Zum Inhalt der Seite

Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
»Mundus … His heinous ways make me sick. Killing even his own, like they were nothing. He’s the one that took the life of my mother and my brother, I’m sure. My mother used to always tell me that my father was a man who fought for the weak. He had courage and a righteous heart. In the name of my father, I will kill Mundus!«
– Dante (Devil May Cry) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Akt V - Aufbruch ins Gelobte Land: 9-1

9-1: DANTE
 

Die ersten Sekunden lang war der Schmerz so überwältigend, dass er fast das Bewusstsein verlor. Es war nur eine Kugel, doch sie hatte seine linke Lunge durchschlagen, die sich sofort mit Blut zu füllen begann und seine absichtlich flach gehaltene Atmung zu ersticken drohte. Im Dunkel liegend blieb er ganz starr, um den kurzen Moment, den es dauern würde, irgendwie durchzuhalten – und dann, endlich, ging sein halbdämonischer Organismus in den Leck-mich-Modus über und schüttete Unmengen von Schmerz- und Aufputschmitteln in sein Blut aus.

Keine Sekunde zu früh.

Der Hobbymörder packte ihn und drehte ihn auf den Rücken – für Dante war es jetzt einfacher, Leiche zu spielen – und rammte ihm sein Schwert in die Brust, dass die Klinge an den Rippen kratzte und noch mehr Blut seinen Brustraum flutete.

Egal. Das war nicht neu. Passierte gefühlt ständig. Immerhin trat die Spitze nicht im Rücken wieder aus, so blieb wenigstens der Mantel diesmal heil. Alles andere konnte Dante jetzt leicht ignorieren. Blut war kein kritischer Faktor – er produzierte es so schnell wie andere Leute Schweiß. Also gab er sich Mühe, so tot auszusehen wie noch nie, während in seinem hastig kreisenden Blut die körpereigenen Drogen alle Beeinträchtigungen tilgten.

Als die beiden Pseudokiller ihren Sermon beendet und das Weite gesucht hatten und nachdem auch jedes andere Geräusch längst verhallt war, zog Dante Arme und Beine an und sprang auf die Füße. Sein Kreislauf machte ihm keinerlei Probleme.

»Die waren ja gründlich«, stellte er fest, die schummrige Düsternis mit großen Schritten durchmessend. Der Hustenreiz war schon wieder völlig verschwunden. Er umfasste Rebellions Griff und zog sich die Klinge aus der Brust. Dabei achtete er darauf, Jin, der immer noch reglos dalag, nicht mit seinem Blut zu besprenkeln. »So was passiert immer nur montags.«

Von Jin kam überhaupt keine Antwort. Er lag so auf dem Rücken, wie er gefallen war, und der Schock ließ ihn nicht länger stillhalten: Heftig hob und senkte sich sein Oberkörper, und alle seine Glieder zitterten unkontrolliert.

»Kazama?« Dante kniete sich neben seinen Kopf und blickte ihm in die leicht glasigen schwarzen Augen. »Alles cool?«

Jin schaute verwirrt zu ihm auf. »Du … hast …«

»… dir das Leben gerettet? Wahrscheinlich.«

»Aber du hast …« Jin befeuchtete sich die Lippen wie in Zeitlupe. »… dein eigenes Schwert …«

»Ist schon in Ordnung. War nicht das erste Mal.« Tatsächlich spürte er gar nichts mehr, die Wunde war völlig taub und Dante bei glasklaren Sinnen. Im Stillen dankte er seinem dämonischen Erbe: Als normaler Mensch hätte er schon etliche Male das Zeitliche gesegnet, so oft, wie seine Feinde auf die Idee kamen, ihn mit irgendwas zu durchbohren. Doch Schmerzen von solcher Heftigkeit machten ihn nicht kaputt, sondern high. Je mehr man Dante verletzte, desto mehr er lief er zur Höchstform auf.

Jin schien sich einigermaßen zu fassen. Noch etwas verwaschen sagte er: »So was sollte … nicht passieren.«

»Nein, aber das war auch kein Geniestreich.« Dante strich mit der Hand über das Leder des Mantelkragens und hob sie nass und rot vor die Augen. »Werden Auftragskiller heutzutage nur noch schlampig ausgebildet? Er hätte mir das Schwert direkt ins Herz stoßen können, das hätte mich länger beschäftigt. Aber er wollte mir wohl eine Chance geben.« Er zuckte die Schultern. »Ich wurde bisher nicht oft ermordet, aber wenn, dann immer von Idioten.«

»Die wollten nicht dich töten.« Jin hielt noch immer den Kopf gesenkt und bekam kaum die Zähne auseinander.

