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The Past

Meine (dunkle) Vergangenheit
von

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Prolog

Prolog
 

„Late at night, things I thought I put behind me, haunt my mind“
 

Manchmal…manchmal stand sie am Fenster, weil sie nachts ihre Träume verfolgten und sie wieder mal nicht schlafen ließen. Sie stand da, blickte zum Himmel und verlor sich in der Betrachtung der Sterne. Wenn sie den Sternenhimmel sah, dachte sie nach, über Dinge, die sie tagsüber beiseite schieben musste. ‚Warum?’ Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. ‚Warum bin ich so, wie ich bin? Warum bin ich überhaupt ich?’ Ihre Überlegungen verloren sich stets ins Nichts. Sie spürte die Müdigkeit, aber sie wollte nicht schlafen, hatte Angst vor ihren Erinnerungen, die sie Nacht für Nacht heimsuchten. ‚Wie wäre ich, wenn irgendetwas anders gelaufen wäre?’ Sie senkte ihren Blick, sodass sie nun anstatt der Sterne in den beleuchteten Hof sah. Der wachhabende Söldner drehte unten seine Runde, neben ihm trabte ein großer, schwarzer Hund. Der restliche Teil der Devina war in Dunkelheit getaucht, in Dunkelheit und Stille.

Es war nicht jede Nacht so, manchmal war sie einfach zu müde. Aber immer wenn sie schlief, träumte sie. Und sie wollte nicht träumen, wollte nicht jedes Mal diese Bilder vor ihren Augen sehen, die ihr so Angst machten. Warum? Warum hatte sich das alles so in ihr Gehirn gebrannt? Warum konnte sie es nicht einfach vergessen?

Mit einem Seufzen wandte sie sich vom Fenster ab und ging zum Bett. Siw war zu müde und erschöpft, um gegen die Träume anzukämpfen.

1. Tag

1. Tag
 

„If I tell you, will you listen, will you stay?“
 

Schon um fünf Uhr morgens drangen Geräusche aus dem Trainingsraum. Nicht sehr laut, es klang als würde jemand auf etwas weiches einschlagen. Dem war auch so: Arisha hatte trotz ihrer Müdigkeit kein Auge zubekommen, hatte sich deshalb angezogen und war in den Trainingsraum gegangen, wo sie jetzt auf einen Boxsack einprügelte. Ihre Bewegungen waren schnell und flüssig und sie ließ sich ihre Erschöpfung nicht anmerken. Seid einer Stunde war sie jetzt schon hier und sie hatte nicht vor das Training abzubrechen. Die ersten Söldner kamen erst gegen Sechs, solange wäre sie ungestört. Arisha fixierte den Boxsack, als wäre er ihr persönlicher Feind. Ohne Unterlass prasselten die Schläge auf ihn nieder. Das Training weckte sie auf, ließ die Müdigkeit verfliegen, und mit ihr die Angst vor den Träumen, die ihr jetzt so lächerlich erschien.
 

Kurz vor Sechs war sie wieder in ihrem Zimmer und schlüpfte unter die Dusche. Das kalte Wasser ließ den letzten Rest der Müdigkeit verschwinden. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie sich an, aber andere Kleidung als die in der sie trainiert hatte. Immerhin musste man auf sein Äußeres achten, vor allem bei einer Person wie Lucrezia, die viel für die Politik tat und deswegen am laufenden Band irgendwelche Interviews gab. Arisha schnappte sich die Bürste und begann ihre Haare zu kämmen, als die Tür aufging. Erschrocken fuhr sie herum, aber es war bloß Shareef. „Morgen.“ Sie nickte ihrem Bruder zu, während sie sich die Haare zusammenband, aus praktischen Gründen. „Morgen.“, grüßte er zurück und trat ein. „Wie geht’s dir?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ganz in Ordnung.“ „Ist gestern alles gut gelaufen?“ Sie erstarrte mitten in ihrer Bewegung. Gestern. Sie hatte noch eine Weile warten wollen, bis sie mit ihm darüber redete, aber wenn er sie jetzt fragte konnte sie ihn schlecht abwimmeln. Gestern. Arisha spürte kein Mitleid mit dem Kerl, er hatte es nicht anders verdient und immerhin hatten sie jetzt die Informationen, die sie brauchten. Und die Polizei einen ungelösten Mordfall mehr. Ernst sah sie zu Shareef. „Wäre es nicht gut gegangen wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben, oder?“ Sein Gesicht bleib ausdruckslos, wie immer. In den letzten fünfzehn Jahren hatte er nur selten gelächelt und nie gelacht. Es machte sie traurig ihn so zu sehen, aber sie sprach ihn nicht darauf an. Er wusste, dass sie für ihn da war, genauso wie er für sie da war, immer wenn sie ihn brauchte. So wie jetzt.

Shareef nickte. „Du hast Recht, es war eine dumme Frage. Entschuldige.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Schon ok.“ Mit einem kurzen Blick zur Uhr griff sie nach ihrem Waffengürtel. Shareef beobachtete ihre Bewegungen genau. „Lucrezia geht mal wieder an die Öffentlichkeit?“ „Ja, sie hat um Acht ein Treffen mit irgendeinem Minister.“ Mit einer schnellen Bewegung hatte sie nach ihrer Jacke gegriffen, welche sie sich jetzt überzog. Ohne ein weiteres Wort ging sie an Shareef vorbei, doch er hielt sie am Arm fest. „Du weißt, dass du mit mir reden kannst, nicht wahr?“ Er sah sie fest an, aber aus ihrem Blick ließ sich nicht erschließen, was sie dachte. „Ja, ich weiß es.“ Sie gab ihn einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich lieb, großer Bruder.“, sagte sie mit einem Lächeln, dann machte sie sich los, verließ den Raum und ließ Shareef allein zurück.

Ja, sie wusste es. Außer Shareef gab es wahrscheinlich niemanden, mit dem sie hätte reden können. Und aus ihrer Familie war er der einzigste gewesen, der sich wirklich um sie gesorgt hatte. Sienna, ihre ältere Schwester...wie alt war sie jetzt? Vierundzwanzig? Wahrscheinlich war sie verheiratet mit einem Mann, den sie nur ein oder zweimal flüchtig gesehen hatte. Hätte man sie gefragt, hätte Arisha behauptet, Sienna tue ihr leid, aber wenn sie tief in sich hineinhörte war da nichts. Kein Mitleid, keine Gefühle für ihre Schwester, ein Teil ihrer Familie. Und auch für ihren Vater empfand sie nichts, mehr noch, sie hasste ihn, aus tiefster Seele. Er war derjenige gewesen, der ihr eingeredet hatte, dass sie Schuld am Tod ihrer Mutter war. Er hatte es geschafft, dass die Schuldgefühle an ihr nagten, bis sie gelernt hatte damit umzugehen. Sie verabscheute ihn. Er hatte sie seelisch fertig gemacht, ein fünfjähriges Mädchen, und wäre Shareef nicht gewesen, hätte sie jetzt vielleicht wirklich einen psychischen Schaden. Arisha hoffte, dass ihr Vater noch lebte. Der Tod war zu gut für ihn. Und die einzige weitere Person, die Arisha noch etwas bedeutet hatte, ihre Mutter, war schon lange tot, so lange, dass sie sich nicht einmal mehr richtig an sie erinnern konnte, weder an ihr Gesicht, noch an ihre Stimme. In Arishas Träumen war sie nur ein Schatten. Auf dem Weg zu Lucrezia dachte sie genauer darüber nach. Sie hatte sich geirrt, es gab noch jemanden. Djamila, die für sie wie eine gute Freundin gewesen war, für Shareef sogar mehr, viel mehr. Doch auch Djamila war tot.
 

Kurz vorm „Thronsaal“ kam ihr Kemal entgegen. „Na, auf dem Weg zur Arbeit?“ Sie ignorierte ihn. „He, Sheheresade, ich rede mit dir.“ Keine Reaktion. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter. Sie atmete langsam aus und sah stur geradeaus. Manchmal nervte das alles wirklich, doch die Devina war ihre Heimat geworden und sie wollte um nichts auf der Welt hier weg. Und Kemal gehörte ebenso hierher wie die restlichen Prieuéritter. Ohne weitere Zeit zu verlieren betrat Arisha den Raum. Lucrezia schien schon auf sie gewartet zu haben, denn sie lächelte, als Arisha eintrat, aber es war eine Maske, genauso aufgesetzt wie Arishas gleichgültige Miene. Lucrezia wusste, dass sie mit diesem Lächeln bezaubern konnte, sie war eine Schönheit, aber eine, die man lieber aus der Ferne betrachtet. Irgendwo hatte Arisha mal den Begriff „Eiskönigin“ im Bezug auf Lucrezia aufgeschnappt, sie fand ihn passend. Genauso kam sie ihr vor, wie eine Figur aus Eis. Wer ihr zu nahe kam, der starb an der Kälte. Arisha glaubte nicht, dass das alles war, sie behauptete auch nicht zu wissen, was in Lucrezia vorging. Vielleicht, nein, mit Sicherheit war sie völlig anders als sie sich nach außen hin gab. Und wer konnte schon wissen, wie ein Mensch in seinem tiefsten Innern wirklich war?

Sie deutete eine Verbeugung an, als Lucrezia sich erhob und auf die Tür zuging. „Sag Simon, er soll den Wagen vorfahren lassen.“
 

Später am Tag, als sie wieder zurück waren, durchwanderte Arisha ruhelos die Devina und dachte über Gisbert nach. Gisbert Kordal, der Mann, den sie gestern hatte umbringen müssen, nachdem er ihr das verraten hatte, was sie wissen wollte. Sie dachte an seinen Blick, als sie mit der Waffe in der Hand vor ihm gestanden hatte. Er hatte ihr vertraut, sie ihn verraten, aber sie fühlte keine Schuld. Das Einzige, was sie beunruhigt, war das, was er gesagt hatte. Seine Worte verfolgten sie und sie spürte, dass er Recht hatte.

Fast wäre sie bei ihren Überlegungen mit Shareef zusammengestoßen. „Entschuldige.“ Sie sah zu ihrem Bruder auf, er war immerhin größer als sie. Dieser schüttelte nur den Kopf. „Ist ja nichts passiert.“ Dann musterte er sie prüfend. „Du hast die letzten Nächte nicht geschlafen, was?“ Sie hätte ihn anlügen können. „Nein.“ „Ruh dich aus.“ Er machte sich Sorgen, sie hörte es aus seiner Stimme. Sie antwortete nicht, aber er verstand sie auch so. Nebeneinander gingen sie in die Richtung, in der ihr Zimmer lag. Auf dem Weg kamen sie an der Cafeteria vorbei. Irgendein Söldner stellte sich ungeschickt an, sein Teller fiel zu Boden und zerbrach. Schlagartig begann sich Arishas Herzschlag zu verschnellern, einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, gleich würde hier alles in die Luft fliegen. Natürlich geschah nichts. In Gedanken schimpfte Arisha mit sich selbst, während sie den Kopf drehte und aus einem Fenster sah. Der Himmel verdunkelte sich jetzt, zur späten Herbstzeit, sehr schnell, die Straßenlaternen waren schon angegangen.

Vor ihrer Zimmertür verabschiedete sie sich von Shareef, nachdem sie ihm versprochen hatte, dass sie sich wirklich ausruhen würde und sich nicht wieder einen Boxsack suchte. Er hatte es also mitbekommen. Sie betrat das Zimmer und schaltete das Licht an. Dann zog sie sich das Haargummi aus den Haaren und schüttelte kurz den Kopf etwas, bis ihr die Haare wieder über die Schultern fielen, wie sie es sonst auch taten. Arisha legte sich aufs Bett, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und starrte an die Decke. Sie wusste, was passieren würde wenn sie einschlief.
 

Eine halbe Stunde später öffnete sich die Tür kurz. Shareef schaltete das Licht aus, nachdem er einen kurzen Blick auf seine Schwester geworfen hatte, die tief und fest schlief.
 

