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Soulmate

von

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Actio - Ractio


 

Tag 4: Actio – Reactio
 

Valerie
 

Der Raum war düster. Pechschwarz. Mein Kopf reichte bis knapp unter die Decke.
 

Ich kannte diesen Ort. Es war mein Innerstes: dunkel, eng, kalt und unendlich weit. Und egal wie lange ich lief, ich kam hier nicht raus.
 

Auf dem Boden vor mir lag ein Messer. Die Klinge war scharf und schön, der Griff geschmückt mit eleganten Rankenmustern.

„Schwesterlein“, sprach es mit lieblicher Stimme, die in der Weite widerhallte. „Dumme, schwache Schwester.“ Ein klares, helles Lachen erschallte. „Beweg dich.“
 

Also schritten meine Beine voran, liefen auf ihren Befehl. Meine Finger griffen nach der Waffe. Die Klinge hinterließ blutige Wunden auf meiner Haut.
 

Wieder schallte das süße Kichern.
 

„Tut das nicht weh? Du wehrst dich ja gar nicht“, lachte sie. „Dummes, schwaches Schwesterlein.“
 

~*~
 

An Tagen wie diesen liebte ich das schrille Schreien meines Weckers. Ich träumte lieber gar nichts, anstatt immer wieder in diesem Traum zu landen.
 

Doch ich träumte lieber immer wieder diesen Alptraum, anstatt blutend in der Küche aufzuwachen.
 

Die grelle Wüstensonne war gerade aufgegangen, im Baum vor dem Fenster herrschte zwitschernde Betriebsamkeit. Frieden

erfüllte die Welt, doch bis in meine Ecken kam er nicht.
 

Als ich an diesem Sonntagmorgen in den Kühlschrank schaute, strahlte mich ein Glas Erdbeermarmelade an, das am Freitag noch nicht da gewesen war. Zugegeben: Daran konnte ich mich gewöhnen. Ich ging nicht gerne einkaufen. An solch belebten Orten wie dem Supermarkt oder der Innenstadt waren zu viele Menschen, die mich komisch ansahen.
 

Doktor Stein hatte meine Seele mit einem Seeigel verglichen. Die Metapher passte wohl relativ gut. Ein Seeigel hatte keinen Deckel.
 

Frustriert klatschte ich drei Zentner Marmelade auf einen Toast und schaltete die Acht-Uhr-Nachrichten im Fernsehen ein.
 

Hinter mir im Flur öffnete sich leise eine Tür und eine total verschlafene Waffe trottete ins Wohnzimmer. Mit völliger Missgunst schaute er mich an.
 

„Es ist Sonntag“, stellte Adrian beinahe fassungslos fest. „Wer zur Hölle steht an einem Sonntag vor zehn Uhr auf?“
 

„Jemand, der um halb neun zum Lernen verabredet ist“, antwortete ich und ignorierte seine reizende Wuschelfrisur.
 

Mein Mehr-oder-weniger-Partner gähnte herzhaft. „Wer zur Hölle steht an einem Sonntag vor zehn Uhr auf, um zu lernen?“
 

„Jemand, der ein gutes theoretisches Wissen braucht, weil die Noten der Tests zu 33 Prozent in die Aufnahmeprüfung der EAT

einfließen.“ Das Toastbrot krachte zwischen meinen Zähnen, als ich einen großen Bissen nahm.
 

„Okay.“ Müde rieb Adrian sich die Augen. „Ich habe noch keine Lehrbücher bekommen. Also … werde ich mich eurer Runde wohl nicht anschließen können. Vielleicht beim nächsten Mal. An einem Nachmittag.“ Mit einem weiteren Gähnen verschwand er wieder in seinem Zimmer. Nachdenklich sah ich ihm nach.
 

Adrian war … nett. Letzte Nacht habe ich im Halbschaf mitgekriegt, wie er kurz in mein Zimmer gespäht hatte. Ich mochte es nicht, andere Menschen in mein Zimmer zu lassen, doch es war irgendwie schön zu wissen, dass jemand reinkam, um nach mir zu sehen. Außer bei einem Stalker.
 

