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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Währenddessen in Dantes Kopf ... Komplett anzeigen

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Akt I - Arrest: 3-2

3-2: DANTE
 

Schwierig war ein nettes Wort für den Fall, den er sich hier an Land gezogen hatte.

Jins Teufel hatte ihm in der Kirche gefallen – endlich mal wieder eine Herausforderung, ein starker Gegner, der Spaß machte –, doch seine anfängliche Begeisterung war inzwischen einer gewissen Ernüchterung gewichen. Er durfte Jins Teufel nicht töten, sich nicht an ihm austoben, denn er musste den menschlichen Teil von Jin wohl oder übel am Leben lassen, so verlangte es sein eigener Kodex. Zu dumm: Es fühlte sich an, als hätte er sich ein neues Spielzeug angeschafft, mit dem er eigentlich nicht spielen durfte. Hinzu kam, dass ihm bei seinem tatsächlichen Auftrag – nämlich Devil zu vernichten und Jin dabei am Leben zu lassen – seine überragenden Fähigkeiten im Kampf gegen Dämonen überhaupt nichts nützten. Seine unmenschliche Stärke, seine überlegenen Waffen, seine Expertise – alles nutzlos. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er den Teufel von Jin trennen sollte. Was für einen Fisch hatte er sich da bloß geangelt?

Aber gut, er konnte sich später selbst bemitleiden für all den Mist, der im Moment passierte. Erst mal gab es einen brandneuen Auftrag.

Wieder musste er den langweiligen Weg bis zu der völlig demolierten Kapelle zu Fuß zurücklegen. Er hätte auch das Motorrad nehmen können, doch das wäre ungünstig für den Fall, dass es wieder jemanden – oder etwas – zu transportieren gäbe.

Jetzt, da Dante sicher wusste, dass Trishs Kidnapper sich irgendwo in der Gegend herumdrückte, wäre ihm jeder Vorwand recht gewesen, die Kirchenruine näher zu untersuchen. Er musste diesen armen Irren in die Finger kriegen. Verdammt, noch nie zuvor hatte sich jemand erdreistet, eine seiner Partnerinnen anzurühren. Es war wie ein … Einbruch in sein Heiligtum. Und Trish war nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft, sie war … Nun, er würde sie schon aufspüren und heldenhaft retten. Vielleicht also war es nicht so schlecht, dass sein Unwissen ihn davon abhielt, der Forderung dieses Bekloppten einfach Folge zu leisten.

Und jetzt hatte er auch noch diesen schrägen Japaner im Haus. Diesen Jin Kazama. Ganz unverkennbar ein reiches Gör, immerhin ziemlich gut erzogen, aber auch das nervte, denn der Grünschnabel schmiss die ganze Zeit mit Höflichkeit um sich, selbst dann, wenn er wütend war. Und Wut erkannte Dante sofort.

Lassen Sie mich ausreden! Ja, natürlich. Lassen SIE mich AUSREDEN. Fehlte nur noch ein Bitte, ordentlicher ging es nicht. Ich möchte kein Obst, danke. Ach, wie niedlich. Ich will gehen! Ach was? Ich glaube, wir haben uns für heute genug unterhalten. Oh, da war der Kleine schon wirklich angepisst gewesen. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er ›Sie Arsch‹ sagte?

Bestimmt glaubt er, dass er furchtbar unhöflich war. Oh, und wahrscheinlich versucht er gerade auszubüxen.

Egal – Jin würde nicht weit kommen. Der einzige freie Weg nach draußen führte über das Dach. Wenn das Kerlchen sich also nicht verwandeln wollte, würde er auch nicht abhauen können.

Aber vielleicht ist der suizidal, dachte Dante und furchte die Stirn, während er dem Straßenpflaster folgte. Verzweifelt genug sieht er aus. Er wusste, dass es für die allermeisten Menschen das nackte Grauen bedeutete, ihren Körper mit einem Dämon zu teilen. Und Jin Kazama war ganz unübersehbar an einem Punkt angekommen, an dem er kapiert hatte, dass es nichts nützte, reich zu sein oder Macht zu haben; dass es egal war, welche körperlichen Kräfte er besaß oder wie gut er seinen Geist unter Kontrolle hatte. Gegen einen Teufel bedeutete all das nichts. Dieses Devil-Ding … Was sollte das sein? Dante war kein Fall bekannt, in dem ein Dämon mehrere fremde Körper gleichzeitig bewohnte. Dahinter musste irgendetwas anderes stecken. Nicht die Art von Besessenheit, mit der ihn sein Beruf gelegentlich – zum Glück nur selten – in Berührung brachte.

Devil. Viel einfallsloser geht’s echt nicht.

Er selbst hatte den zahllosen Monstern in seinem persönlichen Kompendium immerhin noch lustige oder stylishe Namen gegeben. Gut, zu Beginn seiner Karriere hatten sie auch nur die Namen der sieben Todsünden und so weiter gehabt, aber auch das war allemal kreativer als Devil. Als ob es nur einen einzigen Teufel auf der Welt gäbe. Hölle, es gab genug von ihnen. Da ist für jeden was dabei, ha.
 

