatsächlich einige Schritte zurück.

"Das ist noch immer meine Angelegenheit!" brachte er hervor, aber seine Stimme klang nicht mehr so selbstsicher, so tödlich kalt wie noch vor wenigen Augenblicken. Mayura schüttelte ihren Kopf und als sie sich zu den kindlichen Göttern umdrehte, hatte Heimdal das Gefühl, dass nicht wirklich der Mensch vor ihm stand, sondern jemand ganz anderes. Eine junge Frau, die Mayura war und doch wieder nicht.

"Sie sieh dir an, Odin! Was hast du ihnen nur angetan!" Mayura verschränkte die Arme vor der Brust und nur Hel schien sie davon abzuhalten, den höchsten Gott richtig auszuschimpfen und ihn anzuschreien. "Du solltest dich schämen!"

"Das geht dich überhaupt nichts an!" Odin erhob seine rechte Hand, wurde aber von unsichtbaren Kräften auf die Knie gezwungen, als Mayura mit ihren Fingern schnippte. Ihre Augen funkelten gefährlich, als sie auf ihn zu trat.

"Wie kannst du es wagen, so etwas zu behaupten, Odin? War es nicht meine Schwester, die dir einen Sohn gebar? Ich verzieh es dir, dass du sie verstoßen hast, ja, ich gab dir sogar zwei meiner liebsten Geschöpfe in deine Obhut, damit mein Neffe nicht allein aufwachsen muss!"

Heimdal ärgerte sich ein wenig, von der jungen Frau als >Geschöpft< bezeichnet zu werden, gleichzeitig drehten sich seine Gedanken im Kreis. Wer war diese Frau, die in Mayuras Körper steckte, vermutlich sogar ein Teil der jungen Japanerin war? Wie kam es, dass sie stärker war als Odin und mit dem höchsten aller nordischen Götter schimpfte, als handele es sich bei ihm um einen unartigen Schuljungen?

"Wer seid Ihr?" fragte er und fiel gegen Thor, als sich die Welt immer schneller um ihn drehte. Tiefe Schatten umfingen ihn, aber Mayuras Gestalt schien nicht zu verschwimmen, wie all die anderen Personen um ihn herum.

"Ich bin die Göttin der Unterwelt." Lächelte sie freundlich und schritt zu dem Wächter hinüber. Sie beugte sich zu ihm herab und streichelte sanft über Heimdals vernarbte Wange. Als sie ihre Hand zurück zog, klebte Blut an den weichen Fingern. "Ich danke dir, dass du Hel zurück gebracht hast."

"Ihr seid die mysteriöse Frau?"

"Ja. Ich bin Lokis Frau und Hels Mutter."

"Na wunderbar! Loki hat sich an der Göttin der Unterwelt vergriffen? Prima!" Der übliche Sarkasmus rutschte ihm heraus, bevor er sich hatte zurück halten können. Thor vergrub sein Gesicht schüttelnd in seinen Hände, während Loki die junge Frau unentwegt ansah.

"Er war schon immer mein Gemahl gewesen, nur gab ich ihn in Odins Obhut, gemeinsam mit dir, Heimdal, da mich Odin darum gebeten hatte."

"Und Mayura?"

"Sie ist meine Wiedergeburt auf der Erde."

Eine Wiedergeburt...

"Seid Ihr nicht bei Hels Geburt gestorben?"

"Ja, das bin ich."

Traurig lächelte sie. Es war eine Gefühlsregung, die er schon einmal bei ihr gesehen hatte, trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht.

"Aber wie kann das sein?"

"Du weißt selbst am besten, dass auch Götter sterben können, Heimdal. Ich kannte das Risiko, Hel zu bekommen, war aber bereit, es einzugehen."

"Die Göttin der Unterwelt stirbt während einer Geburt?"

"Nein, am Schicksal."

"Trotzdem seid Ihr hier."

"In ihrem Körper ist dies möglich, aber ich bin auf ewig an Niflheim gebunden."

"Na super." Heimdal brummte der Schädel und seine leere Augenhöhle pochte unangenehm. Außerdem nahm die Übelkeit erneut zu. "Ich versteh kein Wort mehr, dafür krieg ich jetzt wohl eine ausgewachsene Migräne."

