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Der Zweifel stirbt zuletzt...

von

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Einsame Seelen

„Danke, dass du mich neulich nach Hause gebracht hast.“

„Keine Ursache.“, erwiderte ich knapp.

„Nein, wirklich, ich weiß nicht, was mit mir los war.“ Sie schluckte, als wüsste sie es ganz genau – was vermutlich der Wahrheit entsprach – und brächte es nicht über sich, es in Worte zu fassen.

„Schon gut.“ Ich ärgerte mich selbst über meine schroffe Art, die mir so gar nicht entsprach, aber ich konnte auch nicht einfach zu Normalzustand zurückkehren. So lächerlich es auch war, aus irgendeinem Grund fühlte ich mich durch das Verhalten meiner Schwester verletzt, so als hätte sie mich einfach ausgetauscht, ersetzt durch die Organisation und zurückgelassen wie einen Kadaver, den ein Vampir bis auf den letzten Tropfen Blut leergesaugt hatte.

„Akemi…?“

„Ja?“

„Können wir uns nachher im Chez Louis treffen? Ich würde gerne mal wieder mit dir Plaudern, irgendwas Normales machen.“ Sie zögerte kurz. „Fernab von alledem.“

Ich nickte automatisch, obwohl sie das natürlich nicht sehen konnte. „Klar. Um fünf bin ich fertig mit der Arbeit, denke ich.“

„Bis dann.“ Ihre Stimme, die das ganze Gespräch über leise und zittrig gewesen war, klarte ein wenig auf. Beinahe glaubte ich, wieder die alte Shiho zu hören und nicht dieses düstere, verstörende Ding, das die Organisation aus ihr gemacht hatte.

Nicht das Ding mit den Glasmurmel-Augen, den furchtbar toten, leeren Augen…
 

Da Keiko mich schon um halb fünf mit der Begründung, ich würde mich noch überarbeiten, gehen ließ, beschloss ich, Shiho abzuholen. Vielleicht würde das ja schon gleich zu Anfang eine versöhnliche Stimmung schaffen und uns unsere Differenzen vergessen lassen. Immerhin hatte ich mich noch nie mit Shiho konkret über das Thema unterhalten, da ich mir immer Sorgen gemacht hatte, sie irgendwie zu ängstigen oder zu verletzen, wo ihr Leben doch so eng mit der Organisation verknüpft war.

Untrennbar?

Womöglich wurde sie dazu gezwungen, so hart zu arbeiten und Vermouth hatte gelogen. Wirklich erfüllt hatte sie schließlich nicht ausgesehen, eher verängstigt. Je mehr ich darüber nachdachte, desto heftigere Gewissensbisse bekam ich. Auf einmal erschien alles, was ich mir zusammengereimt hatte, lächerlich absurd, abstoßend und kindisch. Es waren die Gedanken eines dummen, eifersüchtigen Kindes, das nicht mehr die volle Aufmerksamkeit bekam und nicht die einer großen Schwester, die sich um ihr einzig gebliebenes Familienmitglied sorgte. Shiho hatte vermutlich Probleme, war verzweifelt, nervlich am Ende – und ich, die ich sie hatte retten wollen? Ich hatte mich wunderbar in meinem Job eingefunden, in meinem neuen Leben und war bereit gewesen, sie im Stich zu lassen, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein.

Ist es das, was sie mit den Menschen machen? Verhexen sie sie so?

Ich glaube, erst von diesem Augenblick an begann ich, ihre wahre Natur vollkommen zu erfassen. Erst jetzt wurde mir klar, wie finster und schrecklich, wie skrupellos sie wirklich waren. Schwarze Todesgötter, die vor nichts und niemandem zurückschreckten.