Dante sah die ramponierte Kirche von weitem, und mit ihr die Blaulichter, die auf stehenden Streifenwagen hektisch um die Wetter blinkten. Diesmal waren es schon zwei. Tja, in dieser Stadt würden er und die Cops sich ständig begegnen, wenn es um dämonische Aktivitäten ging; er hatte eine Art … Vereinbarung mit ihnen. Schuld daran war ein Mann namens Captain Slate, den Dante schon kannte, seit er als junger Hüpfer in die Stadt gekommen war und begonnen hatte, seinem Geschäft nachzugehen. Slate, ein hartgesottener Kriegsveteran, war damals Chief gewesen und hatte wegen seiner Fairness und Gutwilligkeit großen Respekt genossen; auch Dantes, zugegebenermaßen. Eine Zeitlang hatten sie einander nur stillschweigend beäugt – Dante wusste noch nicht, inwieweit er der Polizei aus dem Weg gehen musste oder überhaupt konnte, während er sein kleines Unternehmen aufbaute. Denn Slate wusste immer und überall, was Sache war. Dante wollte keinen Ärger mit den Hütern des Gesetzes. Er nahm sie ernst, es sei denn, es handelte sich um Vollidioten. Das kam leider vor. Zum Glück gehörte Slate nicht zu ihnen, und nach einem guten halben Jahr ging er auf Dante zu und besuchte ihn unangemeldet im Devil May Cry – nicht, um sein Büro auf illegalen Besitz zu durchsuchen oder seine Methoden in Frage zu stellen, sondern um ihm etwas vorzuschlagen. Eigentlich, erklärte der Chief, fände er es gut, jemanden wie Dante in der Stadt zu haben, aber statt ihn ständig überwachen zu müssen, würde er Dantes Fähigkeiten lieber sinnvoll einsetzen. Heute wusste Dante sehr gut, warum. Als junger Mann war er nicht einfach gewesen, ziemlich ungestüm und allzu unbedarft. Slate wollte dieses Temperament in gerade Bahnen lenken. Und sein Anliegen war bei Dante durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen. Dante hatte nichts dagegen, hin und wieder mit der Polizei zusammenzuarbeiten, und er wusste, was er dafür haben wollte. Slate hatte sich offen und kooperativ gezeigt, und so waren sie schnell zu einer Einigung gekommen. Der Deal war: Dante durfte und musste alles tun, um die Stadt von Dämonen sauber zu halten (und Hallow Hills hatte in der Hinsicht echt ein Problem, was das Geschäft gut laufen ließ) – und wenn dabei etwas was zu Bruch ging, wurde er nicht dafür belangt. Bis heute war das ein verdammt wichtiger Deal, denn auf öffentlichem Gelände mit scharfen Waffen Teufel zu zerschnetzeln konnte einen vermutlich ruinieren. Diese Sorge war somit Geschichte. Slate behandelte ihn immer fair, und Dantes jugendlicher Heißsporn, seine Arroganz und überbordende Energie beeindruckten den Chief nicht übermäßig. Allerdings fingen die Cops, als sie merkten, dass Dante ihre Aufträge fraglos erledigte, an, ihn als eine Art Special Task Force in die Arbeit des Departments einzubinden. Das wiederum gefiel ihm gar nicht, also forderte er wieder ein Date mit dem Captain. Slate machte keinen Hehl daraus, dass er jemanden, der Monster umbrachte, gerne behalten würde, doch er respektierte Dantes eigene Vorstellungen und ließ ihn in Ruhe, in dem Wissen, dass er seine extremen Fähigkeiten im Kampf gegen übernatürliche Bedrohungen jederzeit anfordern konnte, wenn es wirklich nötig war. Slate war ein guter Kerl. Er hatte Dante nie das Gefühl gegeben, ihn als Eindringling in sein Revier zu sehen, als Bedrohung seiner Autorität. Mit dem aktuellen Chief, Fordham, lagen die Dinge leider etwas anders: Der Kerl versuchte seit seiner Ernennung, Dantes Kooperation auszunutzen. Dadurch kamen sie einander regelmäßig in die Quere. Dante musste zugeben, dass es ihm schwer fiel, Fordham zu respektieren. Slate war für ihn eine Person auf Augenhöhe geblieben, auch als sie beide älter wurden; Fordham jedoch musste ständig darauf hinweisen, dass er der Chef war, und das war kein gutes Zeichen.

Fordhams Jeep stand quer über dem Zugangsweg, flankiert von den beiden Streifenwagen.

»Da bist du ja«, seufzte der Chief und entfaltete seine Arme. Seine immer noch vertikal abwärts zeigenden Mundwinkel besserten Dantes Laune schlagartig.

»Zu deiner Info, Steingesicht«, begann er munter, »für den nächsten Notfall sollten wir mal über so einen Scheinwerfer reden, wie ihn Batman hat.«

»Ja, witzig«, ätzte Fordham. »Muss mich übrigens korrigieren: Das war nicht derselbe, den du vorhin hattest.«

»Wie, soll das etwa so eine Art Entschuldigung sein?« Schade. Doch leider kein Grund, Jin Kazama alias Million Dollar Baby irgendwo in der Wüste auszusetzen.

»Wir wollen mal nicht übertreiben«, knurrte der Chief und rückte seinen Hut gerade. »Schließlich weiß ich, dass es dir scheißegal ist, ob es mir leid tut. Hör zu: Der andere Kerl ist, wie ich gerade erfahren habe, ein … Mensch, den meine Leute heute Mittag hier hatten. Er scheint nicht ganz richtig im Kopf zu sein, wie sich bei dem Verhör rausgestellt hat. Er ist entwischt, ehe man ihn festsetzen konnte. Und dann hat er … nun ja, angeblich ein paar schwarze Flügel aufgespannt und …«

Dante unterbrach ihn knurrend: »Ein Mensch, der schwarze Flügel aufspannt, ist kein Mensch. Wo ist er hin? Hockt er auch da drinnen?« Er nickte in Richtung Kircheneingang.

»Nein, er ist auf dem Dach.«

»Nicht das schon wieder.«

»Aber«, wandte Fordham rasch ein, »er scheint gerade nicht … verwandelt zu sein. Als ich hier rein kam, um zu checken, ob er überhaupt noch hier ist, da ist er vor mir abgehauen und hochgeklettert, nicht geflogen oder so. Er ist gesprungen, ziemlich hoch, hat sich irgendwo festgehalten –«

»Erspar mir Details«, fiel ihm Dante zum zweiten Mal ins Wort. »Ist er irgendwie bewaffnet?«

»Nein. Er hatte so was wie Schlagringe bei sich, die sind im Department.«

»Na, immerhin. Dann hol ich ihn dir jetzt. Mal sehen, ob deine Leute Recht hatten oder einfach nur Gespenster gesehen haben.«

Insgeheim glaubte Dante genau das: dass Fordhams Leute wieder einmal zu viele beschlagnahmte Substanzen an sich selbst ausprobiert hatten. Natürlich um zu testen, ob sie echt waren. Denn, ernsthaft, welchen Sinn hatte es für einen Teufel, in seiner unterlegenen humanoiden Gestalt die Flucht zu ergreifen, anstatt einfach in seine dämonische Form zu wechseln und die Verfolger zu beseitigen? Denn so tickten Teufel. Etwas zu töten war ihnen allemal lieber als vor etwas davonzulaufen, selbst wenn dies die klügere Option sein sollte. Damit hatte Dante reichlich Erfahrung.

