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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
»Trish, devils never cry. These tears … Tears are a gift only humans have.«
– Dante (Devil May Cry) Komplett anzeigen

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Akt IV - Balsam: 8-1

8-1: DANTE
 

Der schmale helle Streifen am Horizont wurde schnell breiter und kündigte den nahenden Sonnenaufgang weit früher an, als es Dante lieb gewesen wäre. Auf dem Weg in den Talkessel hinunter behinderte ihn die zunehmende Helligkeit dabei, ungesehen in die Stadt zu gelangen. Abgesehen davon, dass er im eiskalten Wind, der überall an ihm rüttelte, so sehr fror, dass er es fast nicht aushalten konnte, hatte der Sturm auch den Himmel von Wolken blankgefegt, sodass die Straßenlichter in der Ferne nicht länger aus der Finsternis hervorstachen wie fliegende Funken; die Konturen von Dächern und Monumenten hoben sich immer schärfer von der schwarzblauen Nacht ab. Selbst der Nebel hatte sich völlig verzogen. Dante beschloss, den restlichen Weg zu Fuß zu gehen, Jin auf den Armen tragend. Der junge Mann war noch immer reglos und fühlte sich zudem so alarmierend kalt an, dass Dante sich ernsthaft Sorgen zu machen begann, ob er ihn wirklich noch lebendig in die beheizte Stube schaffen konnte.

Hinter der Highway-Auffahrt kamen die ersten Ausläufer von Hallow Hills in Sicht. Still starrten die Silhouetten der niedrigen Häuser durch die kristallklare Luft; Menschen waren keine zu sehen. Dies waren jene zarten Stunden des frühen Morgens, in denen tatsächlich alles schlief.

Dante schlich um die Häuserfronten wie ein Gangster, Jins schlaffen Körper an die Brust gepresst und fasziniert von der Stille, die sie beide umgab. Trotz der Anstrengung, die ihn der Weg gekostet hatte, war ihm erbärmlich kalt – oder vielleicht gerade deswegen, bedeutete der Verlust von Energie doch immer auch den von Wärme. Und was er gemacht hatte, um so schnell hierher zu gelangen, das hatte ihn wirklich eine Menge Energie gekostet, verdammt.

Aus der Ferne drang, an den Talwänden bizarr widerhallend, der Lärm des Motorrads heran. Dante hörte es lange, bevor es auch nur annähernd in Sichtweite kam, und seine Ohren kribbelten. Taub waren sie nur von der Kälte. Trish und Yuri waren jedenfalls nahe, und das war gut. Wahrscheinlich überholten sie ihn, bevor er das Devil May Cry erreichte. Das war nicht der Plan gewesen, doch das frühe Licht hatte ja alles kaputt gemacht. Tarnung war nun mal eine der obersten Prioritäten. Auch wenn wirklich niemand zusah.

Dante schaute einmal rund um sich, verließ dann die Schatten und überquerte die Hauptstraße mit großen Schritten. Oh, er würde jetzt auch gern im Warmen sein und schlafen, am besten zwei volle Tage, soviel stand fest. Jin auf seinen Armen sah so erbärmlich aus, wie Dante sich fühlte.

Als das Motorengeräusch tatsächlich so laut wurde, dass er es genau lokalisieren konnte, verfiel er trotz der Steifheit seiner Glieder noch einmal in Laufschritt. Dämlicher männlicher Stolz stellte die Anforderung an ihn, trotzdem als Erster anzukommen.

Es klappte fast.

Um ein Haar hätte Dante die richtige Straße verfehlt, da er, aus alter Gewohnheit, nach der roten Neonschrift Ausschau gehalten hatte; dann fiel ihm wieder ein, dass niemand sie eingeschaltet hatte. Trish bog hinter ihm ab, und der Lärm zeriss noch einmal besonders grausam die perfekte Stille, die über der Stadt ruhte. Dante drehte auf dem Absatz um, wobei er Jin fast mit dem Kopf gegen eine Hausecke gerammt hätte, und folgte ihr.

»Hey!«

Gerade hielt das Motorrad vor der schwarzen Fassade des Devil May Cry, und Yuri kletterte schleunigst vom Rücksitz, wobei es einen Moment lang aussah, als würden seine Knie gleich unter ihm nachgeben. Trishs Fahrstil war eben Quälerei.

»Du warst langsam, Dante«, merkte sie an, während sie das Vehikel in aller Ruhe an der Hauswand arretierte. Der taillierte Mantel schmiegte sich um ihre makellose Gestalt. »Was hat dich aufgehalten?«

Dante machte eine ungeduldige Kopfbewegung Richtung Himmel.

»Oh, bist du nicht Profi?« Der neckende Ton war Programm, aber sie würde es nicht schaffen, ihn aufzuziehen. Nicht mehr für eine sehr, sehr lange Zeit.

Yuri guckte nur zwischen ihnen hin und her, zitternd die Hände in den Taschen vergraben, was wahrscheinlich nicht viel nützte. Sein Blick blieb an Jin auf Dantes Armen hängen.

Trish trat, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, sofort von ihr zurück, um Dante mit seiner Fracht zuerst einzulassen. Dante genoss das erhebende Gefühl der Erleichterung, als er sich bewusst machte, dass sie nun alle in Sicherheit waren. Zu Hause, im Warmen, im Gewohnten. Als er die Tür erreichte, hob er den Fuß und trat sie ein. Sie flog rekordverdächtig weit, bis kurz vor den Schreibtisch. Staub rieselte vom Türrahmen, als Dante zufrieden hindurch spazierte.
 

»Sie hängt schon ziemlich lose«, stellte Yuri fest, nachdem er und Dante die Tür wieder eingehängt hatten.

»Oh, wirklich?«, gab Dante lahm zurück, während er sich mit gekreuzten Armen der Couch zuwandte.

»Da hat sie wohl jemand zu oft aus den Angeln getreten.« Trish trat neben ihn, und flüchtig berührte ihre herabhängende Hand seine eigene.

Gemeinsam starrten sie hinunter auf Jin Kazama, der wie tot unter einem Bündel Decken lag und dessen schwache Atemzüge kaum seine Brust bewegten. Sie hatten das Blutgeschmiere mit warmem Wasser von seiner Haut gewaschen und ihn flüchtig untersucht, jedoch nur feststellen können, dass er vermutlich ziemlich entkräftet und unterkühlt war.

»Ich gehe duschen«, teilte Trish ihm leise mit und verließ seine Seite.

