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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Was macht Jin eigentlich währenddessen? Komplett anzeigen

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Intermezzo II: 7-3

7-3: JIN
 

Als sie das erste Mal zu ihm kam, war es Rettung in letzter Sekunde.

Denn er war am Ende.

Das Gelächter und die Stöße hatten ihn zermürbt. Immer und immer wieder, über Stunden hinweg, endlos, unaufhörlich stießen die Stöcke nach ihm, mal von dieser Seite und mal von der anderen. Es war ganz gleich, woher genau, denn er konnte die Angriffe unmöglich vorhersehen, sie kamen aus allen Richtungen gleichzeitig, von hier, von da, von hinten, von vorn, während er wild in seinem Käfig herumfuhr, immer wieder sinnlos vor den Schlägen davonsprang und ihnen doch nicht entkommen konnte, weil die lachenden Gesichter der Männer vor den Gittern sich schneller bewegten, als er folgen konnte, sie glitten einfach davon, um blitzschnell von einer anderen, unmöglich vorauszuahnenden Position wieder mit den Stöcken zuzustechen und dabei lauthals zu lachen, ewig zu lachen über sein Leid, seinen Schmerz und seine hilflose Wut.

Immer röter wurden der Zorn und die Verzweiflung, die ihn überflutete. Die Gesichter quälten ihn. Sie waren überall. Sie hörten nicht auf. Wieder und wieder schmetterte er seinen Körper gegen die Gitter, die unter der Wucht in ihren eisernen Fassungen dröhnten. Fletschte die Zähne nach ihnen. Raste in seinem Gefängnis. Sinnlos. All seine Kraft, ohne Nutzen, ohne Ventil. Sie zerfraß ihn von innen, während seine Erschöpfung wuchs, verwandelte sich in einen schwarzen Klumpen tief in seinem Innern, der dort pulsierte wie ein böses Geschwür – ein Geschwür, das seine Tapferkeit und seinen Wunsch, dies hier zu überstehen, in brennende, blinde Raserei umkippen ließ, aus der es kein Entkommen gab. Sein Widerstand war gebrochen. Zerknickt wie eine Fischgräte zwischen den Zähnen. Es ging nicht mehr weiter. Der schwarze Strudel, der an ihm zerrte, wurde unnachgiebig stärker.

Doch dann war sie plötzlich bei ihm.

Er hörte ihre Stimme, sanft flüsternd, auf eine Art, die ihm unbekannt schien. Nein, merkte er dann, nicht unbekannt – nur lange vergessen. Dies war die Art, wie sie mit ihm als Säugling gesprochen hatte. Aus dem warmen und lindernden Wispern drang Trost in sein Herz, Trost und neuer Wille, ihr Wille, der unbeugsame Wunsch, ihn niemals dem zu überlassen, was da an ihm sog, ihn zu schützen, was auch immer passierte, seine kleine Seele mit nichts als Liebe zu füllen, um dem Grauen da draußen keinen Raum zu lassen. Ihre Arme lagen um seinen winzigen Leib und schirmten ihn ab von der Kälte. Sicher und tröstend pochte ihr Herzschlag an seinem Ohr. Ihre Stimme erfüllte seinen noch zaghaften Geist.

Und dann entfernte er sich von den Gittern und den Stöcken und den lachenden Männern. Er sah, wie sie unter ihm davon schwebten, als bemerkten sie gar nicht, dass er fortging. Jin sah auf den Käfig hinab und erblickte sich selbst darin.

Er sah ein wimmerndes, gepeinigtes Tier.
 

Den nächsten Kampf verkraftete er leidlich besser.

Seine Entschlossenheit war zu einem Gutteil wiederhergestellt, als sich erneut erste klare Gedanken aus der ihn umwabernden Dunkelheit schälten. Er wusste, dass er noch immer träumte; es fühlte sich an wie selbstverständlich, er war darüber weder überrascht noch entsetzt oder kam auf den Gedanken, diese Erkenntnis zu hinterfragen. Dieses Wissen war einfach in ihm, ein natürlicher Teil von ihm, den es nicht aufregte, berührt zu werden. Es war alles richtig so.

