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Another Side, Another Story

The Traitor's Tale
von

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Erfolge und Niederlagen

Er klopfte an der Tür der verfallenen Hütte und hoffte, dass jemand zu Hause war. Es war zu hell, um ein Licht anzuzünden, immerhin war noch heller Tag. War überhaupt jemand da? Das ganze Dorf war völlig verwüstet und das seit über einem Jahrzehnt, war hier überhaupt auch nur eine Menschenseele?
 

Keiner antwortete. Irgendwie wunderte es Jowy kein Stück, dennoch klopfte er erneut und rief:
 

„Ist jemand zu Hause?“
 

„Verschwinde!“, kam eine Stimme von innen und bestätigte ihm damit, dass der Bewohner des Hauses tatsächlich daheim war. Ob ihm das weiterhalf, war eine andere Frage, aber dieses Haus war als einziges noch bewohnbar – auch, wenn ein mittelgroßes Loch im Dach klaffte. Aber wahrscheinlich regnete es hier ohnehin nicht so oft…
 

„Ich suche jemanden!“, rief Jowy hinein, doch als wieder niemand reagierte, drückte er die Tür vorsichtig auf. Sie knarrte laut, schwang jedoch auf und gab den Blick auf einen älteren Mann frei, der an einem großen Tisch im einzigen Raum saß und offensichtlich in einem Buch gelesen hatte. Er hatte kurzes, dunkelbraunes Haar, das genau wie sein Schnauzbart bereits von einigen grauen Strähnen durchzogen wurde, und trug einen dunklen, schweren Mantel über einer grauen Stoffhose. Um den Hals trug er einen grauen Schal und zwangsläufig fragte Jowy sich, ob der Mann fror.
 

„Welchen Teil von verschwinde hast du nicht verstanden, Junge?“ Der Mann machte keine Anstalten, sich zu erheben, sondern blickte nur wieder in sein Buch und ignorierte ihn.
 

„Ich suche Leon Silverberg“, sagte Jowy und machte ein paar Schritte auf den Mann zu. „Seid Ihr es?“
 

„Leon Silverberg ist tot“, brummte der Mann zur Antwort. „Und jetzt verschwinde endlich.“ Er stellte das Buch auf und vergrub sich demonstrativ dahinter, nicht gewillt, sich weiter zu unterhalten.
 

Jowy ließ die Schultern sinken. Das war doch ein Scherz, nicht wahr? Hatte er sich etwa völlig umsonst nach Kalekka begeben? Er schluckte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und fuhr sich mit der Hand müde übers Gesicht.
 

Er war umsonst hierher gekommen…
 

Aber er konnte ja wohl kaum hier bleiben und diesen Mann weiter belästigen, der ohnehin nicht bester Laune zu sein schien. Jowy seufzte leise und öffnete bereits den Mund, um sich für die Störung zu entschuldigen und schnell zu verschwinden, als sein Blick auf den Umschlag des Buches fiel.
 

Raffiniert.
 

„Ich… brauche Eure Hilfe, Sir“, sagte Jowy ernst und starrte sein Gegenüber unverwandt an. Der Mann blickte entnervt erneut von seiner Lektüre auf und blaffte:
 

„Ich bin nicht Leon Silverberg, Junge! Ich habe dir doch gesagt, dass er tot ist!“
 

„Und warum lest Ihr dann ein Buch über Kriegsführung? Ihr seid ein bisschen zu alt, um einer seiner Schüler zu sein – wenn er denn überhaupt welche hatte.“ Der Mann sah ihn einen Moment lang wortlos an und schnaubte dann amüsiert.
 

„Du bist intelligenter als viele andere, die hergekommen sind. Aber das muss nichts heißen“, brummte er.
 

„Seid Ihr Leon Silverberg?“
 

„Was, wenn ich es bin?“
 

„Dann bitte ich Euch um Hilfe“, sagte Jowy und suchte die dunklen Augen des Strategen nach Verständnis ab.
 

