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Countless

... wounds
von

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Chrysalis

Die Vögel wurden nach einer Weile tatsächlich weniger frech, sobald sie Soubi im Garten erspähten. Selbst wenn sie ihn nur schon von Weitem sahen, wie er den Weg entlang ging, machten sie bereits einen großen Bogen um den Teil des Gartens, in dem die Raupen lebten. So viele von den Tierchen hatten sich mittlerweile ungestört verpuppt, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis diejenigen endlich schlüpften, die Soubi bei seinem ersten Besuch hier schon als Puppen gesehen hatte.

Ritsu hatte ihm nicht verraten wollen, welche Schmetterlingsarten er besaß. Soubi solle sich überraschen lassen, hatte er knapp geantwortet.

Seitdem besuchte Soubi die Puppen fast täglich. Er konnte mittlerweile die unterschiedlichen Stadien der Metamorphose unterscheiden, welche die Raupen durchmachten. Je weiter die Verpuppung vorangeschritten war, umso mehr glich das grünschillernde Gebilde einem trockenen verwelkten Blatt. Bei manchen ließ sich sogar schon etwas Farbe unter der papierdünnen Oberfläche der Puppe erahnen.

Ein paar Mal noch hatte Soubi die Puppen aus Neugierde angestoßen, um zu sehen, wie sie sich zitternd gegen den vermeintlichen Feind wehren wollten, aber damit hatte er aufgehört, als ihm bewusst wurde, wie weich die Chrysalis tatsächlich war, die das schlummernde Tier umschloss, und dass ihn Ritsu dafür verantwortlich machen würde, wenn etwas während der Entwicklung der Schmetterlinge schief gehen sollte. Es reichte auch, wenn man sie anpustete. Das ließ die kleinen Kerlchen genauso wütend wackeln.

Soubi lachte leise vor sich hin.

Er saß im Schneidersitz unter dem grünen Dach des in voller Blüte stehenden Geißblatts, das sich um die verwitterte Statue eines trauernden Engels rankte, der sein Gesicht mit seinen Händen bedeckte. Das hieß, er hätte sein Gesicht mit den Händen bedeckt, wenn er noch ein Gesicht – oder auch nur einen Kopf – besessen hätte.

Noch einmal pustete Soubi die Puppe an, die nur wenige Zentimeter vor seiner Nase an einem Ast hing, und sich auch gleich wie wild zu schütteln begann.

Nach einigen Sekunden hielt sie normalerweise wieder still, was diese hier nicht tat. Die Puppe zuckte weiter, obwohl Soubi jetzt sogar die Luft anhielt, um sie auch ja nicht mehr zu reizen. Doch sie wollte nicht aufhören. Die Puppe plusterte sich rhythmisch auf und fiel wieder zusammen. Immer und immer wieder. Eine ganze Weile ging das so und Soubi bekam es langsam mit der Angst zu tun. Hoffentlich hatte er das Tier nicht zu sehr gereizt. Ritsu würde ihm den Kopf abreißen und ihn neben den Engel in den Garten verbannen. Mindestens.

Und dann geschah das, worauf Soubi seit Tagen gewartet hatte und was ihn nun doch völlig überrumpelte. Die Puppe brach auf. Zuerst war es nur ein kleiner Riss an einer der Seiten. Doch je mehr Bewegung im Inneren stattfand, umso länger und breiter wurde der Riss, der sich bald schon von einem Ende der Hülle zum anderen zog. Mit scheinbar letzter Kraft bäumte sich die Puppe auf und brach völlig auseinander.
 

Aus der Puppenhülle kam etwas zum Vorschein, das kaum Ähnlichkeit mit einem Schmetterling hatte – eher noch mit einer Motte. Zuerst sah man zwei lange Antennen, die suchend umher tasteten. Auf sie folgte ein Paar dünner Beine, das erst nach Halt suchte, bevor die restlichen mit vorsichtigen Schritten nachkamen. Das war ein Schmetterling?! Ein verklebtes, haariges Tierchen, das zitternd auf staksigen Beinchen stand. Die angeblich so prachtvollen Flügel lagen wie ein zerknitterter Mantel um seinen Oberkörper.