Vor ihm lag eine dunkle Ebene. Sie erstreckte sich von seinem Standpunkt aus bis zum Horizont und darüber hinaus, verlief sich gleichförmig und eintönig in alle Winde. Ein Meer aus langen grauschwarzen Halmen wogte in einem Wind, der nicht wehte, und am Himmel stand tief eine große, blutrote Sonne, deren Strahlen blass und kalt die lichtlose Gegend streiften, ohne sie tatsächlich zu berühren. Jin spürte weder Wärme noch Luftzüge auf der Haut. Er wusste, dass dies hier die Einsamkeit war, die ihn ausfüllte; jene Einsamkeit, in die er sich zurückgezogen hatte, sobald er Devil und sein zerstörerisches Wesen in sich entdeckt hatte. Er war von Furcht überrollt gewesen, von Entsetzen und Abscheu über sich selbst, und erschrocken hatte er alle Kontakte aus seinem früheren Leben abgerissen, hatte die Brücken gesprengt und die Anker gekappt, hatte fortan nur noch sie gesucht, diese schreckliche, leere Stille, die sich nun vor ihm ausbreitete. Hier gab es nur ihn und das Monster, hier konnte er niemanden verletzen. Er hatte die ersten neunzehn Jahre seines Lebens, die von Frieden, Geborgenheit, auch Schmerz, aber ebenso von Ehrgeiz und neuer Zuversicht geprägt gewesen waren, zurückgelassen wie ein leeres Haus, in das er nicht zurückkehren konnte. Ob gute Freunde, nette Bekanntschaften oder flüchtige Kontakte – keinen Menschen ließ er mehr an sich heran, bis schließlich alles, was damals gewesen war, langsam verblasste und nicht mehr davon übrig blieb als eine Erinnerung daran, dass er einmal ein Mensch wie alle anderen gewesen war, mit einem normalen Leben und normalen Problemen. All das lag nun schon so lange zurück, dass selbst der einstmals verzehrende Schmerz in seiner Brust nur noch ein dumpfes Pochen war.

Das stimmt nicht, kam ihm unterschwellig zu Bewusstsein. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, aber es ist nicht einmal drei Jahre her. Die Wunde müsste noch immer frisch sein. Warum fühlt sie sich jetzt nur noch an wie eine juckende Narbe?

Die Einsamkeit war so gegenwärtig, als hätte er nie etwas Anderes gekannt. Keine Worte waren mehr in seinem Geist, keine Wege der Kommunikation. Zurück blieb nur das Schweigen.

Bin ich noch ein Mensch?, fragte er sich. Hat er etwas von dem, was ich früher war, übrig gelassen?

Nein, das ging nicht, das durfte nicht sein. Er konnte sich unmöglich von diesem Vakuum, das sämtliche Gefühle in ihm tilgte, davontragen lassen. Noch nicht. Er hatte noch etwas zu tun. All die Monate des erbitterten Kampfes gegen die Bestie durften nicht umsonst gewesen sein, das würde er nicht zulassen. Er musste aufwachen. Musste diesen leblosen Traum verlassen. Jetzt sofort.

Bleib, sagte sie dicht an seinem Ohr. Bleib bei mir.

Körperlos drehte er sich zu ihr um und sah sie, milchig und durchscheinend. Ihre Erscheinung bot so wenig Kontrast zur trostlosen, grauroten Umgebung, dass sie darin ganz und gar unterging, nur ein schwacher Hauch an einem windstillen Tag.

»Ich kann nicht«, erklärte er ihr. »Das hier ist nicht real. Ich kann nicht den Rest meines Lebens in einem Traum verbringen.«

Warum nicht? Ihre dunklen Augen sahen von Trauer bewegt hinauf in seine. Du musst niemals von hier fortgehen, das weißt du. Das Böse erreicht dich hier nicht. Und du kannst endlich wieder bei mir sein. Er spürte ihre Hand auf seiner. Zu zart, zu kühl, und dennoch war ihr Griff fest. Das möchtest du doch. In deinem Herzen weißt du es. Du hast dich so lange nach mir gesehnt. Ich will nicht, dass du mich jemals wieder verlässt. Ich ertrage es nicht, dich ein zweites Mal zu verlieren. Ihre Stimme war nicht beherrschend, nur bittend, flehend. Ihre Finger bebten. Verzweiflung stand in den Tiefen ihrer Augen.