„Lass mich raten, Junge“, schnaubte Silverberg, legte das Buch weg und verschränkte die Arme. „Du bist ein junger, aufstrebender Rebellenanführer und willst das Land, aus dem du kommst, vom Joch eines grausamen Kaisers befreien. Oder bist du ein Stiefellecker des besagten Kaisers und nur hier, um einen berühmten Strategen für deinen Lehnsherren zu finden, damit du weiter in seiner Gunst steigen kannst?“
 

„Ich bin… weder das eine, noch das andere“, entgegnete Jowy leise.
 

„So? Dann überrasch mich und erzähl mir deine Geschichte.“ Gelangweilt sah der alte Stratege ihn an. „Vielleicht ist die deine ja nicht wie alle anderen.“
 

„Mein Name ist Jowy. Ich… bin das, was die Menschen einen Verräter nennen“, begann der Aristokrat zögernd. „Ich habe zuerst mein Land verraten und dann meine Freunde, um meine eigene Haut zu retten.“ Er sah Silverberg eine Augenbraue heben. Dann fragte der Stratege:
 

„Und was soll ich für dich tun, Junge? Ich bin Stratege, kein Seelsorger. Such dir gefälligst eine andere soziale Auffangstation!“
 

„Habt Ihr von Luca Blight gehört?“ Er musste wohl oder übel mit offenen Karten spielen, wenn er diesen Mann davon überzeugen wollte, ihm zu helfen. Denn der alte Stratege sah keineswegs so aus, als ob er Lust dazu hatte, jedem Dahergelaufenen zu helfen…
 

„Der gefürchtete Schrecken aus dem Norden?“ Leon Silverberg schnaubte. „Kein Kaiser, sondern ein verrückter Kronprinz. Es läuft aufs Selbe hinaus.“
 

„Ich weiß, dass es nahezu unmöglich ist, diesen Mann umzubringen“, fuhr Jowy fort, plötzlich sicherer. „Er besitzt Stärke, mit der sich kein normaler Mensch messen kann, und ist genauso grausam wie heimtückisch.“
 

„Deinen Feind kennst du gut“, bemerkte Silverberg. „Aber wozu brauchst du mich?“
 

„Ich brauche Euch, um die Welt vor seinem Wahnsinn zu bewahren“, erklärte der junge Aristokrat. „Ihr seid dafür bekannt, dass Ihr einen Krieg beenden könnt und dabei einen möglichst geringen Schaden hinterlasst. Ich brauche Euch, um sein Vertrauen zu gewinnen, um ihm schließlich ein Messer in der Rücken jagen zu können… das bin ich denen, die ich verraten habe, schuldig.“
 

Der alte Stratege bedachte ihn mit einem langen Blick, ehe er feststellte:
 

„Du bist ein Verräter, wie er im Buche steht.“
 

„Das bin ich.“
 

„Bist du etwa stolz darauf, Junge?“ Jowy lächelte bitter.
 

„Das nicht. Aber es ist alles, was mir geblieben ist.“ Leon Silverberg lachte leise und sagte schließlich:
 

„Gib mir ein paar Stunden.“
 

„Zum Überlegen?“
 

„Zum Packen. Ich werde dir helfen, Junge… Luca Blight ist ein Monster, das gestoppt werden muss. Und ich sehe, dass du die Kraft dazu hast. Die Kraft, das Schicksal zu ändern.“ Erschrocken sah Jowy seinen neuen Verbündeten an und blinzelte. Automatisch berührte er mit den Fingern der linken Hand den verbundenen Handrücken der rechten, um sich zu vergewissern, dass der Verband nicht verrutscht war und nichts offenbart hatte.
 

„Wie kommt Ihr darauf?“, fragte er alarmiert. Silverberg erhob sich von seinem Stuhl, hob eine Augenbraue und antwortete:
 

„Vor ein paar Jahren habe ich einen Jungen getroffen, der dir gar nicht so unähnlich war. In seinen Augen hat das gleiche Feuer gebrannt, wie in deinen. Ich erkenne den Träger einer Wahren Rune, wenn ich ihn sehe.“ Dann bemerkte der Stratege wohl den panischen Ausdruck auf Jowys Gesicht und fügte hinzu:
 

„Aber keine Sorge, Junge, ich kann ein Geheimnis für mich bewahren. Also hör auf, mich anzusehen, wie ein verschreckter Bonbon-Frischling.“
 

„Ich… Danke, Sir.“
 

„Bedank dich bei mir, wenn der Krieg vorbei ist“, brummte Silverberg. „Und mach endlich die Tür zu, es zieht!“
 


 

Jowy beobachtete Leon über den Rand der Tonschüssel hinweg, die ihm der Mann wortlos hingestellt hatte, bevor er sich daran gemacht hatte, seine Habseligkeiten in eine große Tasche zu packen. In der Schüssel befand sich gewöhnlicher Haferbrei, doch für Jowy, der den ganzen Tag über noch nicht so viel gegessen hatte, hätte es genau so gut ein Drei-Gänge-Menü sein können.
 

