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Another Side, Another Story

The Traitor's Tale
von

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Freund und Feind

„Viktor, pass auf!“ Riou und Jowy rissen zeitgleich ihre Waffen hoch, um eine riesige Streitaxt aufzuhalten, die ein Highlander auf den Söldner hatte krachen lassen wollen, und der metallische Klang von aufeinanderprallenden Waffen klang unangenehm in den Ohren des Aristokraten nach. Mit vereinten Kräften schafften die Jungen es, den Angreifer zurückzudrängen, woraufhin einer der ihnen unterstellten Soldaten die Chance nutzte, um ihm ein Schwert zwischen die Rippen zu jagen.
 

„Ihr!“, rief der Bär, hin- und hergerissen zwischen Schreck und Wut. „Ich hatte euch doch verboten, herzukommen! Warum seid ihr nicht in der Stadt?!“
 

„Weil ihr Hilfe braucht!“, antwortete Riou, während er einer Klinge auswich und einen weiteren Angriff mit einem Tonfa abwehrte.
 

„Ihr werdet nicht allein bis morgen früh durchhalten!“, pflichtete Jowy ihm bei, trat einem der Highlander, die mit erhobenen Schwertern auf sie zueilten, in die Kniekehle und stieß ihn und einen weiteren Soldaten mit einem Rundumschlag seines Stabs zu Boden. „Anabelle schickt uns!“
 

Das war etwas übertrieben, doch alles in allem entsprach es der Wahrheit – und vor allem schien es den Bann zu brechen: Viktor warf ihnen einen letzten, grimmigen Blick zu, dann brummte er etwas, das sich nach einem Fluch anhörte, und schlug stattdessen mit seinem Schwert nach einem Kavalleristen, der urplötzlich aufgetaucht war.
 

„Flik, verdammt!“, brüllte er anschließend über den Schlachtlärm hinweg. „Du sollst uns die Kavallerie vom Hals halten!“
 

Die nächsten Stunden verschwammen zu einem Wirbel aus Blut und noch mehr Blut und Jowy hätte schwören können, dass mindestens die Hälfte davon von ihm selbst stammte. Er hatte den Überblick verloren über die unzähligen Schnitt- und Platzwunden, die er davongetragen hatte, über die Männer, die um ihn herum fielen… Es war Riou zu verdanken, dass er und so viele andere nicht auch dazugehörten.
 

Jetzt, wo die Rune des Hellen Schildes scheinbar unter Kontrolle war und nicht mehr von den Kräften und der Energie ihres Trägers zehrte, wurde Jowy erst klar, wie wertvoll diese Rune wirklich für sie alle war – wenn doch nur seine eigene…
 

Er konnte ihr nicht mehr trauen, nicht wirklich; sie hatte ihn im Highland-Camp im Stich gelassen, als er sie am nötigsten gebraucht hatte. Aber was – was, wenn er es einfach versuchte?
 

Er brauchte diese Rune, hatte sich freiwillig dazu entschieden, sie anzunehmen, benötigte die Macht, die sie ihm gab.
 

Benutze mich!, drängte die Rune des Schwarzen Schwerts erneut und diesmal ließ er es einfach zu. Immerhin hatte er sie selbst um Hilfe gebeten, bevor sie zum Schlachtfeld aufgebrochen waren!
 

Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er, wie die Energie der Rune durch ihn hindurchfloss, spürte ihre Macht und wusste plötzlich, dass sie die ganze Zeit über Recht gehabt hatte: Sie gab ihm die Kraft, die er brauchte, um den Kampf zu beenden.
 

Doch er würde nicht mehr zulassen, dass sie ihn kontrollierte. Äquivalenter Tausch… Er hatte es verstanden.
 

Wenn die Rune des Hellen Schildes Leben gab, Wunden schloss und Verletzungen besser heilte als jede Wasserrune, dann war die Rune des Schwarzen Schwerts ihr Gegenstück. Und wenn Rious Rune die Energie von lebender Materie nahm, um zu wirken, dann würde seine Rune das genaue Gegenteil tun.
 

Das dunkelrote Licht, das aus seinen Fingern drang, schoss auf die Highlander zu und schien sämtliche Kraft eines jeden zu rauben, den es traf. Ringsum fielen die Feinde zu Boden, tot oder zumindest kurz davor – und dafür wuchsen hinter ihm urplötzlich Bäume, die in die Höhe schossen und in den schönsten Farben erblühten. Mit einem erschrockenen Laut wichen die Männer auseinander und Riou warf ihm einen verblüfften Blick zu.
 

