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Countless

... wounds
von

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Larva

 

Soubi hatte den Kopf so weit zur Tischplatte hinabgebeugt, dass sich die langen Strähnen seiner Haare wie ein Vorhang um den Zettel schlossen, der vor ihm lag. Der Stift zwischen seinen Fingern glitt in Zeitlupe über das brüchige Papier und schrieb mühsam Buchstabe um Buchstabe auf. In seiner schönsten Schrift, genau so, wie man es ihm aufgetragen hatte.

Diese ganzen Worte und Zahlen ergaben keinen Sinn. Nicht für ihn. Längengrade, Breitengrade, Namen auf Latein, die er nicht verstand. Was wollte Ritsu damit? Warum war er es, der das alles auf diese kleine Etiketten schreiben musste? Und weshalb waren diese Etiketten überhaupt so klein?

Soubis Kopf neigte sich noch ein Stück weiter in Richtung Tischplatte. Seine Katzenohren sanken ermattet mit. Ihm war langweilig und seine Hand schmerzte vom konzentrierten Schreiben der winzigen Buchstaben auf nicht weniger winzige Zettel. Draußen schien die Sonne und er saß hier in seinem Zimmer und schrieb sich die Finger wund. Seit zwei Tagen war Soubi schon dabei, die Zettel in Ritsus Auftrag zu beschriften, und die Liste mit den Namen und Angaben, die ihm Ritsu gegeben hatte, wurde einfach nicht kürzer. Im Gegenteil. Sie schien magisch immer wieder länger zu werden, sobald er sicher war, eine ganze Menge davon geschafft zu haben.

Seufzend stieß Soubi die Luft aus und teilte damit die Haare vor seinem Gesicht, so dass sich für einen Sekundenbruchteil ein magerer Sonnenstrahl auf die bleichen Wangen des Jungen stehlen konnte. Wenn er nicht bald etwas anderes zu tun bekam, schlief er hier am Tisch ein. Schon wieder.

"Eury-" Ein flinker Blick zur Liste. "Eurytides Protasileus-"

"Protesilaus!"

Soubi fuhr erschrocken auf. Die Spitze des Stiftes kratzte über das Papier und hinterließ einen schwarzen Strich durch das bereits Geschriebene hindurch. Zweihundert Jahre. In zweihundert Jahren ungefähr war er hier fertig.

Ritsu hatte unbemerkt sein Zimmer betreten und stand nun vor Soubis Tisch; den strengen Blick auf Soubi geheftet, der unter der Schwere dieses Moments ein wenig auf seinem Stuhl zusammensank.

"Die hier sind auch alle fehlerhaft." Ritsu schob einen kleinen Stapel bereits beschrifteter Etiketten über den Tisch zu Soubi hin, dessen resignierter Gesichtsausdruck sich der Erkenntnis, auch in zweihundert Jahren nicht mit seiner Arbeit voran gekommen zu sein, anpasste.

"Schreib sie neu." Ungeachtet der düster zusammengezogenen Augenbrauen seines Schülers, wandte sich Ritsu von Soubi ab, der die kleinen Zettel vor sich mit Abscheu ansah.

Das verhaltene Wofür, das ihm durch das ansonsten stille Zimmer folgte, ließ Ritsu mitten im Weggehen anhalten. Es war nicht der Widerspruch, der ihn wie angewurzelt stehen bleiben ließ; die Verweigerung. Es war der resignierte Tonfall, der Ritsu innehalten und sich wieder umdrehen ließ. Der Zweifel darin, dass man etwas Unsinniges verlangt hatte. Dass das, was Ritsu in Auftrag gegeben hatte, ohne Substanz war. Wertlos.

Soubi verfluchte die Sekunde, in der sich sein Hirn von seinem Verstand verabschiedet und die Frage nach dem Wofür aus ihm herausgesprudelt war. Ritsus verkniffene Mundwinkel entspannten sich einen Moment.

"Steh auf und komm mit", zischte Ritsu ohne weitere Erklärung und Soubi erhob sich bereits von seinem Platz, kaum dass sein Lehrer die beiden Worte ausgesprochen hatte.

 

 

Ritsus Schweigen, während sie dem sorgfältig geharkten Weg durch den Garten folgten, der weitläufig das Schulgebäude einschloss, nagte mit jedem Schritt an Soubi. Links und rechts von ihnen säumten knorrige Bäume den Weg. Einige standen in voller Blüte und verströmten dabei einen betörend süßen Duft, dem aber weder Ritsu noch Soubi Beachtung schenkten.

