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Geschwisterbanden sind unzerbrechlich

Alles neu macht der Mai
von

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Es war einmal ...

Hör, mein liebes Kindchen. Mein Lachen.

Zittere nicht, oh mein liebes Kindchen.

Die Hexe verschlang das Herz deines Brüderchens. Die Flammen verbrannten seinen Körper. Seine Seele, rein und gütig, ruft nach dir.

Zittere nicht, oh mein liebes Kindchen.

Kindchen, renne schnell. Das Lachen und Weinen dürfen dich nicht holen. 

 

 

Erschrocken öffnete die junge Frau ihre Augen. Ihr Herz raste. Blinzelnd versuchte sie zu verstehen, von was sie gerade träumte. Ihre Glieder fühlten sich schwach an, als wäre sie gerannt. Ihre Augen gewohnten sich an die Dunkelheit. Der Mond schien fahl durch das leicht geöffnete Fenster. Alles war an seinem Platz, nichts erweckte einen gefährlichen Anschein.

Still und stumm sass ihr grosser brauner Stoffbär auf den Kinderstuhl. Verschlossen waren die Holzkiste und der Kleiderschrank. Die Türe des Schlafzimmers war vom Wind aufgestossen. In der Dunkelheit erkannte man die Silhouette des morschen Geschirrschrankes. All dies war der Frau bekannt und doch fühlte sie sich unwohl. Die Angst kroch in ihr hoch. Schluchzend krallte sie sich in die weissen Bettlaken.

In ihrem Elend gefangen spürte sie die geschwisterliche Umarmung nicht. Die tröstenden Worte. Den keuschen Kuss auf ihrer Wange. Unaufhaltsam verschlang das Grauen die Liebe, die ihr geschenkt wurde.

Bis ein wahnsinniges Lachen aus ihrem Mund erklang.
 

Der Klang der Trauer. Der Laut der Freud.

Dein Brüderchen liebt dich und doch verstösst du ihn von deiner Brust.

Der Klang der Trauer. Der Laut der Freud.

Glocken läuten, warnen dich. Oh, mein Kindchen so unbefleckt und zart. Hüte dich.

 

 

Warm schien die Sonne durch die flatternden Vorhänge. Ordentlich war das Bett gemacht, die Nachtwäsche gefaltet. Vögelchen begrüssten den neuen Tag.

In der Küche roch es nach Frühstück. Fleissig arbeitete die Frau, fröhlich und unbeschwert. Doch nicht allein sie war guter Dinge. Von draussen hörte man ein munteres Pfeifen und das Splittern von Holz. Scheiten für Scheiten türmte sich ein ansehnlicher Turm. Die Kälte konnte sie nicht überraschen. Der Frühling kündigte sich an, doch einige Nächte waren noch bitterkalt.

Sie hatten Vorräte. Ein Haus. Angemessene Kleidung. Und sich selbst.

Lange reisten sie umher, blieben nie lange an einem Ort. Doch hier, wo es begann, wollten sie ihr endgültiges Glück finden.

 

„Nicht so hastig“, sprach die Maid und blickte mahnend auf seinen leeren Teller. Ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, griff der Jüngling zu einem weiteren Stück Brot. Grollend bekam er eine Antwort auf seine Tat. „Ich möchte nicht nochmal Hunger leiden!“, sagte sie und erhob sich vom Tisch.

Leise entfernte sich ein Fremder von dem Haus. Er hatte genug gehört und gesehen. Vielleicht hatte die ergraute Klatschbase recht? Das Haus war notdürftig eingerichtet. Ein Tisch, zwei Stühle und der alte Geschirrschrank erblickte er. Keine Bilder, keine Blumen zierten die Stube. Das Haus wurde zwar mehr schlecht als recht renoviert.

Doch welche Person würde in diese verfluchte Ortschaft ziehen?

„Ruben und Dina Wood …“, murmelte der Fremde. Verzog sein Gesicht zu einer hinterlistigen Grimasse. Was würde er über sie herausfinden, wenn er in ihrer Vergangenheit herumschnüffelt?