Sanft streichelte er ihre Finger mit seinen eigenen. Natürlich war das die Wahrheit. Der Tod seiner Mutter hatte ihn zum Zeitpunkt seiner größten Verletzlichkeit getroffen, und in seiner Abhängigkeit von ihrer Liebe hatte er ihren Verlust nie verwinden können. Sich plötzlich schutzlos und völlig allein zu finden, das hatte seine friedliche Kindheit auf einen Schlag beendet, ein Schlag so fest, dass Jin seinen sicheren Stand nie wiedergefunden hatte. Erschüttert bis ins Mark und ohne Ersatz für diese nährende, heilende Liebe, die er als Kind erfahren hatte, war er misstrauisch und verbittert geworden, ein Mann, der sein Herz vor der Welt verborgen tief in kalter Erde vergraben hatte.

»Ich muss gehen.« Er versuchte, sie loszulassen.

Bitte nicht, Jin. Sie weinte leise. Bitte nicht. Geh nicht fort. Lass mich nicht allein.

»Ich muss.« Doch er spürte bereits, wie sein Widerstand schwächer wurde. War es denn nicht wirklich völlig gleich, was er tat? Wen interessierte es, ob er in die Welt der Lebenden zurückkehrte und diese erneut mit Devils Präsenz belastete? War es nicht wirklich besser, wenn er fort war? Fort, versenkt in sich selbst, und nie zurückkehrte?

Einfach vergehen wie ein Windhauch. Die Ewigkeit unter sich verstreichen spüren. Diese Welt vergessen. Seinen Schmerz, seine Angst, seinen Hass und seine Verzweiflung einfach dort draußen zurücklassen. Nur mit sich allein und dieser Traumgestalt von seiner Mutter in friedlichem Nichts treiben.

Wen interessierte es schon? Er hatte keine Freunde mehr, dafür hatte er gesorgt. Niemand vermisste ihn. Wer da draußen noch an ihm interessiert war, wollte ihn tot sehen. Für ihn gab es in der wahren Welt weder Liebe noch Erfüllung. Dort wartete nur Devil.

Langsam erwärmte ihre Hand sich in seiner. Er bemerkte, dass er sie selbst nun fester drückte als sie ihn. Loszulassen war falsch. Er brauchte das hier. Dieser Traum konnte seine neue Wirklichkeit werden.

»Gut.« Es kam kaum über seine Lippen, nur wie ein Flüstern. Doch er wusste, dass sie zuhörte. »Ich bleibe bei dir. Für immer.«

Wieder drückten ihre Hände einander.
 

Lügen. Nichts als Lügen und falsche Versprechungen.

Ein Traum, weiter nichts; ein irrsinniger Klartraum, der ihm seinen sehnlichsten Wunsch vor Augen geführt hatte. Sobald er das Versprechen abgegeben hatte, nie wieder zu erwachen, war die Illusion verblasst. Verweht von unsichtbarem Wind ließ sie Jin voller Sehnsucht und gestohlener Hoffnungen zurück. Er konnte nicht einfach vor der Welt fliehen, diese Option gab es nicht; wie hatte er nur so einfältig sein können, an so etwas zu glauben?

Sein Kampf würde immer und immer weitergehen.

Er begann seinen Körper wieder zu spüren, erst dumpf, dann stärker. Berührungen drangen durch die Dunkelheit. Er wusste nicht, wie viel davon Illusion war, doch ein Teil dieser Empfindungen fühlte sich real an. Sein Geist erschuf den Hintergrund zu diesem haptischen Szenario, und er fand sich in einem Bett wieder. Noch immer war es dunkel um ihn herum, doch diese Dunkelheit war weder beängstigend noch bedrückend, und das erstaunte ihn selbst. Sie war … friedlich. Und noch mehr erstaunte ihn – als er die Präsenz seiner Mutter so dicht bei sich fühlte wie nie zuvor –, dass es ihm nicht wehtat.