»Nein«, pflichtete Dante ihm ernst bei, »du hast Recht. Die wollten nicht mich töten.«

»Woher wusstest du, dass sie auf uns schießen würden?« Jin zog die Schutzweste über der Brust auf und rieb sich die Stelle, wo das Material die ganze Wucht des Geschosses aufgefangen hatte. Sicherlich war das ordentlich geprellt, vielleicht waren auch ein, zwei Rippen angeknackst. Aus einem Mordanschlag ging man eben nicht völlig heil hervor.

»Ich hab sie gehört. Die sind ganz vorsichtig an uns ran geschlichen, das kam mir verdächtig vor. War nur eine Vermutung, dass sie uns umlegen wollen. Hättest du erst diskutiert und nicht gleich mitgespielt, dann hätten sie erkannt, dass ich dich gewarnt habe. Zum Glück bist du ein braver Junge, darauf trainiert zu gehorchen.« Er sagte das nicht ohne eine Spur von Spott.

»Wir müssen sie kriegen«, knurrte Jin. »Ich muss wissen, warum sie mich erschießen wollten.« Damit hatte er Dante auch schon brüsk den Rücken gekehrt und stapfte den Weg zum Aufgang zurück, sich weiter die schmerzende Seite reibend.

»Ich denke, dich umlegen wollen viele?«, rief der Dämonenjäger ihm halbherzig nach. Sein Adrenalinspiegel sank bereits wieder, und er wurde zusehends lustlos. »Die erwischen wir jetzt nicht mehr.«

Jin schenkte ihm keine Beachtung. Schon war er der schmierigen Treppe nach aufwärts gefolgt.
 

Draußen hatte es angefangen zu graupeln; die winzigen Schneekügelchen stoben in unregelmäßiger Dichte durch die viel zu warme Luft und zerflossen am Boden zu punktförmigen Wasserflecken.

Jin war nicht so kopflos wie gefürchtet – Gott sei Dank. Er stand vor dem Ausgang und horchte, seine Silhouette schwarz vor dem blass einsickernden Licht. Dante brauchte nicht zu fragen: Die Killer waren noch da. Und sie rechneten nicht damit, dass ihre jüngsten Opfer noch lebten.

»Was machen sie?« Er versuchte, es so leise wie möglich und so dicht an Jins Ohr wie möglich zu sagen und sah, wie sich im Nacken des Japaners die Härchen aufstellten.

»Ich glaube, sie platzieren Sprengstoff.«

»Was? Die gehen aber wirklich auf Nummer sicher.«

»Sie wollen den Zugang zum Tunnel einstürzen lassen, damit niemand unsere Leichen findet«, zischte Jin.

Im selben Moment hörten sie auch wieder die helle Stimme der Frau: »Ich bedaure sehr, dass das nötig ist.«

»Ich auch«, pflichtete der Mann bei, teilnahmsvoll, aber voll gefasst. »Aber du tust das hier für das Wohl der Welt. Wenn deine Visionen wahr sind, dann gibt es keinen anderen Weg. Also sieh geradeaus: Im Kampf gegen das Chaos sind wir ruhig, kühl und zielorientiert.« Eine kurze Pause folgte. »Gut, ich setze den Zünder jetzt ein … Geh da rüber, zur Brücke. Das sollte reichen.«

Während er Jin folgte, versuchte Dante seinen Rücken, so gut es ging, den Fassaden zuzukehren; über der Brust war sein Mantel nicht blutbefleckt, nur alles darunter, doch das konnte er verstecken. Immer dasselbe mit diesem Job.

Jin war zwischen zwei parkenden Autos auf die unbefahrene Straße gelaufen. Na großartig. Würden die Killer ihn nicht sehen? Trotz aller Akkulturation sah er eben immer noch aus wie ein reicher Chinese, und das fiel hier auf.

Nach kurzem Zögern folgte Dante ihm. Er konnte nicht irgendwo im Hintergrund herumhängen, während Jin seinen Beinahe-Mördern direkt ins Schussfeld lief. Was stimmte mit dem Kerl bloß nicht?

Die beiden Attentäter, als sie endlich in Sicht kamen, wie sie emsig an ihrer Sprengladung herumwerkelten, gaben ein unerwartet kurioses Bild ab; sie waren das ungleichste Paar, das Dante je gesehen hatte. Der Mann sah in der Tat wie ein Killer aus: Er war dunkelhäutig, steckte in schwarzen, militärisch anmutenden Klamotten mit allerlei Taschen und Schlaufen für Waffen und trug eine verspiegelte Sonnenbrille; außerdem zierte eine große Narbe in Form eines X zentral sein Gesicht. Mehr Klischee ging gar nicht. Die Frau hingegen trug wallende, zum Kämpfen eher unpraktische Kleidung, ähnlich einem indischen Sari in Olivgrün, und hatte den Gang eines schlanken schwarzen Pferdes, eine orientalische Grazie mit schönen Kurven und Linien, wie gemalt. Ihre Augen waren schwarz umrahmt und glitzerten; dabei waren sie nicht kalt, sondern, im Gegenteil, voller widersprüchlicher Gefühle, die sie jedoch gut unter Kontrolle zu haben schien.