»Noch was, Fordham«, sagte er, während er das im Dunkeln liegende Dach der Kirche im Auge behielt. »Kamen die Hinweise, dass hier ein geflügeltes Monster rumspringt, eigentlich beide Male von derselben Person?«

»Interessant, dass du das fragst«, bemerkte der Chief. »Ja, war so. Hat aber seinen Namen nicht genannt, der Kerl. Anonymer Hinweis.«

»Klar«, murmelte Dante. Vom Erdboden aus konnte er diesmal nichts auf dem Dach erkennen, keine Bewegung, keine Silhouette. »Ich bin dann mal weg. Bis gleich.«
 

Das Dach zu erklimmen war, wie Dante vom verlassenen Inneren der Kirche aus herausfand, für einen geübten Kletterer nicht allzu schwierig. Als er sich mit Rebellions vertrautem Gewicht auf dem Rücken über den bröckelnden Rand zog, sah er tatsächlich einen jungen Mann am Dachrand sitzen, der einen Mantel von dunkler Farbe trug und ihm den Rücken kehrte. Er wirkte müde, seine Schultern waren schlaff und sein Kopf gesenkt, aber die Natur dieser und jener kleineren Bewegung, die er machte, ließ erkennen, dass er durchaus wach war und schlicht keine Notiz von dem Ankömmling nahm.

Gemächlich richtete Dante sich auf, streckte sich und strich weißen Staub von seiner Kleidung. Sollte das da wirklich ein Dämon sein?

»Hey. Was machst du hier?«, sprach er den vermeintlichen Unruhestifter an.

»Keine Ahnung. Was machst du hier?«, gab dieser zurück, ohne sich nach Dante umzuwenden. Sein Englisch war deutlich besser als Jin Kazamas, aber dennoch mit einer fremden Melodie. Er mochte ein, zwei Jahre älter sein als Dantes japanischer Gast. Und offenkundig war er längst nicht so abstoßend höflich.

»Ich suche einen geflügelten Dämon. Hast du den gesehen?«

»Nö. Sorry.«

»Dachte ich mir.«

»Willst du den erledigen?«

»Hm?« Dante hatte sich bereits wieder abgewandt, als diese Frage ihn dazu veranlasste, über die Schulter zu sehen. »Nein, ich will ihn nach dem Weg fragen.«

»Ah!« Der Fremde lachte auf. »Bist ja ’n ulkiger Typ. Hab gehört, der Dämon soll ganz schön Power haben.«

»Hast ihn wohl doch gesehen?« Hör mal besser schnell auf, mich zu verarschen, Freundchen.

»Yo, ein bisschen gesehen hab ich ihn.«

»Wie groß?«

»Hm, so vielleicht.« Noch immer ohne einen einzigen Blick nach rückwärts zu werfen, hob der komische Kerl die flache Hand an die Stirn.

»Was du nicht sagst.« Da hat wohl jemand eine Packung Scherzkekse aufgemacht, dachte Dante. Lautlos zückte er Ebony und richtete sie auf den unbehelligt dasitzenden und ihn rotzfrech ignorierenden Missetäter. »Los, steh auf.«

»Wieso?«

»Du bist eine Spur zu verdächtig.«

Der Rückenkehrer zog die Nase hoch. Irgendwie klang seine Stimme schleppend, als er entgegnete: »Ich geh sicher nicht zurück zur Polizeistation. Die helfen mir nicht.«

»Mir völlig egal, was die mit dir machen. Bist du ein Dämon oder nicht?« Wenn du wüsstest, was gut für dich ist, dann würdest du dich jetzt endlich mal zu mir umdrehen. Niemand hier ist unverschämter als ich.

Der Andere zuckte schlaff die Schultern. »Nicht direkt. Aber irgendwie schon. Erschieß mich doch.«

Dante erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Der Kerl wusste, dass er eine Pistole auf ihn richtete, obwohl er nicht hinter sich gesehen hatte.

»Du hast deine Knarre nicht entsichert.«

»Die ist halbautomatisch.«

»Ah. Was es in dieser Zeit nicht alles gibt … Na, dann mal los, immer drauf.«

»Keine Angst?«

»Nö.«

»Auch kugelsichere Teufel machen eher schlechte Erfahrungen mit Ebony und Ivory. Willst du dich nicht umdrehen?«

»Wozu?«, antwortete der Andere lahm. »Ich hab schon gesagt, ich lasse mich nicht einsperren. Ich habe nur um Hilfe gebeten. Aber so was scheint es in dieser Zeit ja nicht mehr zu geben.«

In dieser Zeit? Wunderliches Gefasel. Vielleicht war Dantes erste Vermutung ja doch richtig gewesen, und das hier war wirklich kein Dämon, sondern einfach nur ein armer Spinner. Wie Fordham schon gesagt hatte: nicht ganz richtig im Kopf.

Aufstöhnend steckte er Ebony zurück in den Holster. »Jetzt pass mal auf, Rotznase. Ich hab keine Lust, mir deine Geschichten über schlechte Erfahrungen mit den Cops anzuhören. Such dir dafür einen Therapeuten, okay? Mann, du bist schon der zweite, dem ich heute einen Therapeuten empfehle. Am Ende brauche ich noch selber einen. Wie auch immer, entweder bist du jetzt brav und kommst mit runter zu dem netten Mann mit dem albernen Hut, oder ich setze dich außer Gefecht und schleife dich da selber hin. Na?«

Wieder lachte der junge Mann nur. Es klang ein bisschen irre und überhaupt nicht nach Amüsement. »Komm, Alter, das will ich sehen. Schleif mich hin.«

»Bitte sehr.« Dante packte Rebellions Griff und schleuderte das Schwert beiseite, um den Spinner nicht damit zu verletzen, falls dieser so etwas wie Körpereinsatz zeigen sollte. Noch während die Klinge scheppernd auf den Stein prallte, ging er den störrischen Bengel von hinten an.