Ein unvermähltes Fräulein und ihr Brüderchen …

 

„Sei jetzt bitte einmal ruhig. Du hast es dir eingebildet.“ Schnaubend verschränkte der junge Mann seine Arme. Seufzend setzte sich seine Schwester auf das Bett. Blickte zum Stoffbär, den sie niemals aus den Augen liess. Atmete tief ein und aus. Es war ungewöhnlich, wie schweigsam sie auf einmal war. Ihr gingen einige Gedanken durch den Kopf. War es ein Fehler? Durfte sie hier zurückkehren? Beleidigte sie die arme Seele, das sie den Namen gewechselt hatte? „Was würde er wohl sagen?“ Es war ein Flüstern, welches ihren Mund verliess.

Die Erinnerungen klammerten sich in ihrem Verstand fest. Gerüche und Bilder, welche sie gerne vergessen würde. Einige Sekunden sass sie da und wäre beinahe von den Erinnerungen verschluckt. Jedoch waren ihr Herz und ihr Wille stark geworden. Lernten zu kämpfen.

„Bruder?“ Der Angesprochene sah aus dem Fenster, immer noch wütend über seine Schwester. War es wegen des Frühstückes oder des anderen Erlebnisses? „Wolltest du nicht noch in die Stadt? Dann geh.“ Die Worte hörten sich schroff an, doch sie waren nicht so gemeint. Kaum erhob sich die Frau, drehte er sich um.

„Waren deine Träume dieses Mal gut?“

„Kann mich nicht an sie erinnern.“

„Mmmh … Ich auch nicht.“

Ruben und Dina. Bruder und Schwester. Nicht allein ihre Namen waren falsch. Ihr Leben bestand seit diesem schicksalhaften Tag aus Lügen. Ständig unterwegs, nirgendwo zu Hause.

Und dennoch logen sie sich dieses Mal nicht an. Die Erinnerung an die erste Nacht zusammen in ihrem Zuhause verblasste mit dem morgendlichen Vogelgezwitscher.

 

 
 

***

 

 

Schnurrend sass die Katze auf dem Schoss des alten Mannes. Sein Blick schien gelangweilt, beinahe müde. Die Gesprächsfetzen der Jungspunde nahm er nicht wahr. Sein Interesse galt dem Neuen. Seine Haare waren lang, zu einem Zopf gebunden. Seine Kleidung mehrmals geflickt. Trotzdem strahlte er nichts von einem Vagabunden aus. Seine Sprechweise war gepflegt. Höflich und doch bestimmend.

Auch als der Krämer ihm mürrisch wegschickte und ihn einen Taugenichts nannte, blieb der Bursche ruhig.

„Na, jetzt wird es aber spannend …“, murmelte der Alte und scheuchte die Katze von seinem Schoss. Neugierig blieb das Tier neben der spröden Bank sitzen. Der Vorwitzigste baute sich vor dem weg gescheuchten Burschen auf. Dieser blieb stehen und legte den Kopf schief.

„Mein Onkel braucht deine Hilfe wohl nicht.“

„Ja. Er hat dich.“

Die restlichen jungen Männer lachten leise. Ihr Freund war faul und gab sich dem Glücksspiel hin. Schon öfters beklagte sich seine Mutter bei ihrem Bruder über ihren faulen Sohn. Dies war bekannt und jeder machte sich über ihn lustig.

„Wo kommst du und deine Schwester her? Die alte Ina faselt was über ein Hexenkind.“ Kaum merklich blitzten die Augen des Gefragten auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Dies blieb dem Alten nicht verborgen.

„Dina und ich kommen aus der südlichen Hafenstadt. Wir würden uns gerne in diese Stadt einleben.“

„Du kannst verschwinden. Dein Schwesterchen …“, der Mann lachte und zeigte auf seine Freunde, „… kann uns Gesellschaft leisten.“

Lachen. Verspottung. Bösartigkeit. Ruben war es sich gewohnt. Sein Verstand flüsterte ihn zu, ruhig zu bleiben. Trotzdem zitterte sein Körper vor Wut. Das Blut rauschte in den Ohren. Nicht noch einmal würde er seiner Schwester Unglück bringen. Nicht noch einmal sollte sie hastig in Nacht und Nebel fliehen, weil er in Zorn Blut vergoss.