Du hast es verstanden, bestätigte die Rune in Jowys Gedanken beinahe sanft und klang dabei fast zufrieden. Er selbst konnte weder ganz glauben noch verstehen, was geschehen war – doch das brauchte er wohl auch nicht.
 

Im Lichte der letzten, schwachen Sonnenstrahlen – wann war die Sonne untergegangen? – schallte ein Rückzugsbefehl übers Feld; er galt den Highlandern.
 

„Wo wollt ihr hin?!“, rief Viktor den laufenden Feinden zu. „Bleibt hier und kämpft wie echte Männer!“
 

„Lass gut sein, Viktor!“ Hufgetrappel erklang und Jowy drehte sich nach dem Geräusch um; es war Flik, der angeritten kam und das Pferd neben ihnen abrupt anhielt.
 

„Sie gruppieren sich neu, einen Runenangriff diesen Ausmaßes haben sie nicht erwartet“, sagte der Blaue Blitz und sah den flüchtenden Highlandern hinterher. Dann blickte er zu Jowy und Riou hinunter und hob eine Augenbraue. „Darüber reden wir noch, Jungs.“
 

„So schlecht ist die Idee gar nicht“, murmelte Andris neben ihnen. „Wir sollten es ihnen gleich tun und zusehen, dass wir unsere Zelte für die Nacht aufschlagen… und zurück zu den Stadtmauern kommen, wo sie uns nicht hinterrücks angreifen können.“
 

Jowys Blick glitt über die auf dem Schlachtfeld erblühten Bäume, die zurückgelassenen Toten und die Verletzten, deren leises Stöhnen noch in seinen Ohren lag, dann folgte er seufzend den Söldnern.
 

Das würde eine lange Nacht werden.
 


 

„Das hättet ihr uns schon vor Ewigkeiten sagen müssen!“, brummte Viktor unzufrieden. „Wenn wir das gewusst hätten…“ Er schüttelte den Kopf und lachte dann auf. „Ach, was rede ich denn da? Hätten wir es gewusst, hätte es auch nichts geändert…“
 

„Es war ein Fehler, euch in all das mit hineinzuziehen, Jungs“, stimmte Flik ihm zu. „Wir hätten euch damals mit allen anderen evakuieren sollen.“
 

„Es war unsere eigene Entscheidung“, entgegnete Riou ruhig. „Wir sind freiwillig hier, nicht, weil wir dazu gezwungen wurden.“ Die beiden Söldner tauschen einen Blick, dann nickte Viktor langsam.
 

„Also gut“, sagte er, „jetzt, wo ihr hier seid, ist es eh zu spät, darüber noch groß zu diskutieren. Getan ist getan.“
 

„Wie viel Zeit haben wir, bis sie wieder angreifen?“, fragte Jowy leise, der auf Viktors oder Fliks Feldlager hockte und eine Tasse heißen Irgendwas in Händen hielt, das furchtbar schmeckte, aber wenigstens wärmte. Es war wirklich kalt für Frühsommer und er hatte über 24 Stunden nicht geschlafen…
 

„So, wie ich Luca Blight inzwischen kenne, tun sie das jeden Augenblick“, schnaubte Flik frustriert. Riou jedoch, der mit einer Hand die Plane am Eingang zur Seite hielt und hinaus in die Nacht blickte, schüttelte den Kopf und erwiderte:
 

„Das glaube ich nicht… Ich denke, sie werden bis zum Morgengrauen warten. Es sind auch nur Menschen.“
 

„Wenn ich so an ihren Anführer denke, bin ich mir da nicht so sicher“, seufzte Flik, fuhr sich durchs Haar und leerte den Inhalt seines Bechers in einem Zug. „Hoffen wir, dass du Recht behältst, Riou. Ihr Jungs geht jetzt besser ins Bett und holt ein bisschen Schlaf nach…“
 

„Was ist mit euch?“ Jowy sah von den Augenringen unter Fliks Augen zu denen unter Viktors. „Ihr habt mindestens genau so wenig Schlaf bekommen wie wir.“
 

„Macht euch um uns keine Sorgen“, lachte Viktor, „wir sind es gewohnt. Wenn ihr wüsstet, wie das damals bei der Schlacht um Gregminster…“
 

„Spar dir die Geschichte für die Siegesfeier auf“, unterbrach Flik ihn müde. „Geht schlafen, Jungs.“ Jowy erhob sich und hob zum Abschied erschöpft die Hand, bevor er Riou nach draußen und in das Zelt, das sie sich mit ein paar anderen Soldaten teilen würden, folgte.
 