Dieser war, ehe Dante ihn erreichte, plötzlich geschmeidig auf die Füße gesprungen, fuhr herum und ließ am gestreckten Arm die rechte Faust vorschnellen. Sie ging ins Leere, weil Dante die Bewegung gerade noch rechtzeitig hatte kommen sehen – doch viel hatte nicht gefehlt. Unbeeindruckt durch den Fehlschlag drosch der Jüngere weiter in die Richtung seines Angreifers, mit der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der soeben aus einer Grube voller giftiger Schlangen entkommen war und sich auf keinen Fall wieder dort hineinwerfen lassen wollte. Dante hatte Mühe, den rohen Schlägen auszuweichen, die dort, wo sie an seiner Statt das Dach trafen, den Stein krachend zertrümmerten. Es war erstaunlich, was für eine verzweifelte Energie in dem Burschen steckte. Eine beinahe übermenschliche Kraft …

Ich muss ihn ausbremsen. Wenn der sich erst mal in einen Prügelrausch gesteigert hat, mäht der da unten gleich weiter, bevor ich ihn gepackt kriege.

Dante verharrte auf der Stelle, die Fäuste zur Abwehr erhoben, und als sein Kontrahent wieder auf ihn losstürmte, trat er ihm im allerletzten Moment aus dem Weg und ließ ihn voll ins Leere laufen. Mit einem grimmigen Aufschrei rannte der Ausgetrickste noch einige Schritte weiter und fing sich stolpernd. Jetzt erst bemerkte Dante das eigenartige Taumeln seines Ganges, das viel zu heftige Zittern der Gliedmaßen. Etwas stimmte mit dem Kerl nicht. War der auf Drogen?

Diese Frage wurde unwichtig in dem Moment, da sie sich endlich gegenüber standen und ihre Blicke sich trafen.

Und unfähig waren, sich voneinander zu lösen.
 

Irgendwo existiert eine Welt jenseits allen Lebens. Eine Sphäre, durchsetzt von uralten, lange toten Gedanken, angefüllt mit einem Grauen, das kein fühlendes Wesen beim Namen nennen kann. Der Spalt, durch den diese Welt sichtbar wird, ist wie ein verwesendes Auge, umschwirrt von bösartigen Ausstülpungen wie von Aasfliegen. Hinter dem trüben, wächsernen Schleier aus urtiefer Widerwärtigkeit schlummert die nackte Verdammnis, deren Anblick nicht zu ertragen ist; eine einzige Sichtberührung stürzt den Geist des Menschen in die Unendlichkeiten des Wahnsinns, in eine verzweifelte, unheilbare Schwärze, aus der er aus eigener Kraft niemals wieder empor zu klettern vermag.

Dante hatte durch diesen Spalt gesehen. Naturgemäß. Und er hatte geglaubt, dass niemand außer ihm das Wissen um das, was dort verborgen lag, aushalten könnte. Doch in den Augen des anderen Mannes sah er genau das. Denselben namenlosen Schrecken, den auch er gesehen hatte. Eingebrannt wie ein unsichtbares Siegel haftete es dem Blick an, der Aura, allem, was der Andere ausstrahlte.

Er war da, begriff Dante, wo keiner sein sollte.

Dieser Mensch hatte diese Welt, das alptraumhafte Jenseits, erblickt, und etwas in ihm war daran zerbrochen wie zartes Glas, das auf massiven Fels prallt. Er war als andere Person von dort zurückgekehrt.

Wie ich. Wie jeder.

Minutenlang starrte Dante sein Gegenüber stumm an. Er hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Die schrecklichsten Tiefen der Hölle – sie hatten sie beide gesehen.

Schwer atmend erwiderte der hagere Kontrahent Dantes starren Blick. Seine Muskeln bebten wie im Fieber, und aus seinem leicht geöffneten Mund troff zäher Speichel. Es war allzu offensichtlich, warum er so unbeherrscht reagiert hatte, warum Dante so leicht seine finstere Persona aus seinen Augen hatte ablesen können.

»Du stehst wirklich unter Drogen«, stellte er fest.

Der Andere stöhnte leise. »Ich … kann nichts dafür.«

»Ich weiß, immer ist die Gesellschaft Schuld.«

»Ich … ich werde nicht mit dir mitkommen.«

»Wie gesagt. Ich schleife dich hin, wenn’s nötig ist.« Obgleich er das nicht wollte, nicht mehr. Im Moment musste er sich beherrschen, nicht seinem Mitleid nachzugeben. Der arme Kerl dort vor ihm auf dem Dach war völlig gestört – was nicht verwunderlich war, wenn man die Umstände bedachte. In ihm war die Hölle. Sie würde dort bis zum Ende seines Lebens auf ihn warten, bis er schließlich in seinen eigenen Alpträumen ertrank.

Dantes Gegner schüttelte langsam den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel seines Mantels über das feuchte Kinn. »Nein. Wirst du nicht.«

»Wetten?«

»Pah.«

Und dann schien es, als müsste der Kampf von vorne beginnen. Doch Dante wollte nicht zum Gegenangriff übergehen; das würde nicht nötig sein, ganz gleich, wie verzagt und angriffslustig der andere war. In wenigen Minuten würde dieses sinn- und ziellose Gerangel vorüber sein.

Sein Rivale sortierte die schlotternden Glieder, und als seine Faust ein neuerliches Mal an Dantes Ohr vorbeischoss, griff Dante mit der Rechten fest in den Haarschopf des Mannes und packte mit der Linken seine Schulter, um ihn schwungvoll herumzudrehen. Ehe der Andere merkte, wie ihm geschah, lag sein Hals genau in Dantes Ellenbeuge und Dantes Fußspitze veranlasste seine Kniekehlen unsanft zum Nachgeben.

So sackten sie beide zu Boden, nur noch halb aufrecht, und Dante hielt die Kehle des sich windenden Gegners in einem felsenfesten Headlock umschlungen.

»Aaaarghhhhh«, presste der vermeintliche Dämon hervor. »Boah … Scheiße …« Seine Hände griffen nutzlos hinter sich, erreichten Dante nicht, patschten haltsuchend auf dem Boden herum.