„Hey, Arisha!“ Das junge Mädchen drehte sich um, dann strahlte sie auf einmal über das ganze Gesicht. „Myriam!“ Sie lief zu ihrer Freundin, die sich in den Sand gekniet hatte. Myriam hatte sich zum Schutz gegen die Hitze ein Tuch um den Kopf gebunden, sie hielt eine blaue Feder in der Hand. „Sieh mal!“ Arisha ließ sich neben ihr nieder. „Wo hast du die her?“ „Gefunden.“ Myriam grinste. „Gerade eben, als Jaila die Wäsche aufgehängt hat.“ Arisha musterte die Feder. „Von welchem Vogel ist die?“ „Keine Ahnung. Jaila konnte es mir nicht sagen. Was denkst du, weiß dein Bruder es?“ Arisha verzog das Gesicht. „Der? Vielleicht. Aber er ist in letzter Zeit ganz komisch.“ Myriam legte den Kopf schief. „Wie komisch?“ „Na, komisch halt. Er redet nur noch wenig. Und er lässt mich immer mit Sienna allein.“ Sie stand auf und klopfte sich den Sand aus der Kleidung. Auch Myriam erhob sich. Beide Mädchen waren fünf Jahre alt, sie waren praktisch gemeinsam aufgewachsen. Myriam deutete auf eine Schramme an Arishas linker Hand. „Was hast du da gemacht?“ Hastig versteckte Arisha die Hand hinter ihrem Rücken. „Nichts. Ich bin hingefallen.“ „Es war nicht Rahul?“ Rahul. Wenn sie diesen Namen schon hörte. Rahul war zehn, kam sich furchtbar wichtig vor und war der Anführer einer kleinen Gruppe, die sich häufig einen Spaß daraus machte Myriam und Arisha zu ärgern. „Nein, es war nicht Rahul.“ Myriam fing an zu kichern. „Weißt du noch, als wir ihm das Tuch aufs Gesicht gelegt haben, während er geschlafen hat? Und er ist aufgewacht und hat gedacht er sei blind?“ Auf Arishas Gesicht breitete sich ein schadenfrohes Grinsen aus und wenig später waren die beiden Mädchen lautstark am Lachen...solange, bis Sienna aus dem Haus kam. Sie war ein hübsches Kind, sieben Jahre alt, aber Arisha mochte sie nicht. Sie hatte einfach so wenig mit ihrer Schwester gemeinsam. Sie verstand nicht, was daran erstrebenswert war, stundenlang im Haus zu hocken und zu lernen wie man dieses und jenes tat. Andersherum verstand Sienna Arishas Freude an allem Neuen nicht, vor allem aber, warum Arisha so an Shareef hing. Arisha selbst wusste es nicht einmal. Vielleicht lag es daran, dass er vor einem halben Jahr begonnen hatte ihr Buchstaben beizubringen. Seitdem wich sie fast nicht mehr von seiner Seite und bettelte ständig darum, dass er ihr mehr beibrachte. Für sie war es wie ein Zaubertrick und immer wenn Shareef sich ihrer erbarmte und anfing die Buchstaben in den Sand zu malen, saß sie wie hypnotisiert daneben. „Es ist ganz einfach.“, hatte Shareef ihr erklärt. „Es ist fast wie zeichnen. Du musst es oft genug üben, dann kommen die Buchstaben praktisch von selbst und du musst sie nur noch aufschreiben.“ Anfangs war sie skeptisch gewesen, obwohl die verschlungenen Formen sie fasziniert hatten. „Was soll ich denn damit?“, hatte sie ihren Bruder gefragt. Der hatte nur gelacht. „Du kannst deine Gedanken aufschreiben, deine Gefühle, deine Träume. Und eines Tages...“ er gab ihr einen leichten Klaps auf den Kopf „...eines Tags bist du vielleicht ein Autor.“ Und er hatte ihr versprochen ihr zu ihrem sechsten Geburtstag ein Heft und einen Stift zu kaufen, damit sie üben konnte. Seitdem zählte Arisha ungeduldig die Tage. Aber all das war Sienna unverständlich. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, dass es Buchstaben gab. „Mum sagt, dass du mit einkaufen sollst.“, sagte sie zu Arisha. Ihr Tonfall war gleichgültig, bei ihr ein deutliches Zeichen der Eifersucht. Arisha grinste. Sie mochte die Märkte, das bunte Treiben und die lauten Stimmen der Verkäufer, die mit Schreien und Rufen ihre Waren anpriesen. Sie drehte sich zu Myriam. „Was ist, kommst du mit?“ „Klar.“ Auch Myriam teilte ihre Begeisterung für die Märkte. Die Beiden liefen an Sienna vorbei ins Haus und griffen sich jeweils eine Hand von Arishas Mutter. Diese musste lachen. „Ihr habt es ja eilig.“ „Klar.“ Arisha sah ihre Mutter mit ihrem unschuldigsten Lächeln an. „Komm schon!“ Sie fragte gar nicht erst, warum Sienna nicht mit durfte, vielleicht spielte ihre Schwester auch einfach nur erwachsen und tat so als wolle sie gar nicht zum Markt. Arisha war es egal. Sie, Myriam und ihre Mutter gingen von einem Stand zum andern und Arisha fand es fast schade, als der Himmel sich dunkel färbte. „Komm schon, Arisha.“ Ihre Mutter drehte sich zum Gehen aber Arisha hatte plötzlich Myriams blaue Feder gesehen, die diese wohl im Trubel verloren haben musste. „Warte kurz.“ Ihre Mutter blieb stehen. Irgendwo hinter ihnen ging ein Teller zu Bruch, Arisha hörte es ganz deutlich. Dann explodierte die Welt um sie herum. Blut. Schreie. Schmerzen. Dunkelheit. Das war alles was sie wahrnahm, in einem wirren Strudel. Ihr war schwindelig, sie hörte Myriam aufschreien und ihre Mutter, die Arishas Namen rief, sie spürte die Erschütterung, als es mehrere Häuser auseinander riss und die Brocken zu Boden fielen. Es dauerte nur sehr kurz, nicht einmal eine Minute, aber der Staub hing noch lange in der Luft. Arisha hatte Schmerzen im ganzen Körper, ihre linke Schläfe pochte und als sie die Hand an die Stirn hob fühlte sie etwas Warmes, Feuchtes. Sie betrachtete ihre Hand, rotes Blut glänzte daran. Zitternd erhob sie sich, um sie herum war ein reinster Trümmerhaufen. In der rechten Hand hielt sie immer noch die Feder umklammert. Sie sah ein paar Leute, die ebenfalls aufstanden, manche lagen auf dem Boden und schrien und überall hing die Angst in der Luft. Aber es gab auch diejenigen, die nur still lagen und kein Geräusch von sich gaben. Unter einem großen Tuch sah eine Hand hervor, die Hand, die Arisha wenige Minuten zuvor noch gehalten hatte, die Hand ihrer Mutter. Sie sah sie, doch sie realisierte nicht, was es bedeutete. Weiter links erkannte sie Myriam, die leblos auf der Erde lag. ‚Sie schlafen’, dachte Arisha. ‚Sie schlafen bestimmt.’ Und dann plötzlich packte sie jemand an den Schultern und drehte sie herum. Es war Shareef, mit ein paar anderen Leuten war er hierher gekommen um nach Überlebenden zu suchen. Arisha sah die Angst und die Sorge in seinen Augen. Und den Schock, als er erkannte wer unter dem Tuch lag. Er kniete sich vor Arisha hin und strich ihr sanft das Haar aus der Stirn, um die Wunde genauer betrachten zu können. „Es ist alles in Ordnung, Arisha.“, sagte er leise. „Dir ist nichts passiert.“ Er drückte sie an sich und jetzt erst flossen bei Arisha die Tränen. Sie verstand nichts mehr. Sie verstand nicht, was all die Zerstörung sollte, warum Shareefs Stimme so gepresst klang, warum Myriam und ihre Mutter sich nicht mehr rührten. Sie verstand nicht, warum sie weinte, aber sie tat es. Und Shareef legte die Arme um sie herum und wartete, bis keine Träne mehr nachkam. Dann löste er sich von ihr und sah sie ernst an. „Was ist passiert, Arisha?“ Sie erzählte es ihm. Immer wieder stockte sie oder zögerte, aber er war geduldig, redete beruhigend auf sie ein. Dann nahm er sie hoch und trug sie zurück in nach Hause. Keiner der Geschwister sah sich um. Arishas Vater fragte, was passiert sei, vor allem wo seine Frau war und Shareef antwortete knapp, aber das bekam Arisha nur am Rande mit. Sie war in eine Art Dämmerzustand übergegangen und merkte nur noch, wie Shareef sie in ihr Bett legte. Als sie wieder aufwachte, saß er immer noch da und sie spürte etwas weiches um ihren Kopf: Er hatte ihre Wunde verbunden. Eine Weile schwieg sie. „Wo ist Mam?“ „Weg.“ Er klang zutiefst traurig. Sie verstand nicht. „Wann kommst sie wieder.“ Da sah er sie an, in seinen Augen lag nur Sorge und Mitleid, Mitleid mit ihr, weil sie so etwas hatte erleben müssen. „Sie wird nie wieder herkommen, Arisha. Auch Myriam nicht. Sie sind für immer fort.“ Arisha Blick verschwamm, die Tränen liefen ihr wieder über die Wangen. Und wieder nahm Shareef sie in den Arm und tröstete sie leise, saß einfach da und hielt sie fest. Er wusste, dass nichts was er jetzt sagen würde, ihr half, also saß er einfach an ihrem Bett und blieb bei ihr. Aber als Arisha aufsah, sah sie ihren Vater in der Tür stehen und in seinen Augen sah sie genau das, was in Shareefs gefehlt hatte: Hass und Anschuldigung. Er gab ihr die Schuld an dem Tod ihrer Mutter, weil sie sie gedrängt hatte noch zu warten. Ohne ein Wort ging er weiter und ließ Shareef und Arisha alleine. Schließlich reichte Shareef seiner Schwester die Feder. Er hatte sie gefunden, Arisha hatte sie fallen gelassen. „Erinner dich an sie.“, sagte er leise. „Vergiss sie nicht.“ Arisha umschloss die Feder mit ihrer Hand. „Das werde ich nicht.“ Sie lächelten, alle beide, aber es war ein Lächeln voller Trauer und Schmerz.

2. Tag

2. Tag
 

„Would you tell me I was wrong? Would you help me unterstand?”
 

Als Arisha am nächsten Morgen die Augen öffnete, war das erste was sie tat sich an die Stirn zu greifen. Kein Verband. Nur ein Traum. Einer dieser vielen Träume, die sich ständig wiederholten. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf und fuhr sich durch die Haare. Ein kurzer Blick auf die Uhr ließ sie aus dem Bett springen. Sie hatte verschlafen! Das gab es doch nicht! Hastig machte sie sich fertig und stürmte aus dem Zimmer.

Ares wartete bereits auf sie, er hatte ihr gestern gesagt, dass er mit ihr reden wollte. Wortlos hielt er ihr eine Mappe entgegen. Während Arisha darin blätterte, hörte sie ihm mit halbem Ohr zu. „Die Informationen von diesem Kordal reichen nicht. Wir brauchen weitere.“ Arisha nickte. „Henry Leun. Künstler, verdient ganz gut, geschieden, 32.“ Sie sah von der Mappe auf. „Du denkt er hat Verbindungen zu den Templern?“ Ares grinste. „Ich denke nicht, ich weiß es. Er hat sich verraten.“ Er deutete auf die Mappe. „Blätter weiter.“ Arisha tat, wie ihr geheißen. Auf der nächsten Seite waren Fotos. „Er zeichnet nicht nur, er restauriert auch.“ Die Bilder zeigten Skulpturen und Wandbemalungen, alles christliche Motive. „Das muss doch nichts heißen.“ Ares Grinsen wurde nur breiter. „Oh doch, das tut es. Das letzte Bild.“ Arisha übersprang den Rest und besah sich das letzte Foto. Sie runzelte die Stirn. Es zeigte ein Grabmal. „Was ist damit?“ Ares tippte auf das Foto. „Es wurde von den Templern gesponsert.“ „Woher willst du das wissen?“ „Wir haben unsere Mittel und Wege. Frag doch deinen Bruder, wenn du genaueres wissen willst.“ Arisha schüttelte den Kopf und klappte die Mappe zu. „Was soll ich tun?“ Sie gab Ares die Mappe zurück. „Das ist ganz einfach.“, erwiderte dieser. „Wir fahren zu diesem Kerl, er wohnt zwanzig Kilometer von hier entfernt. Und dann wirst du die Informationen aus ihm heraus kitzeln.“ Sie legte den Kopf schief. „So wie bei Kordal?“ Ares nickte. „So wie bei Kordal.“ „Und wieso kommst du mit?“ „Du brauchst doch jemanden, der dich beschützt.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“ Er hob die Hand, gebot ihr zu schweigen. „Diesmal wird es anders sein als sonst. Du kannst abends nicht zur Devina zurückkehren. Wir vermuten, dass die Templer unseren Künstlerfreund überwachen lassen, nach dem was mit Kordal passiert ist.“ Ja, das hatte sich Arisha fast gedacht. „Dann nehm ich mir eben ein Hotelzimmer.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was ist schon groß dabei?“ „Ganz einfach: Wenn sie ihn überwachen, werden sie auch jede weitere Person verfolgen, die plötzlich in seinem Leben auftaucht. Sollten sie also plötzlich im Hotel aufkreuzen, hast du jemanden, der es im Notfall mit ihnen aufnehmen kann.“ Das klang plausibel, dennoch wäre Arisha lieber allein gegangen. Allerdings, Ares war der Schwertmeister und somit ihr Vorgesetzter, was sollte sie schon sagen? Nur Lucrezia würde ihm widersprechen. Sie ergab sich ihrem Schicksal. „Gut.“ „Das klingt ja schrecklich begeistert.“ Er musterte sie prüfend. „Hast wohl Schuldgefühle wegen Kordal, was?“ „Geht’s dir noch gut?“ Sie warf ihm einen abwertendem Blick zu. „Wegen dem? Er war ein Auftrag, mehr nicht.“ „Ich mein ja nur. Nicht dass dir irgendwann deine Gefühle im Weg stehen.“ „Für dich ist das ja kein Problem.“, sagte sie gehässig. „Du hast ja keine Gefühle.“ Er antwortete nichts, aber Arisha merkte, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Ohne ein weiteres Wort ging sie an ihm vorbei, dann drehte sie sich noch mal um. „Was werde ich brauchen?“ „Waffen. Waffen und Muniton.“
 

Shareef betrat das Zimmer, als Arisha gerade packte. „Ich habe gehört du gehst eine Weile?“ Sie nickte. „Es wird nicht lange dauern, hoffe ich.“ Er sah ihr beim Packen zu. „Ares begleitet dich?“ „Glaub mir, es wäre mir lieber wenn er es nicht täte.“ „Kann ich verstehen.“ Es war allgemein bekannt, dass Ares tötete ohne eine Regung zu zeigen. Arisha und Shareef waren Assasine, sie töteten weil es ihr Auftrag war. Wenn Ares kämpfte, erledigte er auch Unschuldige ohne mit der Wimper zu zucken. Für Arisha grenzte das schon an einen Psychopathen. Aber es war seine Sache, solange er bei den Templern und den normalen Menschen blieb. Er musste nur die Finger von den Prieure lassen. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und stellte sich vor Shareef. „Pass auf dich auf.“, sagte dieser leise. „Ich passe immer auf mich auf.“ Sie grinste frech. „Wer mir zu nahe kommt wird es auf ewig bereuen.“ Die beiden Geschwister umarmten sich, dann legte Shareef ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Stirn. „Trotzdem.“, sagte er leise. „Man kann nie vorsichtig genug sein.“
 

Während sie den Hof überquerte, hing Arisha ihren Gedanken nach. Sie dachte an Gisbert, dessen Worte sie immer noch nicht losließen. Sie dachte an Ares, den sie lieber in der Devina als in ihrer Nähe gewusst hätte. Sie dachte an Shareef, ihren Bruder. Ein Kuss auf die Stirn bedeutete eigentlich „Ich beschütze dich“. Dort, wo sie jetzt hinging, konnte er sie nicht beschützen. Es war eine Art Segenswunsch, den er ihr mit auf den Weg gegeben hatte und sie war ihm dankbar dafür. Ihr wurde jetzt deutlich bewusst, dass sie ein Ziel hatte: Zur Devina zurückzukehren, wenn möglichst unverletzt, auch wenn sie sich auf letzteres nicht allzu große Hoffnungen machte.