Dante wandte nicht den Blick ab. Er zwang sich, Jin anzusehen, vergegenwärtigte sich die Tatsache, dass er an dieser Misere Schuld war, mit einem beinahe masochistischen Genuss. Wie ein Ferkel im Schlamm suhlte er sich in dieser Schuld, die sich fast körperlich schmerzhaft und gleichzeitig auf seltsame Weise heilsam anfühlte. In diesem Moment wünschte er sich, dass ihm jemand wehtat.

Yuri kam angetrottet, blieb neben ihm stehen und stieß sein bekanntes despektierliches Schnauben aus. »Tse. Der hat doch nichts, wieso wacht er nicht auf?«

»Weil ihm das Ganze den Rest gegeben hat«, erklärte Dante, ohne in das verdrießliche Gesicht des Anderen zu sehen. »Hast Recht, er hat keine Wunden. Er ist einfach nur platt.«

»Sind wir doch auch.«

Sie gafften beide auf Jin hinunter. Lange Sekunden verstrichen, in denen sie weder sprachen noch sich bewegten. Dann aber ging plötzlich alles ganz schnell. Beinahe ohrenbetäubend war das KLICK in ihren Köpfen, als sie sich jäh beide erinnerten, was sie seit der äußerst delikaten Konversation mit Sarris vor sich hergeschoben hatten.

In ein und derselben Bewegung griffen sie beide nach ihren Waffen, und nur einen Wimpernschlag später lag Ivorys Mündung und Yuris Schläfe und eine blau glühende Fingerklinge an Dantes Kehle.

»So, jetzt ist Schluss mit den Spielchen«, grollte Dante. »Was bist du? Wie hat Sarris dich genannt, was ist das?«

»Und du?«, schnappte Yuri zurück, wobei Geifer auf seinen gekräuselten Lippen glitzerte. »Was hat der Irre gemeint, das du verheimlichst? Denkst du, du kannst mich ewig verarschen?«

»Du hast angefangen, Kumpel!«, knurrte Dante, ihm den Pistolenlauf an die Haut drückend. »Außerdem ist das hier meine Bude und du bist wohl eher mir Rechenschaft schuldig als andersrum!«

Yuri starrte ihn finster an. Das widernatürliche Rostrot seiner Augen spiegelte eine Mischung aus Enttäuschung, Wut und … Furcht. Ja, natürlich hatte er Angst. Jeder, der Dante in die Augen sehen musste, hatte Angst; sogar Devil. Aber Yuri hatte eben den Mumm dazu, diesen instinktiven Fluchtreflex auszublenden, genau wie Jin.

Immer noch lag das kalte Metall der Klinge an Dantes Hals, genau unterhalb des Kinns, wo unter der Haut die Schlagader verlief. Er selbst dachte ebenfalls nicht daran, Ivory wegzunehmen. Jedenfalls nicht zuerst. Er wollte Yuri genauso wenig das Hirn aus dem Schädel und gegen die Wand pusten, wie dieser ihn filettieren wollte, das war unbestritten; das hier war reines Imponiergehabe, aber es musste sein.

Yuri schien seinen Standpunkt verdeutlichen zu wollen. Seine Faust, die den klingenbewehrten Schlagring hielt, spannte sich kaum merklich fester.

»Denk nicht mal dran«, sagte Dante scharf, ehe der Druck gegen seine Kehle stärker wurde. »Wenn du mich ein bisschen ritzt, schieße ich ein bisschen

Verkrampft entblößte Yuri die obere Reihe seiner Zähne, hielt aber inne. Noch immer sahen sie einander so fest in die Augen, dass Dante das Gefühl hatte, die Konturen im Raum würden sich allmählich verdunkeln und ineinander fließen.

Hinter ihnen ging mit leisem Knarren die Badezimmertür.

Einen Moment lang war Trishs erstaunter Blick förmlich zu spüren; dann stöhnte sie enerviert und fragte: »Ernsthaft

Als sie beide nicht reagierten – Dante hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was er tun sollte, aber nachgeben ganz sicher nicht –, kam sie, nur in ein Frotteehandtuch gehüllt, das sie kaum von Brust bis Hüfte bedeckte, in langen Schritten zu ihnen und packte gleichzeitig Dantes und Yuris Hand, in der jeweils die Waffe lag, um sie nachdrücklich vom Körper des jeweils Anderen wegzuziehen. Energisch funkelte sie sie beide aus ihren leuchtend blauen Augen an, und der Rahmen aus nass glänzendem Haar verlieh ihrem Gesicht zusätzliche Strenge. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. »Männer«, brummte sie und zog das Handtuch fester um sich. »Klärt das gefälligst vernünftig.« Und statt wieder zurück ins Bad zu gehen, setzte sie sich auf die Kante des Sofas, überschlug die nackten Beine und wartete.

Dante merkte, wie der Krampf in seinen Muskeln schmerzhaft wurde. Widerwillig lockerte er den Griff um die Pistole. Nur Sekunden später ließ auch Yuri die Faust endgültig sinken und schüttelte augenrollend den Arm aus.

»O-kay, hören wir auf mit der Kacke.«

»Schön, dass du vernünftig wirst.« Er konnte es sich nicht verkneifen. »Du zuerst.«

Yuri ließ sich breitbeinig auf das Sofa fallen und starrte düster auf die Dielen. »Du hast also keine Ahnung, was ich bin?«

»Ich bin nicht allwissend. Spuck’s aus, und keine Rumdruckserei mehr.«

»Na schön. Ich bin ein –«

»– Harmonixer«, sagte Trish neben ihm plötzlich in eher beiläufigem Ton. »Ein Seelenverschmelzer. Das ist ein uralter Fluch, der vererbt wird – meistens an Söhne, selten an Töchter. Inzwischen vermutlich ausgestorben, weil die wenigsten solcher Menschen tatsächlich ihrem Nachwuchs diese Last aufbürden wollen, egal wie nützlich sie ist.«

Yuri sah sie beeindruckt an, und Dante ertappte sich dabei, dass er das auch tat.