Mayura, oder besser, die mysteriöse Frau lächelte ihn sanft an und erhob sich. Fordernd streckte sie ihre Hand dem jungen Mann entgegen, der entsetzt seine roten Augen aufriss und sich gegen unsichtbare Hände heftig zur Wehr setzte. Aber es nützte ihm nichts. Laut schrie Odin auf und es klang nicht mehr wie ein menschenähnliches Wesen, sondern vielmehr wie ein verwundetes Tier. Seine Gewänder blähten sich auf und rissen. Eine Wunde zog sich quer über den Bauch des nordischen Gottes und etwas kugelförmiges verließ seinen Körper. Es schwebte langsam durch die Luft, so als wollte die Herrscherin Niflheims Odin seinen Verlust deutlich vorführen, bevor es sanft auf ihrer Hand landete.

"Lass dich nie mehr von falschen Freunden täuschen, sondern vertraue auf dein Herz." Sagte sie in ihrer rätselhaften Art und beugte sich erneut über den Wächter. Dieser wollte seine Hände empor reißen, als er ihre Finger auf seiner leeren Höhle spürte, die plötzlich zu brennen begann. Aber unsichtbare Kräfte hielten ihn in einem festen Griff gefangen und so konnte er nur hilflos abwarten, was weiterhin mit ihm passieren würde.

"Jetzt wird alles wieder gut."

Was?

Als er endlich wieder frei kam, geschah es so unerwartet, dass er vornüber kippte und ohne Loki und Thors beherztes Eingreifen wohl auf den Steinfussboden geknallt wäre. Er rappelte sich auf, öffnete seine Augen und blickte seine Freunde dankbar an.

Sekunde!

Augen?

Nicht nur die peinigenden Schmerzen waren verschwunden, nein, er sah seine Umgebung klarer und deutlicher als je zuvor, auch änderte sich der Blickwinkel, als er leicht seinen Kopf drehte. Er tastete vorsichtig mit seinen Händen sein Gesicht ab und starrte fassungslos seine Freunde an, als er erkannte, dass er sich nicht getäuscht hatte. Beide Augen lagen in ihren Höhlen, dort, wo sie hingehörten.

Eine ihm wohl bekannte, aber so lang vermisste Kraft strömte in seinen Körper und ohne zu zögern nahm er wieder seine wahre Gestalt an. Nun war er es, der auf Thor herab blickte. Auf einen Jungen von äußerlich neun Jahren, der ihn anlächelte. Heimdal ergriff die kindliche Hand und gab ihm die Kraft zurück, mit welcher der Donnergott ihn während des Kampfes mit Odin am Leben erhielt. Thor nickte dankbar, als auch er seinen erwachsenen Körper wieder annehmen konnte.

Um Loki kümmerte sich die Göttin des Totenreiches selbst. Mit einem Wink heilte sie den gebrochenen Flügel und das Blut verschwand von den hellen Gewändern des Unheilsgottes. Schweigend sah sie den kindlichen Gott an, bevor sie ihn zärtlich auf den Mund küsste.

Müssen die das auch hier zelebrieren?

Da wird einem ja übel!

Dieses Mal wandte sich Heimdal aber nicht ab, wollte er doch selbst wissen, was nun geschah.

"Es steht dir frei zu entscheiden, was du nun tun möchtest, Loki."

"So sehr ich diesen Ort hier liebe, ich denke, May gefällt es in Japan besser." Loki lächelte traurig und als er sich erhob, war auch er nicht länger ein Kind. "Ich finde die Kirschblüte auch nicht schlecht."

"Das habe ich mir fast gedacht." Die Göttin sah ihn geheimnisvoll an und schnippte abermals mit ihren Fingern. Plötzlich waren Midgar und Fenrir befreit und rannten zu ihrem Vater. Sie blickten genauso verwirrt drein wie die Schicksalsgöttinnen sowie die Geschwister, die im nächsten Moment neben ihnen standen. Dreck lag auf ihrer Kleidung, sie schienen bis zum Schluss den einstürzenden Säulen des Thronsaales getrotzt zu haben.

