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Countless

... wounds
von

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Imago

Soubi schaffte es kaum, vernünftig durchzuatmen. Er hatte einfach nur so schnell und weit wie gerade möglich von Ritsu weg gewollt und war ohne einmal zu stoppen in den Garten der Raupen gerannt. Sein Brustkorb fühlte sich an, als läge ein tonnenschweres Gewicht auf ihm. Sein Inneres brannte und der Rest seines Körpers fühlte sich an, als stehe er in Flammen.

Er war doch kein Baby! Soubi presste die Hände gegen seine Augen, in denen es verdächtig kribbelte. Er wartete, bis seine eiskalten Finger die aufsteigenden Tränen gekühlt hatten und hob dann müde den Blick.

Das Geißblatt, das sich um die Schultern des Engels wandte, duftete betörend süß. Die ganze Luft war schwer davon. Und dann, wie auf ein unhörbares Kommando hin, geriet um ihn herum die Luft in Bewegung. Unzählige Schatten stiegen aus den Bäumen und Sträuchern empor und flatterten aufgeregt umher.

Mit offenem Mund sah Soubi den Schmetterlingen zu, die durch die Luft flogen. In der kurzen Zeit, in der er Ritsu vom Schlupf des ersten Schmetterlings berichtet hatte, musste der Rest von ihnen ebenfalls geschlüpft sein.

Ungläubig beobachtete Soubi die zarten Tierchen, die voller Lebensfreude ihre Umgebung erkundeten. Es waren so viele! Und so viele unterschiedliche Arten, dass Soubi kaum mit Schauen hinterherkam. Kaum dachte er, dass es nicht mehr mehr werden konnten, stieg irgendwo ein neuer auf. Sie stürzten sich auf die abertausenden blühenden Pflanzen und begannen mit ihren kleinen Rüsseln den Nektar aus der Blüte zu trinken.

Staunend sah Soubi zu, wie einige begannen, ihn zu umkreisen. Als sich die ersten auf ihm niederließen, stand der Junge bewegungslos da. Nicht einmal einen Finger krümmte er. Ihre winzigen Füße kitzelten als sie erkundend über seine Katzenohren trippelten.

Soubis Schultern zuckten, aber er zwang sich dazu, nicht zu lachen, um die Schmetterlinge nicht zu erschrecken.

"Das hat sich ja gelohnt", erklang es leise neben Soubi.

Er kannte die Stimme und auch wenn ihn Ritsus unvermutetes Auftauchen erschreckte, blieb Soubi still stehen. In seinem Augenwinkel sah er Ritsu neben sich treten.
 

"Der Großteil hat wohl überlebt." Ritsu hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel. Er sah zu Soubi hin, der die Blicke seines Lehrers reglos entgegnete. Ein paar Schmetterlinge hatten sich auf seinem Kopf niedergelassen und er traute sich nun wohl nicht, auch nur eine falsche Bewegung zu machen.

Ein Schmetterling erklomm gerade die Spitze eines seiner Ohren, während ein anderer seine Kopfseite hinabkletterte.

Soubi konnte nicht anders. Der schwere Duft des Geißblatts reizte seine Nase so sehr, dass er niesen musste. Augenblicklich erhoben sich die beiden Falter in die Luft. Der, der Soubis Kopfseite erforscht hatte, verhedderte sich in den langen Haarsträhnen des Jungen und flatterte hilflos auf und ab, nur, um sich noch weiter in den Haaren zu verfangen.

"Was soll ich tun?" Mit aufgerissenen Augen sah Soubi ängstlich zu Ritsu, der mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stand und nicht wirkte, als wolle er ihm die Entscheidung abnehmen.

Soubi schloss kurz die Augen. Der Schmetterling zerrte an seinen Haaren. Dann hob Soubi die Hand und schloss sie vorsichtig um das Tier. Der kleine Insektenkörper zuckte ängstlich zwischen den vorsichtig tastenden Fingern. Er hatte mindestens genauso viel Angst wie Soubi selbst. Soubi fühlte die feinen Härchen des gefangenen Tierchens. Nach einer kurzen Pause begann er wieder mit den Flügeln zu schlagen und Soubi zog die Hand weg.

Hilflos sah Soubi zu Ritsu, der noch immer keine Anstalten machte, einzugreifen, während sich der Schmetterling mehr und mehr in den Haaren verfing.

Soubis schmale Finger zitterten, als er sie erneut nach dem Tier ausstreckte, und auf seiner Stirn brach der Schweiß aus. Er warf einen zögerlichen Blick zu Ritsu, senkte aber sofort die Lider, als er auf dessen kühlen, fast abweisenden Gesichtsausdruck traf.