Jin huschte ihnen direkt ins Sichtfeld – lautlos, im Stealth Mode wie ein Ninja. Großes Kino! Sie sahen ihn weder kommen noch hörten sie ihn. Riesenüberraschung in drei, zwei, eins

Jin stellte sich genau zwischen die Beiden, breitbeinig, die Arme gekreuzt, und blickte herausfordernd vom Einen zum Anderen. »Was habe ich euch getan?«, verlangte er ruhig zu wissen.

Die Gesichter der ertappten Attentäter waren unbezahlbar.
 

»Es ist zum Wohle der Welt«, setzte die Frau zu einer schwachen Verteidigung an; ihre großen, dunklen Rehaugen ruhten funkelnd auf Jin, der den Blick gewohnt abweisend erwiderte.

In diesem Moment trat Dante unter der Brücke vor und neben ihn. »Ich fürchte, das musst du erklären.« Mit einer lässigen Bewegung zog er Ebony und richtete sie auf den Boden, unmittelbar vor die Füße der Beiden. »Na los, unter die Brücke.« Es war nicht sein Stil, Leute mit Waffen zu bedrohen, doch seine beiden Mädels machten den nötigen Eindruck. Immer.

Die Araberin ging sofort los; sie schien überhaupt keine Angst zu haben. Sie sah aus, als bewegte sich irgendetwas in ihrem Inneren unentwegt, wie ein unruhig flackerndes Feuer. Der Mann, im Kontrast, stand erst still wie ein Stamm – wahrscheinlich war er wirklich ein Ex-Marine oder so – und folgte ihr erst nach einem langen Moment wie mechanisch. Seine eigene Waffe (zumindest die eine, die zu sehen war) steckte in ihrem Holster und blieb auch dort. Er war klug genug, keinen Gegenangriff zu riskieren.

Mit dem Rücken zum gusseisernen Pfeiler der Somerset Bridge war es leicht, die Beiden in Schach zu halten. Dante machte eine Geste zu Jin und trat dann zurück; schließlich war er das Ziel ihres schlecht organisierten Anschlags gewesen.

Jin trat mit unbewegter Miene näher. »Warum wolltet ihr mich töten?« Es klang fast unbeteiligt, mit nur einer Spur von Drohung, etwa wie: Warum habt ihr mir mein Snickers geklaut? Dachtet ihr, ich esse das nicht mehr?

Der Camouflage-Typ reagierte gar nicht, als hätte er die Frage einfach nicht gehört. Es war die Frau, die antwortete. Ihre Stimme klang jetzt kühl und beherrscht.

»Es gibt eine Prophezeiung«, sagte sie langsam, wobei ihr wunderlicher arabischer Akzent deutlich zutage trat, »dass sich schon bald die beiden bösen Sterne berühren werden … und dann wird das Siegel einer besonderen Grabstätte gebrochen werden.«

Dante wusste mit dieser Ansage nichts anzufangen, doch Jin ermunterte die Frau ruhig: »Sprich weiter.«

»Der Eine Gefangene«, fuhr sie eindringlich fort, ihn mit ihrem starren Blick durchbohrend, »wird freikommen … und die Welt wird zu Ende gehen. Du musst verstehen, dass wir das nicht geschehen lassen können.«

Langweilig, dachte Dante und beschloss einzuschreiten, indem er Ebony wieder anhob. »Sonst noch kryptische Storys, oder willst du endlich seine Frage beantworten?«

»Es gibt keine weitere Antwort«, brummte der Navy-Seal, oder was auch immer er war. »Du hast keine Ahnung, welche Bürde sie trägt. Genauso wenig wie ich. Ich kann auch nur mit der Knarre fuchteln, der einzige Beistand, den ich ihr bieten kann.« Er nickte der Frau zu.

»Ich kenne diese Prophezeiung von unserem spirituellen Führer«, fuhr sie rasch fort, als würde sie sich um Frieden bemühen. »Mein Name ist Zafina.« Sie nickte Jin zu. »Und du bist Jin Kazama.«

»Und was bedeutet das für dich?«, fragte Jin skeptisch.