»Gleich gehst du schlafen, Kleiner.«

Hustend zog der andere Luft durch seine beengten Atemwege, und Dante spürte, wie der Brustkasten, über dem sein rechter Arm lag, sich weitete. »Bist du … so was wie … ein Dämonenkiller?«

»Gut erkannt.«

»Na toll … ich auch … irgendwie.«

»Klar, in deinen Träumen. Willst du immer noch nicht brav sein?«

»Nein.« Wieder kam ein sinnloser Versuch der Gegenwehr. »Lass mich los.«

»Nicht heute, fürchte ich. Ideen, wie wir das Problem lösen?«

»Du bist kein Problem«, röchelte Dantes Gefangener. »Ich hab ein ganz anderes.«

»Nämlich?«

»Ich hab mich verirrt … in der Zeit.«

Dante gluckste. Der will mich ablenken mit seinen Storys. Na, nur zu. Ich hab Zeit. »Du kommst also aus der Zukunft?«

»Aus der Vergangenheit.«

»Ah. Keine schöne Vergangenheit, so wie du aussiehst.«

Der junge Mann schüttelte sich in seinem Griff. Dante hörte das Klopfen seines Herzens, so schnell wie das eines ängstlichen Vogels. »Wieso«, ächzte der Andere, »sind in dieser Zeit alle so beschissen unhöflich?«

»Ich und unhöflich? Du hast mir den Rücken gekehrt«, belehrte ihn Dante, ohne auch nur minimal lockerer zu lassen.

»Argh … Hast du etwa ›Hallo‹ gesagt?«

»Ich hab ›Hey‹ gesagt.« Irgendwie war die Frage absurd. Dante runzelte die Stirn. »Wie auch immer, jedenfalls hab ich dich an der Gurgel und du solltest spuren, sonst sitzen wir nämlich morgen früh noch hier. Also?«

»Leck mich, Mann.«

Dante verdrehte die Augen. »Alles klar. Du hast drei Sekunden. Danach spanne ich diesen Arm an –« Er gab dem weichen Hals des Mannes eine Kostprobe, was diesen wieder zum Husten veranlasste. »– und dann dauert es genau acht Sekunden, bis zu bewusstlos bist. Und das weißt du, denn du hast ja gezeigt, dass du reichlich Erfahrung im Straßenkampf hast.«

Der junge Mann knurrte wie ein Welpe. Zweifellos war ihm klar, in was für einer Situation er sich befand. »Wieso hörst du nicht auf zu blubbern und … machst es endlich?«

»Soll ich?«

»Mach doch!«

Dante ließ ihn noch ein wenig mehr und ein wenig länger husten. Tüchtige Lungen hatte der Bursche jedenfalls. Jedoch merkte Dante bereits, dass er es nicht übertreiben durfte, denn dieser falsche Dämon war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Was auch immer er genommen hatte, es machte ihn wirr im Kopf und schien ihm auch Übelkeit zu bereiten, denn er speichelte wie ein tollwütiger Köter.

Unerfreut verzog Dante das Gesicht. »Du sabberst auf meinen Ärmel.«

»Sorry.«

»Ich will dir eigentlich nichts tun, weißt du.«

»Was anderes wird dir aber nicht übrig bleiben … Wenn du mich loslässt, bin ich weg.«

»Seltsam, dass du mir das alles so direkt vor die Füße schmeißt. Du versuchst gar nicht, mich zu verarschen.«

»Nein, weil … ich beschissen ehrlich bin.« Ungesundes Husten. »… Okay, meine Lügen sind gerade räudig, weil ich diese blöde Droge intus hab …«

Dante seufzte wieder. Wie in einem schlechten Film saßen sie hier gemeinsam auf dem Dach einer kaputten Kirche, in sehr engem, sehr unfreiwilligem Körperkontakt, während über ihnen die Sterne glommen und irgendwo da unten Chief Fordham sich die Beine in den Bauch stand.

»Nicht mal du kannst aus meinem Würgegriff entkommen, Kleiner.«

»Pah … Würgegriff! Du würgst nicht gerade wie ein Profi. Siehst du … ich kann immer noch reden«, behauptete der Kerl, während er mehr keuchte und schnaufte als alles andere. »Weißt wohl nicht, wo man die Luft abdrückt?«

»Pah, Luft abdrücken. Dauert viel zu lange, derweil könnte ich mir ’ne Pizza bestellen«, spottete Dante. »Nein, am besten klemmt man die Blutzufuhr zum Gehirn ab. Geht viel schneller. Acht Sekunden, dann sind bei dir die Lichter aus. Egal, was du eingeschmissen hast oder was für’n harter Kerl du bist.«

»Ahahaha … Das will ich sehen.« Der Andere hatte mittlerweile jede Gegenwehr aufgegeben und lag nur noch zitternd und sabbernd in Dantes schraubstockartigem Griff. Unglaublich, dass er immer noch so eine große Klappe hatte.

Schlimmer als ich in meinen besten Tagen, dachte Dante. Er konnte nicht leugnen, dass so viel Unerschrockenheit selbst ihm einen gewissen Respekt einflößte. Taffes Kerlchen. Muss man ihm lassen.

»Na dann, hier sind deine drei Sekunden«, seufzte er und hakte seinen linken Arm über den rechten, um durch die Hebelwirkung den Druck zu maximieren. »Eins … zwei …«

»He … ich denke, acht?«

»Nein, nein, nein. Acht dauert es, bis du weg bist.«

»Achso … Gut … weiter.«

»Drei

Dante rechnete fest damit, dass der Kerl ein Ass im Ärmel hatte. Er selbst kannte keine Möglichkeit, aus einem Headlock, wie er ihn hier angesetzt hatte, zu entkommen, doch die Großspurigkeit des Mannes ließ Dante mit allem rechnen.

Er zog an. »Eins … zwei …«

Jetzt zappelte der Kerl doch noch einmal. Seine Atemzüge waren hektisch, die Muskelspannung in seinem Körper ließ schon merklich nach.

»… drei … vier …«

Dante zählte ruhig und drückte unerbittlich zu. Er durfte keine Abwehrbewegungen zulassen. Ein menschlicher Hals war empfindlich. Eine falsche Bewegung, und er könnte dem Spinner das Zungenbein brechen oder den Kehlkopf eindrücken – beides war augenblicklich tödlich.