Lediglich den Harnisch und die Stiefel streiften sie ab, dann sank Jowys Kopf aufs Kissen und er schlief nur einige Augenblicke später ein.
 

Er wurde dadurch wach, dass Rufe und Hufgetrappel durchs Lager schallten. Nur geringfügig erholter richtete er sich auf und blinzelte im spärlichen Licht der Öllampe – wie viel ihm die wenigen Stunden Schlaf letztendlich gebracht hatten, wusste er jedoch nicht.
 

„Da draußen ist irgendetwas los“, murmelte Riou neben ihm im Halbdunkel. „Lass uns gehen.“
 

Als sie Viktors und Fliks Zelt betraten, war es ungewohnt voll darin; Andris und Cedric waren ebenfalls da, genau wie Kinnison, Tsai und Rikimaru – und ein gefesselter, bärtiger Mann mit grimmigem Blick.
 

„Was…?“, entwich es Jowy verblüfft. Der Gefangene hatte volles, dunkelbraunes Haar, das ihm auf der linken Seite etwas ins Gesicht fiel; sowohl seine Haare als auch sein Kinnbart waren bereits von grauen Strähnen durchzogen. Er trug eine blaue Tunika über einem Lederharnisch und einer braunen Hose, alles halb verborgen durch einen langen, roten Mantel. Sein wütender Gesichtsausdruck galt Flik und Viktor.
 

„Haben sie uns angegriffen?“, fragte Riou stirnrunzelnd und Kinnison drehte sich kopfschüttelnd zu ihm um.
 

„Schlimmer“, antwortete der Jäger düster. „Sie wollten uns sabotieren – es sind Söldner, die für Highland arbeiten.“
 

„Söldner, die uns wohl bekannt sind“, bemerkte Viktor scharf. „Nicht wahr, Gilbert?“
 

„Ich kann nicht glauben, dass du für Highland arbeitest“, sagte Flik ungläubig an den gefangenen Söldner gewandt. Gilbert funkelte ihn missmutig an, schwieg jedoch. An seiner Stelle erklärte Tsai:
 

„Wir haben ihn und einige seiner Männer dabei erwischt, wie sie unsere Vorräte vergiften wollten. Luca Blight muss ihnen viel zahlen…“
 

„Was ist mit dem Gilbert passiert, den ich kannte?“, raunzte Viktor erbost und Flik knurrte:
 

„Wann ist aus dir einer der Männer geworden, die schweigen, wenn Dörfer brennen und unschuldige Kinder abgeschlachtet werden? Wo ist dein verdammtes Ehrgefühl hin, Gilbert?!“
 

„Gespräche über Ehre werden diese Schlacht nicht gewinnen“, versetzte der Gefangene simpel. Viktor stieß ein Geräusch aus, das jedem wütenden Bären Konkurrenz machte, und ließ seine Faust gegen Gilberts Kiefer krachen; ein hässliches Knacken ertönte, als der gefesselte Söldner von den Füßen gerissen wurde und hustend auf dem Boden liegen blieb. Angewidert spuckte er Blut und einen ausgeschlagenen Zahn aus, dann blinzelte er zu Viktor hinauf.
 

„Du bist schwach geworden“, kommentierte dieser und schüttelte ungläubig den Kopf. „Als Krieger taugst du nichts.“
 

„Du verdammter…“, schnarrte Gilbert zur Antwort und richtete sich mühsam wieder auf – die Lippe, die Bekanntschaft mit der Faust des Bären gemacht hatte, schwoll bereits an. „Ich habe Schlachten geschlagen, als du noch in den Windeln gelegen hast!“
 

„Das wissen wir“, nickte Flik und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und gerade das ist es, was ich nicht verstehe. Du bist ein stolzer Krieger, ein Mann, dem sein Ehrgefühl wichtiger ist als sein Leben. Wie kannst du von einem Scheusal wie Luca Blight Geld annehmen?!“
 