Plötzlich lag er im Dreck. Das Lachen hallte ihm in den Ohren. Er erhob sich. Sein Blick war vernebelt. Automatisch griff er zu seinem Jagdmesser. Versteckt in seinem Gürtel. Das Schweigen stachelten die anderen jungen Männer noch mehr an.

Blitzschnell flitzte die Katze zu dem Anstifter, krallte sich in sein Bein. Dessen Schrei erweckte den Verlachten aus seiner Trance. „Geh sofort nach Hause!“ Überrascht blickten alle zu dem Alten. Er zeigte auf den taumelten Unruhestifter. „Was würde deine Mutter sagen, wenn sie davon hört?“ Die Katze fauchte und blickte grimmig zu den Angesprochenen. Ihre Krallen waren blutig.

„Ihr anderen“, der Blick des Alten nahm ein drohendes Funkeln an, „verschwindet und lasst ihn in Ruhe. Haben eure Mütter euch keine Manieren beigebracht?“

Aus den Fenstern und Türen gafften die Bewohner. Tuschelten verstohlen miteinander. Zeigten mit den Fingern auf die Meute. Ihre Meinung hatte sich in einer Sekunde zur anderen verändert. Vorher noch wollten sie den Fremden leiden sehen. Misstrauten ihn. Freuten sich über sein Leid. Jetzt, da der Alte ihn im Schutz nahm, spürten sie Scham.

Allerdings waren sie im Schatten. Unerkannt. Nicht im Mittelpunkt der Situation. Sie konnten ihre Augen davor verschliessen und sich nichts anmerken lassen.

 

„Bursche, steh nicht rum und klopf den Dreck von deinem Gesicht.“ Mürrisch sah der Alte zu dem Verdreckten. Die Katze leckte sich säuberlich das Fell, als wolle sie es vorzeigen.

„Hast du auch einen Namen, Bursche?“ Zögerlich antworte der Fremde. Sein Misstrauen gefiel dem Alten. Seine Menschenkenntnis liess ihm noch nicht im Stich. Eine Frage nach der anderen stellte der Alte dem Burschen. Dieser antworte kurz oder schwieg, wenn er keine Auskunft geben wollte.

„Bengel, wenn du arbeiten willst, kann ich dir helfen.“ Schweigend sah der Fremde direkt in das Gesicht des Sprechenden. Schnurrend nährte sich die Katze und umgarnte die Beine des alten Mannes.

„Ich nehme jede Arbeit an. Für meine Schwester.“ Der alte Mann nickte und wollte gehen. „Aber nur“, der junge Mann packte den Arm des Alten und lächelte leicht, „wenn du mich nicht mehr Bengel rufst. Mein Name ist Ruben, Väterchen.“

 

 

„Ein Fest?“

Irritiert blickte Dina zu den anderen jungen Frauen. Tuschelt entfernten sich zwei ältere Weiber. Unbeeindruckt rief Dina ihnen einen schönen Tag nach. Ertappt zuckten sie zusammen und schritten schneller davon. Nochmals stellte Dina ihre Frage und sah der Tochter des Schneiders direkt ins Gesicht.

„Oh, das grosse Maifest. Das wird immer am ersten Vollmond im Mai gefeiert“, erklärte die Angesprochene. Amüsiert musterte diese Dina von Kopf bis Fuss. Welche junge Dame trug freiwillig kurze Haare? Sie war bleich und sah ungesund aus. Ihre Kleidung bestand aus zusammengenähten Lumpen. Wie eine räudige Strassenkatze stolzierte die Fremde herum.

Ihre Freundinnen kicherten und machten gewisse Andeutungen. Das wohl wieder Betsy als schönste Maiblume gekürt werden würde. Das sie sich von Tanzpartnern nicht retten könne. „Betsy, komm. Wir sollten gehen“, sprach eine der Frauen und flüsterte gerade hörbar, „mit so einer solltest du dich nicht abgeben.“

Auf die gewollte Provokation ging Dina nicht ein. Sie fragte weiter nach, was es auf diesem Fest gäbe. Ob es noch Helfer bräuchte. Betsy und ihr Gefolge beantworten die Fragen hochmütig. Hofften die Neue zu verärgern. Mit jeder Minute, die Dina ruhig blieb, wurden die jungen Frauen bissiger.

