Act I: Verstehen
Mit langsamen Schritten, die Gedanken jenseits der Welt, in der er wandelte, verließ Ehlan den heiligen
Ort zu dem Gott ihn gerufen hatte. Es war lange her, doch nun wartete ein Auftrag als Todesengel auf
ihn und seinen Bruder. Seufzen blieb der ältere der beiden Baradurbrüder stehen. Der Junge, dem sie
zugeteilt worden waren, würde bald an einer Krankheit sterben - es gab keine Aussichten für ihn. Seine
Aufgabe war es nun, das Leben des 15-jährigen bis zum Abschluss zu begleiten und ihm über die
Schwelle ins Jenseits zu helfen. Aber würde es wirklich so einfach werden? Den Kopf schüttelnd ließ sich
Ehlan nieder und sah auf seine Hände. Warum dachte man, dass gerade er dazu fähig sei, einem
Menschen das sterben zu erleichtern? War es lediglich, dass sein Vater einer der besten Todesengel
war? Verwirrt schlug der Engel die Hände vor's Gesicht und atmete tief aus. Die Erwartungen, die auf
seinen Schultern lasteten, waren oft noch zu viel für ihn. Seine Herkunft war noch lange kein Grund, der
dem Engel seinen ersten Auftrag erleichtern würde. Und was war mit Khay? Sein Bruder war in
Menschenjahren nur unbedeutend älter als der sterbenskranke Junge. Wie würde er die Situation
aufnehmen? Die Gedanken daran bereiteten Ehlan Bauchschmerzen, die er schon zu unterdrücken
wusste. Stets sorgte er sich um die Gefühle des jüngeren Bruders, auf den er aufpasste, da er genau
Bescheid wusste, dass dieser dazu neigte, alles auf sich zu beziehen und den Frust des Betroffenen zu
übernehmen. Schon oft hatte der Ältere in der Nacht aufstehen und zu Khay gehen müssen, da dieser
weinend, die Beine an den schlanken Körper gezogen dasaß, nicht schlafen konnte und darüber
nachdachte, warum die Welt der Menschen so viel Leid bescheren konnte. Seufzend erhob sich Ehlan,
legte die Schwerthand an die Waffe, die seitlich seines Körpers, geschützt durch eine kurze Scheide, an
seinem Gürtel hing. Bsiher hatte er sie nie benutzt, doch nun standen neue Aufgaben an, die sie beide
zu bewältigen hatten. Wer wusste schon, was kommen würde und ob man in neuen Situationen nicht
auch ab un zu ein Kurzschwert brauchte? Hinter sich hörte der Engel die lauten Schritte seines jüngeren
Bruders, der auf ihn zugerannt kam. Spät war er und dennoch war es dem Älteren nur recht, da auch er
einen Moment der Ruhe gebraucht hatte, um sich innerlich auf den Auftrag vorzubereiten. Seine Iris
vergrößerte sich, bis die Pupille im Inneren des Auges nur noch ein kleiner Punkt war, dann sah er mit
metallischem Blick zu Khay, als dieser neben ihm stehen blieb und matt lächelte. Es war davon
auszugehen, dass er Bescheid wusste. Gerade als Ehlan die Worte zum Aufbruch im Mund formte, ging
der jüngere Bruder einen weiteren Schritt auf diesen zu. "Ich weiß nicht, was man von uns erwartet" Die
kindlichen Augen sahen tief in die seines Bruders, als wollten sie dort eine Antwort finden. "Wieso
können sie ihn nicht in Ruhe lassen?" - "Er ist kein normaler Sterbefall, Bruder" Sanft legte der Größere
seine große, schwere Hand auf die schmächtigve Schulter des Anderen. "Er will nicht verstehen, dass er
eigentlich längst tot sein müsste. Krampfthaft versucht er sich an seinem irrdischen Dasein
festzuhalten!" Sein Blick glitt vom Gesicht seines Bruders zum Horizont und verharrte dort, um ins Leere
blickend zu erstarren. "Und... ist das... falsch? Er will leben! Ich kann ihn verstehen, großer Bruder, ich
will auch noch viel erleben und der Gedanke an den Tod in so frühen Jahren stimmt mich traurig"
Liebevoll drückte Ehlans Hand etwas zu und streichelte über die Schulter des Kleineren, wobei er
schwer seufzte. Auch er verstand, dass ein junger Mensch sein gerade erst begonnenes Leben nicht
wieder aufgeben konnte. Doch wenn Gott es so wollte, wenn sein Herr die reine Seele des Jungen zu
sich rief, dann hatte auch er zu gehorchen. "Jeder stirbt, Khay. Jedes Wesen muss irgendwann gehen
und..." - "Aber doch nicht so früh!" Als sein Blick wieder auf den Älteren fiel, erbebte der junge Engel
vor Unverständnis. "Wieso dürfen manche Verbrecher um so vieles länger leben und unschuldige
Menschen erleben keine zwei Jahrzehnte? Das ist nicht fair!" Schnaubend löste Ehlan seine Hand von
seinem Bruder und wandte diesem den Rücken zu: "Das Leben hat nichts mit Fairness oder
Gerechtigkeit zu tun!" Auf den bitteren Ton in der Stimme seines großen Bruders, den er so sehr
vergötterte, reagierte Khay ungewöhnlich ruhig. Seine Miene entgspannte sich und er wurde
augenblicklich ganz ruhig, um die Worte Ehlans aufnehmen zu können. "Got wird wissen, was er tut
und wir werden ihm helfen, wenn er danach ruft!" Nickend trat Khay neben den Größeren und sah zu
ihm auf, bis schließlich wieder ein Lächeln seine Lippen zierte. "Auch das gehört zum Leben, egal wie
lang es ist" murmelte Ehlan leise, erwiderte Khays Lächeln, wuschelte dessen Haare und breitete die
Schwingen aus. "Das Leben besteht daraus, zu verstehen, kleiner Bruder!