Adrian war ziemlich überfürsorglich. Total lästig, wenn dir ständig jemand unter die Arme greifen will. Aber das hatte bestimmt einen tieferen Grund.
 

Ich habe keine Lust, nochmal über die Leiche eines Menschen stolpern zu müssen, der mir nahesteht!
 

Soweit ich es wusste, kam er aus New York. In Großstädten lebten viele Waffen auf der Straße, vor allem junge, weil diese ihre Verwandlung nicht gut kontrollieren konnten. Sie trauten sich nicht zur Schule oder Arbeit, mussten sich mit Diebstahl und Drogenverkauf über Wasser halten, fingen an zu trinken, weil ihr Leben nüchtern nicht mehr zu ertragen war. Viele legten sich mit der Polizei oder kriminellen Organisationen an, weil sie sich dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten stark fühlten, gerieten in Straßenkämpfe und starben dabei. Oder sie überlebten, aßen die Seelen ihrer Opfer und wurden zu Kishineiern. Schüler der EAT wurden ständig in Metropolen geschickt, um dort für Recht und Ordnung zu sorgen, weil die Behörden überfordert waren.

Ob Adrian eine von diesen Waffen von der Straße war? Ich sollte ihn danach fragen, bestimmt hatte er viel durchgemacht. Aber dann würde er wohl auch Sachen über mich wissen wollen und …
 

Er war bei Doktor Stein gewesen. Eigentlich wusste er schon viel zu viel über mich.
 

Und trotzdem war er immer noch hier.
 

Na toll. Jetzt fühlte ich mich auch noch schlecht, weil ich ihn angemotzt und als makellosen Musterknabe abgestempelt hatte. Der er ja war … Vermutlich … Mir gegenüber zumindest.
 

Ein ungeduldiges Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Schnell wischte ich mir mit dem Ärmel meines abgetragenen Hoodies die Marmelade aus dem Gesicht und ging zur Tür. Davor wartete eine breit grinsende Maka.
 

„Heyy“, strahlte sie mich an, als hätte ich für irgendwas Ehrenhaftes einen Orden verliehen bekommen. „Bereit, dir Wissen anzueignen?“
 

Nicht wirklich. Aber das war immer noch besser, als sich mit meinen eigentlichen Problemen auseinanderzusetzen. Also bat ich sie und ihre gute Laune herein.
 

„Tolle Frisur! Mensch, ist das ordentlich bei dir“, staunte sie, als sie ins Wohnzimmer trat und ihre Unterlagen auf den freien Couchtisch legte.
 

„Adrian hat aufgeräumt“, erklärte ich. Ich setzte für uns beide einen Tee auf und holte die Lehrbücher aus meinem Zimmer.

„Und ist das okay für dich?“
 

Nein. Ich mochte meine Unordnung. Sie war das einzige, worüber ich Herr war.
 

„Ich war … überrascht.“
 

„Hm.“ Und da war er: der Maka-Blick. Die Art und Weise, wie ihre Augen an mir auf und ab wanderten, verriet mir, dass sie mich untersuchte. Meine Seele betrachtete. Das war noch viel schlimmer als Adrian, der Doktor Stein über mich ausfragte.

Genervt stöhnte ich: „Können wir bitte anfangen?“
 

Was auch immer sie an mir gesehen hatte, sie ignorierte es. „Klar“, antwortete sie stattdessen und schlug ein Physikbuch auf.
 


 

Maka monologierte über die Newtonschen Gesetze, doch ich konnte ihr kaum folgen. Als sie mich das dritte Mal vor meinem Gesicht schnipsend aus der Träumerei holen musste, fragte sie: „Willst du mir nicht sagen, was passiert ist oder soll ich warten, bis du einschläfst und es mir im Schlaf erzählst?“ Ihre mintgrünen Augen lagen wachsam auf mir.
 

Seufzend ergab ich mich. Sie würde es mir ja doch aus der Nase ziehen.
 