„Hast du noch eine Frage, meine Liebe?“

Betsys Mimik war zu einer Maske geworden. Dieses Spiel würde sie nicht verlieren. Nicht vor allen Leuten und dem Geschäft ihres Vaters. Die Neue würde sich wünschen, niemals hierherkommen zu sein.

„Nein.“

Dieses einfache Wort war zu viel. Wütend packte Betsy ihren Korb und rauschte davon. Ihre Freundinnen folgten ihr wortlos. Sie bekamen nicht mit, wie Dina ihr Lachen unterdrücken musste. Schon zu oft musste sie solche Situationen erleben. Anfangs weinte sie sich bei Ruben aus. Später versuchte sie sich zu wehren. Mit Worten und Taten. Bis ihr Bruder es in die Hand nahm.

„Ihr blöden Gänse. Von euch lasse ich mich nicht vergraulen. Ihr Plappermäuler wart mir trotzdem nützlich.“

Ein Fest bedeutete Arbeit. Und Arbeit bedeutete Lohn. Ruben würde Augen machen, wenn sie vor ihm Arbeit fand.

 

 

 

Stumm sassen sie beim Abendessen. Ein blöder Streit verdarb die gute Laune, die davor herrschte.

Ruben erzählte von seiner Chance, die ihm der Alte gab. Für ihn war diese Art von Arbeit ein Kinderspiel. Dina konnte auch gute Neuigkeiten heimbringen. Da das Fest in gut zwei Wochen stattfand, konnten die Frauen eine helfende Hand mehr gebrauchen. Beim Plaudern heizte sich die Stimmung plötzlich auf. Nun assen sie schweigend. Allein der wehende Wind und das Knistern des Feuers waren zuhören. Schweigend verbrachten die Geschwister den Abend.

Erst als es Zeit war sich niederzulegen, suchte Dina das Gespräch.

Die Dorfbewohner wussten nichts vom wahren Ursprung des Festes. Für sie war es ein bunter Tanzabend. Musik wurde gespielt, feine Speisen serviert. Liebende tauschten scheue Küsse miteinander. Der Frühling wurde begrüsst, der in dieser Gegend oft später kam.

Der wahre Grund war ein Geheimnis einer verfluchten Familie. Ein Aristokrat verkaufte seine Seele, um seine Geliebte zu retten. Das geschah in einer Vollmondnacht.

 

Der Schatten kroch die Mauer hoch. Zitternd stoppte er bei der Türe. Seine Schritte schienen über den Boden zu schweben. Keuchend blickte der Fremde in das Fenster. Sehnsüchtig glotze er zu der Schlafenden. Betrachtete sie und murmelte vor sich hin. Bevor er ging schrieb er in den Dreck eine Nachricht.
 

Umarme mich, mein Schwesterchen.

Süsse Träume schenk ich dir. Bestrafe den, der dich befleckte.

Umarme mich, mein Schwesterchen.

Stück für Stück zerfetze ich. Brenne jeden nieder.

 

 

„Ruben!“

Mürrisch drehte sich der Geweckte zu seiner Schwester um. „Was ist?“, fragte er verschlafen. Dina zeigte zur Decke. Es dauerte einen Augenblick, bis er merkte was los war. „Verdammt!“, brüllte er etwas zu laut und schoss aus dem gemeinsamen Bett.

Während Ruben das Loch notdürftig reparierte, kochte Dina Wasser. Sie wollte ihrem Bruder wenigstens einen Tee servieren. Helfen durfte sie nicht. Ruben war ein Sturkopf. Das sie mit Werkzeug umgehen konnte, wusste er. Sie war keine feine Prinzessin, sich zu schade ihre Hände schmutzig zu machen. Allerdings spürte Dina Dankbarkeit. Ihr Bruder kümmerte sich um sie. Suchte sich keine Liebste, um zu Heiraten. Sie würden sie niemals in Stich lassen. Obwohl er …

„Hab es notdürftig gestopft. Morgen früh kümmere ich mich richtig darum. Dina?“ Stirnrunzelnd nährte sich Ruben seiner Schwester. Barfüssig, mit einem alten Nachthemd bekleidet stand sie vor der alten Kochstelle. War sie zornig? Schläfrig? Traurig? Alle drei Möglichkeiten könnten es sein. Sanft strich er seiner Schwester über die Haare. Sie gab ein Murren vor sich, was Ruben beruhigte.