Er konnte nur alles falsch machen, dachte Soubi resigniert. Das Flattern des Schmetterlings hörte kurz auf. Aus den Augenwinkeln sah Soubi, dass das Tier wohl Kräfte sammelte. Sein Körper blähte sich auf und sank zusammen. Immer abwechselnd. Genau so, wie er es bei dem gerade geschlüpften Schmetterling beobachtet hatte.

Soubi nahm seinen ganzen Mut zusammen und tastete erneut nach dem gefangenen Schmetterling. Dieses Mal würde er es schaffen, ihn zu befreien!
 

Tränen brannten in Soubis Augen. Er schaffte es einfach nicht. Sobald er unter seinen Fingern spürte, wie der Schmetterling zu zappeln begann, ließ er los. Es war wie verflucht. Er hatte Angst davor, das Tier zu verletzen. Aber eigentlich hatte er mehr Angst davor, Ritsu zu verärgern oder sich die Blöße geben zu müssen, in dessen Augen nie genug zu sein.

"Einer von euch beiden wird wohl nachgeben müssen", erklang Ritsus ruhige Stimme.

Soubi schluckte die Tränen hinunter.

"Entweder reißt du dich zusammen und schaffst du es, ihn zu befreien, ohne ihn dabei noch mehr zu verletzen, oder-"

Am liebsten hätte sich Soubi die Ohren zugehalten. Er wollte das Oder nicht hören. Der Schmetterling zerrte an seinen Haaren. Mit jeder Bewegung schnürten ihn die feinen Strähnen mehr ein.

"Oder er schafft es von alleine", fuhr Ritsu fort. "In beiden Fällen kommt er mit dem Leben davon, aber im Moment schaut es nicht danach aus." Reglos beobachtete er seinen Schüler, in dessen Haar der Schmetterling um sein Leben kämpfte. "Er wird bald verenden", stellte er kühl fest.

Soubi biss sich auf die Lippe. Er würde nicht weinen. Nicht wie sonst...

"Also, Soubi, was tust du?" Ritsus Blicke bohrten sich in die Augen des Jungen. "Du bist für das Schicksal des Schmetterlings verantwortlich. Es liegt an dir, ob er lebt oder stirbt."

Nun lief die erste Träne Soubis Wange hinab und brannte dabei wie Säure.

"Fühlst du dich der Verantwortung für das Leben eines anderen gewachsen?"

Das Flügelflattern in Soubis Augenwinkel wurde immer schwächer, bis es nur noch vereinzelt aufwallte. Er ließ die Hand, die er noch immer erhoben hatte, um den Schmetterling zu befreien, kraftlos sinken.

Ritsu machte einen Schritt auf Soubi zu. "Du hast jedes Stadium des Schmetterlings mit erlebt. Du warst dabei, als er sich verpuppte und du hast gesehen, wie er erneute geboren wurde. Als er sich auf sein neues Leben vorbereitete, warst du bei ihm. Du hast auf ihn aufgepasst, als er noch eine Raupe war, du hast die Vögel verscheucht, während er in seiner nahezu schutzlosen Hülle ruhte und heranwuchs. Was empfindest du jetzt? Jetzt, wo sich das Lebewesen, um das du dich so lange gekümmert hast, in einer tödlichen Situation befindet, in die es ohne dich überhaupt nicht hineingeraten wäre?"

Er empfand Angst. Furchtbare Angst. Eine andere Form der Angst, als die, die man spürt, wenn man etwas Wichtiges verpasst hatte. Es war eine ausweglose Angst, die sich in ihm ausbreitete, ohne dass er wusste, wie er sich verhalten sollte.

"Angst?" Ritsu streckte die Hand nach Soubis Gesicht aus. Seine Finger strichen über die Wange des Jungen, der die Luft anhielt. "Die musst du hinter dir lassen. Schau sie dir nicht an, lass sie nicht merken, dass du sie spürst." Ritsus Finger schlossen sich wie ein Käfig um den Schmetterling. Vorsichtig zog er das Insekt aus Soubis Haaren.

Soubi fühlte die Erleichterung als wäre ein zenterschweres Gewicht von ihm genommen worden, als ihm Ritsu den befreiten Schmetterling in seiner geöffneten Handfläche präsentierte. Er lebte und seine Flügel waren auch intakt.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, folgte Soubi Ritsu, der den Schmetterling in seiner Hand trug.
 

Ritsu öffnete die Tür zu einem Raum, den Soubi bisher noch nicht kannte, und trat ein. Er wartete, bis Soubi es ihm gleichtat und schloss die Tür hinter ihnen.