Die Stille war ihm unangenehm und der Aristokrat überlegte fieberhaft, was er sagen konnte, um sie zu brechen. Er hasste diese Art von gespanntem Schweigen, immerhin konnte er nichts Anderes tun als darauf zu warten, dass der Stratege seine Besitztümer verstaute.
 

Schließlich – mehr aus der Not heraus, wenigstens irgendetwas zu sagen – begann er, seine Geschichte zu erzählen. Er blickte hinunter in die inzwischen geleerte Schüssel und berichtete, zuerst stockend, dann immer flüssiger, von all den Dingen, die er erlebt und gesehen hatte, seit die Jugendbrigade wie gewöhnliches Vieh abgeschlachtet worden war.
 

Während er erzählte, wurde ihm erst so richtig bewusst, wie nötig er sich all das von der Seele hatte reden müssen. All die Geheimnisse, all die Lügen hatten stärker auf ihm gelastet, als er gedacht hatte, und jetzt, da er Silverberg ohnehin schon die Wahrheit über sein Kommen offenbart hatte, konnte er nicht mehr anders, als ihm auch den Rest der Geschichte zu erzählen.
 

Leon unterbrach ihn nicht, sondern hörte schweigend zu, während er weiterhin packte, und Jowy war ihm fast ein bisschen dankbar dafür. Als er schließlich geendet hatte und doch aufblickte, stellte er fest, dass inzwischen einige Stunden vergangen waren und der alte Stratege schon längst fertig damit war, seine Tasche zu packen. Dass er ihn nicht unterbrochen hatte, zeugte wohl davon, dass der Aristokrat Silverbergs Interesse geweckt hatte.
 

Ob das gut war, würde sich noch zeigen.
 

Jowy biss sich auf die Lippe und wartete auf eine Reaktion seitens des älteren Mannes, doch der warf nur einen Blick aus dem Fenster nach draußen und fragte:
 

„Wie viel Zeit hast du noch, um zurück in den Staat zu kommen?“
 

Oh je, das klang nicht allzu gut. Hatte es sich der Stratege doch anders überlegt und würde hier bleiben?
 

„Etwas mehr als eine Woche“, antwortete er und harrte dann der Dinge, die da kommen würden. Leon brummte unbestimmt, dann stellte er die Tasche, die auf seinem Bett stand, auf den Boden und sagte über seine Schulter hinweg:
 

„Ich nehme einmal an, dass du es gewöhnt bist, auf dem Boden zu schlafen und es mir nicht allzu übel nimmst – immerhin ist es mein Bett.“
 

„Äh… Was?“ Jowy starrte den Mann verwirrt an, bis dieser die Augen verdrehte und aus dem Fenster zeigte:
 

„Es ist mitten in der Nacht. Du hast doch wohl nicht vor, im Dunkeln durch Berge und Wälder zu wandern?“
 

„Also eigentlich...“
 

„Ich jedenfalls nicht. Ich bin zu alt für Nachtwanderungen. Wir brechen morgen früh auf.“ Mit offenen Mund sah der Aristokrat mit an, wie Silverberg die Bettdecke zurückschlug und eine zweite, dünnere darunter zum Vorschein kam, die er abzog und auf den Tisch legte.
 

„Roll dich gut ein, es wird kalt.“ Und mit diesen Worten entledigte sich der alte Stratege seines Mantels, des Schals und seiner Schuhe und ließ sich auf seinem Bett nieder. Dann blickte er Jowy mit hochgezogener Augenbraue an und fragte:
 

„Willst du da hinten Wurzeln schlagen, Junge?“ Jowy starrte ihn noch einen Moment verblüfft an, sprang dann auf und sagte:
 

„Äh- ja. I-ich meine, nein! Ich meine...“
 

„Lösch das Licht, wenn du schon unterwegs bist.“
 

Irgendwie... schien es, als hätte Jowy es doch geschafft, Leon Silverberg auf seine Seite zu ziehen.
 