"Ihr könnt alle entscheiden, ob ihr lieber in Walhalla leben oder euch erst noch ein wenig auf der Erde umsehen möchtet. Dies ist euer Ort, aber nicht euer Gefängnis." Die Göttin lächelte die Norns an und ging dann hinüber zu Odin, der innerlich kochte.

"Ihr könnt nicht so einfach über meinen Kopf hinweg bestimmen! Ich werde diese Verlierer nie hier dulden!" schrie er empört und deutete auf Hel, die erwacht war und aufmerksam die Welt um sich herum betrachtete. "Genauso wie ich nie dieses Balg dulden werde."

"Ich werde dich nicht länger dulden." Mayura lächelte, aber es war eindeutig die Göttin, die langsam ihre rechte Hand hob. "Du wolltest die dir Anvertrauten bestrafen? Wie wäre es, wenn ich dich dafür bestrafe?"

Odin erblasste und Heimdal schluckte, als er direkt in rote Augen blickte, die suchend umher schauten. Suchend nach Unterstützung, die Odin jedem von ihnen verwehrt hatte.

"Nicht!" hörte der Wächter aus weiter Ferne seine eigene Stimme und blinzelte überrascht, als ihm bewusst wurde, dass Thor, Loki und er zur gleichen Zeit um Einhalt geboten hatten.

"Bitte, tötet ihn nicht." Erklärte der Donnergott leise.

"Niemand hat Niflheim verdient." Bestätigte Heimdal und beobachtete, wie die Göttin zu Loki blickte und von ihm ein kurzes Nicken erhielt.

"Nun gut." Sie musterte die drei Götter und hob erneut ihre Hand. "Dann werde ich ihm die Strafe angedeihen lassen, die ihr als gerecht für ihn empfindet."

Odin schrie gepeinigt auf, als grelles Licht ihn umfing.
 

***
 

"Wie wär's mit einer Geburtstagsfeier morgen Abend?"

Heimdal stand am Fenster in Lokis Wohnzimmer und schaute hinaus in das Abendrot. Erstaunt drehte er sich um, als er den Satz hörte. Vor nicht einmal einer Stunde waren sie aus Asgard zurückgekehrt, fühlten sich alle erschöpft von einem Kampf, den sie beinahe nicht überlebt hätten, ihre Existenz auf der Erde, so sie sich dafür entschieden, musste neu überdacht werden. Es würde einige Tricks brauchen, um den Behörden klar zu machen, dass Mayura doch keine Fehlgeburt erlitten hatte, Hel lebte. Wie würde Mayuras Vater das Unvorstellbare aufnehmen? Und in all dem Chaos hatte wirklich jemand die Nerven, so einen unsinnigen Vorschlag zu machen?

Wenn das Mayura gewesen wäre, so hätte es Heimdal nicht weiter gewundert, aber Loki war derjenige gewesen, der gesprochen hatte.

"Das klingt super!" Was die junge Frau natürlich nicht davon abhielt, sofort Feuer und Flamme für die Idee ihres Ehemannes war.

Ich denke, wir haben jetzt andere Probleme!

Dennoch teilte niemand in dem Raum seine Bedenken. Die Norns, die es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten und dankbar von Midgar einen Tee entgegen nahmen, nickten und schlugen sogleich ein weiteres Kostümfest vor, so wie damals zu Mayuras siebzehnten Geburtstag.

Oh nein, das können die vergessen! Ich steig in kein Zorro-Kostüm mehr! Ich werde überhaupt kein Kostüm tragen!

Selbst in seiner wahren Gestalt wusste der Wächter, dass er sich nur in eine peinliche Situation bringen würde. Sicherlich wollte Urd, dass er wieder Karaoke sang. Diesen Wunsch würde er ihr kein zweites Mal erfüllen.

"Vielleicht sollten wir alle erst einmal nach Hause gehen und eine Mütze voll Schlaf nehmen. Treffpunkt dann morgen Abend um acht?" schlug Freya gähnend vor und Heimdal beglückwünschte sie insgeheim, dass sie als einzige nicht ihren Verstand in Walhalla zurückgelassen hatte.