Soubi hatte seine Hände fest zu Fäusten geballt, damit sie nicht mehr so zitterten. Vielleicht hätte er sich das Wofür verkneifen sollen. Nein, nicht vielleicht – Soubi biss sich auf die Unterlippe. Ganz bestimmt hätte er sich das Wofür verkneifen sollen. Die Bestätigung lief vor ihm durch den Garten der Schule und dachte nicht im Geringsten daran, dem armen Tropf hinter sich endlich zu sagen, zu welchem Zweck sie hier waren. Und die Tatsache, dass Ritsu seine forsche Gangart verlangsamte, sobald er bemerkte, dass sein Schüler immer weiter hinter ihm zurückblieb, ließ alle Hoffnung schwinden, einfach nur den passenden Augenblick erwischen zu können, um sich bei Ritsu zu entschuldigen und damit alles wieder in Ordnung zu bringen.

Im weitesten vom Schulgebäude entfernten Teil des Gartens blieb Ritsu schließlich stehen.

Soubi ließ seine Blicke zögerlich über seine Umgebung schweifen. Die Bäume und Sträucher hier wuchsen so dicht, dass man kaum erkennen konnte, was dahinter lag. Grüne Wände schlossen sie ein, kaum dass sie ein paar Schritte abseits des Weges standen. Die Äste der Sträucher um sie herum waren mit üppigen Blüten gesäumt, so dass sie sich unter deren unglaublichen Anzahl weit zu Boden neigten. Der schwere Duft, der Soubi von allen Seiten einschloss, erzeugte schon nach kurzer Zeit ein schwindeliges Gefühl hinter seiner Stirn. Er wusste nicht, ob er weiter hier stehenbleiben wollte, um die ätherische Atmosphäre auf sich einströmen zu lassen, oder ob er sich umdrehen und ungeachtet was Ritsu sagen oder tun würde, wieder zurück in den übersichtlicheren Teil des Gartens gehen sollte.

"Wir sind gleich da", unterbrach Ritsus Stimme Soubis hin und hergerissene Gedanken. Er hob einen Ast mit dicken lilafarbenen Blütenwolken an und bedeutete Soubi, darunter hindurch zu gehen.

Mit leisem Rascheln sank der Ast hinter Ritsu zurück in seine ursprüngliche Position. Winzige lila Blütenblätter taumelten wie Schneeflocken zu Boden.

 

Soubi stand wie angewurzelt in dem neuen Areal des Gartens, das sich jetzt vor ihm erstreckte.

Die Pflanzen wuchsen nicht mehr so dicht beieinander, wie in dem Teil davor. Hier und da standen sie in kleinen Gruppen, aber insgesamt waren sie besser verteilt und bildeten kein grünes Dach. Er konnte sogar den Himmel wieder sehen und auch der Duft der blühenden Bäume verflüchtigte sich besser, so dass der Schwindel nach einigem Durchatmen langsam wieder nachließ.

"Dafür." Ritsu stand still neben Soubi. "Dafür solltest du die Zettel beschriften", fügte er auf die ausbleibende Reaktion seines Schülers hinzu.

Soubis Blicke folgten Ritsus ausgestreckter Hand, die auf die Sträucher im Zentrum wies. Neugierig setzte er sich in Bewegung, bis er dicht vor den Sträuchern stand. Sie wirkten so normal, wie alle anderen Sträucher, die Soubi bisher gesehen hatte. Sie waren grün. Nichts besonderes. Bis auf- Soubi blinzelte irritiert und machte einen kleinen Schritt weiter hin zu dem Strauch, vor dem er stand. Bis auf die seltsamen Blütenknospen, die manche Äste zierten, führte Soubi seinen begonnenen Gedanken fort. Schillernd grüne, etwa Daumenlange Knospen hingen da wie Perlen aufgeschnürt an einer Kette. Solche Knospen hatte Soubi noch nie gesehen.

"Das sind Puppen", beantwortete Ritsu Soubis Frage, noch ehe der sie hatte stellen können.

"Puppen", wiederholte Soubi mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ratlosigkeit.