„Es geht dich absolut nichts an, was…“
 

„Oder werden deine Frau und dein Sohn stolz auf das sein, was du und deine Männer im Namen Blights im Staat anrichtet?“ Unbarmherzig blickte der Blaue Blitz auf den Gefangenen hinab, der bei der Erwähnung seiner Familie merklich zusammenzuckte. „Stolz auf das Blut der Unschuldigen, das vergossen wird, stolz auf deine Ehrlosigkeit?!“
 

„Du… Du hast kein Recht, Thomas und Irene…“
 

„Ich sage dir etwas, Gilbert“, fuhr Flik unbeirrt fort. „Dieser Krieg entscheidet, wer von uns ein Gewissen besitzt und wer nicht. Wer ein Mensch ist und wer ein Monster. Ich weiß, dass du ein ehrenhafter Mann bist – also schließ dich uns an, bevor du zu einem Monster mutierst wie Luca Blight!“ Gilbert starrte den weit jüngeren Söldner beinahe entsetzt an, ehe er tief seufzte und den Kopf sinken ließ.
 

Jowy hielt den Atem an.
 

„Ich habe versucht, nicht darüber nachzudenken“, gab Gilbert nach einer gefühlten Ewigkeit langsam und mit zitternder Stimme zu. „Aber das hier ist wohl… Schicksal. Ich kann mich nicht länger davon abwenden, was hier im Staat vor sich geht – meine Frau und mein Sohn werden es mir nicht verzeihen, du hast Recht.“
 

„Ist das eine Zusage?“, vergewisserte sich Viktor argwöhnisch. „So schnell?“
 

„Ich bin nicht blind, Viktor“, konterte Gilbert leise und lächelte bitter. „Ich habe genug gesehen… So ungern ich es zugebe, ihr habt Recht. Ich werde euch helfen.“ Flik schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment betrat einer der jüngeren Söldner aus Viktors Einheit das Zelt und rief:
 

„Viktor, Flik – die Matilda-Ritter sind hier!“
 

„Das wurde ja auch höchste Zeit!“, knurrte der Bär. „Dieser verdammte alte Giftsack hätte seine Truppen schon viel früher aussenden müssen!“
 

„Bring sie her“, befahl Flik dem jungen Söldner. „Wenn sie schon hier sind, können wir unsere nächsten Schritte gleich mit ihnen planen…“ Der junge Mann nickte und verließ das Zelt wieder, dafür wandte sich Cedric stirnrunzelnd zu Gilbert um.
 

„Und nun?“
 

„Macht ihn los“, verfügte Viktor, dessen gesamte Wut zu Gilberts Glück nun Gorudo galt. „Ich werde diesen Matildanern gehörig den Marsch blasen…!“ Jowy warf Gilbert einen zweifelnden Blick zu, als Rikimaru und Cedric seine Stricke lösten und Kinnison ihm aufhalf.
 

Konnten sie diesem Mann wirklich trauen? Er hatte zwar gesagt, dass er nun auf ihrer Seite kämpfen würde, aber…
 

Der Aristokrat hielt abrupt in seinem Gedankengang inne. Wer war er, dass er diese Frage stellte? Er, der er zugesagt hatte, Anabelle umzubringen, er, der er schlimmer war als jeder Überläufer…
 

Selbst, wenn Gilbert sie alle hinters Licht führte und sie morgen früh ihren letzten Sonnenaufgang miterlebten, Jowy war der letzte, der über ihn richten durfte. Deshalb beschränkte er sich auf ein Seufzen, strich sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten, und schüttelte den Kopf.
 

Plötzlich war er noch müder als vor den paar Stunden Schlaf.
 