"Gute Idee. Ich bring dann auch ein paar Steaks mit zum Grillen." Freyr grinste und nur der warnende Blick seiner Schwester hielt ihn davon ab, ihnen die Preisliste der Fleischtheke vorzutragen.

"Klingt super." Midgars Augen leuchteten und Heimdal war sich sicher, dass die Weltenschlange, die endlich ihre menschliche Gestalt zurückerhalten hatte, bereits die köstlichsten Menüs in Gedanken zusammen stellte. Vielleicht sollte der Wächter wenigstens zum Abendbrot kommen? Verlockend klang es schon...

Wenn ich dann überhaupt noch hier bin!

Babygeschrei unterbrach das aufgeregte Gespräch über Karaoke, Essen, Trinken und diverse Gesellschaftsspiele, die Heimdal kein zweites Mal spielen oder erst gar nicht kennen lernen wollte.

"Hunger oder Windeln." Vermutete Mayura laut und verließ den Raum. Thor folgte ihr nachdenklich.

Natürlich, er hat mehr Ahnung mit Kleinkindern als wir alle zusammen. Mit seiner Hilfe wird es Mayura leichter haben.

So richtig verstand er die "Strafe" der Todesgöttin nicht. Vermutlich hatte sie Lokis oder Thors Wunsch entsprochen. Heimdal hatte nicht gewollt, das sie Odin tötete, aber er wusste nicht, ob er mit dem jetzige Ergebnis glücklich sein konnte.

"Also dann bis morgen acht Uhr." Wiederholte Freya und Loki grinste zufrieden.

"Hai."

"Das sind wirklich leckere Steaks."

"Mit Kräuterbutter verfeinert..."

"Die sind im Moment im Sonderangebot, genauso wie die Tomaten."

"Baka!"

"Aua, das tat weh, Freya!"

"Baka!"

"Hey..."

Heimdal nutzte die entstandene Unruhe und schlich sich aus dem Wohnzimmer und Lokis Haus.
 

***
 

Hier bin ich also wieder.

Heimdal machte sich nicht die Mühe, seine Stiefel auszuziehen, als er die Eingangstür aufstieß und wie erstarrt im Rahmen stehen blieb. Die Wohnung sah nicht so aus, als sei er zehn Jahre fort gewesen. Alles stand an seinem Platz und jemand schien die Räume auf Hochglanz poliert zu haben. Heimdal war sich sicher, dass seine Küche noch nie so sauber ausgesehen hatte, da er sich nie die Mühe gemacht hatte, mit dem ohnehin viel zu großen Wischmopp zu kämpfen.

Thor.

Der Wächter erinnerte sich noch gut an den Streit zwischen Loki und Thor, in dem der Unheilsgott dem Donnergott vorgeworfen hatte, unnütz Miete für eine verlassene Wohnung zu zahlen. Nun sah Heimdal, dass Thor mehr getan hatte, als sich um die Rechnungen zu kümmern.

Frische Blumen standen in einer Vase, deren Existenz Heimdal in den Tiefen seiner Schränke nicht einmal erahnt hatte, auf dem Küchentisch. Der Wächter strich nachdenklich über die roten Blüten, atmete den süßlichen Duft ein. Sie wirkten kein bisschen verwelkt, der Donnergott war wohl wirklich jeden Abend in diese Wohnung gekommen, wie Loki es ihm vorgeworfen hatte.

Und das wegen mir...

Ein Bild lehnte an dem Porzellan und Heimdal war nicht verwundert, als er sich darauf wiedererkannte. Mayuras Mitschüler hatte viele Photos zu jener Geburtstagsfeier gemacht und es schien, als habe Thor sich jedes einzelne erbettelt und die Bilder überall dort verteilt, wo er sich aufhielt.

Nein, er hat nicht gelogen, er hat mich wirklich vermisst.

Dennoch wusste Heimdal nicht, ob er in Japan bleiben sollte, aber er war sich auch nicht sicher, ob er sich in Walhalla wohler fühlte. Er nahm den Rahmen in seine Hände und schluckte, als er sich selbst in Kindergestalt sah, mit nur einem Auge, dessen leere Höhle er immer hinter seinen violetten Haaren verborgen hatte. Dennoch konnte er den Makel sehen, selbst auf diesem Photo, wo er zusätzlich eine schwarze Zorro-Maske trug.