„Wolltest du ein nächtliches Bad nehmen oder weshalb kochst du Wasser?“

„Für Tee. Setzt dich hin oder es gibt für dich nichts.“

Lachend gehorchte Ruben. Sie hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Die Nacht verbrachte das Geschwisterpaar mehr in der Stube, als sich dem Schlaf zu widmen.
 

 

Du kommst mit mir. Ich hole dich.

Erinnern wirst du dich. Weine nicht, es nützt dir nichts.

Du kommst mit mir. Ich hole dich.

Lachen werde ich über dein Leid. Kindchen, ich erwarte dich.
 


 

***
 

Meckernd lief die Mutter des Bäckers durch die Stadt. Niemand zeigte Interesse. Ruben sah zu ihr. Wollte der Frau seine Hilfe anbieten. „Ignoriere das Weibsstück“, raunte der alte Mann ihm zu. Artig gehorchte Ruben und lief ihm hinterher zu seinem Haus.

Er arbeitete für ihn seit einigen Tagen. Es gab nur zwei Regeln. Keine Frage stellen und nicht zu viel mit den Kunden sprechen. Ruben erfuhr nicht einmal den Namen seines Arbeitgebers. Auf die Drohung, ihn bis zum Ende seiner Tage mit Väterchen anzusprechen, entgegnete er gelassen: „Dann bist du für mich schlicht der Bursche.“ Es war keine strenge Arbeit und er konnte abends früh nach Hause. Der Alte hatte seine innige Liebe zu seiner Schwester schnell bemerkt. Dies konnte er für seinen Vorteil ausnutzen.

„Deine Schwester hat sich wohl eingelebt“, fing der Alte ein Gespräch an. Ruben blickte zum Himmel und nickte. „Das junge Ding lässt sich nicht unterkriegen. Gleich, was die Waschweiber und die Dirnen über sie reden“, plauderte der Alte weiter. Das Schweigen seines jungen Begleiters verriet ihn, was er darüber dachte. Schnurrend kam die Katze angelaufen und begrüsste die zwei Männer. Ruben kniete sich hin, um sie zu streicheln. Gedankenverloren murmelte er seine Befürchtungen.

 

„Verschwinde.“

Dina hatte keine Zeit, sich mit jedem Kerl zu unterhalten, der ihr über den Weg lief. Sie hatte genug zu tun. Dank Betsys Nichterscheinen und Einhalten ihrer Aufgaben, durfte sie drei Dinge auf einmal erledigen. Die Schürzen fertig nähen, die Brote in den Ofen schieben und dem Fleischer beim befüllen der Würste helfen. Dina würde nicht auf das kindische Spiel der anderen jungen Frauen eingehen. Das Betsy die anderen angestiftet hatte, ihr das Leben schwer zu machen, war ihr durchaus bewusst. Das Fest musste jedoch stattfinden. Es war wichtig. Nicht nur für die Dorfbewohner, sondern auch für sie persönlich.

„Mein Onkel könnte eine fleissige Biene wie dich gebrauchen. Wenn du brav bist, leg ich ein gutes Wort ein, Kleines.“ Dina seufzte laut und drehte sich zu dem Sprechenden um. „Folge mir nicht“, war ihre Antwort, obwohl sie wusste das Ben es nicht tun würde. Immerhin war dieses Mal alleine. Statt weiter mit ihm zu diskutieren, lief sie Richtung des Schlachthauses.

Natürlich liess Ben sie nicht in Ruhe. Folgte Dina mit jedem Wort unflätiger werden bis zum Dorfende. Dina blieb stehen und betrachtete den jungen Mann. Man hörte einige Hunde kläffen, die sich um die Fleischabfälle balgten.