»… fünf … sechs …«

Ein erstickter Laut drang aus dem vorher noch so kessen Mundwerk nach draußen, begleitet von noch mehr Spucke. Der Körper war jetzt fast völlig erschlafft.

»… sieben … acht.«

Nun war keine Spannung mehr festzustellen.

Dante hielt den Griff noch zwei weitere stille Sekunden – um sicherzugehen –, dann musste er loslassen, wenn er Hirnschäden vermeiden wollte. Vorsichtig löste er seinen Arm vom Hals des Besiegten und stützte dessen Rücken. Der Typ kippte gegen ihn wie ein abgeknallter Hund. Von wegen Ass im Ärmel. Schlaff wie ein Gummihuhn war er – genau wie Dante es ihm prophezeit hatte.

»Du fällst also wirklich einfach um«, brummte er und legte den Mann vor sich auf den Rücken. »Kommt kein Teufel raus. Ich bin enttäuscht.« Er schob einen Arm unter den Nacken des Anderen und einen unter die Kniekehlen, dann stand er mit ihm vom Boden auf. Große Klappe und nichts dahinter. So liebe ich das.

Nachdem er auch Rebellion wieder eingesammelt hatte, trat er mitsamt seiner Bürde an den Dachrand und ließ sich hinunterfallen.
 

Fordham stand unverändert neben dem Eingang der Kirche und war, wie erwartet, aller übelster Laune.

»Das hat ja ewig gedauert!«, keifte er. »Habt ihr da oben noch schnell das Rad neu erfunden, oder was?« Er spuckte ins gelbliche Gras und stapfte zu seinem Jeep, um derbe die Tür zur Rückbank aufzureißen. »Da, bitte, wirf ihn rein!«

»Dem gefällt’s nicht bei euch«, entgegnete Dante, indem er der Anweisung, wenn auch widerwillig, Folge leistete. »Hat sich hartnäckig geweigert, freiwillig mitzukommen. Ich musste ihn kaltstellen.«

Der Chief betrachtete das bleiche Gesicht des Mannes und schnaubte. »Blutwürger?«

»Jap. Und jetzt mach ich Feierabend, wenn du gestattest.«

»Wie, du kommst nicht mit zum Department? Ist das etwa kein Dämon?« Fordham beäugte abwechselnd Dante und den Gefangenen.

»Oh bitte, Steingesicht. Guck dir den Typen an. Das ist ein Mensch. Ein wahnsinniger, vollgesabberter Mensch.«

»Hmmm.« Erstaunlicherweise wirkte der Chief beinahe zerknirscht. »War dann wohl ein falscher Alarm für dich. Aber Green, Smith und Lockwood haben allen Ernstes behauptet, der wäre aus’m Fenster gehüpft und losgeflogen.«

Diese Feststellung beließ Dante in weiser Voraussicht ohne Kommentar. Er wollte jetzt zurück nach Hause und seine Ruhe haben. Schließlich hatte er nun zwei Probleme zu lösen – Trish und Jin Kazama –, und dies war in seinen Augen mehr als genug. Wenn auch dieser andere Typ ihm leid tat, denn er hatte ganz offenkundig viel durchgemacht.

»Ich bin weg«, erklärte er, machte eine schlaffe Abschiedsgeste und kehrte der Kirche den Rücken.

Nach nur wenigen Schritten in Richtung Straße rief ihm Fordham hinterher: »Hey, Dante!«

Dante sah über die Schulter. »Was ist, kalte Füße?«

»Du hast den Anderen von vorhin doch mitgenommen.«

»Ja.«

»Auch ein Mensch?«

»Ja.« In etwa.

»Willst du den hier auch mitnehmen? Zur Aufsicht.«

Dante starrte Fordham an. Er fragte sich, ob seine Gesichtszüge gerade wirklich so sehr entgleist waren, wie sie sich anfühlten. »Dein Ernst?«

»Wenn der Kerl … wirklich ein Freak ist«, suchte Fordham nach Worten, »dann werden wir im Department echte Probleme mit ihm kriegen.«

»Und ich nicht, oder wie?«

»Er ist gewalttätig. Wir müssten ihn unter Drogen setzen.«

»Der ist doch eh schon voller Drogen. Guck dir die Augen an. Außerdem hätte der nach meinem Würger längst wieder zu sich kommen müssen, aber er liegt immer noch nutzlos rum.«

Fordham seufzte, ohne argumentative Grundlage für seine egoistische Forderung. »Du hast doch den Anderen schon zu Hause. Was macht da einer mehr von der Sorte?«

»Ganz einfach, mit dem Anderen kann man vernünftig reden«, erklärte Dante. »Der erzählt nichts von Zeitreisen. Nur von mordenden Opas.«

»Dante, dieser Typ wurde dabei gesehen, wie er so aussah wie der andere Typ, und den hab ich gesehen. Denkst du, ich will so was in meine Zelle sperren?«

Dante betrachtete den Bewusstlosen noch einmal. Zugegeben, er sah wie ein Freak aus. Aber Dante hielt sich für den Letzten, der über so etwas urteilen sollte. »Also, hör zu. Ich nehm ihn mit und beaufsichtige ihn bis morgen früh. Wenn er dann immer noch harmlos ist, nimmst du ihn.«

Fordham seufzte erleichtert. »Klingt nach ’nem Deal.« Er kehrte der Szene den Rücken, um zum Auto zu gehen, hielt aber noch einmal an, um über die Schulter zu spähen. »Nur aus Neugier: Was machst du mit diesen Typen? Sperrst sie in deinen Keller?«

»Ich hab keinen Keller«, antwortete Dante. Wenn er darüber nachdachte, wäre so ein geheimer Folterkeller schon eine feine Sache. Manchmal.

Chief Fordham vermied es, Dantes Blick zu begegnen, während dieser den jüngst überwältigten Übeltäter an den Armen wieder von der Rückbank zog und sich seinen reglosen Körper über die Schulter warf. Wozu vorsichtig sein? Der Typ war nicht aus Zucker und außerdem völlig unverletzt. Anders als der abgestochene Kazama-Typ, den der Sanitäter mit Samthandschuhen angefasst hatte, um ja nicht wieder das Monster in ihm zu wecken.