 

Als sie sich dem Highland-Camp um South Window näherten, fühlte sich Jowy unangenehm an das Wespennest erinnert, das Nanami vor so vielen Jahren aus Versehen mit ihrem Nunchaku von der Eiche hinter dem Dojo geschlagen hatte. Binnen Sekunden waren die Wespen aus ihrem zerstörten Bau geflogen, aufgestachelt, wütend, so laut summend, dass die Luft für einen Augenblick wie elektrisiert gewesen war.
 

Eine ähnliche Stimmung herrschte zwischen den umher eilenden Highlandern. Jowy warf Leon einen Blick zu, dann beschleunigte er seinen Schritt und schloss zu den zwei grimmig aussehenden Wachen auf, die einen der Eingänge bewachten.
 

„Halt!“, schnauzte einer der Männer und hob seinen Speer in Jowys Richtung; er sah nicht aus, als wenn er für Späße aufgelegt war. „Was glaubst du, wer du bist, Junge?!“ Ohne zu zögern präsentierte Jowy die Abzeichen auf seiner Brust und erwiderte:
 

„Oberleutnant Jowy, 2. Kompanie der Königlichen Armee von Highland. Habt ihr nichts Besseres zu tun, als ranghöhere Offiziere zu behindern?“ Es war beinahe beängstigend, wie schnell Jowy in seinen gewohnten Militärton verfiel; es war ein kühler, befehlender Ton, für den er sich fast verabscheute. Er klang nicht nach sich selbst.
 

Ganz kurz herrschte absolute Stille, dann ließ der Soldat seinen Speer abrupt sinken und salutierte ruckartig mit einer Hand:
 

„Verzeiht mir, Oberleutnant!“ Jowy nickte langsam und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
 

„Ich hoffe, ihr gedenkt nicht, mich weiter hier draußen fest zu halten, Männer?“, versetzte er und hob eine Augenbraue. „Sonst könnt ihr Lord Luca erklären, wo sein Informant aus Toran abgeblieben ist!“ Die Blicke der beiden Wachmänner flackerten kurz zu Leon Silverberg hinüber, der unbeeindruckt neben Jowy stehen geblieben war. Dann machten die Soldaten eilig den Weg frei und verhaspelten sich in Entschuldigungen, während der Aristokrat mit schnellen Schritten an ihnen vorbeiging, Leon auf seinen Fersen.
 

„Ich frage mich, was passiert ist“, murmelte Jowy, der direkt auf den nordöstlichen Teil des Camps zuhielt, dorthin, wo sich die Zelte der 2. Kompanie befanden. Er musste sich bei Oberst Russell melden und hoffen, dass dieser noch kein Verfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt... aber andererseits wirkte die Highland-Armee gerade nicht so, als hätte sie Zeit für eine Anklage wegen Fahnenflucht. „Als ich gegangen bin, war hier noch alles ruhig...“
 

„Sie haben die Schlacht gegen die Rebellen verloren“, brummte Leon. „Dieser Solon Jhee muss sich gnadenlos verschätzt haben.“
 

„Das ist unmöglich“, widersprach Jowy. „Diese Rebellen können nicht mehr als 2000 Mann gehabt haben – allein Solon Jhees Kompanie kommt auf 7000, ganz zu schweigen von den Truppen aus South Window...“
 

„Wenn die Strategie stimmt, ist alles möglich, Junge“, schnaubte Silverberg, sagte jedoch nichts weiter zu diesem Thema.
 

Jowy bezweifelte das ganz entschieden. Er hatte keine Ahnung von Strategie, doch wie bitte sollte eine lediglich 2000 Mann starke Armee eine andere besiegen, die mehr als drei Mal so viele Soldaten hatte? Die Rebellen würden schlicht überrannt worden sein, ob sie sich nun irgendwo verschanzt hatten oder nicht.
 