„Maka“, begann ich vorsichtig, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Frage albern war. „Findest du meine Nähe nicht … unangenehm?“
 

Fragend legte sie den Kopf schief. „Warum sollte ich?“
 

„Du hast selbst gesagt, dass meine Seelenwellen anders sind.“
 

An einem sehr stürmischen Tag sind Maka und ich uns zum ersten Mal auf dem Schulflur begegnet. Sie hielt mich auf, starrte mich sekundenlang stumm an und meinte daraufhin: „Du hast ja eine abgefahrene Seele. Wollen wir Freunde sein?“ Das war einer der merkwürdigsten Momente meines Lebens und ich betete dafür, dass ich ihn nie vergessen werde.
 

„Ja“, kicherte meine Freundin. „Aber das ist doch nichts Schlechtes.“ Ihr Lächeln verschwand. „Hat dich wieder jemand genervt? Ich kann Soul darauf ansetzen, wenn du willst.“
 

„Nein, so war das nicht.“ Obwohl es ziemlich viele Menschen gab, denen Soul mit seinem Haifischgrinsen mal einen Besuch abstatten konnte. „Es ist nur so: Doktor Stein hat Adrian gegenüber etwas gesagt, was mir irgendwie … Unwohlsein bereitet.“
 

Die Sensenmeisterin schlug das schwere Buch auf ihrem Schoß zu, verschränkte die Arme und sah mich mit einem Sag-es! – Blick an.
 

„Er hat mich, oder eher meine Seele, mit einem Seeigel verglichen. Du weißt schon, diese runden Meereslebewesen mit den spitzen Stacheln.“
 

Ein verständnisvolles Nicken. „Autsch.“
 

„Wusstest du, dass einige davon sogar giftig sind?“ Mit Sicherheit wusste sie es, sie hatte schon dutzende Bücher gelesen.
 

„Also ich glaube, auf ihn kann ich Soul nicht hetzen.“ Liebevoll stupste sie mich vom anderen Ende der Couch mit dem Fuß an. „Hey, du bist kein Seeigel.“
 

„Das sagst du nur, weil du meine Freundin bist.“
 

„Das sage ich, weil du hier bist und nicht im Pazifik vor der Küste LA’s, um irgendeinem Touristen mit deinen Stacheln den Urlaub zu vermiesen.“
 

Bei dem Kommentar musste ich kichern. Wie konnte es sein, dass so ein lieber Mensch mir direkt gegenüber wohnte?

„Hör bloß nicht auf Doktor Stein.“ Warnend hob Maka den Finger. „Bestimmt hat er das nicht beleidigend gemeint. Deine Seele ist anders, aber deswegen ist sie nicht minderwertiger als die deiner Mitmenschen. Es ist wie, als“, ihre Augen glitten kurz nach oben und ihre Hände machten eine suchende Bewegung, „als hättest du knallbunte Haare. Oder als wärst du transsexuell. Du unterscheidest dich vom Durchschnitt, natürlich gefällt das nicht jedem. Aber weißt du was?“ Mit einem mysteriösen Funkeln beugte sie sich vor und flüsterte grinsend: „Scheiß auf die Hater.“
 

Ich holte überrascht Luft und musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht schreiend loszulachen. So eine Ausdrucksweise war man von Maka absolut nicht gewohnt und irgendwie klangen die vulgären Begriffe bei ihr merkwürdig.
 

„He! Lachst du mich etwa aus?“ Empört schlug sie mir auf den Oberschenkel. Sie griff wieder nach ihrem Buch und suchte die Seite, aus der sie vorgelesen hatte.
 

„Es gefällt mir eben nicht, dass mir die meisten Menschen so negativ begegnen“, fügte ich kleinlaut hinzu, als ich mich wieder eingekriegt hatte.
 

Maka seufzte. „Hey, sag mal“, sie rückte ein Stückchen näher und legte den Kopf merkwürdig schief. „Bist du eigentlich mit deinem Leben zufrieden?“
 

Hm. Der Schulabschluss, den ich immer haben wollte, stand auf der Kippe, alle meine vorherigen Waffen hassten mich, meine Schwester und ich führten Krieg gegeneinander und – oh! Geküsst wurde ich auch noch nie!
 