Devil. Blöder Name, blödes Ding, dachte Dante missmutig. Mal sehen, welches Loch ich zuerst gestopft kriege: Trish befreien, dem Irren in den Arsch treten oder Devil zum Weinen bringen. Ich bin gespannt.
 

In völliger Dunkelheit kehrte er zu seiner Behausung zurück. Sie war das einzige noch erleuchtete Gebäude. Schon aus der Ferne sah er die Neonschrift strahlen und das gelbe Licht in den Fenstern, die keinen Blick nach innen gestatteten.

Dantes neuester Schützling rührte sich noch immer nicht; er war konsequent bewusstlos und sabberte. Dante trug ihn bäuchlings, damit das Zeug abfließen und nicht in die Luftwege geraten konnte.

Mal sehen, was der kleine Kazama sagt. Hier, guck mal, dein Mithäftling.

Im Grunde wusste er nicht, warum er sich das hier überhaupt antat. Wieso fing er plötzlich an, Leute bei sich einzusperren? Er hatte geglaubt, dass er in dieser Stadt der Einzige war, der noch annähernd richtig tickte. Alle anderen, einschließlich der Polizei, konnte man hier schließlich unter Ulk verbuchen. Trotzdem hatte er im Laufe des Abends schon zwei komische Typen aufgelesen und sie einfach behalten wie zwei heimatlose Kätzchen. Wieso bloß?

Weil der Kazama-Knopf gefährlich ist. Der hier hingegen ist …

… berührt.

Der war kein Dämon, aber er schleppte die Dunkelheit mit sich rum. Dantes Sinne registrierten dies. Nein, kein Teufel – aber es war erklärbar, dass ihn selbst normale Menschen wie Fordhams Untergebene mit einem verwechselten.

Als er die Tür aufschloss und in die angenehme Wärme seiner heimischen vier Wände eintrat, sah er Jin Kazama auf dem Sofa sitzen. Dessen buschige schwarze Brauen hoben sich, als er sah, dass Dante nicht allein kam.

»Na, du bist ja noch hier. Schon festgestellt, dass du nicht durch das Badezimmerfenster passt?«

Jin sah Dante ruhig an, ohne etwas zu antworten, dann verließ er die Couch, die der Tür zugewandt war, und ließ sich stattdessen auf der anderen nieder.

Dante legte sein Mitbringsel seitlich auf das freigewordene Sofa. »Tja, ich hab noch einen Freak aufgesammelt. Habt ihr da draußen irgendwo ein Nest?«

Anscheinend wollte Jin darauf keine Antwort geben. Das musste bedeuten, dass er keinen Humor hatte.

Im Licht war das fahle Gesicht des ohnmächtigen Mannes viel besser zu erkennen. Schon möglich, dass an dem auch ein Japaner oder Chinese oder was auch immer vorbeigelaufen war.

»Ich kenne ihn nicht«, wiederholte Jin in seiner üblichen emotionslosen Sprechweise.

Dante knirschte mit den Zähnen. »Zwei von euch am selben Abend und ihr kennt euch nicht? Verstehe.«

»Sie haben wohl geglaubt, Sie wären der einzige Mensch, der anders ist«, mutmaßte Jin, und der spitzfindige Ton gefiel Dante nicht.

Eine schlagfertige Retour schuldig bleibend, beugte er sich stattdessen wieder über seinen frischesten Gast und gebrauchte als erstes dessen ohnehin durchgeweichtes rotes Oberteil, um ihm den Speichel vom Mund zu wischen. Nicht dass er noch dran erstickte. Der Kerl sah wirklich nicht gerade gesund aus: Sein Teint war fahl, seine Augen verschattet. Sein Haar bedeckte knapp die Ohren und war von stumpfem Braun wie das Fell einer Wühlmaus. Der Mantel – mitteldunkles Hirschleder, eigentlich ein gutes Material – war abgetragen und stellenweise zerschlissen, weil er nicht angemessen gepflegt worden war. Um die Hüften lagen gleich zwei Gürtel, beide zu groß, und die Ärmel des Mantels waren breit umgeschlagen, vielleicht, um geballte Fäuste größer aussehen zu lassen.

»Wir sollten nachsehen, ob er Papiere hat«, schlug Jin vor.

»Da werden keine sein. Die Cops hatten ihn schon im Verhör. Ich will lieber wissen, was den so wabbelig gemacht hat.«

Dante ergriff den linken Arm des Mannes – denn dieser war ebenfalls Rechtshänder, wie der Kampf gezeigt hatte –, und zog den Ärmel fast bis zur Schulter hoch, um die weiße Haut kritisch zu beäugen. Nein, da waren keine Einstichstellen, keine Hämatome. Nichts, das auf regelmäßigen Drogenkonsum hinwies.

»Hm. Ein Junkie ist er jedenfalls nicht. Aber wieso sieht er dann aus wie einer?« Plötzlich erinnerte er sich an den seltsamen Dialog, den sie geführt hatten. ›Meine Lügen sind gerade räudig, weil …‹

In unguter Vorahnung beugte er sich ganz tief über das Gesicht des Bewusstlosen und sog dann so scharf und kräftig die Luft ein, dass die Stirnhaare des Mannes flatterten. Oh ja – da war es, dieser widerliche, unverwechselbare Geruch. Dante wich zurück und verzog das Gesicht, ehe ihn ein krampfhaftes, trockenes Niesen schüttelte.

»Gesundheit«, sagte Jin wie ein Automat.

Dante schnaubte und rieb sich verdrießlich die juckende Nase. »Wahrheitsdrogen«, knurrte er. »Oder sagen wir, das, was man am ehesten so nennen könnte. Den Gestank werde ich nie vergessen.«

»Wahrheitsdrogen? Warum sollte die Polizei so was machen?«, fragte Jin.

Es war unbegreiflich für Dante, wie jemand so arglos sein konnte. Der Kerl tat ihm langsam leid.