»Es wird nicht automatisch vererbt«, sagte Yuri. »Bei mir dachten sie, ich hätte es nicht, bis … bis es dann doch erwacht ist.«

»Und was macht ein Harmonixer?«, fragte Dante, während er Ivory endlich wieder in den Gürtel schob. »Du kannst Teufelswaffen benutzen und siehst aus wie ein Junkie. Du musst irgendwie berührt sein.«

Yuri lachte bitter auf. »Es ist noch schlimmer. Wenn ich Monster töte, zerren ihre Seelen an meiner und füllen mich bis zum Hals mit ihrer Bösartigkeit.« Er griff unter das Shirt und holte den sonderbaren Talisman hervor, der genauso dumpf von innen heraus glühte wie seine Augen. »Das Schlimmste habe ich überstanden, glaub ich, als ich … gezwungen war, mich meiner Angst vor dem Bösen zu stellen. Meinem Bösen. Denn ich muss ständig aufpassen, dass es mich nicht … aufzehrt. Aber Harmonixer zu sein hat auch was Nützliches … Ich kann meine eigene Seele mit der eines Dämons vereinigen.«

Dante starrte ihn an und versuchte, sich darauf einen Reim zu machen. Es gelang ihm nicht richtig. Argwöhnisch hakte er nach: »Wie … vereinigen? Dämonen haben keine Seelen wie wir.«

»Aber so was Ähnliches, eine Art … Spiritus. Und das kann ich mir nehmen und damit verschmelzen. Wir nennen das Fusion

Für Dante klang das nach Märchenbuch. »Im Ernst? Du kannst mit jedem x-beliebigen Teufel eins werden?« Ein Teil von ihm weigerte sich, das zu glauben. Er hatte noch nie von so einer absurden Fähigkeit gehört. Andererseits war Yuris Gesichtsausdruck gerade so ernsthaft wie nie zuvor; er konnte sich das einfach nicht ausgedacht haben, ein so guter Schauspieler war er nicht. Und außerdem kannte Trish diese Fähigkeit.

Yuri sah immer noch beiseite, und nun stopfte er den Talisman gedankenverloren wieder in seinen Kragen. »Also … ganz so einfach ist das nicht. Meine Seele muss die des Teufels unterwerfen, sonst verschlingt er mich … und ich verliere mich in ihm, bis nichts mehr von mir übrig ist. Ich gehe in ihm unter wie in einer schwarzen Suppe und komme nie wieder hoch. Er löscht mich aus, als hätte es mich nie gegeben.«

»Gruselig«, sagte Dante mit einem Zungenschnalzen.

Trish musterte Yuri von der Seite, und ihre Augenbrauen gingen jäh steil nach oben. »Du hast deine Fähigkeiten schon einmal überschätzt«, stellte sie fest.

Er nickte beherrscht. »Kann von Glück sagen, dass ich hier sitze.«

»Was war es?«

»Ich will nicht drüber reden.«

Dante wandte sich ab und schlenderte um den Tisch herum zur anderen Couch, wo Jin lag. Ich wusste doch, dass in Yuri irgendwas drinsteckt, dachte er. Seelenverschmelzung mit Dämonen? Erfüllt werden vom Bösen? Na, besten Dank. Das erklärt seinen komischen Charakter. »Das ist also die Art und Weise, wie du Dämonen erledigst, denen du nicht einfach den Schädel einschlagen kannst. Du verschmilzt mit ihnen. Ihr werdet zu einem Körper, und du besiegst sie …« Er tippte sich an die Stirn. »… mit dem Geist.«

»Yo. So ist das.«

»Fesch.«

»Sei froh, dass du das nicht kannst.« Yuri lehnte sich zurück, atmete tief durch und machte dann eine auffordernde Geste. »Gut, alter Mann, du bist dran. Was kannst du, das keiner sehen darf?«

»Ich erzähle es dir«, versprach Dante, »sobald er wach ist.« Er wies auf Jin. »Ich erzähl’s euch beiden, denn das bin ich euch schuldig. Kannst du damit leben?«

Yuri zuckte die Achseln. »Das war zwar nicht abgemacht, aber ich werd’ durchhalten.«

»Fein. Ich leg alle Karten auf den Tisch … Versprochen.« Und dann gründen wir eine Selbsthilfegruppe für gestörte Typen mit Teufelskräften. Wird lustig.

Er sah zu Trish, und sie schien zufrieden. Elegant erhob sie sich wieder von der Sofakante und ging zurück ins Bad, nicht ohne noch einmal einen warnenden Blick durch den sich schließenden Türspalt zu werfen.

Dante betrachtete Yuri, der ohne jegliche Ambitionen zu neuer Gewalt träge sitzen geblieben war. Beiläufig fragte er: »Kannst du so eine … Fusion alleine wieder beenden?«

»Jap«, gab Yuri bereitwillig Antwort, »es sei denn, ich raste aus.«

»Wie, du rastest aus?«

»Na, ich kann’s nicht leugnen, das Fusionieren reißt ganz schön an den Nerven. Wenn ich zu lange mit einem Dämon verschmolzen bleibe, laufe ich Amok. Dann ist es wie bei ihm.« Er nickte zu Jin hinüber. »Ich hab keine Kontrolle mehr und weiß auch später nicht mehr, was los war.«

»Ah. Hab ich mir gedacht, dass man das nicht einfach so aushalten kann. Und wenn du Amok läufst, wie geht das dann vorbei?«

»Mit Gewalt natürlich, anders nicht. Man muss mich bewusstlos machen oder eben so schwer verletzen, dass ich es körperlich nicht mehr aushalte.«

Sieh an. Er und der Kazama-Boy haben doch mehr gemeinsam, als ich dachte. »Passiert das oft, dass du … ausrastest?«

»Nein«, gab Yuri entschieden zurück. »Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich bin Profi.«

»So.« Dantes Blick wanderte aufs Neue zu Jin. »Kannst du ihm dann nicht helfen?«

»Nope. Nicht nachdem ich das Vieh im Schacht gesehen hab. Keine Chance, das riskier ich nicht.« An Yuris düsterem Blick war zweifelsfrei zu erkennen, dass er noch immer einen unterschwelligen Groll gegen Jin hegte. »Das Ding war echt heftig. Ich hab ja schon viel gesehen, aber das war eins der wirklich harten Sachen. Lange wird er das nicht mehr aushalten, Mann … Es wird ihn zerstören.«

»Was bei einem Teufel dieser Stärke längst hätte passieren müssen«, sagte Dante und sprach damit aus, was er dachte. »Aber wie auch immer: Als nächstes müssen wir uns überlegen, was Sarris jetzt machen wird. Wenn ich das richtig verstanden habe, fehlen ihm Seiten aus der Dschaizan-Kopie.« Besagte Blättersammlung ruhte unsortiert auf seinem Schreibtisch, oben auf dem Buch Henoch, während die Divina Commedia wieder ihren angestammten Platz im Bücherregal eingenommen hatte.