Es war nicht Loki gewesen, der ihm sein rechtes Auge gestohlen hatte. Nein, Odin hatte ihn schändlich hintergegangen, ihn sogar als >Abfall< und >Nichtsnutz< bezeichnet. Der höchste Gott hatte ihn nie geliebt, egal, wie sehr sich der Wächter auch nach väterlicher Zuneigung gesehnt hatte. Für Odin war er lästig, nur ein Werkzeug für seine verworrenen Pläne gewesen.

Das tat weh.

Tränen stiegen in seine roten Augen und der Rahmen entglitt seinen zitternden Händen. Es klirrte laut in der stillen Küche, aber er hörte das Geräusch nicht einmal.

Das tat verdammt weh.

Niemals hatte er sich so erniedrigt, so verlassen gefühlt wie in jenem Moment, als Odin ihn verhöhnte, ihn von sich stieß, ihn nicht vor dem drohenden Tod rettete.

Und nun befindet sich der wahre Verräter in Lokis Obhut.

Heimdal würde die Entscheidung der Herrin Niflheims nie verstehen, machte sie es ihm doch schier unmöglich, auf der Erde zu bleiben. Wie sollte er Loki besuchen, ohne dabei immer an den Verrat erinnert zu werden? Nie würde er den Jungen ohne Vorurteile ansehen können, egal, wie viel Zeit auch verging. Odin hatte ihn von sich gestoßen, als er ihn am dringendsten brauchte, das würde er ihm nie verzeihen können.

Aber Walhalla klang in seinen Ohren auch nicht viel erstrebenswerter. Kurz nach der Verbannung war es sein größter Traum gewesen, endlich wieder als Gott durch die Säulenhallen zu wandeln. Jedoch nicht allein! So wie die anderen Götter reagiert hatten, würden sie noch ein wenig in Japan bleiben oder die Welt bereisen, so dass er in Walhalla niemanden sehen würde, zumindest niemanden, den er seine Freund nennen könnte.

Loki wird bei Mayura und seinen Kindern bleiben.

Und Thor?

Bestimmt wird er sich ebenfalls für Tokio entscheiden, schließlich hat er sich während der letzten zehn Jahre hier eingelebt.

Und ich?

Was soll ich tun?

Heimdal seufzte und es knirschte laut, als er über den Rahmen lief, um sich ein Glas Wasser zu nehmen. Plötzlich fühlte er sich ungemein durstig. Er betrachtete die Scherben auf dem Boden und begann, leise zu fluchen, während er sich hinabbeugte und sie vorsichtig aufsammelte.

"Verdammt!"

Warum konnte das Leben nicht einfacher werden? Immerhin hatte er sein rechtes Auge und damit seine göttliche Kraft zurück, wieso wurde statt dessen alles noch komplizierter?

Heimdal strich über das Glas, das sich wie von selbst zusammen fügte und lehnte den Rahmen zurück an den Bauch der Vase.

"Verdammt..."

Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. Entgeistert musterte er Thor, der ihm Türrahmen stand und ihn schweigend betrachtete.

Wie ist er so rasch hierher gekommen? Ich habe doch allein eine halbe Stunde per Fuß gebraucht und sicherlich hat er kein Auto.

Dann dämmerte es Heimdal. Natürlich, sie alle hatten ihre komplette Macht zurück, so war es für den Donnergott ein Leichtes, einfach so in seiner Wohnung zu erscheinen. Heimdal ahnte, dass er noch lange brauchen würde, um sich daran zu gewöhnen, dass er nicht mehr an die irdischen Gesetze gebunden war.

"Na, Windeln beendet?" fragte er in seinem zynischsten Ton und füllte sich ein Glas mit Wasser, trank jedoch nicht.

"Du bist mit dieser Entscheidung nicht einverstanden, oder?"

Verflucht, warum stellte Thor immer die richtigen Fragen?