Ares wartete schon, an seinen Porsche gelehnt und Arisha musste unwillkürlich an den letzten denken, der, laut ein paar anderer Söldner, bei einer Jagd auf zwei Kinder und einen abtrünnigen Söldner schrottreif gefahren worden war. Sie verkniff sich ein Grinsen. „Da bist du ja endlich.“ Ares bedachte sie mit einem nicht gerade freundlichen blick und steig dann in den Porsche. Arisha ging um das Auto herum und setzte sich auf den Beifahrersitz. Wie unbeteiligt sah sie aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft, die vorbeiraste. Innerhalb weniger Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht und Arisha begann sich zu fragen, ob Ares den Porsche genommen hatte, weil er ein wenig an der Öffentlichkeit angeben wollte. Kaum hatte er das Fahrzeug angehalten, stieg sie aus dem Wagen. Natürlich erntete der Sportwagen mehrere bewundernde Blicke, ebenso Ares. Wenn es ums Äußere ging, konnte er punkten, aber was den Charakter betraf hatte noch niemand etwas gutes über ihn gesagt. Arisha war nicht die Einzige, die ihm lieber aus dem Weg ging. Nur Lucrezia gegenüber war er einigermaßen erträglich. Mit einem leichten Kopfschütteln betrat sie das Gebäude, Ares folgte ihr, nachdem er den Porsche abgeschlossen hatte. Sie belegten die Zimmer unabhängig voneinander, um keinen Verdacht zu erregen. Die Templer mussten nicht unbedingt wissen, dass auch der Schwertmeister hier war.

Arisha legte nur schnell die Tasche ab, dann verschloss sie das Zimmer. Ares ging scheinbar zufällig an ihr vorbei. „Jetzt beginnt dein Part.“, zischte er ihr leise zu. Ihr Part. Sie würdigte ihn keines Blickes und ging weiter als wäre nichts geschehen. Der Ort, an dem sich Henry Leun größtenteils aufhielt, war das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort hielt er nach Leuten Ausschau, die er malen konnte. Wenn sie Glück hatte, sprach er sie an, wenn nicht, müsste sie es eben anders versuchen.
 

Sie hatte Glück. Schon kurze Zeit später war sie mit Henry in ein Gespräch vertieft und er bot ihr an, sich sein Atelier anzusehen. Gespielt zögernd stimmte sie zu, meinte aber, dass sie erst morgen könne. Nur nichts überstürzen, sie hatte Zeit genug um das Vertrauen des Künstlers zu gewinnen. Er war einverstanden und begann dann, sie über ihre Vergangenheit auszufragen. Aber hier blockte sie ab, von ihrer Vergangenheit wusste niemand, außer Shareef. Henry verstand ziemlich schnell, dass sie nicht antworten würde und wechselte das Thema. Er strich sich über den Oberlippenbart und musterte sie. „Sie sehen nicht aus, als würden sie aus Deutschland kommen, aber lassen wir das. Immerhin bin ja auch ich nicht ganz Deutscher.“ „Nicht?“ Das war Arisha neu. Aber deswegen tat sie das hier ja: Um Sachen herauszufinden. Henry lächelte. „Nein. Mein Großvater war Franzose.“ Sie legte den Kopf leicht schief. „Ist Henry nicht englisch?“ Henry zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Er warf einen schnellen Blick auf die Armbanduhr. „Oh, ich muss gehen, ich habe heute noch ein Treffen mit einem alten Freund. Also bis morgen...um drei?“ Sie nickte und er machte eine übertriebene Verbeugung. „Ich freue mich.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als er das Café verließ. Nur wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass es ein spöttisches Lächeln war.
 

An diesem Abend sah sie Ares nicht wieder und sie war auch ganz froh darüber. Allerdings hatte das auch einen ganz besonderen Grund, der auf dem Zettel stand. Der Zettel, den Ares unter der Tür durchgeschoben hatte, da er ja den Schlüssel nicht besaß. Arisha las ihn sich mehrmals durch und warf ihn dann in den Müll. Geheimhaltung, natürlich! Wer zum Teufel war denn mit dem Porsche gefahren? Mit einem Kopfschütteln und einer Bemerkung auf arabisch begann sie sich umzuziehen. Dann schaltete sie das Licht aus. Sie genoss die Dunkelheit, auch von draußen fiel kein Licht herein und ausnahmsweise war sie froh darüber, dass sich der Himmel im Herbst schneller verdunkelte. Ohne weiter groß darüber nachzudenken legte sie sich ins Bett. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
 

Arisha saß auf ihrem Bett und ließ die Beine baumeln. Sie sah zu Shareef, der im Zimmer auf und ab ging und keine Ruhe fand. Seit Stunden ging das jetzt schon so und bis jetzt hatten die beiden kein Wort miteinander geredet. Sie wusste, warum er so ruhelos war, er hatte es ihr gesagt, nachdem sie ihm versprochen hatte kein Wort zu verraten. Eine befreundete Familie würde mit ihrer Tochter vorbeikommen: Djamila, die Verlobte Arishas und Shareefs Cousin. Arisha wusste von Shareefs Geheimnis. Er und Djamila waren ein Paar, seit zwei Jahren schon. Sollte das jemals ans Licht kommen wären beide so gut wie tot. Shareef hatte Glück, sein Cousin würde nicht anwesend sein. Er hatte woanders zu tun. Jetzt sah Shareef Arisha an. „Versuch es doch wenigstens.“ Sie schüttelte den Kopf. „Er beachtet mich nicht einmal. Er tut so als gäbe es mich nicht. Für ihn existiert nur noch Sienna.“ Es ging um ihren Vater: Shareef hatte Arisha gebeten ihn eine Weile abzulenken, damit er mit Djamila eine Zeitlang ungestört sein konnte. Sie konnten sich nicht oft sehen, für sie war jede Minute zusammen kostbar.

Shareef lies ein leises Seufzen hören und setzte sich neben sie. „Ich weiß. Aber Sienna kann ich nicht darum bitten.“ Arisha nickte nur. Das wusste sie selber. Die inzwischen Sechsjährige sah zur anderen Zimmerwand. „Warum ist es verboten?“ „Es ist nun mal so. Daran kann man nichts ändern.“ Sie senkte den Kopf. „Er hasst mich, nicht wahr?“ Eine Weile schwiegen beide. „Nein.“, sagte Shareef dann. „Er hasst dich nicht. Aber er kann ihren Tod nicht verarbeiten. Für ihn ist es leichter die Schuld auf jemand anderen zu schieben, damit er selbst keine Gewissensbisse hat.“ Arisha fühlte sich schuldig. Die Worte ihres Vaters, zwei Tage nach dem Anschlag, hatten sie zutiefst verletzt. Sie erinnerte sich nicht mehr an alles, aber sie wusste noch wie er sie angesehen hatte: Mit unverhohlenem Hass. Shareef konnte behaupten was er wollte, sie war sich sicher, dass es ihrem Vater lieber gewesen wäre, sie wäre auch tot. Und das war für sie das Schlimmste.
 

Djamila kam ungefähr zwei Stunden später mit ihrer Familie. Sie warf Shareef einen versteckten Blick zu und ließ dann die Erwachsenen im Gespräch zurück. Arisha folgte ihnen, denn ohne Absicht war Sienna schon dabei den Rest der Gemeinschaft abzulenken, indem sie sich einfach ins Gespräch einmischte. Sie fand Shareef und Djamila im Hof sie redeten leise miteinander. Djamila hatte ihren Kopf an seine Schulter gelegt. Arisha blieb auf Abstand und setzte sich im Schatten der Hauswand hin. Sefir, ihre Katze, strich ihr um die Beine und Arisha kraulte ihr geistesabwesend den Kopf. Sie verstand nur einzelne Wörter der Unterhaltung, aber sie war sich sicher, dass das Wort „Ägypten“ mehrmals genannt wurde. Das gab ihr zu denken. Wieso sprachen die beiden über Ägypten? Sie scheuchte Sefir beiseite, welche mit ihrem ständigen Gemaunze das Gesprochene unverständlich machte. Dann hörte sie weiter zu. Und während sie zuhörte, schlich sich die Angst in ihr Herz. Shareef wollte gehen. Wenn er weg war, was sollte sie dann noch hier? Er war das einzige, das sie hier festhielt.
 

Mitten in der Nacht huschte ein Schatten durchs Haus und in Arishas Zimmer. Shareef war gekommen um sich von ihr zu verabschieden. Er und Djamila hatten vor nach Ägypten zu fliehen, da sie wussten, dass sie hier nie eine Chance zusammen hätten. Arishas Bett war leer. Als er sich umdrehte stand sie in der Tür. „Du willst fort, stimmts?“ Sie klang verletzt. Shareef legte einen Finger auf die Lippen. „Sei leise, du weckst sonst die anderen Beiden.“ Sie ließ sich nicht beirren. „Was wollt ihr in Ägypten?“ „Du hast gelauscht?“ „Ich hab nichts weiterverraten.“ Er seufzte. „Hör zu, Arisha, wir gehen dahin, weil wir nur so eine Zukunft haben.“ Sie funkelte ihn wütend an. „Ich komme mit.“ „Was?“ „Ich komme mit.“ Er sah sie ungläubig an. „Du kannst nicht mit!“ „Wieso nicht?“ Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Und dann. plötzlich, sagte Arisha: „Du bist der einzige aus dieser Familie, der sich um mich sorgt. Du kannst mich nicht alleine lassen.“ Shareef schluckte. „Pack deine Sachen.“ Auf Arishas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Hab ich schon. Ich wusste, dass ich dich überzeugen kann.“

3. Tag

„Never thought this day will come so soon”
 

Arisha wurde vom Geräusch eines klingelnden Handys geweckt. Verschlafen drehte sie sich auf die Seite und griff nach dem Rucksack, der neben dem Bett stand. Nach einer kurzen Suche fand sie das nervende Plastikteil. Verdammt sei die Technik. Sie stütze sich mit dem Ellenbogen auf dem Bett ab und besah sich den Display des dauerpiepsenden Ungetüms. Ares, wer sonst? „Halt die Klappe, Ares.“, murmelte Arisha, drückte den Anruf weg und ließ sich seufzend ins Kissen zurücksinken. Der Kerl hatte ja Probleme, sie frühmorgens anzurufen. Anscheinend wollte er einen langsamen und schmerzvollen Tod sterben. Sie schloss die Augen und bereitete sich seelisch auf einen Wutanfall vor, dann riskierte sie einen Blick auf die Uhr. Fünf Uhr in der früh. Gut, JETZT war sie sauer. Sie setzte sich auf, als ein Klopfen an der Tür erklang. Sie konnte sich schon denken wer das war, aber sie ließ sich Zeit. Sollte Ares doch warten.
 

Fünfzehn Minuten später stand ein wütender Ares im Raum. „Spinnst du eigentlich total? Warum hast du nicht abgenommen?“ Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. „Ich hab geschlafen. Es ist fünf Uhr! Der Einzige der hier spinnt, bist ja wohl du.“ Darauf wusste er nichts zu sagen. „Gibt es wenigstens einen Grund warum du mich so früh aus dem Bett klingelst?“ „Klar gibt es den: Leun.“ „Was ist mit ihm?“ „Wolltet ihr euch nicht treffen?“ Arisha stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Um drei, Ares, um drei! Nachmittags! Jetzt ist es fünf!!“ Ares nahm seinen gewohnten Gesichtsausdruck ein: dieses überhebliche Grinsen, welches Arisha so hasste. „Schön, dann lassen wir ihn mal unbeobachtet herumlaufen. Es ist ja auch völlig normal, dass jemand frühmorgens herumrennt. Davon hast du mich ja gerade eben überzeugt.“ Mehr musste Ares nicht sagen. Kaum eine Minute später standen beide unten auf der Straße. „Also? Wo ist er hin?” Sie sah Ares fragend an. Er nickte Richtung Straßenkreuzung. „Dahin. Und weiter weiß ich nicht, da ich ja auf eine gewisse Person warten musste.“ „Es ist gut, Ares.“, knurrte sie leise. „Ich hab’s verstanden, okay? Also sei einfach still.“ Das Grinsen wich nicht von seinem Gesicht. Wie konnte eine einzelne Person nur so nervtötend sein?