Er schlief in einem Bett in einem dunklen Raum, der nur in seinem Kopf existierte; der ebenso wenig real war wie der vergitterte Käfig und die trostlose Ebene. Und sie war bei ihm. Er wusste es, obwohl er sie nicht sah und obwohl sie nicht sprach. Sie saß auf der Bettkante über ihn gebeugt. Er sah nichts, weil er die Augen nicht öffnete, und das war auch nicht nötig. Er fühlte ihre Nähe, ihre Wärme, die unvergängliche und bedingungslose Liebe einer Mutter, die über ihr Kind wacht. Wie oft hatte sie, als er ein kleiner Junge gewesen war, des Nachts so bei ihm gesessen, während er geschlummert und ihre Anwesenheit bis in die Tiefen seiner Träume hinein gespürt hatte? Schweigend hatte sie ihn behütet, laut- und reglos, hatte einfach nur ihre Liebe wie eine Decke über seinen verletzlichen Körper ausgebreitet. Nach ihrem Tod war die Erinnerung an diese Liebe das Einzige gewesen, das ihn am Leben erhalten hatte. Das Einzige, das seinen zerrütteten Geist genährt und wieder gestärkt hatte, nachdem er zu zerbrochen war, um selbst noch dazu fähig zu sein. Jin war schwach. Das wusste er. Er war es immer gewesen. Ohne die tiefempfundene Zuneigung seiner Mutter, die ihm über ihren Tod hinaus noch zuströmte, war er, auch jetzt als Mann, so hilflos wie ein verwaistes, blindes Tierjunges. Seine Lebensgeister flackerten nur ihretwegen. Weil sie stark war, wo er es nicht sein konnte.

Lange genoss er die Ruhe ihres Beisammenseins. War er auch in Wahrheit allein gewesen, als die Traumgestalt ihn dazu überredet hatte, sich in seiner Einsamkeit zu verlieren – jetzt war er es nicht. Das wusste er mit unumstößlicher Gewissheit. Er war nicht verlassen. Er würde niemals verlassen sein. Dieses Wissen erfüllte und wärmte ihn. Sie war bei ihm, ganz egal, wo sein Körper sich in Wirklichkeit befand, ganz egal, in welchem Zustand er war. Sie hatte ihn niemals wirklich allein gelassen.

Irgendwann – er wusste nicht, wie viel später, hatte kein Empfinden für Zeit inmitten dieses Meeres aus Ruhe, in dem er trieb – ging sie fort. Er spürte mit einem Mal ganz deutlich, wie ihr Gewicht sich vom Rand des Bettes erhob. Ihre Nähe, so greifbar und gegenwärtig, verschwand von seiner Seite.

Doch es war nicht schlimm.

Es war in Ordnung.

Sie war nicht wirklich fort, und er war nicht wirklich verlassen.

Er wusste, dass es oft so gewesen war in seiner Kindheit; sie hatte lange Zeit bei ihm gesessen, sodass es ihm im Schlaf völlig bewusst gewesen war, bis sie schließlich ein letztes Mal seine Hand gedrückt, die Decke glattgestrichen und sich leise entfernt hatte. Dieses Verlassenwerden war nicht beängstigend und schmerzte auch nicht. Sie beide wussten, dass es kein Abschied war. Am Morgen würden sie einander wiedersehen.

Doch jetzt war es Zeit zu gehen.

Jetzt war alles gut.
 

Jin spürte die Wirklichkeit über sich gleiten, spürte, wie die Schleier des Traums sich lichteten. Sein Körper, seine Arme, Beine, Finger, Zehen, Augenlider – alles kehrte zurück an seinen Platz.

Und immer noch herrschte völlige Ruhe.

Als er langsam die Augen öffnete, fühlte er Kälte auf den Wangen. Sein Blick, der durch den Spalt der Lider drang, war verschwommen. Er wusste, woher das kam. Dass sein Gesicht sich kühl anfühlte, dass seine Augen nichts sahen, lag daran, dass sie nass von Tränen waren.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Armes Baby.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Shenduan
2021-03-09T15:18:54+00:00 09.03.2021 16:18
Man möchte ihn nur nehmen und ganz fest knuddeln... Alles wird wieder gut Jin 😭
Antwort von:  CaroZ
09.03.2021 18:11
Geht mir auch so! Armer Jin ...
Lieben Dank für den Kommentar!


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