Yuri grinste. »Lächerlich, oder? Alle fragen sich, warum bei dieser Abschrift der Mittelteil fehlt, dabei war er schon im Original nicht drin … was man wohl vergessen hatte, als es geklaut worden war. Ich glaube, ich weiß, wo die Seiten sind. Ein Freund von mir hat früher viele Manuskripte kopiert und dabei immer die Seiten rausgenommen, die gefährlich sind. Vielleicht hat er das später auch bei Abschriften von Anderen gemacht. So eine Art Entschärfung. Azazel muss ein mächtiger Dämon sein, wenn der Irre diese fehlenden Seiten braucht. Mächtiger als Devil.«

»Gut, ich schlage vor, wir lassen uns das erklären.« Und Dante wusste auch, wer das tun würde. Sich nach dem Badezimmer umdrehend rief er: »Trish!«

»Was?«, drang ihre Stimme durch die Tür, und das Schnurren des Haartrockners verstummte.

»Du hast ihm gesagt, dass die Seiten, die er braucht, nicht in dem Kodex sind! Wieso wusstest du das?«

Zuerst antwortete ihm ein kurzes Schweigen; dann erklärte sie: »Du vergisst, dass ich auf Mallet Island lange Zeit allein war. Und alles vorbereitet habe, um … dich zu … ah, du weißt schon.«

Natürlich wusste er. Nicht ihr Lieblingsthema, und seins auch nicht. »Was weißt du sonst noch über Azazel?«

»Auch nicht viel. Wieso interessiert uns das noch? Ich hab das Buch gesehen. Es fehlen genau vierzehn Seiten. Die wichtigsten. Ohne diese Seiten kann Sarris die Invocatio nicht durchziehen.« Ein leises Klicken zeigte an, dass sie einen Stecker aus der Dose zog. »Dante, hast du dir das Manuskript angesehen?«

»Nein.«

»Dann mach es jetzt.«

»Warum?«

»Weil ich wissen will, was du siehst.«
 

Während Dante das Bündel loser Seiten vom Schreibtisch nahm und damit zur Sitzecke zurückkehrte, gesellte Trish sich wieder zu ihnen. Ihr Haar war nun halb trocken, und sie trug ihren cremefarbenen Bademantel. Als Dante sie so ansah, musste er lächeln. An diesem Anblick konnte er sich einfach immer wieder freuen, er erweckte ein starkes, heimeliges Gefühl der Zuneigung in ihm, das er nicht ganz erklären konnte; es war einfach, als würde Trish, wenn sie so unschuldig aussah, ohne es zu wissen eine Saite in ihm zum Schwingen bringen, die ihn schon in seiner Kindheit mit Entzücken erfüllt hatte. Zum Teil wusste er, woran das lag – und das war ein Teil, über den er nicht nachdenken wollte. Besser nicht.

Zu dritt saßen sie auf dem freien Sofa, Dante in der Mitte, und Trish nahm ihm die Folios ab und breitete sie auf dem Tisch aus. »Der Text auf der Tafel von Dschaizan ist in einer alten Schrift und Sprache der Dämonen verfasst«, erklärte sie. »Kein Mensch kann die Worte entziffern oder aussprechen. Die Seiten werden also nicht laut verlesen, sondern müssen bei der Beschwörung lediglich präsent sein, damit der Dämon sie selbst lesen – oder sagen wir, wahrnehmen kann. Deshalb wusste Sarris auch nicht, welche Seiten diejenigen sind, die er braucht.«

In Dante reifte die Erkenntnis. »Aber du schon.«

Trish nahm eine der Seiten und hielt sie ihm vor das Gesicht. Er nahm sie, stellte seinen Blick darauf scharf … und wusste sofort, was sie gemeint hatte. Weil ich wissen will, was du siehst. Es war, als sprängen ihm die unlesbaren Symbole von der Seite entgegen; seine Augen und sein Hirn schienen sich nicht einig zu sein, was sie da sahen. Die Zeichen hatte eine seltsam widernatürliche, ekelerregende Geometrie, sie waren zu perfekt gerade oder zu perfekt gerundet, über das Mögliche hinaus, sie hoben sich von der Seite ab, veränderten sich, sahen einfach abartig überrealistisch aus, als existierten sie in zwei Dimensionen zugleich. Mal waren sie erhaben, schwebten, mal sanken sie tief ins Bodenlose. Schon nach wenigen Sekunden des Draufstarrens fühlte Dante sich wie verkatert. Sein Kopf schmerzte, und ihm wurde so übel, dass er den Blick abwenden und tief durchatmen musste.

»Alles okay?«, fragte Yuri, der ihn von der Seite musterte. »Ich seh’ da ehrlich gesagt nur komische Zeichen. Ist da noch was Anderes?«

Dante rieb sich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein.« Aber sein knapper Seitenblick zur ihn wachsam beäugenden Trish informierte sie hinreichend. Yuri war ein Mensch, er sah unbekannte Buchstaben; Trish sah die andere Wirklichkeit, erfasste den Sinn hinter den Linien und Schnörkeln, erblickte ihre wahre Natur; und er, Dante, sah beides gleichzeitig, und das war kaum auszuhalten. Es fühlte sich an, als wollte er etwas mit den Augen fixieren, das sich dafür knapp zu schnell bewegte, während alles um ihn herum sich drehte.

»Glaubst du, der Irre wird die vierzehn Seiten suchen gehen?«, fragte Yuri.

Trish übernahm die Antwort. »Wie ich ihn einschätze, ist er bereits dabei. Hoffen wir, dass er nicht weiß, wo er suchen muss.«

»Ich hätte eine Idee, wo sie vielleicht sind. Ich weiß, wo Roger gefährliche Schriften aufbewahrt.«

»Roger? Dein ominöser Freund?«, hakte Dante nach. Eigentlich wollte er das Thema jetzt nicht ausbreiten, denn er wurde langsam müde. Mehr als müde, wenn er ehrlich war.

»Roger Bacon«, sagte Yuri eifrig. »Schräger Typ, aber der klügste Kopf, den ich überhaupt kenne. Wir könnten schneller sein als Sarris, wenn wir Rogers Spuren folgen.«

»Aber nicht, solange der da nicht fit ist«, gab Dante mit Blick auf Jin zu bedenken.