Pass auf die Krähen auf, wenn sie hungrig sind, dann stürzen sie sich in Scharen auf dich und zerhacken dein Gesicht, bis dir die Augäpfel wie Tränen über die Wangen laufen. Pass auf…

Viel zu scharf bog ich in die Straße ein, in der Shiho wohnte und erntete ein entrüstetes Hupen des Fahrers hinter mir. Entschuldigend hob ich die Hand. Ich war so sehr in meinem grausigen Gedankenspiel versunken gewesen, dass ich kaum auf den Verkehr geachtet hatte und konnte von Glück sagen, dass nichts Schlimmeres passiert war. Um mich zu beruhigen, atmete ich ein paar Mal tief durch.

Trottel, wenn du tot bist, hilfst du deiner Schwester am wenigsten.

Wesentlich besser gelaunt, als noch zu Beginn des Tages, parkte ich auf der gegenüberliegenden Seite des Wohnkomplexes und wollte gerade aussteigen, als ich einen europäischen Wagen mit schwarzer Lackierung davor anhalten saß. Reflexartig duckte ich mich.

Wo habe ich diesen Wagen schon einmal gesehen?

Die Antwort sollte ich wenige Sekunden später erhalten. Fassungslos starrte ich auf die hochgewachsene Person, die überraschend elegant aus dem kleinen Auto stieg und zielstrebig auf die Haustür zuging.

Soll ich dir noch was über Krähen sagen?

Nein, dachte ich, hör auf. Ich kann das alles nicht ertragen.

Wenn sie einmal eine Beute gefunden haben, dann warten sie geduldig…

Was ist denn nun die Wahrheit?

…und schlagen schließlich zu, wenn wir es am wenigsten erwarten.
 

Mit freudiger Überraschung lief Shiho zur Tür, als es läutete. Dass Akemi sie abholen kam, war ein gutes Zeichen, bestimmt war wieder alles in Ordnung zwischen ihnen – oder es würde es bald sein. Sie hatte keine Ahnung, was mit Akemi los gewesen war, vielleicht war sie überarbeitet gewesen. Oder widmete sie ihr nicht genug Aufmerksamkeit? Eigentlich hatte es immer ein stummes Verständnis zwischen ihnen gegeben, innere Absprachen, ein tiefes Vertrauen, wie es nur Geschwister kannten. Ihr die Schuld für etwas zu geben, passte eigentlich gar nicht zu Akemi, aber…

…Menschen ändern sich.

Bestimmt macht sie einfach nur eine schwere Zeit durch, verscheuchte sie den Gedanken ärgerlich. Ich bin egoistisch, wenn ich glaube, nur weil sie nicht so tief in der Organisation drinsteckt, wie ich, hat sie keine eigenen Probleme. Vielleicht zeige ich ja zu wenig Wertschätzung für ihre Opfer?

Als sie die Tür öffnete, fühlte sie sich etwas zerknirscht, sie beschloss, sich sofort zu entschuldigen und Akemi zu zeigen, dass sie sie für ihren Mut und ihre Aufopferung bewunderte, dass sie…

Sie erstarrte.

„Hallo, meine Schöne.“

Ihre versteinerten Augen, deren Pupillen winzig geworden waren, starrten in ein Meer aus blutroten Blüten, die aussahen, wie der tödliche Kranz, der sich um eine Schusswunde bildete. Darüber wuchs ein ihr wohlbekanntes Gesicht, aus dem sie grüne, funkelnde Habichtaugen fixierten. Sie wollte die Tür wieder zuschlagen, doch er hielt ihren Arm fest und schubste sie zurück in die Wohnung. Unsanft knallte sie auf den Dielenboden und erhob sich nur langsam wieder, die Glieder gelähmt von der bis eben vom Schock verdrängten Panik.

„Dabei wollte ich dir doch nur ein paar Blumen vorbeibringen. Rote Rosen sind doch deine Lieblingsblumen, oder?“ Er setzte ein gespielt trauriges Gesicht auf und kam noch einen Schritt auf sie zu.