„Ben, was ist mit deinem Bein? Schmerzt es noch?“

„Wenn du dich um mich heute Nacht kümmerst nicht mehr.“

Grinsend schritt Ben zu Dina und zog sie zu sich. Dina schloss die Augen und flüsterte: „Ich kann dich jetzt schon verarzten.“
 

Schwer atmend humpelte der junge Mann zurück zum Dorf. Die Wut zeichnete sein Gesicht. Die Hexe wird bezahlen!, schoss es ihm durch den Kopf. Wie konnte sie ihn so behandeln? Ihn!

Fluchend setzte er sich auf einen Stein und blickte zum Wald.

Dieser Wald war verflucht erzählte man sich. Die Gattin des herrschenden Adeligen brachte dort alle Geliebten um, nach dem ihr Mann mysteriöser Weise verstarb. Die Kinder, ein Mädchen und ein Knabe, verschwanden. Was mit der Witwe geschah, wusste niemand. Verschwand sie? Holte sie der Tod? Oder wohnt sie immer noch in dem verlassenen Anwesen?

Ben erhob sich unter Schmerzen. Er würde sich an Dina und Ruben für die Demütigungen rächen. Sicherlich half Betsy ihm dabei.
 


 

***

 

 

Lachend und sich freuend rannten die Kinder auf der Wiese herum. Die Stadt war geschmückt und einige Gäste aus der Ferne kamen wie jedes Jahr vorbei. Ruben blickte zu den gedeckten Tischen und seufzte. Konnte er Dina alleine lassen? Doch gerade heute gab es einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Er würde erst gegen Abend zurück sein.

Er stand Abseits, wartete auf den Pferdewagen und den Alten. Missmutig blickte er zu den Menschen. Was wenn jemand herausfand, dass Dina und er…

„Steh gerade, Bruder. Heute ist ein Freudentag für unsere Stadt.“ Dina freute es Ruben erschreckt zu haben. Er war Selbstschuld, wie er wie ein Greis in deinen Gedanken versank. „Aber leider ist mein Herr Bruder mit anderen Dingen beschäftigt“, ergänzte sie mit einem leichten Grinsen. Schnaubend drehte Ruben sich um und antworte. Eine Weile unterhielten sie sich, bis der alte Mann ihn zu sich rief.

„Pass auf dich auf, Schwesterchen.“

„Willst du mir alleine diesen Rat geben, bevor du gehst?“

Sie bekam keine Antwort. Das enttäuschte sie mehr, als es sollte. Dina blickte zu sich herunter, zupfte an der Schürze. Sah er es wirklich nicht?

Unsicherheit stieg in der jungen Frau hoch. Sie trug eine der Schürzen, die sie für das Fest nähen musste. Auch bekam sie neue Schuhe und Strümpfe von der Bürgermeisterin. Sie sähe ja wie „eine von der Gosse aus“. Das Kleid lieh ihr eine andere junge Frau.

Sicherlich wusste Dina, weshalb sie die Kleidung bekam. Es geschah nicht aus Güte oder Mitleid.

Dafür musste sie die Arbeiten ausführen, die niemand sonst machen wollte. Oder den Ruf beschädigen würde. Jedoch sehnte sie sich nach einem Kompliment von ihrem Bruder.
 

 

Komm in unsere Arme. Schwesterchen. Kindchen.

Lassen dich nicht los. Die Dunkelheit wird dich holen.

Komm in unsere Arme. Schwesterchen. Kindchen.

Lass dich verschlingen. Lass dich verbrennen.
 

 

Schlürfend setzte sie ihre Schritte. Zitterte, aber nicht vor Kälte. Diese spürte sie nicht, obwohl sie nicht mehr viel am Leibe trug. Eine Eule flog über sie hinweg, landete auf einem Ast. Blickte auf den Menschen. Lautlos. So, als würde die Eule den Eindringling griesgrämig akzeptieren. Der Mond erhellte die unwirklich erscheinende Szene, zeichnete gespenstische Schatten im Wald.