Arisha wandte den Blick ab und sah suchend zur Straßenkreuzung. Wohin war Henry gegangen? Sie dachte an das Kloster, das in der Nähe lag. Angeblich hatte Henry ja Verbindungen zu den Templern, also war das die erste Adresse, an der sie suchen mussten. Das Ganze konnte sich natürlich auch als Fehlalarm herausstellen. „Was ist mit dem Kloster?“, fragte sie den Schwertmeister. Ares zuckte mit den Schultern. „Daran hab ich auch schon gedacht, allerdings wären die Templer selten dämlich, wenn sie sich neuerdings in Gotteshäusern treffen.“ Arisha erinnerte ihn an Charney und Ares verzog das Gesicht. „Stimmt. Du hast gewonnen.“ In stillem Einverständnis schlugen sie unterschiedliche Wege ein, nur für den Fall, dass Templer in der Nähe waren.

Arisha war den Templern unbekannt, ein großer Vorteil für die Prieuré, denn so konnte sie offen handeln ohne Verdacht zu erregen, was bei Ares oder dem Rest der Prieuréritter sowie einigen Söldnern, Shareef eingeschlossen, unmöglich war. Wenn man sie aber mit dem Schwertmeister zusammen sah, dann wäre sie aufgeflogen. Überhaupt fragte sie sich, warum sie bei Gisbert noch keine Anhaltspunkte gefunden hatten. Klar, Gisbert hatte zurückgezogen gelebt, aber so sehr? Selbst in der Zeitung hatte nur eine kurze Anzeige gestanden, dass man ihn ermordet aufgefunden hatte. Anscheinend gehörten Mord und Totschlag inzwischen wirklich schon zum Alltag.
 

Arisha betrachtete das Kloster aus einiger Entfernung. Es war nicht sonderlich groß, aber es machte einen gepflegten Eindruck. Zwei, drei Gestalten arbeiteten im Kräutergarten, sonst schien alles wie ausgestorben. Sie lies ihren Blick über das Gelände schweifen. Weit und breit waren weder Henry noch irgendwelche Templer zu sehen. Anscheinend hatten sie sich geirrt. Oder die Templer waren klüger geworden und jemand Anderes als Charney führte jetzt die Verhandlungen. Von Antin vielleicht, oder de Loyolla und wie sie alle hießen.

Arisha ging auf das Portal zu, als ihr Handy anfing zu Summen. In weiser Voraussicht hatte sie es auf stumm geschaltet, damit nicht jedes Mal jeder darauf aufmerksam wurde.

Mit einem Seufzen las sie die Nummer auf dem Display ab und ging dann ran. „Was ist los, Ares?“

„Du hast in verpasst.“ Seine Stimme klang leicht höhnisch. Arisha stellte sich vor, dass er jetzt irgendwo stand und seinen persönlichen Triumph genoss. Sie unterdrückte die kalte, berechnende Wut, die in ihr aufstieg. „Was meinst du?“ „Er ist bereits fort.“ „Und woher weißt DU das?“ Eine Weile war Stille und Arisha begann bereits sich zu fragen, ob er sie überhaupt gehört hatte. „Ich rede mit den Leuten.“, sagte er schließlich. „Das solltest du vielleicht auch mal tun.“

„Ich staune.“ Der Spott in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Neuerdings redest du mit den Leuten, bevor du sie abschlachtest. Du wirst ja immer menschlicher. Nicht mehr lange und du bittest sogar um Entschuldigung, wenn du jemanden abstichst.“

„Das reicht!“ Er sagte das nicht sehr laut, tatsächlich war es kaum mehr als ein Zischen. Doch der Tonfall brachte Arisha zum Verstummen. „Ich glaube, du vergisst gerade mit wem du es zu tun hast. Du solltest nicht vergessen, wen du zu respektieren hast. Verstanden?“

Sie hielt sich davon ab zu nicken, da er es sowieso nicht sehen konnte und begnügte sich mit einem leisen „Ja“. Ihr Temperament war tatsächlich mit ihr durchgegangen. Selbst wenn sie Ares nicht leiden konnte, musste sie ihm das nicht zeigen. Kurz kämpfte sie noch mit ihrem verletzten Stolz. „Wo ist er hingegangen?“, fragte sie dann und ließ den Blick über den Kräutergarten und den sorgfältig geschnittenen Rasen wandern.

„Angeblich kehrt er schon wieder zurück. Er hat sich mit niemandem getroffen, sondern nur ein paar Skizzen von den Kirchenfenstern gemacht. Drinnen, wohlgemerkt, keine Ahnung wieso. Vielleicht wegen dem Lichteinfall oder sonst was...Künstler, eben.“ Er sagte das in einem abfälligen Ton. „Den Altar soll er wohl auch abgezeichnet haben und ein paar von den Türen.“ „Klingt nach Puzzle.“, bemerkte Arisha und runzelte nachdenklich die Stirn. Sie besah sich die bunten Glasfenster. „Als würde er ganz viele Einzelteile malen und sie zu Hause wieder zusammensetzen wollen.“ „Als Detektiv würdest du ein Vermögen machen, Frau Hobbypsychologin.“ Es war keine ernst gemeinte Beleidigung, mehr eine der harmloseren Sticheleien, die sie schon durch den Rest der Söldnerschaft kannte. „Weiter im Text. Nachdem er fertig war mit seinen kleine Skizzen, ist er wohl wieder gegangen. Du müsstest ihn gesehen haben.“ „Nein. Vielleicht ist er noch drinnen?“ „Angeblich nicht.“ „Wirklich sehr zuverlässig, deine Quelle. Gibt es da drinnen einen Hinterausgang?“

„Nichts gegen meine Quellen!“ Sie hörte kurzes Gemurmel. „Ja, anscheinend schon.“ „Dann muss er den genommen haben, sonst hätte ich ihn gesehen. Aber wieso?“ „Vielleicht wusste er, dass er verfolgt wurde?“ Sie konnte die stille Anschuldigung hören, die in diesem Satz mitschwang. Aber er konnte sie nicht gesehen haben. „Vergiss es, die Möglichkeit gibt es nicht.“ „Vielleicht geht er auch gerne durch Hintertüren. Was weiß denn ich! Der Kerl ist so undurchsichtig wie eine meterdicke Betonwand.“ Jetzt warf er auch noch mit Metaphern um sich. Arisha wandte den Blick von der Kirche ab. „Dann können wir ja gehen. Wenn er nicht mehr hier ist, haben wir keinen Grund nicht auch zu verschwinden.“ Sie legte auf, bevor Ares noch irgendetwas sagen konnte. Ihr war es egal, ob er jetzt mitkam oder nicht. Sollte er doch bleiben wo der Pfeffer wuchs. Zum wiederholten Male fragte sie sich, wie jemand wie Ares so lange überleben konnte. An den Drogen lag es mit Sicherheit nicht.

Sie bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung und fuhr herum. Ares hob abwehrend die Hände. „Seit wann bist du so schreckhaft?“ Ihr Gesicht blieb unbewegt. „Seit ich nicht weiß, wo du dein Schwert hast. Man hat immer das Gefühl, es könnte im nächsten Moment im eigenen Rücken stecken.“ Er lachte leise. „Ich wird doch nicht einen meiner Trümpfe abstechen. Wenn es dich nicht mehr gäbe, wer würde dann für uns die ganzen Informationen besorgen?“

War das jetzt ein Kompliment? „SO freundlich?“, fragte Arisha argwöhnisch. „Ich hab das kleine Ding hier gefunden.“ Ares wedelte mit einem schwarzen Notizbüchlein. „Das Date mit dir steht übrigens auch drin.“

„Es ist kein Date.“, knurrte sie und schnappte sich das Buch. Das Treffen um drei war tatsächlich eingetragen, doch davor stand noch etwas. Sie klappte das Buch wieder zu. „Soviel zum Thema ‚Altar abzeichnen’. Der Kerl hat sich mit Antin getroffen!“ „Richtig“, stimmte Ares ihr mit einem Nicken zu. „Damit wäre die Verbindung zu den Templern wohl unwiderlegbar bewiesen. Oder hast du immer noch Zweifel?“

Die hatte sie nicht. „Es hat keinen Sinn, hier noch rumzustehen.“, meinte sie stattdessen. „Hier ist er nicht mehr.“ „Hast du das ganz alleine rausgefunden?“, stichelte Ares.

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, ging aber wegen der vorigen Zurechtweisung nicht weiter darauf ein. Stattdessen machte sie sich miesgelaunt auf den Rückweg und merkte nicht einmal, dass Ares die ganze Zeit an ihrer Seite blieb und munter weiter redete. Sie war in ihren eigenen Gedanken versunken, die weder ihn, noch den Rest der Welt etwas angingen.
 

Den Rest der Zeit, die bis zum Treffen mit diesem Künstler blieben, verschanzte Arisha sich in ihrem Zimmer und brütete über dessen Akte, um so viel über ihn zu erfahren wie möglich und sich dadurch nutzlose Fragen zu ersparen. Ares war so klug, sie in Ruhe zu lassen und meldete sich auch nicht bei ihr, als sie das Hotel schließlich verließ und zu Henry ging, dessen Wohnung direkt neben seinem Stammcafé stand. Was für ein glücklicher Zufall. Henry schien sie schon erwartet zu haben, jedenfalls ging die Tür verdächtig schnell auf, nachdem sie geklingelt hatte. Er begrüßte sie mit einem Lächeln und bat sie herein, doch während sie ging, spürte sie seinen Blick auf ihr Ruhen. Eigentlich genau das, was sie bezwecken wollte und musste, dennoch gefiel es ihr nicht.
 

Henry konnte nicht genau sagen, was ihn an Arisha so faszinierte. Die Art, wie sie ihren Kopf schief legte und ihn ansah, übte eine unnatürliche Anziehungskraft auf ihn aus. Sie war mehr als nur ein Zeichenmodel, weit mehr. Vielleicht waren es ihre dunklen Augen, die auf ihn einen so toten Eindruck machten. Vielleicht war es ihr Gesicht, welches ihm wie eine Maske erschien. Vielleicht war es ihre ganze Körpersprache, ihre Art sich zu bewegen. Das alles wirkte falsch, gespielt, und es reizte Henry herauszufinden, wer Arisha wirklich war, welcher Mensch sich unter ihrer Fassade verbarg, die sie mit allen Regeln der Kunst aufrecht erhielt.

Vor allem aber wollte er wissen, was sie gesehen hatte. Was hatte sie erlebt, das sie so geworden war, so ausdruckslos?

Henry beobachtete sie genau, als sie die Wohnung betrat. Ihre Schritte waren leise, fast lauernd, ihre Bewegungen geschmeidig und fließend, wie die einer Schlange. Er war froh, sie getroffen zu haben. Vielleicht konnte er etwas von ihr in seinen Bildern einfangen. Das Lauernde. Das Schöne. Das Verletzliche. Das Tödliche.

Ja, da war etwas tödliches. Wenn er genau hinsah, hatte er das Gefühl, das Töten würde zu ihrem Beruf gehören. Die Wendigkeit, das Gefühllose, das alles sprach dafür. Und Arisha hatte ihm nicht verraten, was sie beruflich tat. Überhaupt hatte sie ihm nichts verraten als ihren Namen und ihr Alter, während er mehr über sich preisgegeben hatte, als er für richtig hielt. „Schön, dass sie kommen konnten.“, sagte er mit einem verlegenen Lächeln, während die Araberin ihn abschätzend musterte. Er wusste nicht, zu welchem Ergebnis sie kam, da sie es ihm nicht mitteilte, aber allzu schlecht konnte es nicht sein, denn sie erwiderte immerhin sein Lächeln. „Alles in Ordnung? Sie sehen müde aus“ Sie merkte aber auch alles. „Jaja. Ich bin heute etwas früh aufgestanden, aber das ist auch alles.“ ‚Um dich mit einem Templer zu treffen.’, fügte sie in Gedanken hinzu. Statt aber etwas zu sagen, ließ sie ihren Blick durch seine Wohnung schweifen und besah sich diverse Bilder, die er an die Wand gehängt hatte, die meisten mit Kohle oder Bleistift gemalt. „Sind die von ihnen?“ „Bitte, können wir uns nicht duzen?“ Er schien nervös. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, anscheinend hatte sie genau die Wirkung auf ihn, die sie hatte erreichen wollen. „Gerne. Also, sind das deine Bilder?“ Er trat neben sie und betrachtete das Bild, welches sie gerade eben noch gemustert hatte. „Ja, die Bilder sind von mir. Aber das sind nur diejenigen, die ich nicht verkaufen will.“ Sie war ihm einen linkischen Blick von der Seite zu. „Würdest du die Bilder verkaufen, die du von mir malst?“ Mit der Frage hatte er offensichtlich nicht gerechnet. „Dazu brauch ich erst mal welche.“, entgegnete er. Schlagfertig war er ja. Arisha verstand die Aufforderung sofort. „Dann fang mal an.“
 

Als Ares an diesem Abend Arishas Zimmer betrat, fand er sie auf dem Bett liegend, während sie die Decke betrachtete. Sie setzte sich auf, nachdem er die Tür geschlossen hatte. „Warum muss der Kerl unbedingt Maler sein?“, fragte sie ihn. Offensichtlich war es nicht ganz nach ihren Vorstellungen gelaufen. „Wieso?“ Sie seufzte. „Wenn der einmal anfängt mit zeichnen, redet der kein Wort mehr.“ Ares lachte. „Dann bring ihn zum reden.“ Er ignorierte ihren giftigen Blick. „Morgen ist auch noch ein Tag.“, meinte er aufmunternd. „Du darfst dir nur nicht zu viel Zeit lassen.“ „Das werde ich schon nicht.“, sagte sie leise, aber Ares hörte es schon nicht mehr. Wahrscheinlich würde er jetzt erst mal runter zur Hotelbar gehen und sich zusaufen. Sollte er doch. Sie ließ sich wieder nach hinten sinken und blickte nach oben. Wenn nur diese verdammte Müdigkeit nicht wäre.
 