„Bitte, verschwinde!“ Sie tastete nach dem Schuhlöffel, der gleich neben der Kommode stand, an die sie sich nun kraftlos lehnte. Vielleicht konnte sie ihn ja irgendwie außer Gefecht setzen und flüchten. Vielleicht wartete Akemi unten auf sie mit einem Wagen, vielleicht konnten sie gemeinsam fliehen.

„Aber, aber, wer wird denn gleich so wütend werden?“ Er blies einen Schwall Rauch in den Flur. „Das ist aber nicht die feine englische Art.“

Sie zog ihre Waffe mit einem Ruck hervor und donnerte sie Gin mit aller Kraft auf den Brustkorb. Dieser wich überrascht zurück und spuckte seine Zigarette aus. Die Hoffnung, er würde in die Knie gehen und sie könnte an ihm vorbeischlüpfen, solange er durch den Schmerz abgelenkt war, erwies sich leider als trügerisch. Gin dachte gar nicht daran, sich groß von ihrer Aktion beeindrucken zu lassen, lachend nahm er ihr den von der Wucht des Schlages gebrochenen Schuhlöffel aus der Hand und warf ihn in die Ecke.

„Du bist wirklich herzallerliebst, kleine Sherry.“

„Bestie.“, fauchte sie, während sie weiter zurückwich. Eine Waffe, dachte sie dabei, überraschend klar und sachlich. Ich brauche etwas, womit ich ihn vertreiben kann.

Ihr Blick fiel auf den Feuermelder, der kurz unterhalb der recht niedrigen Decke hing und unschuldig auf sie herabblinkte.

„Jetzt wirst du aber wirklich unhöflich. Ich habe dir doch gar nichts getan.“ Er grinste diabolisch. „Nichts, was du nicht auch wolltest, nicht wahr, Sherrylein?“

„Fahr zur Hölle.“ Wie durch ein Wunder gelang es ihr, sich von ihrer Lähmung zu befreien, vielleicht waren es die schmerzhaften Erinnerungen oder es war einfach die kalte Angst davor, alles noch einmal durchleben zu müssen, die ihr diese Kraft gab. Sie griff nach dem immer noch glühenden Zigarettenstummel und warf ihn so gut sie konnte nach oben, direkt unter den Rauchmelder. Zunächst befürchtete sie, der Rauch würde nicht ausreichen, um das Gerät zu aktivieren, doch anscheinend war es so fein gepolt, dass es schon bei kleinsten Irritationen ausschlug. Ein heulender Alarm ging los, so laut, dass die Türen der Nachbarwohnungen aufgingen und neugierige Bewohner zu ihnen hinüberblickten.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ein älterer Herr besorgt. „Wenn es nicht wirklich brennt, müssen Sie schnell bei der Feuerwehr anrufen, sonst fahren die hier in ein paar Minuten vor!“

Sie nickte ihm zu, erleichtert, dass Gin keine Anstalten machte, jemanden anzugreifen. Das war der einzige Haken an ihrem Plan gewesen, die Furcht davor, er würde ausrasten und alle töten, doch am Ende hatten ihre Panik und vielleicht auch ihr Egoismus gesiegt, auch wenn sie sich einredete, sie hatte von Anfang an gewusst, dass Gin nicht riskieren durfte, aufzufallen und vor Anokata in Erklärungsnot zu geraten.

Er stand zunächst einfach nur da und starrte sie mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut an, dann lächelte er plötzlich. „Du bist wirklich clever.“

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging, doch der Schatten seines grimassenhaften Grinsens blieb zurück wie das nebulöse Abbild einer Lichtquelle, in die man zulange geschaut hatte ohne zu blinzeln.

Aber das wird dir nichts nützen, glaubte sie, wie eine Drohung aus seinen letzten Worten herausgehört zu haben.

Ich kriege dich trotzdem.
 