Yuri schnitt eine schiefe Grimasse. »Ganz ehrlich? Auf den könnt ich grad –«

»Untersteh dich, Hyuga. Sonst pennst du draußen.«

»Wieso nimmst du ihn in Schutz?«, beschwerte sich Yuri und gab dem Tischbein einen halbherzigen Tritt. »Er hat uns echt voll auflaufen lassen!«

»Was soll’s. Wir alle machen Fehler. Sei nicht grausam, nur weil du schlechte Laune hast.«

»Bin ich nicht! Ich bin nur so … so enttäuscht von der Aktion! Verstehst du?« Wieder trat er den Tisch, diesmal fester. »Ich will ihm doch helfen, Mann! Wenn er mir egal wäre, dann wär ich jetzt nicht so wütend auf ihn!«

»Kein Grund, deinen Frust an meinen Möbeln auszulassen. Das darf nur ich. Wir hauen uns jetzt alle ’ne Runde aufs Ohr, und du –« Mutwillig provokant setzte er Yuri eine Fingerspitze auf die Brust. »– kümmerst dich um Jin. Ob er nun aufwacht, eine Panikattacke kriegt, auf die Dielen kotzt oder aus dem Fenster springt – ich will, dass du dich drum kümmerst. Ist das angekommen?«

Einen Moment lang sah Yuri aus, als wollte er wild protestieren; dann schloss er den Mund noch einmal, bevor er – wie ein Kind, das sich ungerecht behandelt fühlt, aber vor dem Vater zu viel Respekt hat – leise murrte: »Wieso muss ich ihn bewachen?«

»Weil du ihn geschlagen hast.«

»Er ist nicht deswegen ohnmächtig«, behauptete Yuri.

»Ach nein?«

»Nein! Ich hab mich beherrscht. Sonst würde er jetzt anders aussehen!«

Das stimmte wahrscheinlich. »Kann sein«, räumte Dante ein. »Mit deiner brutalen Veranlagung hättest du ihm auch leicht das Gesicht zertrümmern können. Ich weiß ja, wie du Schädel einschlägst. Aber du scheinst dich auch dann noch im Griff zu haben, wenn du sauer bist.« Und er war nicht sicher, ob man das auch über Jin sagen konnte.

Seufzend ergab sich Yuri in sein Schicksal. »Und was mache ich, wenn … andere Dinge passieren?«

»Du meinst Dinge mit Hörnern?«

Yuri verdrehte die Augen. »Hast du vergessen, dass Jin ein Devil-Jin-Problem hat?«

»Oh, das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Devil Jin ein Jin-Problem hat. Er beansprucht seinen Körper und versucht alles, um die Oberhand zu gewinnen. Wenn der Kerl nicht einen so starken Willen hätte …«

»Nicht stark genug, so viel wissen wir jetzt«, ätzte Yuri weiter.

»Verdammt, Hyuga! Nicht jeder kommt als Psychofreak auf die Welt und muss sich mental sauberhalten wie du, klar? Hör auf, bei anderen Leuten Schwäche für Unfähigkeit zu erklären. Das hat er nicht verdient, okay?«

Yuri sah beiseite. »Jaah, ich weiß! Aber so was frustriert mich einfach. Ich mach’s ja, Mann! Ich mach’s. Aber vorher will ich … wenn ich darf …« Sein Blick glitt zu Trish hinüber, beinahe scheu, und Dante fragte sich, was um alles in der Welt jetzt für ein Anliegen kommen mochte. »… auch … duschen

Dante furchte die Stirn, dann tauschte er einen Blick mit Trish, und wahrscheinlich sahen sie beide gerade gleich perplex aus. Das war alles? Duschen?

»Klar kannst du duschen«, sagte Dante, vor Verblüffung viel sanfter als beabsichtigt. »Du bist nicht mein Gefangener und wir sind nicht in Guantanamo. Im Schrank sind Handtücher, die Armatur ist selbsterklärend. Los, tob dich aus.«

Yuri erhob sich seltsam schüchtern vom Sofa und trottete zum Badezimmer. Er schloss es nicht ab, weil er wahrscheinlich noch nicht entdeckt hatte, dass das möglich war.

Dante und Trish blieben sitzen und lauschten befremdet.

»Wo hast du den aufgegabelt?«, fragte Trish skeptisch. »Der ist noch seltsamer als der Andere.«

»Er kommt aus der Vergangenheit«, sagte Dante und merkte im selben Moment, wie lächerlich das klang. »Sagt er. Er behauptet, schon vor dem ersten Weltkrieg Dämonen vermöbelt zu haben, und bisher hat er null Beweise dafür geliefert, dass es ihm damit nicht völlig ernst ist. Ich werd nicht schlau aus dem.«

Im gleichen Moment hörten sie, wie das Wasser anging, und nur einen Augenblick später folgte ein hellbegeisterter Aufschrei: »Oooooh Mann, Alter, wie irre ist das denn? Warmes Wasser aus der Wand! Whoooohooo!«

Dante sah Trish an und zuckte die Schultern. »Du siehst, was ich meine … Wenn er den Zeitreisenden nur vorspielt, dann macht er das verdammt überzeugend.«
 

Yuri schien das Duschen für sich entdeckt zu haben. Er wollte gar nicht mehr damit aufhören. Dante stellte sich vor, wie es jemandem, der an kaltes Brunnenwasser und Handtücher mit der Weichheit von Stahlwolle gewöhnt war, gehen musste, wenn er sich plötzlich unter einem steten, wohlig warmen Wasserfall wiederfand.

Er klopfte an die Badezimmertür und sagte müde: »Ich hab dir ’ne Zahnbürste aufs Kopfkissen gelegt und deinen Namen draufgeschrieben. Wir sehen uns morgen.«

»Ja, klar, gute Nacht«, antwortete Yuri halbherzig, ohne das Wasser abzustellen.

Dante überließ ihn sich selbst. Meine Residenz hat sich in eine Freak-WG verwandelt, dachte er. Mal sehen, wie lange ich das mitmache.

Als er durch die halboffene Tür in Trishs Zimmer sah – was er völlig unverfroren tat, wann immer er wollte, weil es sie nie zu stören schien – hatte sie sich bereits unter ihrer Bettdecke zusammengerollt, hob aber sofort den Kopf und sah überrascht aus, als er eine Seite des Dschaizan-Manuskripts mitbrachte und zu ihr auf die Decke legte.

»Du kannst es lesen, oder?«, fragte er, während er sich lässig das schwarze Hemd über den Kopf zog.

»Natürlich«, war ihre simple Antwort.