Arisha warf einen genervten Blick über ihre Schulter zu Shareef und Djamila, die hinter ihr herliefen, allerdings in einem Tempo, dass ihr gar nicht passte. „So kommen wir doch nie an.“, drängelte sie, aber Shareef lachte nur. „Lauf doch schon mal vor. Wenn wir dann immer noch nicht da sind, kommst du zurück und schaust nach, wo wir geblieben sind.“ Ihr gefiel der Vorschlag nicht sonderlich, sie war nicht gerne von den beiden getrennt. Aber dann musste sie eben ihr Tempo etwas zurückschraubneu und sich das Geturtel ihres Bruders und seiner Freundin anhören. Letztere war schuld am langsamen Vorwärtskommen, was daran lag, dass sie im neunten Monat schwanger war. Fast ein Jahr lang waren sie nun schon in Ägypten und nun war Shareef kurz davor Vater zu werden. Für Arisha ein unheimlicher Gedanke, weil sie in Shareef fast schon eine Vaterfigur sah. Außerdem wäre sie dann Tante und das mit sieben Jahren. Reichlich früh, fand sie, weshalb sie dem Kind mit viel Skepsis entgegen sah. Shareef schien von ihren Sorgen nichts zu merken, er war ganz auf Djamila konzentriert und auf seine baldige Vaterrolle. Arisha kam sich überflüssig vor, sagte es aber nicht. Sie war selbst Schuld, immerhin hatte sie ja unbedingt mitkommen wollen. Sie bereute ihre Entscheidung auch nicht, sie war im Moment nur nicht ganz glücklich. Djamila riss sie aus ihren Gedanken. Anscheinend hatte sie mit Shareef gemeinsam überlegt, welchen Namen sie der Kleinen geben sollten –denn dass es eine „sie“ wurde, wussten sie bereits- und waren zu keinem Ergebnis gekommen. „Weißt du nicht einen Namen?“, fragte sie Arisha lächelnd, aber diese schüttelte nur still den Kopf. Sie wollte sich da gar nicht einmischen. „Na schön.“, seufzte Djamila. „Dann müssen wir wohl selbst weiterüberlegen.“ Eigentlich mochte Arisha sie und in dem einem Jahr, dass sie nun schon fast in Ägypten waren, hatte sie sich eng mit ihr angefreundet. Aber Momentan war sie einfach genervt. Vor ein paar Wochen hatte sie mit ihren Sorgen noch zu Daniel gehen können, einem deutschen Ex-Soldaten, der seine letzten Jahre in Ägypten hatte verbringen wollen. Er war es gewesen, der Shareef Deutsch beigebracht hatte, wenigstens soviel, dass er sich verständigen konnte. Auch Arisha konnte ein paar Worte, hatte aber irgendwann das Interesse an der fremden Sprache verloren. Dafür hatte sie sich von dem alten Mann erklären lassen, warum die Menschen sich gegenseitig bekämpften. Das Erlebnis von vor zwei Jahren ließ sie immer noch nicht los. Und auch, wenn sie nicht alles verstand, was Daniel ihr sagte, so wusste sie am Ende doch, dass es meistens die Unschuldigen traf, diejenigen, die mit der ganzen Sache am wenigsten zu tun hatten.

Doch Daniel hatte vor zwei Wochen die Reiselust gepackt und er war weitergezogen, so dass Arisha jetzt nicht mehr mit ihm reden konnte, wenn sie genug von Shareef und Djamila hatte. So wie jetzt zum Beispiel. Sie ließ sich Shareefs Vorschlag noch mal durch den Kopf gehen, dass sie schon mal voraus laufen sollte, dann gab sie ihrem Bruder Bescheid. Aber schon nach einigen Metern stoppte sie. Sie hatte in der Menge vor ihr eine Gestalt gesehen, die einfach nur still stand und wartete; jemand, den sie kannte. Ihr Cousin, Djamilas Verlobter. Sie erschauerte, als sie die Waffe in seiner Hand sah und machte auf der Stelle kehrt. Sie rannte fast in ihren Bruder rein. „Was ist denn los?“, fragte er besorgt, als er ihren panischen Blick sah. „Er ist hier.“, murmelte sie und drückte sich an ihn. Ihr Herz schlug wie verrückt, weil sie ahnte, was jetzt passieren würde. Es traf immer die Unschuldigen...

„Wer ist hier, Arisha?“ Er sah über sie hinweg, um herauszufinden, wen sie meinte und er sah ihn...doch zu spät. Ihr Cousin hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen Schalldämpfer auf seine Waffe zu schrauben, der Schuss war weithin hörbar. Allgemeines Chaos breitete sich auf und für einen Moment verschwand der Schütze aus ihrem Blickfeld. Arisha umklammerte Shareefs Hand und sah zu Djamila, die auf den Boden gesackt war. Shareef schaffte es irgendwie, Djamila und seine Schwester in eine Seitengasse zu bringen, wo er seine Geliebte auf den Boden legte und sich neben sie kniete. Traurig betrachtete er ihr Gesicht und Arisha bemerkte, dass er mit seiner Fassung rang. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, doch auf seinem Gesicht zeigte sich nicht die kleinste Regung. Sanft küsste er Djamila auf die Stirn und drückte ihr die Augen zu. „Warte hier.“, sagte er dann zu Arisha. Seine Stimme klang entschlossen, der Schmerz hatte sich in puren Hass verwandelt. „Was machst du?“, wollte sie wissen, traute sich aber nicht, ihn zurückzuhalten. „Warte einfach hier.“, wiederholte er. „Ich bin gleich wieder hier.“ Mit diesen Worten verschwand er und Arisha blieb zitternd zurück. Voller Angst wartete sie darauf, dass Shareef zurückkam und die ganze Zeit ging sie davon aus, dass er sterben würde oder dass ihr Cousin kam oder sonst etwas passierte.

Doch Shareef kam zu ihr zurück, blutend zwar, aber er lebte. Mit einem letzten Blick auf Djamila nahm er Arisha auf den Arm. „Wir müssen gehen. Hier können wir nicht bleiben. Wenn er uns gefunden hat, kann es nicht lange dauern bis der Rest seiner Familie nachkommt.“ Arisha verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. „Er wird uns töten, oder?“ „Nein, das wird er nicht. Er kann uns nichts mehr tun.“ Arisha erfuhr nie, was Shareef getan hatte, dass er den Mann, der ihm alles genommen hatte –seine Geliebte, sein Kind und beinahe seine Schwester und sein Leben- dass er diesen Mann getötet hatte. Er nutzte den noch vorhandenen Tumult um mit Arisha zum Hafen zu gelangen. In Ägypten konnten sie nicht bleiben, ebenso wenig in allen angrenzenden Ländern. Überall würde man sie finden, egal ob sie nun eine gefälschte Identität hatten oder nicht. Also beschloss er, dass nächste Land zu nehmen in dem er sich einigermaßen verständigen konnte. Nachdem er die zwei Karten für das Schiff gekauft hatte – ihm fiel dabei schmerzlich auf, das es nur zwei Karten waren und nicht, wie sonst immer, drei- stand er mit Arisha an der Reling. Er hielt seine kleine Schwester immer noch auf dem Arm, aber sie schien zu dösen. Das ganze war ein Schock für sie gewesen und er wollte sie nicht wecken, deshalb sah er nur stumm dabei zu, wie die Sonne langsam unterging. „Shareef.“, murmelte Arisha schläfrig. „Sie werden uns töten, wenn wir noch mal hierher kommen, oder?“ „Keine Sorge.“, antwortete Shareef leise. „Wir werden nicht mehr hierher kommen. Nie mehr.“

4. Tag

“You’re a mystery, what you are to me is everything that I am not“
 

Ares war schlau genug, sie an diesem Morgen in Ruhe zu lassen und so hatte Arisha Zeit genug, ihre nächsten Schritte zu planen. Irgendwie musste sie Henry zum Sprechen bringen, ohne dass er sie mit den Templern oder Prieuré in Verbindung brachte. Nun, sie hatte es schon einmal geschafft und würde es wieder schaffen. Und das möglichst, bevor Metz und seine Untergebenen sich einmischten.

Geistesabwesend blickte Arisha zur Decke und versuchte nicht über ihren Traum nachzudenken. Er war unwichtig, nur ein Schatten ihrer Vergangenheit. Sie sollte sich besser auf das Hier und Jetzt konzentrieren, wenn sie überleben wollte, anstatt über längst vergangene Zeiten zu grübeln.

Abrupt stand sie auf. Sie verlor sich schon wieder in ihren Überlegungen. Wo sollte das noch hinführen? Sie musste sich ablenken und das tat sie am Besten bei Henry. Vielleicht kam sie nebenbei noch an ein paar Informationen.
 

Henry war daheim, wie erwartet. Wäre es anders gewesen, hätte Ares Arisha nicht schlafen lassen, sondern schon längst Alarm geschlagen.

„Hallo“, begrüßte er sie freudig. „Du bist früh dran.“

Sie lächelte pflichtbewusst. „Ja. Ist das schlimm?“

Henry schüttelte verneinend den Kopf und hielt die Tür auf, damit sie eintreten konnte. Als sie an ihm vorbeiging, spürte sie seinen Blick auf ihr. Schade, dass sie seine Gedanken nicht lesen konnte, sie hätte gern gewusst, was er in diesem Moment dachte.

In der Wohnung roch es nach Fixierspray, Henry hatte die Fenster weit aufgerissen, damit der Geruch abzog.

„Ich wollte eigentlich gerade in die Stadt.“, meinte der Maler, der die Augen nicht von ihr ließ. „Willst du mitkommen?“

Wollte sie eigentlich nicht. Die Zeit, die er fort war, hätte sie hier mit der Suche nach Informationen über die Templer verbringen können. Leider wäre das etwas offensichtlich gewesen, da man hier nichts aufheben konnte, ohne das es auffiel.

„Gut.“, sagte sie daher. „Ich komme mit.“

Henry schien das aus irgendeinem Grund zu erleichtern, zumindest ließ das sein Gesichtsausdruck schließen. Während sie die Straße entlang gingen, versuchte er sie für das Thema Kunst zu begeistern, was Arisha aber noch nie sonderlich interessiert hatte. Also ließ sie einfach an den richtigen Stellen eine passende Bemerkung hören, um nicht unhöflich zu erscheinen.

„Sag mal.“, meinte Henry irgendwann. „Was sagt eigentlich dein Ehemann dazu, dass du zu mir kommst?“

Arisha zog eine Augenbraue hoch. „Mein Ehemann?“

„Ja. Sind Frauen deines Alters und deiner...Religion...nicht meistens verheiratet?“

Sie lächelte amüsiert. „Was, wenn ich dir sage, dass ich Christin bin?“

„Bist du es denn?“

„Nein.“

Damit war das Thema beendet, aber Henry ließ das Gespräch auch nach einer Stunde, als sie zurück zu seiner Wohnung gingen, nicht mehr los. Er hatte mal wieder deutlich vor Augen geführt bekommen, wie wenig er über Arisha wusste. Aber das machte sie teilweise auch aus. Vielleicht hätte er sie weniger anziehend gefunden, wenn sie nicht so geheimnisvoll gewesen wäre.

Er beobachtete sie wieder aus den Augenwinkeln und hoffte, dass sie es nicht merkte. Es reizte ihn ungemein, alles über sie zu erfahren, aber das wäre wahrscheinlich zu früh gewesen. Und vielleicht wollte sie ja auch gar nicht darüber reden.

„Was ist mit dir?“, griff Arisha das Gespräch wieder auf, als wäre es nie beendet gewesen. Sie hatte das Gesicht ihm zugewandt, während er den Kohlestift über das Papier gleiten ließ.

„Was meinst du?“

„Was hast du für eine Religion?“

Henry zögerte eine Weile, den Blick starr auf das Bild gerichtet. „Ich bin Christ.“, sagte er schließlich.

„Streng gläubig? Mit Himmel und Hölle und den ganzen Todsünden?“

Er blickte sie an. Arisha saß auf seinem Bett, die Hände abgestützt, in ihren Augen glitzerte es listig, aber auf eine Art, die Henry gefiel. Eher frech, als fies. ‚Wenn es so wäre’, dachte er, während er sie musterte ‚’müsste ich jetzt ein paar Jahre Fegefeuer bekommen.’

Eines der Gebote kam ihm in den Sinn: „Du sollst nicht begehren eines anderen Weib.“ Das wievielte war es noch mal? Das Fünfte? Sechste? War sie überhaupt verheiratet? Sie hatte es jedenfalls nicht direkt abgestritten.

Er merkte, dass er ihr immer noch eine Antwort schuldete. „Nein.“, meinte er und sah wieder aufs Blatt. „Ich bin nicht streng gläubig.“

Sie schien mit der Antwort zufrieden, auch wenn Henry nicht wusste, ob das für ihn gut oder schlecht war.