"Scheiße, nein! Ich wollte nicht, dass er umgebracht wird, weil Niflheim ganz schön brutal sein kann, aber ich wollte auch nicht für den Rest meines Lebens seinen Babysitter spielen! Was hat sich diese Göttin nur dabei gedacht, Odin in den Körper eines Kleinkindes zu stecken?" Heimdal schüttelte seinen Kopf und stellte das Glas zurück auf die Anrichte, um aufgeregt durch seine Wohnung zu tigern. Der Donnergott folgte ihm schweigend, ließ ihn in seiner Schimpftirade ausreden.

"Ich kann nicht in der Nähe dieses Kindes sein, ohne an seinen Verrat zu denken, Thor. Er hat mich als Abfall bezeichnet und mich wie Müll weggeworfen, und da soll ich auf ihn aufpassen? Spinnt diese bekloppte Göttin oder was?"

"Odins Gedächtnis wurde ausgelöscht, er wird sich nicht an die Ereignisse erinnern."

"Aber ich erinnere mich verdammt gut! Ich habe zu ihm aufgesehen und ihm vertraut und er hat mich mit Füßen getreten. Ist mir scheißegal, ob er sein Gedächtnis verloren hat, aber seinen miese Charakter hat er bestimmt behalten. Ich wette mit dir, dass er in fünf oder zehn Jahren das totale Eckel sein und uns wieder nach Strich und Faden betrügen wird. Einmal Lügner, immer Lügner!"

Aufgeregt warf Heimdal seine Arme in die Luft und umrundete die Couch in seinem Wohnzimmer drei Mal in seiner Aufregung.

"Er muss es nicht werden, wenn wir es verhindern. Wir können ihn erziehen und dabei aufpassen, dass er nicht in alte Muster zurück fällt. Ich hab dich groß bekommen, Heim, da wird mir das bei ihm auch gelingen."

"Also bleibst du auf der Erde?" Der Wächter stoppte seine Schritte und schaute den Donnergott herausfordernd an. "Du willst also wirklich diese tolle Aufgabe übernehmen, die uns diese Göttin auferlegt hat?"

"Das hast du falsch verstanden. Sie wollte Odin umbringen und wir haben sie davon abgehalten, indem..."

"Verschon mich mit dem Mist!" Heimdal hob abwehrend seine Hände, um Thors Redefluss Einhalt zu gebieten. "Ich hab kein Wort verstanden, was sie gequatscht hat, schon damals in Niflheim nicht. Ihr scheint es Spaß zu machen, in Rätseln zu sprechen, also lass mich mit deinen Interpretation ihrer Sätze in Ruhe. Ich versteh's nicht und wenn ich ehrlich sein will, hab ich auch kein Bedürfnis dazu!"

Thor betrachtete ihn zweifelnd und Heimdal wusste, dass dieser Teil des Gespräches nicht wirklich beendet war, sie es aber ein andermal zu Ende führen würden.

"Du willst also nach Walhalla zurück gehen?"

"Ich habe keine Ahnung." Gab Heimdal ehrlich zu und ließ sich seufzend auf die Couch fallen. Er schloss seine müden Augen, um nicht länger in Thors trauriges Gesicht sehen zu müssen und gähnte unterdrückt. Es war ein extrem anstrengender Tag gewesen, er fühlte sich hundemüde.

"Versuch's doch erst einmal, Heim." Schlug der Donnergott vor und Heimdal spürte, wie sich Thor neben ihn auf die Couch setzte, hörte, wie er seine Füße geräuschvoll auf den kleinen Wohnzimmertisch legte. Heimdal wollte etwas Gemeines hinsichtlich Hygiene und Sauberkeit sagen, verkniff sich dann aber jeglichen Kommentar, war es schließlich Thor gewesen, der die Wohnung bezahlte und sie auf Vordermann brachte.

"In Lokis Haus ist sicherlich noch ein Gästezimmer frei, das du dir aneignen kannst, sollte dir diese Wohnung nicht mehr zusagen."

Heimdal verzog abschätzig seinen Mund und Thor beeilte sich hörbar, in seinen Vorschlägen fortzufahren.