Der Zelteingang öffnete sich erneut und zu Jowys Erstaunen trat Miklotov ein. Der Ritter schlug mit der rechten Faust gegen seine Brust, deutete eine Verbeugung an und sagte, den Blick fest auf Viktor geheftet:
 

„Mein Name ist Miklotov, ich bin Captain der Blauen Ritter von Matilda. Lord Gorudo hat uns herbeordert, um Muse zu unterstützen.“
 

„Wir haben Euch schon erwartet“, nickte Viktor missgelaunt. „Wann kommt der Rest?“
 

„Verzeihung?“
 

„Die Blauen Ritter sind hier, schön und gut“, knurrte der Bär. „Aber Anabelle hat den Befehl gegeben, Truppen zur Verfügung zu stellen, um Muse zu schützen! Ich frage Euch, wo im Namen der verdammten 27 Wahren Runen ist der Rest der Armee von Matilda?!“ Miklotov ertrug den Ausbruch ohne mit der Wimper zu zucken und erwiderte:
 

„Ich fürchte, dass es mir nicht zusteht, die Entscheidungen meines Lehnsherren anzuzweifeln, Viktor. Die Blauen Ritter sind hier, um Euch und Muse zu unterstützen, mehr kann ich nicht sagen.“ Eine Flut von Flüchen, von denen Jowy ganz rote Ohren bekam, ergoss sich aus Viktors Mund, dann grunzte der Bär unerwartet, wandte sich ab und atmete tief durch; seine Schultern zitterten vor unterdrückter Wut.
 

„Ändern können wir es eh nicht mehr“, murmelte Flik, „bis die Boten in Matilda ankommen, ist die Schlacht schon vorbei. Wir müssen wohl das beste daraus machen…“
 

„Viktor! Flik!“
 

„Was ist denn jetzt?“, stöhnte Viktor entnervt auf, als Apple, verschlafen und mit schief sitzender Brille, ebenfalls ins Zelt trat. Sie rieb sich kurz müde ein Auge, dann erklärte sie:
 

„Die Highland-Armee scheint sich wieder zu rühren. Wir sollten uns auch auf den Weg machen… Ist alles in Ordnung mit euch? Ihr seht so bedrückt aus.“
 

„Alles gut“, winkte Flik ab. „Lasst uns aufbrechen, bevor sie uns hier überraschen. Ich habe für heute Nacht genug davon gehabt.“
 


 

Wann Gilbert es geschafft hatte, mit seinen Männern zu sprechen und ihnen mitzuteilen, dass sie die Seiten wechselten – ohne Geld dafür zu erhalten – war Jowy ein Rätsel, doch es zeigte Wirkung; als die ehemals feindlichen Söldnern sich scheinbar plötzlich gegen ihre Geldgeber wandten, herrschte in den Reihen der Highlander ein furchtbarer Tumult.
 

Es war leicht, diese Chance zu nutzen – vielleicht sogar zu leicht. Gemeinsam mit Gilberts Männern und den Blauen Rittern hatten sie nach der gestrigen Schlacht unerwartet die Oberhand gewonnen. Und dennoch wurde Jowy das böse Gefühl nicht los, das etwas furchtbar schief laufen würde…
 

Ein Pfeil bohrte sich in das verstärkte Schulterpolster seines Harnischs und Jowy taumelte getroffen zurück – es war sein Glück, dass das Leder dick genug war, um die Spitze davon abzuhalten, sich mehr als einige Millimeter in seine Schulter zu bohren. Ein Schmerzenslaut entwich ihm trotzdem, doch er riss den Schaft heraus und fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um einen Speerträger davon abzuhalten, seine Waffe in Rious ungeschützte Flanke zu jagen.
 

„Sie weichen zurück!“, rief Riou ihm zu, schlug einen seiner Tonfa gegen die Schläfe eines Angreifers und riss ihn anschließend mit dem zweiten von den Füßen. „Es sieht so aus, als ob wir gewinnen!“
 

Jowy antwortete nicht, sondern duckte sich unter einer Klinge hinweg und rutschte eher unelegant über die leicht feuchte Erde, entging dafür aber einer Enthauptung. Er ergriff seinen Stab etwas fester und rammte das eine Ende einem Highlander in die Magengrube, dann richtete er sich eilig wieder auf – und wurde im nächsten Moment unsanft zur Seite gestoßen.
 

Nur mühsam hielt der Aristokrat sich auf den Füßen und sah verwirrt zu Miklotov auf, der seine Einheit wohl mitten zwischen die von Flik und Rikimaru manövriert hatte. In der Hand hielt der Ritter sein Schwert und einen Holzschild, in dem ein Pfeil steckte, den er wohl soeben abgefangen hatte.
 

„Pass besser auf!“, riet Miklotov ihm und schlug das Schwert eines berittenen Highlanders zurück. „Ihr beide seid zu jung, um in diesem Krieg zu fallen!“ Jowy nickte und wollte sich bereits abwenden, als plötzlich ein Horn ertönte, das trotz des Kampflärms noch laut und deutlich zu hören war.
 