„Bist du verheiratet?“

Henry lachte. „Ist das ein Polizeiverhör?“

Als sie lächelte, blieb sein Herz fast stehen. Tat sie das eigentlich mit Absicht, ihn so um den Verstand zu bringen? „Ich hab’s dir doch auch gesagt.“

„Hast du nicht.“, beschwerte er sich. „Erst will ich das von dir hören.“

„Ich bin nicht verheiratet.“

Immerhin etwas. Er musste also nicht damit rechnen, eines Tages die Tür zu öffnen und dann von einem wütenden Araber erstochen zu werden. „Ich auch nicht.“

Sie schwieg und einen Moment lang glaubte Henry, dass sie Bescheid wusste. Das war natürlich Unsinn, aber trotzdem...“Aber ich war mal.“, sagte er daher hastig. Lieber gleich ehrlich bleiben.

„Was ist aus ihr geworden?“

„Wir haben uns getrennt. Sie musste wegen jeder Kleinigkeit streiten und irgendwann hatte ich keine Kraft mehr.“

War das Mitleid in ihrem Blick gespielt? Er konnte es nicht sagen und er konnte auch nicht aufhören, sich über sie Gedanken zu machen.

Er merkte, dass ihr Blick zur Tür glitt. „Musst du fort?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Du könntest heute Abend hier bleiben.“, bot er an, sein Herz klopfte vor Aufregung doppelt so schnell wie sonst. Glaubte er wirklich, sie würde sich darauf einlassen? Aber die Hoffung starb ja bekanntlich zuletzt.

Abermals schüttelte sie den Kopf. „Heute nicht. Ein andermal vielleicht.“

Gut, es war kein Ja, aber es war auch kein eindeutiges Nein. Morgen vielleicht...vielleicht war er auch einfach zu schnell.
 

Ares fing Arisha in der Einganshalle ab. Er bemerkte ihren zufriedenen Gesichtsausdruck. „Was ist los?“, wollte er wissen. „Hat er geredet?“

Sie rollte mit den Augen. „Natürlich, Ares.“, sagte sie in übertriebenem Tonfall. „Und er hat mir auch den heiligen Gral aus seinem Keller geholt.“

„Dann eben nicht. Und was war dann?“

Sie blickte ihn an. „Wir werden nicht mehr lange warten müssen. Das heißt, du kannst bald wieder in deinem Porsche herumfahren, ohne die ganze Zeit auf mich aufpassen zu müssen.“

Ares sah ihr nach, bis sie in Richtung Zimmer verschwunden war. „Na, wenn das keine guten Nachrichten sind.“, grinste er.
 

Nervös sah Arisha sich in dem großen, weißen Saal um. Er war viel riesiger, als sie ihn sich vorgestellt hatte und wirkte vor allem abweisend, genauso wie der ganze Rest des Gebäudes. Es schien hier kein Leben zu geben, außer den vier Personen, die außer ihr noch im Raum waren.

Zum einen natürlich Shareef, ihr Bruder, der neben ihr stand und ihr damit Sicherheit gab. Seit sie vor drei Monaten ihn Deutschland angekommen waren, hatte er versucht Arbeit zu finden, um für sich und seine Schwester sorgen zu können, was aber aufgrund der schlechten Verständigung gescheitert war. Innerhalb dieser Zeit hatten sich zwar seine- und auch Arishas- Sprachkenntnisse verbessert, trotzdem sprach er so wenig wie möglich. Da es ihm nicht immer gelungen war, auf ehrliche Weise sein Geld zu verdienen, hatte er sich unter anderem als Kleinkrimineller versucht, man hatte ihn erwischt und jetzt waren sie hier.

Außer ihnen beiden waren noch eine Frau und zwei Männer anwesend. Die Frau saß an einem Schreibtisch und schien hier das Sagen zu haben, auf jeden Fall strahlte sie eine Menge Selbstvertrauen aus. Sie war sehr schön, aber auf eine unheimliche Weise eiskalt.

Noch schlimmer war der blasshäutige Mann, der zu ihrer Rechten stand. Er war derjenige, der Shareef und Arisha auf der Straße aufgegabelt hatte. Sein höhnisches Grinsen und der selbstgefällige Ausdruck ließen ihn sofort unsympathisch wirken. Ares, erinnerte sich Arisha. Ja, das war sein Name. Und die blonde Frau hieß Lucrezia. Der Mann, der an ihrer linken Seite stand, hieß, soweit sie sich erinnern konnte, Kemal, war aber bis jetzt nicht weiter aufgefallen, sondern begnügte sich damit, still zu stehen.

Unbewusst drückte sich Arisha enger an Shareef. Sie wollte hier fort.

„Jetzt sieh dir das an.“, höhnte Ares, den Kopf zu Kemal gewandt. „Ist das nicht niedlich?“

Kemal grinste bestätigend, sagte jedoch noch immer nichts, während Lucrezia den Schwarzhaarigen mit einem scharfen „Es reicht!“ zurechtwies.

Arisha war lange genug in diesem Land gewesen, um zu verstehen, worüber gesprochen wurde. Düster sah sie zu Ares, der das jedoch gekonnt ignorierte. Anscheinend war er es gewohnt, auf andere herabzusehen.

Lucrezia wandte sich an Shareef. „Ich habe gehört, du suchst Arbeit.“

Shareef nickte bestätigend.

„Wo kommst du her?“

Schweigen.

Lucrezia sah fragend zu Ares, doch der zuckte nur mit den Schultern. „Er wollte mit mir auch nicht sprechen.“, meinte er gleichgültig. „Aber er bestand darauf, dass wir die Kleine mitnehmen. Er ist ziemlich flink und leise noch dazu.“

Die Großmeisterin seufzte. „Na gut. Steck ihn zu den Söldnern. Wie ist dein Name?“, wollte sie von dem Araber wissen.

„Shareef.“ Die ersten Worte, die er gesprochen hatte, seit sie Ares begegnet waren.

Lucrezia nickte.

„Was wird aus dem Mädchen?“, wollte Kemal wissen, der den Blick auf Arisha gerichtet hatte. Ratlosigkeit auf sämtlichen Gesichtern.

„Wir könnten sie ins Waisenhaus stecken.“, schlug Ares vor.

„Arisha bleibt hier.“, sagte Shareef ruhig. Abgesehen vom Akzent merkte man nicht, dass er die Sprache erst seit wenigen Monaten beherrschte.

„Ah, er kann also auch ganze Sätze sprechen.“, stichelte Ares. „Und Ansprüche stellen kann er auch. Er sollte froh sein, dass wir ihn von der Straße geholt haben.“ Er hielt es anscheinend nicht für notwendig, Shareef direkt anzusprechen.

„Lass das.“ Lucrezia schien die Einzige zu sein, auf die Ares hörte, denn er verstummte. „Das Mädchen kann hier bleiben.“, fuhr die Frau fort. „Sie wird ausgebildet, sobald sie alt genug ist.“

„Ich bitte dich!“ Ares sah sie fassungslos an. „Wir sind doch hier kein Kindergarten!“

Lucrezia erwiderte seinen Blick kalt. „Du hast gehört, was ich gesagt habe. Keine Widerrede.“

Ares schüttelte fassungslos den Kopf, ließ es aber dabei.

Auf Anweisung Lucrezias zeigte Kemal ihnen das Zimmer, in dem sie schlafen würden. „Du bist morgen um Sieben im Trainingsraum.“, wies er Shareef noch an, dann ging er.

Arisha blickte zu Shareef. „Wohnen wir jetzt hier?“

Ihr Bruder seufzte und nickte dann. „Ja. Wenn sie uns hier behalten.“ Er setzte sich aufs Bett, neben Arisha. Als er zu ihr sah, bemerkte er mit Erstaunen, dass Arisha lächelte. „Was ist los? Gefällt es dir hier so gut?“

„Nein.“, meinte sie gleichmütig und schmiegte sich an ihn. „Aber es ist alles in Ordnung, solange wir zusammen sind.“

Auch Shareef lächelte jetzt schwach. „Stimmt, das ist es wohl.“

5. Tag

„But with a whisper she arrived and danced into my life, like a music melody, like a lover’s song“
 

Arisha stand am offenen Fenster und ließ sich die kühle Morgenluft ins Gesicht wehen. Eigentlich hatte sie keine Lust, heute zu Henry zu gehen, aber je eher sie hier fertig wurde, desto eher konnte sie zur Devina zurück. Eigentlich hatte der ganze Auftrag dann auch gar nicht so lange gedauert, bei Gisbert hatte sie zwei Wochen gebraucht, um ihn zum Reden zu bringen.

Sie begann Henry und Gisbert zu vergleichen. Die beiden Männer waren grundverschieden, wie sie feststelle. Gisbert war misstrauisch, verschwiegen und abweisend gewesen, während Henry nahezu alles tat, um sie zum Bleiben zu überreden.

Gisbert hatte sie nur begehrt, Henry schien sich wirklich verliebt zu haben. Was für ein Trottel.

Aber das machte es für sie einfacher, denn so würde er früher zu reden anfangen.

Arisha schloss das Fenster und ging zum Nachttisch, auf welchem ihre Waffe lag. Sie nahm sie in die Hand und drehte sie eine Weile nachdenklich zwischen ihren Fingern, dann befestigte sie sie an der Innenseite ihrer Jacke. Henry würde die Pistole, seine Todeswaffe, nicht zu Gesicht bekommen, jedenfalls vorerst noch nicht. Und wenn er sie sah, würde es zu spät sein. Für ihn.

Es klopfte an der Zimmertür und kurze Zeit später trat Ares ein. „Na, wieder in Überlegungen versunken?“ Er grinste, wie eigentlich immer.

„Nein.“, erwiderte sie kühl.

„Ich hab gestern mit Lucrezia gesprochen. Sie meint, wir sollten ab morgen oder übermorgen vielleicht noch ein paar Leute hier stationieren.“

„Wen?“

„Krull, Kemal, Shareef.“ Er wartete ihre Reaktion bei den einzelnen Namen ab, aber sie tat ihm den Gefallen nicht.

„In Ordnung.“, meinte sie nur. „Wenn Lucrezia darauf besteht.“

„Tut sie. Die Templer lasen sich hier nämlich verdächtig oft blicken.“

„Wieso weiß ich davon nichts?“

„Weil du dich auf den Künstler konzentrieren sollst.“

Eine Weile herrschte aggressives Schweigen zwischen den Beiden, dann zuckte Arisha mit den Schultern und tat so, als ob es ihr gleichgültig sei.

Ares wartete noch eine Weile, dann ging er wieder zur Tür. „Dann wünsch ich dir mal viel Spaß beim lieben Henry. Tu ihm nicht weh.“ Damit verließ er das Zimmer.

„Idiot.“, giftete Arisha die verschlossene Tür an, ließ eine Minute verstreichen und ging dann ebenfalls nach draußen, wobei sie sorgsamst darauf achtete, die Tür zu verschließen. Wenn Ares sagt, dass hier Templer rumschlichen, würde es wohl stimmen und Arisha hatte keine Lust, diese praktisch einzuladen sich hier umzusehen. Auch, wenn die Templer wohl kaum vor einer verschlossenen Türe halt machen würden.

Sie versenkte den Schlüssel in ihrer Jackentasche und verließ das Hotel.

Eine kurze Weile stand sie einfach vor dem Gebäude und betrachtete Henrys Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Ahnte er etwas? Wenn ja, ließ er sich nichts anmerken. Sie fragte sich, ob die Templer ihn gewarnt hatten. Aber dazu hätten sie keinen Grund gehabt, immerhin war Arisha bei den Templern unbekannt. Noch.

Während sie die Straße überquerte, dachte sie noch mal an Gisbert.

Er hatte eigentlich nichts über die Templer gewusst, jedenfalls nichts, was ihnen weiterhelfen konnte. Gut, er wusste, dass es sie noch gab und er hatte vielleicht ein, zweimal mit einem von ihnen telefoniert, aber das war auch schon alles gewesen.

Trotzdem hatte sie Gisbert erschossen, so wie sie Henry erschießen würde. Weil man es ihr befehlen würde.

Innerlich hatte sie immer den Wunsch nach Freiheit verspürt und doch drehte sich ihr ganzes Leben um diese Befehle und um den Orden der Prieuré. Sie kannte es einfach nicht anders. Wie hätte sie ihr Leben auch fortführen sollen, wenn sie den Orden verlassen würde?

Zum Einen wusste sie nicht, wohin sie dann hätte gehen sollen. In ihr Heimatland bestimmt nicht.

Zweitens hätte sie dann getrennt von Shareef gelebt, der sie praktisch aufgezogen hatte. Und Shareef zu verlassen, war für sie ausgeschlossen.

Henry hatte sie offensichtlich erwartet, denn er öffnete die Tür, bevor sie klingelte. „Hallo, Arisha. Komm doch rein.“, begrüßte er sie freudig.

Arisha bemerkte sofort, dass sie nicht allein waren. Ihre Vermutung bestätigte sich, sobald sie eingetreten war. In der Mitte des großen Zimmers, das Henry als Atelier verwendete, stand Raimund von Antin, vertieft in eine der Zeichnungen.

Wahrscheinlich war er hergekommen, als Ares heute morgen bei ihr im Zimmer gewesen war. Überhaupt, war Ares nicht eigentlich da um die Templer von ihr fernzuhalten?

Henry schien nichts zu merken. „Raimund, das ist Arisha.“, stellte er gutgelaunt vor.