Soubi stieß erleichtert die Luft aus und vergaß, dass sein Atem die Wirkung eines Orkans auf das filigrane Tier hatte, dessen Flügel noch nicht entfaltet waren und das nun ein paar Zentimeter empor gewirbelt wurde, ehe es Richtung Boden fiel.

Beinahe hätte Soubi das hilflos zur Erde taumelnde Tier mit seinen Händen aufgefangen, doch im letzten Moment erinnerte er sich daran, dass Ritsu ihn davor gewarnt hatte, die Schmetterlinge anzufassen. Die Flügel waren so empfindlich, dass eine unvorsichtige Berührung den Schmetterling flugunfähig machen konnte. Mit bis zum Hals schlagendem Herzen sah Soubi dem Schmetterling nach.

Auf dem Bein des Jungen kam das herabfallende Tier schließlich zum Liegen. Etwas betäubt lag der Schmetterling mit angezogenen Beinchen da und zeigte keine Regung. Kurz bevor Soubi dachte, dass er den Sturz doch nicht überlebt hatte, fing er endlich an, sich aufzurichten. Die winzigen Füße suchten wieder nach Halt und gleich nachdem sie ihn gefunden hatten, schien der Schmetterling durchzuatmen. So sah es aus. Doch dann sah Soubi, was er tatsächlich tat. Er entfaltete die Flügel. Mit jedem Ein- und Ausatmen streckte er sich und spreizte die Flügel, bis sie endlich vollkommen geöffnet waren. Das vordere Flügelpaar schimmerte Grün und das hintere in einem strahlenden Sonnengelb. Und fliegen konnte er auch.

Soubis Hals wurde eng. Er konnte kaum atmen.

Er war tatsächlich dabei gewesen, als ein Schmetterling geboren wurde.

Soubi sprang auf und rannte zurück zur Schule.
 


 

"Ja?" Ritsu hatte das Klopfen an seiner Tür eigentlich überhören wollen, doch seine reflexartige Antwort darauf, hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.

So leise wie das Klopfen gewesen war, so langsam ging nun die Tür auf.

"Was ist denn, Soubi?", bellte Ritsu den Jungen ungeduldig an, der in der offenen Tür stand und nicht wusste, ob er das Büro seines Lehrer betreten sollte, oder nicht. Nervös zupfte er am Saum seines Hemdes.

"Die Schmetterlinge", ertönte es leise und zögerlich von der Tür her. Er hatte sich dazu entschlossen, das Büro nicht zu betreten. Ritsus düstere Blicke, die er ihm zuwarf, hatten ihm die Entscheidung abgenommen.

Soubi räusperte sich und versuchte es dann noch mal. "Ein Schmetterling ist geschlüpft", berichtete er mit immer noch schwankender Stimme. "Und-" Soubi verfluchte seine eigene Scheu, sobald er Ritsu gegenüber stand, wenn dieser so gelaunt war, wie in diesem Moment. Noch nicht einmal der Abstand, den er zu ihm hatte, konnte etwas daran ändern, dass er sich unsicher fühlte.

"Und was?" Ritsus Stimmung, die wie ein unter der Oberfläche brodelnder Geysir wirkte, schwappte plötzlich wie eine wütende Welle durch den Raum hinüber zu Soubi und riss ihn beinahe von den Beinen. Er fühlte sich, als würde er in Ritsus Nähe ertrinken. Seine Blicke trafen ihn wie Nadeln. Soubi hob den Kopf und rang nach Luft.

"Er ist grün", stieß Soubi heiser aus.

Irritiert sah Ritsu den bleichen Jungen an, der aussah, als würde er sich am liebsten in Luft auflösen. Bevor er antworten konnte, hatte Soubi die Tür von Außen zugezogen. Das Letzte, was er hörte, waren die eiligen Schritte des Jungen im Flur, die sich hastig von Ritsus Büro entfernten.



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