Sie bogen gerade um eine Reihe Zelte, als ihnen plötzlich eine Soldatin entgegenlief, die ruckartig stehen blieb und salutierte, ehe sie rief:
 

„Oberleutnant Jowy! Wo im Namen aller Runen seid Ihr gewesen?!“
 

„Ich habe einen Auftrag für den Oberst erledigt“, log der Aristokrat ohne eine Miene zu verziehen. „Was ist hier überhaupt los, Lexa?“ Die junge Frau schüttelte ungläubig den Kopf.
 

„Ihr wisst es nicht?“
 

„Ich war die letzten zwei Wochen nicht da, Lexa, ich bin gerade erst zurückgekehrt!“ Lexa ballte beide Hände zu Fäusten und biss sich kurz auf die Lippe, ehe sie antwortete:
 

„Wir haben die Schlacht bei North Window verloren.“ Der Aristokrat starrte sie wortlos an, ehe er einen kurzen Seitenblick auf Leon warf, der jedoch nicht nennenswert auf diese Offenbarung reagierte.
 

Aber das war unmöglich. Leon Silverberg konnte unmöglich den Ausgang der Schlacht gekannt haben, wie hatte er...? Allmählich dämmerte Jowy, dass der Stratege noch sehr viel intelligenter war, als er eigentlich gedacht hatte.
 

Dieser Mann konnte wirklich diesen Krieg beenden.
 

„Aber... wie...?“
 

„Unsere Strategen haben nicht mit einberechnet, dass die Burg von North Window auf einer Halbinsel steht und gänzlich von Wasser umgeben ist, die Landzunge reicht weit in den Dunan-See hinein. Die Rebellen haben sich das zunutze gemacht und unsere Flanken umrundet, um uns von hinten zu attackieren...“
 

„Aber wir haben mehr als drei Mal so viele Männer wie sie!“, rief Jowy und warf verwirrt beide Arme in die Luft. „Wie konnten sie uns schlagen?“ Lexa schnaubte verächtlich und erklärte:
 

„Es scheint, als hätte sich ein Spion ins Lager eingeschlichen und unter den Streitkräften von South Window das Gerücht verbreitet, dass man sie würde hinrichten lassen, sobald das gesamte Fürstentum uns gehört! Sie haben sich mitten auf dem Schlachtfeld gegen uns gewandt, wir haben mehr als ein Drittel der Kompanie verloren.“ Jowy konnte nicht glauben, was er da hörte.
 

Was für einen Strategen hatten sich diese Rebellen besorgt? Wie hatte er gewusst, dass die Highlander den Dunan-See als Möglichkeit nicht mit eingeplant hatten? Es war naheliegend, in Highland gab es keine so großen Gewässer, aber dennoch...!
 

„Wo ist der Oberst?“, verlangte er zu wissen. „Ich muss sofort mit ihm sprechen, es ist dringend!“ Lexas Gesichtsausdruck verdüsterte sich zusehends und sie schüttelte betrübt den Kopf:
 

„Oberst Russell ist in der Schlacht gefallen. Seine Einheit befand sich genau zwischen den Männern aus South Window und Lord Jhees persönlichen Streitkräften, er hatte keine Chance.“
 

Jowys Welt brach mit einem Scheppern aus allen Fugen.
 

Der Oberst war tot.
 

Irgendetwas zwischen Wut und Trauer, ein bitteres Gefühl, das er nicht einordnen konnte, stieg in seinem Inneren auf und er ballte ohnmächtig die Fäuste.
 

Er hasste diesen Krieg. Er hasste Luca Blight dafür, dass der Krieg noch immer tobte, dafür, dass ein guter Mann hatte sterben müssen, dass er nicht da gewesen war, um es zu verhindern. Dass er nicht einmal vernünftig um den Toten trauern konnte, kein Grab besuchen, sich entschuldigen.
 

„Solon Jhee hat befohlen, das Lager so schnell wie möglich abzubrechen“, fuhr Lexa indes fort. „Wir verlassen das Fürstentum South Window auf schnellstem Wege, damit wir uns neu gruppieren und unseren nächsten Schlag vernünftig planen können. Nehmt Euch, was Ihr tragen könnt, Oberleutnant, und verschwindet von hier.“ Sie sah ihn durchdringend an. „Es gibt einen absoluten Rückzugsbefehl zurück nach Muse.“
 

„Lord Luca wird nicht glücklich sein“, bemerkte Jowy und bei diesen Worten erbleichte Lexa. Wahrscheinlich dachte sie daran, wie gut sie es hatte, dass ihr Rang nicht hoch genug war, um an Besprechungen mit dem Oberbefehlshaber teilzunehmen.
 