Der Templer sah kurz von der Zeichnung auf –Arisha bemerkte mit Unbehagen, dass es eine von ihr war- , registrierte ihr fremdländisches Aussehen und blickte dann zu Henry. „Deine jetzige Muse?“

„So könnte man es ausdrücken, ja.“

Der Templer lächelte schwach und sah wieder auf das Bild. An Arisha schien er nichts Verdächtiges zu finden. Oder er zeigte es nicht. Trotzdem bereute sie es, dass sie Henry ihren wahren Namen verraten hatte.

„Raimund schaut ab und zu vorbei.“, erklärte Henry ihr. „Wir kennen uns schon seit einer ganzen Weile.“

„Ach.“ Sie ließ den Blick auf den Templer gerichtet, den das jedoch nicht weiter zu stören schien.

Die offensichtlich unangenehme Situation veranlasste Henry, kurz in der Küche zu verschwinden und wenige Augenblicke später mit drei Gläsern und einer Flasche Wein wieder aufzutauchen. Während das die Stimmung der beiden Männer tatsächlich zu lockern schien, nippte Arisha nur an ihrem Glas.

Eigentlich kam ihr Raimunds Besuch gar nicht ungelegen, so konnte sie still dasitzen und einfach zuhören. Vielleicht verloren die zwei ja ein Wort über den Templerorden.

Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht, bis Raimund sich schließlich verabschiedete. „Ich lass dir den Ordner hier.“ Er legte die dicke Mappe auf einen der papierbedeckten Tische. „Gib mir dann Bescheid.“

Henry nickte. „Natürlich, mach ich.“

Als Raimund gegangen war, wandte er sich an Arisha. „Was hältst du von ihm?“

Sie legte den Kopf schief, als sie ihn ansah. „Ich glaube, er mochte mich nicht.“

Henry lachte und setzte sich neben sie. „Unsinn. Er zeigt bloß nicht gerne, was er denkt.“

„Was ist er von Beruf?“

Der Maler blickte in die rote Flüssigkeit in seinem Glas. „Ich glaube, er möchte nicht, dass ich darüber rede.“

Also wusste Henry Bescheid. Zumindest etwas. Arisha stellte ihr Glas weg. Sie bemerkte, dass Henry jede ihrer Bewegung genau beobachtete und lächelte insgeheim. Der Mann war so leicht zu durchschauen. Ohne ihn anzusehen zog sie ihre Jacke aus und ließ sie auf den Boden fallen, so, dass die Waffe verdeckt lag. Dann wandte sie sich wieder zu ihm und tat überrascht. „Alles in Ordnung?“, fragte sie scheinbar besorgt.

Seine Antwort war ein unverständliches Murmeln, doch er wandte den Blick nicht ab.

Arisha sah kurz zu der leeren Flasche. Das meiste davon hatte Henry getrunken, der aus irgendeinem Grund Feierlaune gehabt hatte. Raimund hatte nur sein erstes Glas geleert und Arishas war noch immer der Inhalt vom Anfang. Der Alkohol schien Henry mutiger zu machen.

„Willst du wirklich nicht mal hier bleiben?“

„Wenn es dir keine Umstände macht. Hast du ein Sofa?“

Er reagierte genau so, wie sie es erwartet hatte. „Nein. Du kannst hier schlafen.“

„Und du?“

Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Auch er stellte jetzt sein Glas ab. „Ich auch.“

Damit beugte er sich über sie und presste seinen Mund auf ihren.

Arisha wehrte sich nicht, sie hatte klare Anweisungen. Ares hatte ihr aufgetragen, so zu handeln, wie bei Gisbert. Na schön, Auftrag war Auftrag. Also erwiderte sie den Kuss und legte eine Hand in seinen Nacken, um ihn zu sich zu ziehen.

Gisbert hätte jetzt vielleicht Verdacht geschöpft, aber Henry war viel zu eingenommen von seiner Sehnsucht zu ihr. Er drückte sie aufs Bett, während seine Hände unter ihre Kleidung gingen und sie sanft streichelten. Er war viel vorsichtiger als Gisbert, nicht so fordernd und anscheinend noch immer überrascht, dass sie ihn nicht einfach wegstießen.

Shareef würde sie umbringen, wenn er das erfuhr. Nein, er würde erst Ares umbringen, weil dieser ihr den Auftrag gegeben hatte und danach Henry, weil der es gewagt hatte, seine Schwester anzurühren. Also war es besser, Shareef erfuhr nichts von der ganzen Sache.

Sie verdrängte den Gedanken an Shareef und streifte Henrys Hemd ab. Es dauerte nicht lange und er tat es ihr mit ihrer Kleidung nach, begann, ihren Körper zu küssen und ihren Namen zu flüstern. Er tat ihr schon fast Leid.

Aber spätestens, als er außer Atem neben ihr lag und sie in den Armen hielt, war dieses Mitleid verflogen.

„Kann ich bei dir duschen?“ Sie hatte sich auf den Bauch gedreht und fuhr mit den Fingerspitzen über seinen Oberkörper.

Er lächelte sie an. „Klar.“

Als sie aufstand und zum Bad ging, musste sie sich nicht umdrehen um festzustellen, dass er ihr hinterher sah.

Sie blieb länger unter dem Wasser, als sie eigentlich benötigte, um auf Abstand zu bleiben. Nein, Henry tat ihr nicht leid, es war seiner eigenen Dummheit zuzuschreiben, dass er ihr vertraute. Selbst Schuld.

Nach kurzem Zögern schlüpfte sie in seinen Bademantel, immerhin musste sie ihre Rolle weiterspielen.

Henry schien zu schlafen, doch als sie sich auf die Bettkante setzte, drehte er sich zu ihr um. „Schon fertig?“

Also hätte sie sich doch mehr Zeit lassen können. Verdammt. „Ich wollte so schnell zu dir zurück.“, schwindelte sie mit Engelsmiene.

Einen Moment lang hatte Henry tatsächlich befürchtet, Arisha wäre gegangen und genauso schnell aus seinem Leben verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Er ließ seinen Blick über sie wandern und sie bemerkte, wie eine Mischung aus Gier und Leidenschaft in seinen Augen aufflackerte.

Ohne ein weiteres Wort legte sie sich zu ihm. „Du hast ganz schön lange auf so was verzichtet, was?“, flüsterte sie ihm neckisch zu.

Er streifte ihr den Bademantel von den Schultern. „Stimmt.“
 

Mit einem dumpfen Knall traf die Kugel ihr Ziel, eine alte Flasche, und ließ Glassplitter durch die Gegend fliegen. Shareef nickte der Schützin zu. „Sehr gut.“

Arisha ließ die Waffe sinken und sah zu der Stelle, an der gerade eben noch ihre Zielscheibe gestanden hatte. Sie war nicht ganz zufrieden mit sich, war viel zu ungeduldig, was die Geschwindigkeit ihres Trainings anging. Am liebsten hätte sie sofort mit der nächsten Lektion angefangen, doch Shareef bestand darauf, es langsam angehen zu lassen.

Ihm wäre es ohnehin lieber gewesen, sie würde das alles überhaupt nicht lernen, das wusste sie. Aber dann hätte sie gehen müssen und da sie sich gegen diesen Vorschlag entschieden gewehrt hatte, hatte Shareef schließlich Ares’ und Arishas’ Forderung nachgegeben und angefangen, ihr Unterricht ihm Schießen zu geben.

Seit einigen Jahren schon, aber er sah es immer noch nicht gern, dass sie Waffen mit sich herumtrug.

Die Siebzehnjährige sah ihren Bruder an. „Ares meint, er will mich nicht mehr im Schwertkampf unterrichten.“

Shareef verzog das Gesicht. Er hatte Ares in den Unterricht gepfuscht, indem er Arisha gezeigt hatte, wie Assassinen kämpften und dieser fühlte sich nun persönlich beleidigt. Wahrscheinlich war dies seine persönliche Art, sich an ihm zu rächen, wenn er ihn schon nicht umbringen durfte. Denn die beiden Araber standen unter Lucrezias persönlichem Schutz. Durch ihre Verschwiegenheit und vor allem ihre Schnelligkeit und Perfektion im Umgang mit Waffen hoben sie sich vom Rest der Söldnerschaft ab und machten sich dadurch unersetzbar.

Lucrezia hätte sie schon lange in den Ritterstand versetzt, wenn die restlichen Ritter sich nicht dagegen ausgesprochen hätten, mit der Begründung, Normalsterbliche stehe dieser besondere Posten nicht zu.

Shareef teilte ihre Meinung. „Macht nichts.“, antwortete er seiner Schwester. „Soviel musst du nicht mehr lernen, das kann ich dir auch beibringen.“

Sie lächelte. Shareef als Lehrer war ihr sowieso tausendmal lieber als Ares, der keine Gelegenheit ausnutzte, jeden Söldner fertig zu machen, weil er Kleinigkeiten sah. Außerdem fühlte er sich wegen des Sangreals über alle erhaben.

Sie sah an Ares vorbei und ihr Gesicht wurde ausdruckslos. Wenn man vom Teufel sprach.

Da kam ihr (Ex)Lehrer über den Rasen geschlendert, überheblich wie immer. „Morgen, Lampenreiber. Tag, Sheherazade.“, grüßte er grinsend. „Ich hab hier einen Auftrag.“

Shareef streckte die Hand aus, doch Ares wehrte ab. „Nicht für dich, Kebap-Hirn. Für die Kleine.“

Die Geschwister wechselten einen Blick untereinander. „Das geht nicht, Ares.“, sagte Shareef dann. „Arisha ist gerade mal siebzehn.“

„Und Prieuré.“, gab der Schwertmeister kalt zurück. „Sie hat sich an die Regeln zu halten wie jeder andere auch und somit auch die Aufträge auszuführen.“

„Was für einen Auftrag überhaupt?“, wollte Arisha wissen.

Ares reichte ihr den Umschlag. „Steht alles drin, du brauchst nur nachzulesen. Das kannst du hoffentlich besser als Schwertkampf.“ Damit wandte er ihnen den Rücken zu und ließ sie zurück.

Shareef sah seine Schwester an. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt um zu sagen, dass du aussteigst.“

Doch seine Schwester schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe etwas geschworen, Shareef, und das werde ich nicht einfach so brechen. Außerdem werde ich dich nicht verlassen.“

Shareef legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. „Arisha.“, seufzte er.

„Ich werde dich nicht verlassen Shareef. Niemals.“

6. Tag

„You took my heart, deceive me red from the stars, you showed me dreams, I wished they turned into real. You broke the promise and made me realise: It was all just a lie”
 

Arisha wurde sehr früh vom Geräusch von Kohle auf Papier geweckt. Verschlafen drehte sie ihren Kopf zur Seite und sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam.

Henry hatte anscheinend schon vor einiger Zeit wieder angefangen zu malen, jedenfalls sah er jetzt nicht auf, so vertieft war er.

Sie stütze sich auf dem Ellenbogen ab und sah ihm eine Weile zu, bis er schließlich bemerkte, dass sie wach war.

„Guten Morgen. Kaffee?“ Als sie bestätigend nickte, verschwand er in der Küche.

Arisha stand auf und zog sich etwas über, dann blickte sie zu der, inzwischen geöffneten, Mappe. Der gelbe Zettel ganz zuoberst konnte gar nicht übersehen werden. Dort waren Ort und Zeitpunkt eines Treffens angegeben, vermutlich mit den Templern. Nun, das würde Ares interessieren, immerhin war es ja ihre Aufgabe gewesen, herauszufinden, wo und wann sie sich trafen.

Henry kehrte mit zwei Tassen in der Hand zurück, eine davon reichte er ihr. „Gut geschlafen?“

„Ja, danke.“ Sie nippte an ihrer Tasse, um einem Gespräch aus dem Weg zu gehen.

Henry schien das nicht zu bemerken, er redete munter weiter, aber sie hörte nur mit halbem Ohr zu. „Wieviel Uhr ist eigentlich?“

„Halb Fünf.“, antwortete er. Verdammt früh.

„Ich muss los.“, sagte sie hastig. Besser, sie war zurück, bevor Ares kam.

Er nickte betrübt, fragte aber nicht weiter nach. Stattdessen drückte er ihr eins der zusammengerollten Papiere in die Hand. „Kommst du heute noch mal wieder?“

Besser für ihn, wenn sie das nicht tat. Jetzt, wo sie die Informationen besaß, die sie benötigte, war er überflüssig. Sie würde ihn beseitigen müssen. „Ja, klar.“, sagte sie mit falschem Lächeln, zog ihre Jacke über und verließ die Wohnung.

Kaum hatte sie ihr Zimmer betreten, ließ sie sich aufs Bett fallen. Sie war noch immer entsetzlich müde.
 

Gäste, die an diesem Tag früh den Flur entlang gingen, konnten einen grummelnden Ares an der Wand gelehnt sehen.

Sein Morgengruß war nach hinten losgegangen und Arisha hatte ihn, während sie ihn in sämtliche Höllen gleichzeitig wünschte, aus ihrem Zimmer geschmissen und ihn dann sehr lange da draußen schmoren lassen. Jetzt saß er auf einem der Stühle und tat so, als sei er beleidigt, was bei Arisha aber nicht sonderlich wirkte, da es ihr sowieso gleichgültig war, welche Laune er hatte. „Du hättest ja nicht gleich so aggressiv reagieren müssen.“, meinte er ohne den geringsten Hauch von Schuldgefühlen.

„Ich wache nun mal nicht gerne morgens auf und sehe dein Gesicht vor mir.“, gab sie schnippisch zurück. Sie hatte sich auf dem Bett niedergelassen, die Arme verschränkt, und sah mit ausdrucksloser Miene zu ihm. Nur ihre Augen funkelten wütend.