Ein unangenehmer Geruch schlug Soubi entgegen. Es war eine Mischung aus Staub, Lackfarbe und etwas Saurem. Soubi sah sich unauffällig um. Hohe Vitrinen säumten eine Wand des Zimmers. Hinter den Glastüren herrschte eine Art geordnetes Chaos aus übereinander gestapelten Büchern, diversen Glaswaren und Behältern mit undefinierbaren Flüssigkeiten darin. Überall wo Platz war, hingen eingerahmte Bilder von Schmetterlingen an den Wänden.

Ohne auf seinen Begleiter zu achten schritt Ritsu durch den Raum zu einem Tisch hin, der dort mittig stand. Eine Lampe flackerte über der spiegelnden Fläche des Tischs auf und tauchte alles um sich herum in helles Licht.

Soubi sah, wie Ritsu den Schmetterling auf einem Holzbrett absetzte. Das Tier blieb erstaunlich ruhig. Ab und zu öffnete und schloss es seine Flügel, ohne jedoch Anstalten zu machen, wegfliegen zu wollen.

Ritsu stand leicht vornübergebeugt am Tisch und öffnete eine kleine Schachtel, die neben dem Holzbrett lag.

"Wird er überleben?" Soubi sah von dem Schmetterling hinauf zu Ritsu, der ihn kaum beachtete.

"Soll er?", fragte Ritsu zurück.

"Natürlich", bejahte Soubi eifrig.

Ritsu lächelte Soubi freundlich an. Er nahm den Schmetterling wieder in seine Hand und hielt den kleinen Körper sachte zwischen Daumen und Zeigefinger fest. Der Schmetterling spreizte die Flügel und bewegte sie sachte. Fasziniert sah Soubi, wie der Schmetterling die Beine bewegte, wie sein pelziger Körper pulsierte. Das erste Mal fiel ihm die hübsche Zeichnung an der Unterseite des Insekts auf.

"Dazu hättest du dich früher entscheiden müssen."

Noch ehe Ritsus Worte richtig bei ihm ankommen konnten, sah Soubi die golden glänzende Spitze, die sich durch den Leib des Schmetterlings bohrte. Das Tier bäumte sich zwischen Ritsus Fingern auf, der ihn unnachgiebig festhielt.

Soubi taumelte einen Schritt zurück. Schockiert presste er sich die Hände gegen die Ohren, als fürchte er, dass das Tier in Ritsus Hand jeden Moment vor Schmerzen aufschrie. Mit offenem Mund sah Soubi zu Ritsu und dem Schmetterling hin, der vergeblich versuchte, sich aus dem Griff und der Nadel in seinem Körper zu befreien. Er wand sich hilflos, krümmte sich, bäumte sich auf und schlug mit den Flügeln.

Ritsu sagte irgendetwas, doch alles, was Soubi hörte, war sein eigenes Blut, das im panischen Takt seines hämmernden Herzschlag rauschte. Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Auf seinen Fingerspitzen brannten noch die Erinnerung daran, wie der kleine Körper des Schmetterlings sich angefühlt hatte. Weich und warm, voller Leben, das nun in Ritsus Fingern ihr Ende fand.

Es wäre ja schade um die ganzen Etiketten, die du schon beschriftet hast – Jetzt ergab Ritsus Satz einen Sinn. Er hatte nie etwas anderes mit den Schmetterlingen geplant gehabt.

Soubi wurde übel.
 

Den Kopf erschöpft über die unzähligen Etiketten gebeugt, saß Soubi wieder an seinem Tisch. Die Liste mit den Schmetterlingsnamen war endlich abgearbeitet. Vor ihm lag ein Stapel beschrifteter Etiketten; alles schön säuberlich geschrieben, fehlerlos und ohne auch nur einen Buchstaben verschmiert zu haben. Es fehlte nur noch ein einziges Etikett.

Die Lektion, die ihm Ritsu erteilt hatte, war mehr als bitter gewesen, aber sie hatte gewirkt.

Soubi sah auf den kleinen Zettel in seiner Hand hinab.

Ornithoptera goliath stand in seiner schönsten Schrift auf dem Etikett geschrieben. Direkt darunter der Fundort und der Name des Finders: Agatsuma Soubi.

Vorsichtig pustete Soubi die noch feuchte Tinte trocken. Dann nahm er den Zettel und pinnte ihn unter den präparierten Schmetterling, der mit gespreizten Flügeln und mit einer goldenen Nadel in der Brust in dem Schaurahmen befestigt war, den Ritsu ihm geschenkt hatte.
 


 

E N D E
 



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