Ihm fiel plötzlich ein, dass sein eigener Rang das allerdings durchaus erlaubte – und dass er, als einer von Oberst Russells nächsten Untergebenen auf jeden Fall an der Besprechung in Muse teilzunehmen hatte. Dabei hatte er gehofft, dass er die blutrünstige Fratze des Kronprinzen für eine lange Zeit erst einmal nicht würde sehen müssen...
 

Er seufzte und ergriff dann Lexa am Oberarm, sah ihr nachdrücklich ins Gesicht und sagte:
 

„Bringt Euch auch in Sicherheit, Lexa – wir haben den Oberst verloren, ich will Euch nicht auch noch verlieren!“ Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich jedoch anders und nickte abrupt.
 

„Zu Befehl, Oberleutnant“, entgegnete sie, wandte sich dann ab und eilte wieder davon, um was auch immer zu tun.
 

Er konnte nur hoffen, dass er sie nicht gerade zum letzten Mal gesehen hatte.
 


 

Jowy konnte nicht sagen, wann er das letzte Mal ein so ausgiebiges Bad genommen hatte, dass seine Finger ganz verschrumpelt gewesen waren, nachdem er aus dem Badezuber gestiegen war. Doch das Gefühl der Entspannung, das sich für gewöhnlich nach einem langen Bad einstellte, ließ auf sich warten; stattdessen saß er, seit er sich wieder angezogen hatte, zusammengesunken auf dem Feldbett, das Gesicht in den Händen vergraben.
 

Sie waren mitten in der Nacht mit dem Rest der 2. Kompanie ins Hauptcamp der Highlander zurückgekehrt und der Aristokrat war einfach erschöpft ins Bett gefallen, nachdem er sich darum gekümmert hatte, dass Leon als angeblicher Informant aus Toran ein eigenes Zelt direkt neben seinem beziehen konnte. Er hatte Glück, dass seine Abzeichen genügt hatten, um seinen Willen zu bekommen – weder hatte er gestern noch sonderlich viel Energie zum Diskutieren gehabt noch die Lust, noch mehr zu lügen.
 

Er hatte die Nacht über nicht gut geschlafen, war geplagt worden von altbekannten Albträumen und den Einflüsterungen der Rune, derer er inzwischen so überdrüssig geworden war. Und dann war da noch die Tatsache, dass er nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken, was ihm bevorstand.
 

Und es machte ihm Angst, so viel Angst...
 

„Solltest du nicht bei dieser Besprechung sein?“ Jowy zuckte zusammen und sah auf. Im Zelteingang stand Leon Silverberg, der ihn mit hochgezogener Augenbraue betrachtete. Der Aristokrat seufzte und schüttelte den Kopf.
 

„Nein“, antwortete er und fuhr sich mit dem Handrücken müde über die Augen. „Es wurde um eine Stunde verschoben. Scheint, als hätte Lord Luca die Zeit vergessen, während er Solon Jhee foltert.“ Leons zweite Augenbraue wanderte in die Höhe.
 

„Er foltert seine eigenen Generäle?“
 

„Er nennt es Bestrafung“, erklärte Jowy leise, „dafür, dass Jhee es nicht geschafft hat, die Rebellen zu besiegen... Er hat zu oft an Viktor und den Söldnern versagt.“
 

Auf der Rückfahrt über den Dunan-See hatte er die geflüsterten Gespräche seiner Männer mit angehört, Erzählungen über die Schlacht, Gerüchte. Dass die Rebellen angeführt worden waren von den Söldnern, die im Dienste Muse gestanden hatten. Dass Viktor, der Bär, und Flik, der Blaue Blitz, höchstpersönlich in die Schlacht geritten waren, gefolgt von Männern, die zu viel zu verlieren hatten, um im Kampf Gnade zu zeigen. Dass ein junger Soldat, kaum dem Mutterschoß entwachsen, eine eigene Einheit direkt gegen Solon Jhee geführt hatte.
 