„Ach komm, du wirst nicht daran sterben.“, winkte Ares ab und sah zur Seite, weil er sich sicher war in Arishas Augen die pure Mordlust bei seiner Antwort gelesen zu haben und er sich bei dem Gedanken nicht ganz wohl fühlte, dass sie ihm gleich an die Kehle sprang. Nicht, dass er Angst gehabt hätte.

„Und was war das jetzt mit diesem Templertreff?“

„Sie treffen sich morgen.“ Arisha nannte ihm die betreffenden Daten.

„Du bist dir sicher, dass es Templer sind?“

Sie nickte.

„Gut, dann können wir hier ja aufhören. Du kannst diesen Kerl dann erschießen...übrigens wird Krull mitkommen.“

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Krull?“

„Ja. Shareef und Kemal sind auch da, aber sie warten beim Wagen. Wenn du mit Leun fertig bist, fahren wir.“ Sein Blick fiel auf ein zusammengerolltes Blatt Papier. „Was ist das denn?“

Ehe Arisha es verhindern konnte, hatte er sich das Bild geschnappt, dass Henry ihr geschenkt hatte, und es aufgerollt. „Ach nein, wie süß“, grinste er, während Arisha in diesem Moment Henry am liebsten für dieses Bild getötet hätte. Oder Ares, weil er es sich ungefragt ansah. Am besten beide. „Er hat dich aber nicht gut getroffen. Du schaust viel zu lieb. Und hast viel zu viel Ausdruck. Aber abgesehen davon...“ Er musterte den Rest des Bildes. „Nicht schlecht, wirklich. Jetzt versteh ich, warum er auf dich abfährt. Und was steht da drunter?“ Er kniff die Augen zusammen, um die winzig kleine, geschwungene Schrift in der Ecke zu lesen.

Arisha verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. Henry war dumm genug gewesen, eine Widmung unter das Bild zu schreiben und ihr für die Nacht mit ihm zu danken. Wenn Ares das jetzt las...

Er blickte von dem Bild auf. „Das ist doch jetzt nicht wirklich war, oder?“

„Wenn’s da steht.“, antwortete Arisha dumpf und nahm die Hände wieder runter.

„Du sollst Informationen aus ihm rausholen und nicht mit ihm schlafen.“

„Was denkst du, was ich damit bezwecke? Ich mache bei ihm das Gleiche wie bei Kordal.“

„Du warst mit Kordal im Bett?!“

„Das wusstest du doch ganz genau!“

„So...?“ Ares bedachte Arisha mit einem verächtlichen Blick und öffnete in einer routinierten Bewegung seinen Ring, um etwas Kokain zu schnupfen, was Arisha nur noch mehr in Rage versetzte.

„Hör auf, dich mit irgendwelchen Stoffen zuzudröhnen und hör mir endlich zu!“

Er hielt in seiner Bewegung inne. „Ich hör dir doch zu.“ Sein Grinsen wurde bei jedem ihrer Flüche breiter, auch wenn er kein Wort verstand, von dem was sie sagte. Es musste schon sehr übel sein, sonst hätte sie nicht auf arabisch geredet.

„Und das soll ich mir anhören? So selten es auch ist dich einmal wütend zu erleben, aber ich kann mir angenehmere Dinge vorstellen.“

Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Du hast mich noch nie wirklich wütend erlebt.“, zischte sie. Dann drehte sie sich um und verließ den Raum.

Der Knall der Tür dröhnte in Ares’ Ohren. „Also, auf mich machte das schon einen ganz schön wütenden Eindruck.“, murmelte er.
 

Tatsächlich stand draußen, in einigen Metern Entfernung, eine Wagen aus der Devina. Shareef, Kemal und Krull hatten das Auto bereits verlassen.

Arisha winkte Krull zu sich. „Du sollst mitkommen.“ Er war der Jüngste mit Sangreal und noch kein Ritter, aber Lucrezia hatte angedeutet, dass er einer werden sollte. Wahrscheinlich wollte Ares deshalb, dass sie ihn mitnahm.

Krull nickte und folgte Arisha zu Henrys Haus. Sie würden nicht lange brauchen.

Kemal blickte den Beiden nach. „Diesmal ging es schneller als bei dem Letzten.“, bemerkte er nach ein paar Minuten.

Shareef schwieg.

Kemal grinste. „Wie würdest du deine Schwester mit einem Wort beschreiben? Miststück?“

Der Araber warf ihm einen finsteren Blick zu, schwieg aber noch immer.

„Nein? Wie wär’s mit Schlampe?“ Gespielt nachdenklich legte er den Kopf schief. „Doch, ich denke, das beschreibt sie sehr genau.“

„Wie wäre es mit ‚die Frau, die dich umbringt, wenn du nicht augenblicklich die Klappe hältst?’“, kam es eiskalt von Arisha, die mit Krull im Schlepptau wieder aufgetaucht war. „Ich hatte Schalldämpfer drauf.“, sagte sie zu Shareef, als sie dessen fragenden Blick bemerkte. Immerhin wollte sie nicht die gesamte Nachbarschaft aufschrecken.

„Hat eigentlich auch ein normaler Söldner Chancen bei dir oder steigst du nur mit denen in die Kiste, die du umbringen sollst?“, fragte Kemal spöttisch.

„Auftrag ist Auftrag.“, gab sie zurück.

„Das sagen Nutten sicher auch.“

„Ich bekomme kein Geld dafür.“

„Heißt das, du machst es aus Spaß?“

Arishas Hand lag schon auf ihrer Waffe, doch Shareef schüttelte den Kopf. „Lass. Wegen dem willst du dir doch keinen Ärger einhandeln.“

Sie blickte Kemal immer noch mordlustig an, nahm aber die Hand von der Pistole.

„War er wenigstens gut?“, grinste Kemal, der wusste, dass sie nicht schießen würde.

Abrupt drehte sich Arisha weg und stieg ins Auto. Kemal konnte bleiben wo der Pfeffer wuchs. Wenn Shareef nicht da gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Aber er hatte Recht. Wegen Kemal wollte sie keinen Ärger.
 

Gegen Abend saß sie wieder in ihrem Zimmer in der Devina. Als die Tür aufging, wusste sie schon, dass es Shareef war, ohne aufzusehen.

„Ares will bei diesem Treffen übermorgen anwesend sein, um die Templer anzugreifen.“ Es war sinnlos und beide wussten es. Solche Kämpfe gingen meistens unentschieden aus, da keiner dem anderen wirklich schaden konnte. Ares tat es einzig und allein, um nicht das Gefühl zu haben, tatenlos herumzusitzen.

„Irgendwelche bestimmten Anweisungen?“

„Du sollst nicht mitkommen.“

„Weshalb nicht?“

„Weil die Templer dich noch nicht kennen und das sollte auch so bleiben.“

Arisha seufzte. „Raimund war bei dem Künstler. Er kennt mich.“

Ihr Bruder ersparte sich das Fluchen. „Ich sag Ares Bescheid.“ An der Tür sah er noch mal zu ihr. „Hast du ein schlechtes Gewissen?“

Eine Weile schwieg sie. „Ich versuche, keines zu haben.“

Shareef nickte. „Das wird das Beste sein.“
 

Arisha blickte zu Gisbert, der etwas weiter entfernt stand.

„Weißt du.“, sagte er, während er aus dem Fenster blickte. „Ich glaube nicht, dass man seine Vergangenheit ändern kann.“

„Wie meinst du das?“

„Das man sich dessen, was man ist, bewusst sein sollte und nicht versuchen sollte, es zu verleugnen.“ Er drehte sich zu ihr um. „So wie du zum Beispiel.“

Ihre Hand in der Jackentasche schloss sich etwas fester um die Pistole, aber ansonsten zeigte sie keine Regung.

„Du sprichst nicht über deine Vergangenheit und spielst irgendwelche Gefühle vor, die du gar nicht empfindest.“

„Ich rede nicht gerne darüber.“

„Weil du es vergessen möchtest.“

„Ja.“

Er musterte sie. „Das ist die falsche Taktik. Mit Vergessen kommst du nicht weiter. Akzeptier es einfach.“

„Würdest du den Tod akzeptieren?“

Er grinste. „Ah, ist es jetzt also soweit?“

„Anscheinend.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich wusste, dass es irgendwann mal so kommen würde. Aber die Idee an sich ist nicht schlecht. Wer würde schon auf die Idee kommen, dass die Prieuré eine hübsche, junge Frau einstellen, die für sie die Drecksarbeit erledigt?“

„Du bist darauf gekommen.“

„Stimmt.“

„Warum hast du nichts getan? Bist geflohen oder so etwas? Du hattest die Möglichkeit.“

„Ich glaube nicht, dass es etwas geändert hätte.“, antwortete Gisbert. „Irgendwann hättet ihr mich sicher gefunden. Warum das Unvermeidliche hinausschieben?“

„Es hätte dein Leben verlängert.“

„Dieses Gespräch verlängert mein Leben.“

Arisha zog die Hand aus der Jackentasche, die Waffe glänzte leicht im Licht der Lampe.

„Denkst du, dass du fühlen kannst?“, wollte Gisbert wissen, den Blick nicht auf der Pistole sondern auf ihr.

„Ja.“

„Wut?“

„Ja.“

„Hass.“

„Ja.“

„Mitleid?“

„Ich hoffe nicht.“

„Liebe?“

Arisha schwieg.

Ein Lächeln zog sich über Gisberts Gesicht. „Schwierig, wenn man noch nie geliebt hat, was?“

„Kommt darauf an, welche Liebe du meinst.“

„Jede Art von Liebe.“

„Dann ja.“

„Was ist mit Schmerz?“

„Gehört unweigerlich dazu.“

Das stimmte ihn nachdenklich. „Wahrscheinlich.“

Sie richtete ihre Waffe auf Gisbert.

Er grinste weiter. „Tja, dann. War schön, dich kennen gelernt zu haben. Denk daran, was ich dir gesagt habe.“

Sie drückte ab.

Epilog

„There’s a voice that calls: Remember who you are. If you lose yourself, your courage soon will follow”
 

Wieder einmal lag sie wach und sah in das Dunkel um sie herum. Gisberts Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie spürte, dass er recht hatte, sie wusste es. Aber es schien so schwer, ihre Vergangenheit einfach hinzunehmen und nicht darüber nachzudenken, was man alles hätte ändern können.

Oder auch nicht.

Ihre Vergangenheit akzeptieren und darüber reden? Das konnte sie nicht. Sie konnte und wollte niemandem zeigen, was sie fühlte. Sie wollte nicht, dass ihre Schwäche irgendjemandem zum Verhängnis wurde.

Gut, vielleicht konnte sie ihre Gefühle nicht ausleben, aber sie konnte zumindest einsehen, dass sie nichts gegen ihr früheres Leben tun konnte. Es war nun mal so.

Mit der Erkenntnis, dass dies die einzig richtige Einstellung war, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.



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Kommentare zu dieser Fanfic (11)
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Von: abgemeldet
2007-07-22T20:35:18+00:00 22.07.2007 22:35
wow
ich kann mich nur Robert anschließen
Von:  Ea
2007-07-22T16:52:20+00:00 22.07.2007 18:52
wirklich gelungenes, wenn auch kruzes ende :)
und wie wir alle wissen, wird sie noch die wahre liebe kennen lernen :)
Von:  Ea
2007-07-22T16:46:14+00:00 22.07.2007 18:46
töte ihn *knurr* töte diesen dämlichen hund von einem ritter
wieso zum geier hat shareef sie zurückgehalten? *knurr*
woher wusste gisbert das?
Von: abgemeldet
2007-07-22T10:23:25+00:00 22.07.2007 12:23
Kemal hat eindeutig zu lange mit Ares irgendwo geredet oder so, ich hätte ja gedacht das kommt von Ares!
Von:  Ea
2007-07-20T04:57:35+00:00 20.07.2007 06:57
jetzt mag ich henry nicht mehr, der soll gefälligst die pfoten von ihr lassen, auch wenn sie darauf eingeht òó bei dem anderen hat sie es auch gemacht? weiß shareef das? armer conne :(
warum legt die ihn denn nicht endlich um? ein besseren beweiß als ein templer im haus gibts ja wohl nicht ;)
ares mag ich auch nicht, so wie er mit arisha umgeht :(
Von: abgemeldet
2007-07-19T19:32:18+00:00 19.07.2007 21:32
Das hätte ich von Arisha nicht gedacht
*mit dem kopf schüttel*
Von:  Ea
2007-07-19T04:59:08+00:00 19.07.2007 06:59
*misstrauischer blick zwischen henry und arisha*
der liebt sie wahrscheinlich und sie denkt die ganze zeit daran ihn zu töten
armer henry :(
endlich weiß ich wie die beiden zur prieuré gekommen sind :)
ares find ich toll, wie der sich weigert :)
gut, dass er auf schwester hören muss :)
Von: abgemeldet
2007-07-18T20:51:32+00:00 18.07.2007 22:51
Sehr schön geschrieben
lässt sich gut lesen
Von: abgemeldet
2007-05-28T19:51:44+00:00 28.05.2007 21:51
Der Rückblick ist verdammt traurig.
-.-
Von: abgemeldet
2006-12-02T14:00:22+00:00 02.12.2006 15:00
Das ist voll toll geworden. Mir fällt gerade auf das bei Arisha und bei Conn der jeweilige Vater dem Kind nicht mehr in die Augen schauen kann.


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