Der Wald, der Unheil über eine aristokratische Familie brachte. Von den Bäumen regnete es Blut, das Lachen einer Hexe übertönte die Schreie der leidenden Geliebten. Und das Weinen zweier Kinder.

Erinnerungen krochen in der taumelten Frau hoch. Sie wollte es vergessen. Doch nun war sie hier. Der Ort voller alptraumhaften Erinnerungen. „Bruder, verzeih mir … Ich wollte dich nicht in Stich lassen …“schluchzte sie. Fiel hin und rührte sich nicht mehr. Ihr kleiner Holzengel fest umklammert.
 

Seine Faust pochte noch, Blut klebte daran. Doch dies war ihm gleich, genauso wie die kommende Bestrafung. Diese zwei boshaften Scheusale haben es verdient. Lieber hätte er ihnen das Messer in die Brust gerammt, jedoch würde er nicht wieder jemanden tödlich verletzten. Ben und Betsy würden ihre Bestrafung noch bekommen.

In seinem Zorn bemerkte Ruben nicht, wie ihm der Alte folgte. Begleitet von der Katze, die auf der Schulter des Mannes sass. Erst am Waldrand machte er sich bemerkbar. Zuerst war Ruben aufgebracht, brüllte herum und wollte seinen Gönner schlagen. Doch der Alte konnte ihn mit einem Wort zur Vernunft bringen. Oder lag es an seiner natürlichen Autorität und Unerschrockenheit, welche Ruben spürte und sein Zorn milderte?

„Nimm diese Laterne mit, Bursche. Ich warte hier. Beil dich, ich möchte dich nicht suchen müssen.“ Fast zögerlich griff der Angesprochene nach der Laterne. Sein Blut rauschte noch, doch er wusste, dass der Alte recht hatte. Ohne Licht in den Wald zu rennen, trotz des Vollmondes, war eine Torheit. Ohne ein Wort des Dankes rannte Ruben in den Wald. Er musste Dina finden. Bevor was Schlimmes geschehen würde.

 

 

Der kühle Luftzug tat dem alten Mann gut. Gemütlich sass er auf einem Stein, die Katze auf dem Schoss. Rauchte gemütlich seine Pfeife und lauschte den Geräuschen der Nacht. Sein Blick auf dem Wald gerichtet.

„Du bist nicht mehr die Jüngste. Die Heirat hat dich aufgehen lassen.“ Ein empörtes Schnauben verriet dem Wartenden, das seine Worte die Richtige getroffen hatte. Die Mühe, sich umzudrehen, konnte er sich sparen. Bevor die Kommende zum Sprechen kam, hob er die Hand. „Der Bursche ist drin und sucht. Das kannst du den anderen ruhig berichten. Dann habt ihr Weiber was zu tratschen.“

Kopfschüttelnd seufzte die Gattin des Fleischers. Doch das es wahr war, konnte sie nicht abstreiten.

Niemand konnte sagen, was genau geschah. Dina bediente die Gäste. Spülte Geschirr. Half da aus, wo eine Hand gebraucht wurde. Dann war sie auf einmal verschwunden. Die Tochter des Schneiders war sich sicher, sie nach Hause laufen gesehen zu haben. Alle glaubten Betsy. Weshalb sollte sie eine Lüge erzählen? Das Ben und seine Freunde ihr wirklich … Der Gedanke liess die stämmige Frau erschaudern. Falls dies der Wahrheit entsprach, machten sich die Burschen einer folgenschweren Sache schuldig.

Murmelnd drehte der Mann nun zu ihr um. Winkte sie zu sich. Zuerst wollte die Frau nicht der Einladung nachkommen. Weshalb sollte sie dies tun? Der Greis sagte ja selbst, sie solle zurückgehen. Trotz ihres Widerwillens schritt sie auf den Alten zu, blieb einige Zentimeter vor ihm stehen.

„Machst dir Sorgen, ne?“, fragte er direkt. Die Frau nickte. „Ich hab nichts gegen die Kleine“, nuschelte die Gefragte.
 