Und ein Name hatte unablässig die Runde gemacht, ein Name, den er nicht hören wollte, nicht in diesem Zusammenhang, nicht, wenn der Krieg tobte und er selbst hier war, bei den Highlandern.
 

Riou.
 

Sollten plötzlich all die Albträume, in denen sich Jowy seinem besten Freund gegenüber stehen sah, mit gezogenen Waffen, bereit zu töten, Wirklichkeit geworden sein? Würde es darauf hinauslaufen, was seine Träume ihm unablässig prophezeiten?
 

Er weigerte sich, das zu glauben. Weigerte sich zu glauben, dass der Riou, der die Rebellenarmee anführte, der Riou war, den er beinahe sein gesamtes Leben gekannt hatte. Es war unmöglich, durfte einfach nicht wahr sein.
 

„Und was wirst du jetzt tun?“ Leons Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart und der Aristokrat schüttelte hilflos den Kopf.
 

„Die Frage ist: Was kann ich tun?“, entgegnete er, während der Stratege sich leise ächzend auf einem der zwei Stühle niederließ, die dem Feldbett gegenüber standen. „Ich habe gesehen, wie Solon Jhee versagt hat – der ein viel besserer Soldat ist als ich, grausamer und kaltblütiger. Ich habe gesehen, wie Luca Blight links und rechts Männer abgeschlachtet hat, ohne sich darum zu kümmern, ob sie Freund oder Feind waren.“ Jowy warf dem alten Mann einen verzweifelten Blick zu. „Ich bin siebzehn Jahre alt und habe gesehen, wie erfahrene Soldaten in diesem Krieg gefallen sind, noch bevor sie ihr Schwert haben heben können. Was kann ich tun?“
 

Seine Stimme war mit jedem Wort schriller und drängender geworden, doch Leon betrachtete ihn völlig gelassen einen Augenblick lang und sagte dann:
 

„Lass dich nicht durch deine Angst blenden, Junge. Wenn du ein Ziel hast, dann verfolge es gefälligst auch. Du bist kein Idiot, meine Anwesenheit hier beweist das. Also denk gefälligst nach und hör auf, Panik zu schieben!“
 

Völlig baff blinzelte Jowy seinen Strategen an; eine solche Rede hatte er nicht erwartet. Dennoch atmete er tief durch und vertrieb die Panik in den hintersten Winkel seines Bewusstseins, ehe er fragte:
 

„... Habt Ihr einen Plan?“ Leon schnaubte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Flordelis
2011-10-12T11:32:22+00:00 12.10.2011 13:32
> Es war zu hell, um ein Licht anzuzünden, immerhin war noch heller Tag.
War die Verwendung von zweimal "hell" Absicht? :3
Ich frag in letzter Zeit lieber, seit SnS denke ich bei vielen Wiederholungen oft, dass sie ein reines Stilmittel sind und will das dem Autor nicht verderben. :,D

Jetzt musste ich mich erstmal wieder daran zurückerinnern, dass er sich ja in Kalekka befindet, das hatte ich schon fast vergessen und dachte, er wäre in Toto. *unschuldig pfeif*
Ich werde alt...

> Aber wahrscheinlich regnete es hier ohnehin nicht so oft…
Und selbst wenn, war es für Leon nur eine willkommene Dusche.
... Äh, ich meine... *weiterles*

> Bonbon-Frischling
*quietscht leise, als sie sich Bonbon-Frischlinge vorstellt*

> Ich bin zu alt für Nachtwanderungen.
Aber die sind lustig! Und ihr könntet euch Gruselgeschichten erzählen und-
*wird am Kopf getroffen und schweigt wieder*

Armer Russell. Q_Q

Wieder einmal ein sehr gutes Kapitel, sehr angenehm, mal wieder etwas von dir zu lesen, muss ich schon sagen.
Tja, meine Meinung zu deinem Stil kennst du ja bereits zur Genüge, deswegen sage ich einfach mal, dass mir deine Darstellung von Leon sehr gut gefällt.
Und dass ich traurig bin, dass Russell tot ist... ich mochte ihn. D:
Aber nun gut, so läuft das im Krieg...
Ich bin jedenfalls mal auf mehr gespannt.


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