"Midgar macht ein phantastisches Frühstück und seine Abendbrote sind auch nicht zu verachten. Am Wochenende unternehmen wir meist kleinere Ausflüge, im Sommer sogar ins Freibad. Loki kann zwar noch immer nicht schwimmen, hat aber seine Angst weitestgehend überwunden. Schau doch mal in der Uni vorbei, Heim, die Vorlesungen können sehr interessant sein. Besonders amüsant sind die Vorträge über Mythen der Welt. Es ist lustig zu hören, was Menschen so über Götter denken. Außerdem..."

"Willst du mich gerade zum Bleiben überreden?" fragte Heimdal schläfrig und gähnte erneut. "Mit Midgars Kochkünsten?"

"Die Kartoffel hat dir doch geschmeckt, oder?" Heimdal spürte Thors Arm um seine Schultern und gähnte abermals. "Klar will ich dich hier haben, Heim, das wollen wir alle, wenn nötig mit Fesseln."

"Beruhigend zu wissen. Aber dir ist klar, dass ich beiße, oder?"

"Ich dachte, diese Unart hättest du vor langer Zeit abgelegt."

"Ja, dachtest du." Heimdal grinste, biss jedoch nicht, sondern lehnte sich gegen den Donnergott, der immer für ihn da gewesen war, der sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, um ihn zu retten, der sich gegen seinen eigenen Vater auflehnte, um ihn vor Niflheim zu bewahren. Allein ihm wäre er es schuldig, noch ein wenig in Japan zu bleiben und nicht sofort nach Walhalla zurück zu kehren.

Ich kann nicht mit Odin unter ein und demselben Dach leben, ganz gleich, ob er ein kleines Kind ohne Gedächtnis ist. Das kann niemand von mir verlangen!

Obwohl Heimdal ahnte, dass Thor dies sehr wohl konnte.

"Weißt du was?"

"Nein, tu ich nicht."

"Ich mach dir noch einen Vorschlag."

"Wir sind heute voller Tatendrang, was?"

"Frech bist du überhaupt nicht."

"Nee, wieso?"

Heimdal konnte Thors Lächeln förmlich spüren, als eine warme Decke über seinen müden Körper ausgebreitet wurde und sich der Donnergott bequemer hinsetzte, ohne aber den Wächter aus seinem Arm zu entlassen.

"Du schläfst jetzt eine Runde und danach lad ich dich zu einem Eis ein."

"Seit wann hast du denn Geld? Wieder gefeuert worden und Abfindung kassiert?"

"Dieses Mal nicht." Thor kicherte leise. "Ich helfe nur ab und an in Lokis Antiquitätenhandel aus und krieg dafür ein ordentliches Taschengeld."

"Also könnte ich mich gleich von Loki einladen lassen."

"Interessiert es deinen Magen wirklich so brennend, wo das Essen herkommt?"

"Nee."

Heimdal driftete tiefer in das Traumland und sein Unterbewusstsein registrierte, dass sanfte Finger durch seine violetten Strähnen streichelten. Es war eine schlichte Geste, die ihn jedoch tröstete, den Schmerz in seinem Herzen ein wenig linderte. Odin mochte ihn verraten, ihn wie Abfall fortgeworfen haben, aber er war nie allein gewesen. Loki und Thor hatten immer an seiner Seite gestanden, ihn nie im Stich gelassen.

Egal, was die Zukunft für ihn auch bereit hielt, egal, ob er sich nun für Walhalla oder für Japan entschied, er wusste, dass es immer zwei Personen geben würde, denen er vertrauen konnte. Blindlings vertrauen, da sie ihn liebten.

"Danke..." flüsterte er und kuschelte sich tiefer an den warmen Körper und unter die weiche Decke.

"Gern geschehen, Kleiner." Thor hielt den schlafenden Wächter sanft fest. "Gern geschehen."
 

***
 

"Komm, sing mit uns!"

Heimdal schaute die drei Schicksalsgöttinnen entsetzt an, musste aber grinsen, als sich Urd in ihrem Kostüm verhedderte und fast von der kleinen Bühne fiel, die Mayuras Vater in Lokis Garten errichtet hatte. Der Priester hatte die Geschichte von der Fehldiagnose der Ärzte und der wundersamen Rettung seiner Enkelin sofort akzeptiert. Selbst wenn er sie vielleicht nicht völlig glaubte, so zeigte er es nicht, hielt einfach nur die kleine Hel stolz in seinen starken Armen und würde sie wohl für den Rest des Abends nicht mehr los lassen. Eines Abends, der für Heimdal wohl noch sehr lange werden würde.