»Ich nicht. Ich kann nicht hingucken.«

»Du versäumst nichts.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Es wäre besser, wenn nie ein Mensch erfahren würde, was dort steht. Es ist haarsträubend. Widernatürlich. Wenn ich religiös wäre, würde ich sagen: blasphemisch.«

Dante schmunzelte. »Also keine Karriere als erste und einzige Person, die es entschlüsseln kann?«

»Danke, nein.« Sie nahm die Seite und legte sie auf den Nachttisch, so spitzfingrig, als würde sie sich davor ekeln – und Trish war ganz sicher nicht die Art von Frau, die sich schnell vor etwas ekelte.

Dante warf sich das Hemd über die nackte Schulter und lauschte. »Duscht der Kerl immer noch?«

»Er sagt die Wahrheit«, erklärte Trish simpel. »Er kommt aus einer anderen Zeit.«

»Vielleicht kommt er auch einfach nur aus dem hintersten Sibirien.«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass er beim Pinkeln die Tür offen lässt?«

Dante sah sie fragend an.

»Nur einen Spalt. Für die Hörweite.«

»Oh.«

»Das machen Leute nicht unbedingt, weil sie schlecht erzogen sind, sondern auch dann, wenn sie mit Angriffen rechnen. Wenn sie Verfolgung kennen, oder Krieg. Es wird eine Gewohnheit, die Sicherheit gibt.«

Dante blickte zur Tür. »Du hast Recht. Ich glaub auch nicht, dass er lügt. Weil er im Lügen armselig wäre.«

»Gib es zu, es stört dich nicht, dass die Beiden hier sind.«

»Naja – solange du nicht da warst, hatte ich immerhin etwas Unterhaltung.« Missmutig fügte er hinzu: »Seit nicht mal mehr Lady anruft … «

»Das Telefon funktioniert in beide Richtungen, Dante.«

Er wollte ihren vorwurfsvollen Blick nicht sehen, also schaute er stur weiter zur Tür. Das Wasserrauschen verstummte. Na endlich.

»Ich bin jedenfalls froh, dass du mal Andere triffst.«

»Andere … was?«

»Leute«, wich sie aus, aber das war nie im Leben das, was sie gemeint hatte. Sie zog die Decke über sich und kehrte ihm den Rücken zu. »Gute Nacht.«
 

Überraschenderweise war Yuri bereits wieder wach, als Dante und Trish gegen Mittag ihren Bedarf an Schlaf gedeckt hatten. Er saß auf seinem Sofa und beobachtete Jin, der gegenüber lag und unverändert aussah, mit derselben wächsernen Haut und den kaum sichtbaren Atembewegungen.

Dante beugte sich über die Sofalehne. »Wie geht’s ihm?«

Yuri hob die Schultern. »Pennt wie’n Stein. Und ist eiskalt.«

»Die Erweckung hat nicht funktioniert, aber sie hat alle Kraft aus seinem Körper gezogen. Ich staune, dass der noch lebt. Mit einem normalen Menschen kannst du so was nicht machen. Tja, halten wir ihn einfach warm und warten wir ab … Gut möglich, dass er so was nicht zum ersten Mal erlebt.«

Erst jetzt drehte Yuri sich zu ihm um. »Hör mal, ich glaub, du hast gar nicht verstanden, was da mit ihm passiert ist. Wie viele Leute kennst du, die es überstehen, von einem Dämon wie Devil besessen zu sein?« Seine Miene war so ernst wie selten zuvor.

»Nicht viele«, räumte Dante ein.

»Eben. Was dein irrer Freund gemacht hat, hat dem Vieh noch mal einen richtigen Schub an Power gegeben. Jetzt gerade prügeln Devil und Jin sich um die Oberhand. Das merkt man. Fass ihn irgendwo an, egal wo – es fühlt sich an, als wird da drinnen eine Schlacht geschlagen.«

Dante musterte Jin skeptisch. Tatsächlich hatte er schon einige Menschen gesehen, die nach dem Kontakt mit bestimmten dämonischen Substanzen einer Art feindlicher Übernahme standhalten mussten. Die meisten hatten mindestens Fieber, oft kamen auch geschwollene Lymphknoten dazu – signifikante Zeichen dafür, dass der Körper versuchte, sich gegen etwas Eingedrungenes, Fremdes zu verteidigen. Jin jedoch zeigte nach der gestrigen Untersuchung nichts davon. »Er liegt doch ganz still.«

»Ja, jetzt. Letzte Nacht hat er sich rumgeworfen und mit den Zähnen geknirscht. Das ist ein Kampf im Kopf, verstehst du? Geist, nicht Körper.«

Dante seufzte und wandte sich ab. Was gab es auch zu sagen? Er konnte es nicht ändern. Wenn in Jins Körper, seinem Kopf oder wo auch immer ein Gefecht epischen Ausmaßes stattfand, dann musste er es alleine schlagen.
 

Als erste sinnvolle Handlung reparierte er zunächst die Tür. Nur wenn sie stabil in ihren Angeln hing, war es wirklich befriedigend, sie aus diesen hinaus zu treten und auf die Straße zu befördern. Leider erwies sich der momentan fittere seiner beiden neuen Mitbewohner nicht gerade als fähiger Assistent.

»Das ist ein Nagel, Hyuga. Eine Schraube ist das Ding mit Gewinde.«

»Dann mach deinen Scheiß doch alleine.« Yuri stierte verdrossen in die Pappschachtel mit Schrauben und Nägeln aller Sorten, dann fischte er schließlich etwas heraus, das brauchbar aussah.

Dante drehte die Schraube durch das Scharnier, rüttelte versuchsweise daran und entschied, dass es bis zum nächsten Tritt halten würde. »Siehst du, schon hast du dazu beigetragen, diesen Ort wieder wohnlicher zu machen«, sagte er gönnerhaft zu Yuri.

»Soll das so was heißen wie ›Du bist ja doch ganz brauchbar‹?«

»Na, wir wollen nicht gleich übertreiben.«
 

Dante beschloss, diesen schon halb vergangenen Tag nicht zu verschwenden, sondern wieder zur Arbeit zu nutzen. Je früher er sich wieder um seinen Lebensunterhalt kümmerte, desto besser. Von der langen und kräftezehrenden Nacht in GRITT-D674 hatte er sich gewohnt rasch erholt, und auch die Anderen schienen nicht übermäßig traumatisiert zu sein, von Jin Kazama einmal abgesehen; doch der Junge war im Moment ohnehin auf sich allein gestellt, und es half ihm auch nicht, um ihn herum zu glucken und den Nachmittag zu vertrödeln. Also räumte Dante seinen Schreibtisch auf – was vorwiegend darin bestand, dass er die Blätterstapel ein wenig zusammenrückte und näher an den Rand schob – und nahm sich etwas Papierkram vor. Besonders bei den offiziellen Aufträgen vom Police Department achtete er darauf, sie wenigstens abzuheften, immerhin waren sie sein Schutzschild gegen strafrechtliche Verfolgung wegen Kollateralschäden.