„Könnte besser laufen.“
 

„Weißt du, es ist nämlich so.“ Wie eine Lehrerin hob sie den Finger. „Seelen verhalten sich in vielen Fällen ähnlich wie physikalische Körper. Das heißt, dass auch für sie die meisten physikalischen Gesetze gelten, wie zum Beispiel das dritte newtonsche Axiom, das da lautet?“ Ihre Stimme ging fragend nach oben und ihre Augen sah mich erwartungsvoll an.
 

„Ähm.“ In meinem Kopf kramte ich nach dem Merksatz, den ich auswendig gelernt hatte. „Übt ein Körper A auf einen anderen

Körper B eine Kraft aus, sooo … wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft … von Körper B auf Körper A?*“
 

„Bingo!“ Stolz grinste die Meisterin mich an. „Und wenn wir das jetzt auf die Seelenlehre übertragen, können wir daraus schließen, dass …?“
 

„Ääh … Wenn ich jemanden beleidige“, antwortete ich zuversichtlich, dass ich falsch lag, „beleidigt derjenige mich zurück?“
 

Für einen Moment presste Maka gespannt die Lippen aufeinander. „So ähnlich. Und umgekehrt heißt das: Wenn du jemandem mit einer positiven Einstellung begegnest, begegnet er oder sie dir auch positiv. Kennst du diese total charismatischen Menschen, die von allen geliebt werden?“
 

„Wie Ellen DeGeneres?“
 

„Genau! Bei solchen Leuten sind Körper und Geist in Harmonie. Ihre Zufriedenheit wirkt sich auf ihre Seelenwellen aus. Muggel bezeichnen dies als positive Ausstrahlung.“
 

Obwohl das Thema sicher ernst war, musste ich grinsen. Es war süß, wie sie Menschen, die nichts von Seelen und Waffen wussten, als Muggel bezeichnete.
 

„Du hingegen“, fuhr sie fort, „denkst negativ von dir. Auch eine Dissonanz beeinflusst die Seele in diesem Sinne. Wenn du also willst, dass andere dich mögen, musst du dich vorher erst selbst gernhaben.“
 

„Sowas ist aber ganz schön schwer.“ Resigniert stützte ich meinen Ellenbogen aufs Knie und legte den Kopf in meine Hand.
 

„Ich weiß.“ Maka lächelte verständnisvoll. „Das erfordert viel Überwindung. Aber das ist es, was du tun musst, denn ich glaube“, sie verzog das Gesicht zu einer schmerzvollen Miene. „Ich glaube, dass du deswegen keinen Partner findest. In einer Partnerschaft harmonieren zwei fremde Geister und fremde Körper miteinander, aber … wenn man diese Harmonie nicht mal mit sich selbst vereinbaren kann, dann …“ Sie brach ab.
 

Ich wusste, wie der Satz weiterging: Wenn man diese Harmonie nicht mal mit sich selbst vereinbaren konnte, dann konnte man es auch nicht mit jemand anderem tun. Dann war man unfähig als Partner. Dann war man ungeeignet.
 

Maka kannte diese Realität. Ich kannte diese Realität. Doch sie laut auszusprechen verlieh dem Ganzen eine schmerzhafte Endgültigkeit, die ich nicht bereit war hinzunehmen.
 

„Hey!“, machte meine Freundin, als sie spürte, wie meine Verzweiflung durch den Raum schlug. „Newton hat die Schwerkraft durch einen herunterfallenden Apfel entdeckt. Manchmal haben die schwierigsten Probleme ganz einfache Lösungen.“
 

Und so optimistisch die Worte auch klangen, erreichte mich ihre Zuversicht nicht.
 


 

AN:

*siehe Wikipedia

Mein physikalisches Wissen ist leider etwas beschränkt.
 

Nächstes Kapitel: 31.07. schätz ich mal



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