Schweigend warteten sie. Der Wind pfiff um die Ohren der Wartenden. Die Decke, welche die Frau vorsorglich mitbrachte, beschlagnahmte die Katze. Der Alte blieb störrisch ruhig, während die stämmige Dame mit jeder verstrichenen Minute aufgewühlter wurde. Sie fing leise an zu beten. Der Alte verkniff sich dieses Mal einen Kommentar.

„Sie kommen.“

„Was?“

Der Alte erhob sich. Die Frau blinzelte, versuchte was zu sehen. Wie ein Blitz huschte die Katze in den Wald. Bibbernd starrte die Frau in diese Richtung. Schliesslich erkannte man die Silhouette von Ruben. Langsam schritt er aus dem Wald. Trug den scheinbar leblosen Körper seiner Schwester. Die Katze lief mit erhobenem Schwanz vor, als würde sie Brüderchen und Schwesterchen in die Sicherheit führen wollen.

„Steh nicht rum, Weib“, murmelte der Alte und schüttelte am Arm der blass werden Frau. Sie reagierte nicht. „Gott im Himmel, oh Gott im Himmel …“, flüsterte sie, fiel auf die Knie und schloss für einen Augenblick die Augen.

Der Anblick liess ihr Herz bluten. Wie ein Gespenst schritt Ruben aus dem finsteren Wald. Der Vollmond erhellte die Szene. Sonst freundlich und väterlich schenkte er nun sein Licht kalt und dämonisch. Dina lag in seinen Armen. Ihre Haare zerzaust. Ihre Glieder wie von einer kaputten Puppe. Bloss ihre Leibwäsche tragend. Hatten Dina und Ruben dies verdient? Sie kamen in diese Stadt. Kauften sich ein eigenes Häuschen. Hätten sie sich lieber ein Zimmer im Gasthaus mieten sollen? Wäre das weniger merkwürdig erschienen? Waren sie, die Fremdlinge, wahrhaftig gottlos, wie einige munkelten?

Der Alte blickte zu der Frau. Er sagte nichts, konnte ihr schlechtes Gewissen jedoch förmlich spüren. Er bewegte sich nicht auf Ruben zu. Spannender war, was die ehrenwerte Dame nun tun würde. Wie würde sie sich entscheiden?

 

 

 

„Trink das.“

„Danke.“

Zögerlich nahm Ruben den Teller Suppe. Sein Blick huschte zu seiner geliebten Schwester. Lächelnd tätschelte die Frau den Arm des Mannes. „Mein Mann ist unterwegs zum Doktor. Falls er nicht beim Fest war, ist er zu Hause“, erklärte sie fast mütterlich. Ruben nickte. Das wusste er. Auch, das der Alte einfach mitging.

Es gab einen Streit mit dem Fleischer, den der Alte mit einem Satz gewann. Auf eine gewisse Art war es amüsant. Der Fleischer, ein kräftiger Mann mit lauter Stimme, gegen den Alten. Einen alten Mann mit einer Katze im Arm. Ruben war sich sicher, dass das Väterchen kein gewöhnlicher Mann war.

Er hatte Dreck am Stecken. Doch was das Väterchen in seinem Leben getan hat und noch tun würde, darüber würde sich Ruben nicht den Kopf zerbrechen.

Die Frau seufzte. Ruben zuckte zusammen. „Schon gut, trink deine Suppe“, antworte sie hastig. „Ich kenne dich nicht. Dina hat aber, falls sie gesprochen hat, nur über dich geredet. Deine Schwester und du, ihr hattet es nicht leicht?“ Ruben nickte langsam. „Euer Haus liegt entfernt von der Stadt. Deswegen gab es Gerüchte.“ Wieder nickte Ruben, da er nicht unhöflich sein wollte. „Dina ist fleissig. Auch dich sieht man immer mit dem Alten. Der Starrkopf scheint dich ins Herz geschlossen zu haben.“ Leise lachte die Frau und erhob sich. Verwundert blickte Ruben ihr nach.

Ein Teil von ihm verkrampfte sich, da er niemand vertrauen wollte. Doch als er sah, dass sie seiner bewusstlosen Schwester die Stirn abtupfte und mit ihr sanft redete, nahm er einen Löffel voll Suppe.

Sie schmeckte köstlich. 



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