„Was zum…?“, entwich es dem Blauen Ritter. „Das muss ein Irrtum sein!“
 

„Sir Miklotov!“ Ein Roter Ritter kam herbeigeritten, links und rechts nach Highlandern schlagend. „Lord Gorudo befiehlt den sofortigen Rückzug unserer Truppen!“
 

„Was?!“
 

„Ist das ein schlechter Witz?“ Riou fuhr vor ihnen herum und Jowy begegnete seinem entsetzten Blick.
 

„Wir sind gerade erst hier angekommen!“, brüllte Miklotov wütend und machte keinerlei Anstalten, dem Befehl nachzukommen, der ihm überbracht worden war. „Was soll das?!“
 

„Sire, Sir Camus ist persönlich hier, Ihr solltet mit ihm darüber sprechen!“, entgegnete der Rote Ritter achselzuckend, riss sein Pferd herum und galoppierte davon. Erneut schallte das Horn über die Ebene und Jowy sah, wie Miklotov mit den Zähnen knirschte – und ihnen schließlich einen entschuldigen Blick zuwarf, ehe er die Zügel seines Pferdes anzog und ihm die Sporen gab.
 

Als die Blauen Ritter sahen, dass ihr Kommandant dem Rückzugsbefehl folgte leistete, taten sie es ihm gleich.
 

„Diese verdammten feigen Hunde!“, brüllte einer der Söldner neben Jowy. „Wie können sie es wagen?!“ Seine Unachtsamkeit wurde dadurch belohnt, dass sich ein Pfeil in seine Kehle bohrte und er tot zu ihren Boden fiel; es war genug, um den Aristokraten aus seinem Schockzustand zu reißen.
 

Sie hatten keine Zeit, sich nach den flüchtenden Matilda-Rittern umzublicken – um sie herum wütete noch immer eine Schlacht!
 

Mit einer gewaltigen Willensanstrengung hielt er die Macht der Rune davon ab, auch die Matildaner zu treffen. Es war ein Befehl gewesen, sie konnten nichts dafür, es gab bestimmt einen guten Grund dafür, dass Gorudo sie zurückrief…
 

Wiederum verlor Jowy sein Zeitgefühl – und den Überblick. Er hätte später nicht sagen können, wer nach dem Rückzug der Matilda-Ritter die Schlacht dominierte oder ob sie zurückgedrängt worden waren. Er wusste es schlichtweg nicht.
 

Er wusste nur, dass Riou ihn irgendwann an der Schulter ergriff und rief:
 

„Die Streitkräfte von Muse rücken an! Wir haben es geschafft!“
 

Sie zogen sich gemeinsam mit den Söldnern, ihrer eigenen Einheit und Gilberts Männern in die Stadt zurück, während die Truppen aus Muse aufs Schlachtfeld zogen. Wer auch immer die Highlander anführte, er schien zu verstehen, dass sie gegen ein Regiment von erholten Männern keine Chance hatten; die Highlander ergriffen die Flucht und die Staatler jubelten.
 

Und dennoch…
 


 

Es war weit nach Mitternacht, als Jowy endlich erschöpft das Zimmer betrat, das er sich in Leonas Gasthaus mit Riou teilte. Er hatte weder Nanami noch Riou gesehen, seit sie sich im Schankraum zwischen all den erleichterten und teilweise sogar feiernden Soldaten aus den Augen verloren hatten, und wollte eigentlich nur noch ins Bett.
 

Zwar hatte er seinen Willen bekommen und an der Schlacht teilnehmen dürfen, aber… Was hatte es ihm gebracht?
 

Er hatte gelernt, dass Freund nicht gleich Freund war und Feind nicht gleich Feind. Nun waren Gilberts Söldner auf ihrer Seite und die Matildaner waren geflohen… Und er? Auf wessen Seite war er eigentlich?
 

Wieder musste er an seine Mutter denken und den Mord, den er begehen musste, um ihr Leben zu retten. Er hatte gehofft, dass ihm auf dem Schlachtfeld eine Lösung einfallen würde, um all das zu entgehen, aber so war es nicht. Schon morgen würde die Highland-Armee wahrscheinlich noch mehr Verstärkung kriegen und wann – wenn überhaupt – die restlichen Truppen des Staates zu ihnen stoßen würden, wusste keiner.
 