Ihn erstaunte selbst, wie motiviert er war, und er fragte sich, ob es moralisch richtig war, sich so zu fühlen. Seine Laune sollte mies sein wegen Jin. Doch sie war bestens wegen Trish.

Letztere räumte mehrmals an diesem Tag Dinge durch die Gegend, die Dante seit ihrem Verschwinden hatte herumliegen lassen. Sie war kein großer Fan jener Unordnung, die ihn umgab, doch sie war viel zu cool, um sich zu beschweren oder ihn zu maßregeln. Trish ließ ihn sein, wie er war, weil sie tief im Innern ganz genauso war, nur in weiblich. Trish war ein Prachtstück. Und sie wusste es.

Anfangs war es schwierig gewesen. Trish in eine menschliche Gesellschaft zu integrieren war die größte Herausforderung, der er sich je gestellt hatte, und auch ihr hatte dieses Ziel einiges abverlangt. Ein Teil von ihr war kampflustig, erbarmungslos und brutal, ein anderer – der, den erst die Ereignisse auf Mallet Island in ihr erweckt hatten – war vernünftig, mitfühlend und sogar etwas labil. Ständig befand sie sich im Spagat zwischen Killerqueen und sensibler Frau, und für sie selbst war das noch wesentlich anstrengender als für ihn. Alles, was über basale Empfindungen hinausging, war neu für sie. Oft hatte sie das Lernen überfordert. Sentimentale Gefühle zu kontrollieren fiel ihr schwer, und während sie einerseits faszinierende neue Erfahrungen sammelte und dabei gleichzeitig (und mit Heidenspaß) in Dämonenärsche trat, warfen immer wieder Heulkrämpfe und Wutausbrüche sie in ihrer emotionalen Reifung zurück. Stets kam irgendwann der Punkt, an dem ihr schlagartig alles zu viel wurde. Stabilität gewann sie so langsam wie ein Kind, das aus jahrelanger psychischer Misshandlung befreit worden war. Eines Tages hatte sie Dante betrübt gefragt, wie er es mit ihr aushielt. Er hatte nur die Schultern gezuckt … und sich dabei gefragt, wie er es bisher ohne sie ausgehalten hatte. In manchen Phasen des Lebens zahlte es sich aus, ein Gemüt wie ein Schaukelpferd zu haben. Auch wenn Trish mittlerweile rundum gefestigt war, kam es gelegentlich immer noch zu Situationen, die … schwierig waren. Und dann war er da, falls sie das wollte. Wenn sie wollte. Denn die Unabhängigkeit von ihm war eines ihrer frühstens Ziele gewesen, und inzwischen wusste Dante nicht mehr, ob sie noch bei ihm blieb, weil sie ihn brauchte – oder weil er vielleicht von ihr abhängig geworden war.

Jedenfalls war Trish völlig anders als seine erste, frühere Partnerin. Lady war grob und fordernd und kein Stück fürsorglich; sie trat ihm auch dann noch in den Arsch, wenn er das Gegenteil davon brauchte. In dieser Hinsicht hatte Trish sich als sehr viel feinfühliger erwiesen. Zwar mit mehr Vorlauf, aber … Jedenfalls war ohne Trish zu leben etwas, das Dante sich im Moment nicht mehr vorstellen konnte.
 

»Kommst du mit mir arbeiten, Hyuga?«

»Ich?«, fragte Yuri düster. »Wieso nimmst du nicht Trish mit? Ich soll doch auf Knalltüte aufpassen, war’s nicht so?«

Dante lehnte sich zurück und sah sich eher beiläufig nach Trish um, die gerade ein paar Magazine zusammensammelte. »Oh, weißt du, ich hätte sie gerne für eine Weile aus der Schusslinie. Nur für alle Fälle.« Trish sah ihn kühl an und hob eine Augenbraue; sie nahm ihn kein Stück ernst.

Yuri hatte es nicht gesehen. »Wenn du drauf bestehst, von mir aus.«

Es war kein großartiger Job, der ihnen da zugespielt worden war, lediglich das Bewachen eines verwahrlosten Grundstücks während einer Sprengarbeit. Sie standen ein paar Stunden lang im kalten Wind und beobachteten die Fahrzeuge, das eifrig arbeitende Abrisskommando und den dicht bewölkten Himmel.

»Wieso machen sie das alte Haus platt?«, wollte Yuri wissen. »Sieht doch hübsch aus.«

»Ist offenbar ein Erbstück, und es soll drinnen spuken. Die Erben wollen sich da lieber ’nen Garten anlegen.«

»Und glaubst du, dass da drinnen wirklich Dämonen hausen?«

»Eigentlich nicht. Macht aber nichts.«

Yuri wurde ungeduldig. »Wieso hast du mich dann mitgeschleppt? Du willst doch was.«

»Stimmt. Warte, bis wir entlassen und ungestört sind.«

Hinter ihnen brach das Haus zusammen. Die Wände sackten nach innen, eine Wolke pulverisierten Schutts erhob sich geräuschvoll und schwebte minutenlang über den Trümmern, ebenso langsam verebbend wie der Lärm. Ratten eilten aus den plötzlich freigelegten Kellernischen, sich lautstark über die Störung beschwerend, doch Teufel waren keine da. Natürlich nicht. Das Gebäude hatte eine sterbenslangweilige Geschichte.

Auf das OK das Sprengkommandos hin verließen Dante und Yuri das Grundstück und schlenderten zurück Richtung Slum Avenue, um in jener Ecke anzuhalten, wo bei Gott niemand wohnen wollte, der einigermaßen bei Sinnen war. Dante beäugte die mit Brettern vernagelten Fenster rechts uns links und griff dann wortlos über die Schulter, um Alastor zu ziehen. Es war eine seiner ältesten Teufelswaffen, ein Langschwert, dessen schwarzer Griff Drachenflügel aufwies und das seinem Träger ähnliche Fähigkeiten verlieh, wie Trish sie besaß.

»Hier.« Er hielt Yuri das Schwert hin.