"Das ist ein Klassiker, den kennst du auch, ganz bestimmt." Bettelte Skuld und hielt ihm auffordernd das Mikrophon entgegen. Die drei Göttinnen hatten sich als Indianerinnen verkleidet und Heimdal mochte ihre verrückte Kriegsbemalung. Er fand sie umso besser, nachdem er erfahren hatte, dass Belldandy aus Versehen wasserfeste Farbe eingekauft hatte und die Schwestern wohl mehrere Tage brauchen würden, um ihre ungewohnte Schminke zu entfernen.

"Die Steaks sind gleich fertig." Verkündete der Mönch Freyr stolz vom Grill, den Midgar ihm überlassen hatte, um sich in letzter Minute noch um die Geburtstagstorte für Mayura zu kümmern. Die junge Frau saß, selbstverständlich wieder als Sherlock Holmes verkleidet, neben ihrem Ehemann und strahlte schon die ganze Zeit. Geschenke stapelten sich vor ihrem Platz, aber sie hatte sich am meisten über ein selbstgeschnitztes Schaukelpferd für ihre Tochter gefreut. Einige ihrer ehemaligen Mitschüler, die noch in der Stadt wohnten, hatten sich ebenfalls eingefunden und der Verrückte mit der Kamera und den vielen Festplatten, der dieses Mal als Peter Pan um die Tafel tänzelte, schoss erneut ein Photo nach dem anderen.

"Phantastisch, ich hab schon Bärenhunger." Pharao Thor hielt ein anderes Baby in seinen Armen, das mit roten Augen aufmerksam den Löffel betrachtete, den der Donnergott wie einen Hubschrauber durch die Luft fliegen ließ. Noch hatten sie sich für Odin keine glaubwürdige Geschichte ausdenken können, dafür war die Zeit zu knapp gewesen, aber erstaunlicherweise fragte niemand nach. Der kleine Junge schmatzte, als der Brei in seinem hungrigen Mund verschwand und gluckste zufrieden, als Thor in der Babysprache mit ihm redete.

Hat er mich auch so behandelt als ich so klein war?

Heimdal schielte zu den köstlich brutzelnden Steaks und Mayuras strahlendes Gesicht. Loki, der dieses Mal in dem Kostüm eines chinesischen Kaisers steckte, hatte bereits gesungen und sich dabei mehrfach versungen und sich, wie Heimdal es nannte, vollkommen zum Ei gemacht. Dennoch hatte ihn niemand mit faulen Tomaten beworfen.

"Bitte?" flehte nun auch Belldandy und Heimdal ergab sich schließlich in sein Schicksal und erhob sich unter dem lauten Jubel der drei Schwestern.

Sie werden mich schon nicht rösten, wenn ich die Töne nicht treffe oder das Lied absolut nicht kenne.

Denn er wusste nicht, was die Norns unter einem Klassiker verstanden. Freya sprang auf, um den CD-Player zu bedienen und er raffte den langen Yukata, den er als Kostüm trug, und kletterte auf die Bühne. Skuld und Urd halfen ihm sofort. Ein wenig albern kam er sich schon in den weiten Gewändern vor, die laut Mayuras Vater die Höflinge vor tausend Jahren in Japan getragen hatten. Besonders der Hut störte ihn. Und nun sollte er auch noch singen? Aber er dachte an das saftige Steak, das ihn erwartete und die leckere Geburtstagstorte, von der Midgar schon den ganzen Tag schwärmte.

Heimdal hob das Mikrophon und wusste, das es diese peinliche Situation wert war, als er in Lokis grinsendes und Thors dankbar lächelndes Gesicht blickte. Diese und all die anderen Situationen, die er mit ihnen noch erleben würde.
 

"There's nothing you can do that can't be done

Nothing you can sing that can't be sung

Nothing you can say but you can learn how to play the game

It's easy
 

Nothing you can make that can't be made

No one you can save that can't be saved

Nothing you can do but you can learn how to be you in time

It's easy"
 

***



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