„So ist das also.“, murmelte ich immer noch fassungslos und startete den Motor. Wenn Shiho sich in der Organisation unwohl fühlte, warum kam dann ein hochrangiges Mitglied zu ihr? Mit einem Strauß Rosen in der Hand? Ein geschäftliches Treffen, zu dem sie gezwungen wurde, durfte es wohl kaum gewesen sein. Der Gedanke daran, dass Shiho scheinbar eine Beziehung mit einem dieser Monster eingegangen war, machte mich gleichsam wütend und traurig.

Bist du wirklich so blind? Siehst du nicht, was sie machen?

Ich hatte sie immer als Opfer gesehen, als jemanden, der keine andere Wahl hatte, doch langsam fragte ich mich wirklich, ob sie ihr Schicksal vielleicht längst akzeptiert hatte, ja sogar Gefallen daran fand. War ich die Einzige, die sich daran störte? Hatte ich vielleicht die ganze Zeit Recht gehabt? Hatte Vermouth gewusst, was zwischen Shiho und diesem Kerl lief?

Ganz entgegen meiner sonst sehr vorsichtigen Natur, gab ich mehr Gas, als nötig gewesen wäre, als ich an der Ampel anfuhr. Ich wollte einfach nur weg, weg von dieser kranken, verlogenen Welt. Weg von einem Ort, der aus Tauben Krähen machen konnte und weg von den Menschen, die perverse Spiele mit den Leben anderer Leute spielten.

Das ist also die Wahrheit. Hast du es nicht immer geahnt?

Vermutlich hätte man mir im Nachhinein vorwerfen können, ich hätte nicht aus meinen Fehlern gelernt, oder aber, hätte in den Folgen meines leichtsinnigen Verhaltens vor der Ankunft bei Shiho ein Omen oder eine Warnung sehen müssen. Aber natürlich glaubt man nicht daran, dass einem so etwas auch öfter an einem Tag passieren kann und die Wachsamkeit, die man sich fest vornimmt, lässt schnell wieder nach. So war es nicht verwunderlich, dass ich den Mann, der gerade die Straße überqueren wollte, vollkommen übersah und das Tempo nicht drosselte. Als ich ihn dann entdeckte, war es schon zu spät. Der Blick seiner verdutzten grünen Augen traf den erschrockenen meiner blauen und wenige Augenblicke später fand er sich auf meiner Windschutzscheibe wieder, den Kopf blutig und die Glieder seltsam verdreht, wie bei einer grotesken Puppe. Als mein Wagen schließlich mit einem Ruck zum Stehen kam, rutschte er hinunter und blieb regungslos auf dem Asphalt liegen.

„Oh mein Gott!“

Hastig schnallte ich mich ab und stolperte aus dem Wagen.

Das darf nicht wahr sein, oh bitte, bitte, lass ihn noch atmen. Lass ihn noch am Leben sein.

Zumindest diesen Gefallen tat mir der Mann, der dort vor mir lag, als ich seinen Puls fühlte. Gerade, als ich erleichtert die Hand von seinem Hals nahm, hörte ich ein Krächzen. Mein nach oben wandernder Blick sah eine schwarzgefiederte Krähe, die sich vom Dach eines Gebäudes erhob und unter lauten Schreien, deren Echo noch lange danach nicht vergehen zu wollen schien, davonflog. Ich erschauderte unwillkürlich und wählte die Nummer des Notrufs. Bis er eintraf, verbrachte ich eine Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien mit dem bewusstlosen Mann. Unermüdlich streichelte ich ihm über das blutverklebte schwarze Haar, redete ihm gut zu, flüsterte, lachte und weinte. Ich erzählte ihm von meiner Schwester, von meiner Enttäuschung, von meinem Schmerz. Gefühlte hundert Mal sagte ich ihm, dass es mir so leidtäte und dass er Leben würde – dass alles wieder gut werden würde. Als der Krankenwagen schließlich unter Blaulicht und mit jaulender Sirene vorfuhr, hatte ich die Krähe und ihre unheilvollen Schreie längst vergessen.



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