Yuri nahm es entgegen und war ratlos. »Hä?«

»Interessant, du kannst es anfassen. Jeder normale Mensch kriegt eine gewischt.«

»Achso? Danke für die Warnung.« Yuri betrachtete die Klinge, ließ die Fingerspitzen prüfend über das blanke Metall gleiten.

»Kannst du die Teufelsseele spüren?«

»Ja … Aber ich glaub, ich komm nicht an sie ran …« Yuri trat zurück und holte mit dem Schwert aus, als versuchte er sich mit dem Gefühl der Waffe vertraut zu machen. Zweimal ließ er die Klinge probeweise durch die Luft zischen, voll konzentriert auf etwas, das Dante nicht erfassen konnte, und der zweite Hieb verfehlte den Dämonenjäger nur um Haaresbreite.

»Hey, hau mir nicht den Kopf ab!«

»Wie ich mir schon dachte, als Fusionsseele ist sie nutzlos für mich. Ich kann noch auf die Kräfte zugreifen, aber nicht auf die … Essenz, oder wie man das nennen soll.«

»Das hätte auch keinen Sinn ergeben. Eine Teufelswaffe ist sozusagen ein manifestiertes Fragment einer Teufelsseele«, erklärte Dante.

»Und eine Fusionsseele ist der Rest davon«, stimmte Yuri zu.

»Ja, das ist deine Trophäe. Ich mach mir nur was aus der Waffe. Du kannst sie zwar anfassen, aber ich kann mehr rauskitzeln.« Dante zeigte auf die klingenbewehrten Schlagringe zwischen Yuris Fingern. »Um die Macht einer Teufelswaffe voll nutzen zu können, musst du den Namen des Dämons kennen, zu dem sie gehört. Wie deine Dinger da richtig heißen, weißt du nicht, oder?«

Yuri schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Wie denn, wenn Roger sie aus irgendeinem Versteck geholt hat.«

Dante vermutete, dass Yuris seltsamer Freund einen guten Grund gehabt hatte, diese Waffe irgendwo zu verbergen – und Yuri ihren wahren Namen nicht zu nennen.
 

Als sie ins Devil May Cry zurückkehrten, war dort die Lage unverändert. Trish hatte ihre Pistolen Luce und Ombra bis aufs letzte Zahnrädchen zerlegt und war dabei, jedes Einzelteil zu putzen.

»War was los?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

»Nein. Was macht der Kazama-Boy?«

»Nichts.«

»Ich hab Hunger«, beklagte sich Yuri und ließ sich auf sein Sofa fallen.

»Willst du einen Apfel?«, fragte Dante mit gespieltem Ernst. Das hatte seine Mutter ihn stets gefragt, wenn er behauptet hatte, hungrig zu sein, und so etwas konnten wirklich nur Mütter fragen; wenn ein Junge sagte, dass er Hunger hatte, dann war ein Apfel einfach der abwegigste denkbare Vorschlag.

Und genau das sagte ihm jetzt auch Yuris Blick. »Ich brauch was mit Kohlenhydraten.«

»Fruchtzucker ist ein Kohlenhydrat.«

»Hör auf zu klugscheißen. Ich will was Richtiges.«

Dante sah sich nach Trish um. Sie erwiderte seinen fragenden Blick, erhob aber keine Einwände. Jin schlief und konnte sowieso nicht nörgeln.

»Okay, kannst du haben«, sagte er zu dem anderen. »Ich bin gespannt auf deine Meinung, ob sie früher besser oder schlechter war.«
 

»Hmmm«, überlegte Yuri, nachdem sie ihr Mahl beendet hatten. »Schwer zu sagen. In Florenz war sie ganz anders. Der Boden war dünner, die Gewürze waren aufregender. Und es war weniger hiervon drauf, ganz bestimmt.« Mit den Fingerspitzen klaubte er den letzten Rest geschmolzenen Käses vom fettfleckigen Boden des Pizzakartons. »Aber egal, es ist gehaltvoll. Das mag ich.«

»Du bist hier in Amerika. Hier haben die Leute früh entdeckt, dass Fett der beste Energielieferant ist.« Dante rieb sich die Schläfe und beobachtete Trish dabei, wie sie sich die Fingerspitzen ableckte. »Aber à propos Energie … Jin sieht nicht aus, als würde er sich erholen. Vielleicht müssen wir ihn doch zum Arzt schleppen.«

»Geben wir ihm morgen früh als Deadline«, schlug Trish vor und ließ sich von der Schreibtischplatte gleiten.

»Und dann?«

»Wir brauchen ihn, Dante. Ihm hat Sarris mehr gesagt als mir. Der Spinner wird die Seiten suchen, und wir sollten möglichst schneller sein als er. Er will unbedingt Jin.«

»Er will Devil«, korrigierte Dante. »Er weiß was über den, das wir nicht wissen. Sicher ist jedenfalls, dass nur wir Jin beschützen können.« Er ließ das Kinn auf die Hand sinken. »Das wird ziemlich viel Arbeit …«

»Damit könntest du dich beschäftigen, statt Experimente mit Yuri zu machen«, sagte Trish schnippisch.

Erwischt. War ja klar. »Wir brauchen einen Plan«, stellte er fest, die Bemerkung übergehend. »Aber Jin muss mithelfen. Wenn er überhaupt noch will.«

Eine schwierige Frage. Falls Jin erneut den erbitterten Kampf um die Herrschaft über seinen Körper gewann, würde er sich überhaupt jemals wieder auf Experimente einlassen, um Devil loszuwerden? Denn darauf würde es hinauslaufen. Würde er diese labile Überlegenheit, die ihn sein dämonisches Alter Ego kontrollieren ließ, aufs Spiel setzen? Und, noch viel gravierender: War er nach alldem überhaupt noch willens zu kämpfen? Dante und Yuri hatten sich nicht gerade im Guten von ihm getrennt; Jin wähnte sich wahrscheinlich wieder allein in seinem Kampf. Es gab vieles geradezurücken, bevor sie, wiedervereinigt, die Verfolgung von Sarris und den Seiten aufnehmen konnten. Wenn von Jins leidlich intaktem Gemüt nun auch noch der Rest in Scherben lag, waren die Aussichten in jede mögliche Richtung geradezu unterirdisch.

Von Jin, der da wie ein angespültes Stück Treibgut auf dem Sofa lag und aussah, als wäre er dem Tode näher als dem Leben, hing letztendlich alles ab.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war mal wieder ein ätzend langes Kapitel ... Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

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