"Schmetterlingspuppen, um genau zu sein." Ritsu stand nun dicht neben Soubi, der in die Hocke gegangen war, um die schimmernden Hüllen besser sehen zu können. Es waren verschiedene Puppen, das sah selbst Soubi. Einige waren rundlich glatt geformt, während andere abgeflachte Seiten hatten. Die Puppen mit den flachen Außenseiten hatten winzige Spitzen, die wie Hörner wirkten.

Soubi konnte es sich nicht verkneifen und tippte mit der Fingerspitze vorsichtig eine Puppe an. Das scheinbar starre Gebilde begann sich augenblicklich zu schütteln. Soubi schrak zurück und stieß dabei gegen Ritsu. Erschrocken sah er zu seinem Lehrer hinauf, dessen sonst so beherrschte Mundwinkel nun ein leichtes Lächeln zierten.

"Dachtest du, die seien leer?" Ritsu wandte sich von dem Strauch ab und schlenderte zu einem anderen hin.

Die Puppe zitterte noch immer leicht. An der einen Spitze war sie mit einem seidig dünnen Faden am Ast befestigt, wie Soubi nun sehen konnte. Doch so dünn der Faden auch war, der die Puppe hielt, er riss nicht unter der Erschütterung.

"Ich dachte, sie schlafen."

"Tun sie auch, aber trotzdem passen sie auf, was um sie herum geschieht." Ritsu wartete, bis Soubi bei ihm stand und nickte dann zu dem Strauch vor sich hin.

 

 

Die Blätter des Strauchs waren voller kleiner grün-schwarzer Raupen. Die meisten davon fraßen sich durch die sattgrünen Blätter, während andere geschäftig die Äste auf und ab krochen. Ein paar besonders große und fette Exemplare lagen träge auf den längsten Blättern.

"In ein paar Tagen sehen sie so aus." Ritsu hob ein Blatt an. Zwischen Stielansatz und Ast hing eine bräunliche Puppe. "Weißt du, was im Inneren der Puppe passiert, wenn sie ruhen?"

Soubi schüttelte langsam den Kopf. "Ihnen wachsen Flügel?"

"Nicht nur." Ritsu ließ das Blatt sinken. Er sah Soubi nachdenklich an. Soubis Katzenohren waren aufmerksam zu Ritsu gedreht. "Fast alles, was einmal die Larve ausgemacht hat, verändert sich. Sie löst sich auf, ordnet sich neu an, bis irgendwann dann ein völlig anderes Wesen aus der Hülle schlüpft. Die Puppe häutet sich – sie wird erwachsen."

Soubi konnte sich kaum vorstellen, was in der kleinen Hülle vor sich gehen sollte. Ein völlig anderes Wesen? Nur weil es erwachsen wurde?

"Zweimal geboren werden, zwei neue Anfänge. Kein schlimmer Gedanke, oder, Soubi?"

So weit er wusste, taten Geburten meistens weh.

"Wer sagt, dass es dem Tierchen Schmerzen bereitet?" Ritsu musste an Soubis bestürztem Gesichtsausdruck seine Gedanken abgelesen haben. "Es bekommt eine neue Chance, ein Leben als anderes Ich zu leben. Vielleicht freut es sich ja darauf und vergisst den Schmerz darüber – wenn es überhaupt welchen fühlen kann. Findest du das so furchtbar?"

Soubi sah zu den Raupen hin, die vermutlich noch keine Ahnung von ihrem baldigen Schicksal hatten.

"Könntest du mir einen Gefallen tun?"

Soubi hob den Kopf. Ritsu rückte seine Brille etwas gerade, doch seine Blicke gingen an dem aufmerksam lauschenden Jungen vorbei hinauf zum Himmel.

"Ich habe im Moment nicht viel Zeit. Wenn du möchtest, könntest du ein bisschen auf die Raupen und Puppen acht geben." Ritsus umherschweifende Blicke blieben schließlich an Soubi hängen. "Nur etwas aufpassen, dass die Vögel hier nicht zu frech werden und die ganzen Tierchen fressen. Würdest du das tun?"

"Ja, sehr gerne", stieß Soubi fast atemlos hervor. Ritsu bat ihn um etwas, was mit Sicherheit interessanter und lehrreicher war, als das, was hier meistens von ihm verlangt worden war. Da musste er nicht lange überlegen.

"Danke, Soubi." Ritsu lächelte amüsiert über die schnelle Einwilligung. "Es wäre ja schade um die ganzen Etiketten, die du schon beschriftet hast", waren die letzten Worte, die er an Soubi richtete, ehe er sich zum Gehen umwandte.



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