Was konnte er tun…?
 

„Fällt eine Krähe ins Mehl, so bleibt sie doch nicht lange weiß. Was hast du damit bezweckt, in diese Schlacht zu ziehen, Junge?“
 

Oh, bitte nicht…!
 

Widerwillig hob Jowy den Blick vom Boden, hinauf in Kages Gesicht. Der schwarzgekleidete Mann lehnte in einer Ecke des Raumes, mit verschränkten Armen, und lediglich dem Licht der unzähligen Fackeln, welche die nächtlichen Straßen von Muse erleuchteten, war es zu verdanken, dass er überhaupt zu sehen war – seine eisblauen Augen schimmerten im Licht.
 

„Ihr…“ Jowys Kehle fühlte sich plötzlich sehr, sehr trocken an.
 

„Luca Blight hat genug gewartet“, teilte Kage ihm kalt mit. „Du wirst Anabelle in den nächsten vierundzwanzig Stunden umbringen. Ansonsten…“ Er ließ den Satz offen und warf Jowy stattdessen etwas vor die Füße. Es klang metallisch.
 

Einen Augenblick konnte er sich nicht rühren, wusste nicht, was er tun sollte, dann bückte er sich langsam nach dem kleinen Gegenstand und hob ihn auf. Seine Finger strichen über eine glatte, ovale Oberfläche, zwei gleichförmige Seiten, eine Gravur, eine dünne Kette…
 

Es war ein Medaillon und er musste es nicht öffnen, um zu wissen, dass er darin zwei kleine Bilder finden würde, Miniaturportraits von sich und seinem Stiefbruder.
 

Das Medaillon, das seine Mutter getragen hatte, seit er sich erinnern konnte.
 

„Morgen Nacht ist Anabelle tot“, wiederholte Kage eisig. „Andernfalls werden Köpfe rollen… Der deiner Mutter zuerst. Wir sehen uns morgen früh – du solltest dir besser einen Plan überlegen, Junge.“
 

To be continued...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Mismar
2011-02-14T12:42:41+00:00 14.02.2011 13:42
„ihm die Sporen gab“ <- Die wird er sicherlich nicht an seinen Stiefeln tragen ;D das ist ohnehin eher auf „Westernkleidung“ bezogen, daher „ihm die Fersen gab“


„Fällt eine Krähe ins Mehl, so bleibt sie doch nicht lange weiß. Was hast
du damit bezweckt, in diese Schlacht zu ziehen, Junge?“ <- Awww, der Spruch ist irgendwie toll~

Es war ein sehr schönes Kapitel, ich finde auch das mit Gilbert war wundervoll eingebaut, besonders wegen den Gefühlen von Jowy, weil das nochmal seine Situation deutlich gezeigt hat. Und die Kämpfe waren wieder sehr schön beschrieben, allgemein ein sehr gutes, spannendes Kapitel.
Mehr habe ich nicht zu sagen :D ich mag diese Geschichte, sie ist tollig, auch wenn Suikoden zurzeit bei mir recht in den Hintergrund gedrängt wird.
Von:  Flordelis
2011-01-24T13:07:19+00:00 24.01.2011 14:07
und dafür wuchsen hinter ihm urplötzlich Bäume, die in die Höhe schossen und in den schönsten Farben erblühten
I like that.
Die Vorstellung gefällt mir sehr gut. ♥

Andris und Cedric
Sind die Namen eigentlich aus der Novel (oder einer anderen Quelle) oder sind die von dir? :3

Ah, Gilbert~
Ich hab mich schon gefragt, wie das bei dir aussehen wird.

Ihr beide seid zu jung, um in diesem Krieg zu fallen!“
Ich weiß noch, dass ich Miklotov anfangs nicht mochte... bis seine menschliche Seite zum Vorschein kam~
Du fängst sie sehr schön ein, das gefällt mir~

Ich mag deine Schlachtkapitel, die haben immer so ein... ganz besonderes Etwas~

Puh, viel mehr kann ich diesmal nicht sagen, mir gefiel das Kapitel auf jeden Fall und ich bin mal gespannt, wie du den Mord beschreibst. Das ist immerhin ne ganz wichtige Stelle. *nick*


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