»Weil Cops leider alles dürfen, solange keiner da oben davon Wind kriegt«, erläuterte er. »Ich wette, die haben es nicht mal dem Chief gesagt. Den kann ich zwar nicht leiden, aber so was ist nicht sein Sing.« Dante stellte fest, dass er noch immer schniefte. Ärgerlich rieb er sich über das Gesicht. »Gut, machen wir ihn mal sauber. Wenn die Wirkung der Droge abklingt, hört auch das Sabbern auf. Irgendwann redet er wieder mit uns.«

Gemeinsam schälten sie den besinnungslosen Mann vorsichtig aus seinem Mantel, der, soweit man es so bezeichnen konnte, sauber war. Sein Hals trug noch leichte Spuren des Würgegriffs, und um ihn lag ein dünnes Lederband, an dem eine Art Talisman befestigt war. Es war ein dumpf leuchtender, blutroter Stein, eingefasst ihn ein Stück roh behauenen Muttergesteins.

Jin betrachtete das schimmernde Kleinod skeptisch. »Was denken Sie, was das ist?«

»Keine Ahnung«, gestand Dante. »Wird was Persönliches sein.«

Unter Jins Zuarbeit fasste er das rote Shirt am unteren Ende, wo es noch nicht allzu versifft war von der Sabberei, und zog es über den Kopf und die Arme des Mannes, sodass dieser nun halb entblößt vor ihnen lag. Er hatte den typischen Bau eines Straßenkämpfers, etwas hager, aber kräftig, und sein Körper schien alle Energie in geschmeidige, harte Muskeln und feste Sehnen investiert zu haben, unter denen an einigen Körperstellen die Knochen leicht zu erfühlen waren.

»Scheint ansonsten okay zu sein«, stellte Dante nach einem oberflächlichen Betasten der Arme und Rippen fest. »Morgen früh wird er besser aussehen. Braucht nur ein bisschen Schlaf und was zu essen.«

»Warum haben Sie ihn hergebracht?«, wollte Jin wissen.

»Aus dem gleichen Grund wie dich.«

»Hat er auch ein …« Der Japaner zögerte. »… Dämonenproblem?«

»Ich weiß überhaupt nicht, was der für ein Problem hat. Nur dass er eins hat. Oder mehrere.« Dante ließ sich auf das freie Sofa sinken, und Jin setzte sich in sicherem Abstand neben ihn.

Dante richtete einen scharfen Blick auf ihn. »Ehrlich, hast du versucht abzuhauen?«

Jin schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht?«

Jins Brauen senkten sich. »Ich hätte nicht gewusst, wo ich hingehen soll. Ich kann überall hingehen …« Sofort schien er es zu bereuen, auf seinen Wohlstand hingewiesen zu haben. »… aber ich denke, dass ich in Ihrem Zuhause weniger Grund habe, mich in Devil Jin zu verwandeln.«

»Ah, so nennst du also dein teuflisches Alter Ego. Was triggert die Verwandlung?«

»Negative Gefühle«, antwortete Jin nüchtern. »Schmerz. Wut. Albträume.«

»Kummer?«

Der Japaner wandte den Blick ab.

»Und du fühlst dich bei mir sicherer? Obwohl du dich ärgerst?«

»Glauben Sie mir, das ist nicht die Art von Ärger.«

Dante beobachtete die Unzufriedenheit in Jins weichen Zügen. Da war noch immer ein bisschen Angst, ein intuitives Zurückweichen; aber vor allem war da Antipathie. Wie Dante bereits festgestellt hatte, war Jin gut geschult darin, seine Gefühle zu verbergen – doch genau wie jeder andere halbwegs normale Mensch war er sichtlich verwirrt über die starke Abneigung, die er Dante instinktiv entgegenbrachte. Eigentlich war er kein ängstlicher Mensch, das war augenfällig. Das Einzige, wovor Jin Kazama deutlich Schiss hatte, war er selbst. Und genau deshalb saß er jetzt auf Dantes Sofa. Und war nicht vom Dach gesprungen.

Dante bedachte ihn mit einem halbseitigen Lächeln. »Ich werde leider nicht aufhören, dich zu ärgern. Bei einem Typen wie dir kann ich mir das einfach nicht verkneifen.«

Jins Blick blieb finster. »Sie sind der Experte«, erwiderte Jin schließlich, wobei eine Spur von Spott in seinem Tonfall mitschwang. »Sie wissen jetzt, was passiert, wenn Sie mich zu viel ärgern. Sie haben mich festgenommen, also müssen Sie auf mich aufpassen.«

»Klugscheißer«, sagte Dante müde. »Und hör endlich auf, Sie zu sagen.«

Jins Nicken war eine knappe, automatisierte Geste, wie viele seiner Bewegungen.

»Gut. Dann gehe ich jetzt ins Bett, und ihr zwei …« Dante wies lustlos auf die Sofas. »… arrangiert euch.«

»Dieser Mann und ich«, murmelte Jin verdrossen.

»Exakt. Wenn er aufspringt und weglaufen will, halt ihn auf.«

»Mit welchen Argumenten?«

»Ich glaub, deine Fäuste sind gute Argumente.« Dante mochte seinen Scherz, aber in Jins Gesicht regte sich nichts. »Spaß beiseite. Solange ich nicht weiß, was er ist, ein Dämon oder sonst irgendwas, will ich ihn genauso im Auge behalten wie dich, und das sollte auch in deinem Interesse sein. Er wird dir keine Probleme machen. Sieh ihn dir an. Der ist durch.«

Aus dem Schlafzimmer brachte er seinen Gästen noch warme Decken und etwas, das Kopfkissen immerhin ähnelte. Wenn irgendwas sein sollte, da war sicher, würde er schon wach werden.
 

Sobald er seine beiden Gefangenen mit allem versorgt hatte, das sie brauchen würden, um eine Nacht im wenig luxuriösen Devil May Cry zu überstehen, verzog er sich endlich in seine eigenen Räumlichkeiten. Dort war es kälter als im Büro. Seitdem Trish fehlte, vergaß er, das Zimmer zu heizen; wenn sie dort zu zweit waren, entfiel dieser Aufwand normalerweise. Jetzt aber fühlte sich selbst die Decke auf der Haut kalt an.

Als er sich hinlegte und es seinen Gedanken erlaubte, wieder zu Trish und ihrem Entführer zu wandern, wurde ihm klar, dass er noch lange grübelnd wach liegen würde.



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