»Du bist einer der beiden dunklen Sterne. Du bist einer von denen, die das Ende einläuten werden. Dein Kampf mit dem anderen Stern ist unausweichlich. Deshalb …« Sie unterbrach sich kurz, führte jedoch den Satz, so lächerlich er auch weiterging, tapfer zu Ende: »… deshalb musst du sterben. Es ist vernünftig.«

Jin reagierte weder schockiert noch aufgebracht. Die Ruhe auf seinen Zügen bezeugte, dass er sich mit dem Gedanken an seinen eigenen Tod durchaus schon beschäftigt hatte.

»Ich hatte Träume«, fuhr Zafina sanft fort. »Es ist die Wahrheit.«

Dante schnaubte und wandte sich an ihren Partner. »Und welche Rolle spielst du dabei? Bist du nur der Hitman, der abdrückt?«

»Codename Raven«, erwiderte der Militär-Typ kühl. »Und ich bin kein Assassine.«

»Siehst aber aus wie einer.«

»Dass du noch lebst, ist mir ein Rätsel.« Sein aufmerksamer Blick hatte längst die schwarze Schutzweste unter Jins Mantel entdeckt und somit dieses erste Mysterium gelöst; ebenso jedoch sah er das trocknende Blut an Dantes Kleidung, ein Indiz dafür, dass er ihn wirklich schwer verwundet hatte. Sein Blick wanderte zu Zafina. »Ich glaub, ich weiß, wer der Kerl in Rot ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch. Aber er ist völlig bedeutungslos.«

Na, besten Dank.

»Wenn du nicht stirbst«, wandte Zafina sich erneut an Jin, »wirst du die Welt in großes Unheil stürzen.« Sie holte tief Atem. »Es tut mir leid.«

»Du hast von zwei Sternen gesprochen«, erinnerte Jin sie milde. »Warum räumst du nicht den anderen aus dem Weg? Ich habe mich noch nicht ganz mit dem Tod abgefunden.«

Raven atmete leise auf. Dante musste zugeben, dass er immer weniger wie ein Killer wirkte. »An den anderen kommt man nicht so leicht ran wie an dich. Jedenfalls nicht, wenn er derjenige ist, den Zafinas Guru im Verdacht hat.«

»Still!«, sagte sie scharf. »Die Gedanken unseres Oberhauptes sind Informationen, die ich nicht einmal unter Folter preisgeben würde!«

Bedeutsam spielte Dante mit Ebonys Abzug, um den aufmüpfigen Angeklagten seine Feuerbereitschaft noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Zwar fingen sie an, ihm ein wenig leid zu tun, weil sie wirklich arme Spinner waren, aber versuchten Mord konnte er nicht so schnell verzeihen. »Tja, für Folter ist hier der allgemeine Sadismus-Level zu niedrig, fürchte ich, aber das gute alte Wird’s-bald-oder-ich-schieße ist noch im Angebot.«

Sogar Jin warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Oh ja, sie kannten sich bereits recht gut.

Zafinas Worte baten beide Parteien um Mäßigung. »Ich bekleide in meinem Dorf eine wichtige Position«, erklärte sie, und Dante war klar, dass sie nicht ›Präsidentin‹ sagen würde. »Ich bin die Hüterin des Tempels – seiner Grabstätte.«

»Wessen Grabstätte?« Jins Stimme war schneidend.

Ihre Augen glitten fast ehrfürchtig an ihm hinunter. »Wenn du nur wüsstest, was für eine große Kraft in dir wohnt, Jin Kazama …«

»Das weiß ich besser, als du denkst.«

Sie beachtete seinen Einwand nicht. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht verantworten, dass du am Leben bleibst.«

Das war eine klare Ankündigung. So klar, dass Dante im selben Moment dämmerte, wie sehr er diese beiden Pseudo-Assassinen unterschätzt hatte.

Als wäre Zafinas letzter Satz ein geheimes Zeichen gewesen, setzten sich beide gleichzeitig in Bewegung. Ihre Anstürme kreuzten sich: Zafina stieß mit beiden Fäusten Dantes erhobenen Arm beiseite, Raven stürzte sich auf Jin. In seiner Faust glänzte die dicke, widerwärtig brutal gezackte Klinge eines Buschmessers, mit welcher der muskulöse Mann gezielt nach Jins Kehle hackte. Er war ein Profi, seine Bewegungen waren so koordiniert wie die einer zustoßenden Kobra. Zwar hatte Jin feine Reflexe, und einer davon brachte ihn vor dem ersten Stoß in Sicherheit, sodass die groben Zähne der Machete die weiche weiße Haut am Hals nur ritzten; jedoch war er auf den Überfall nicht vorbereitet gewesen, seine Deckung war unten, kein Ausfallschritt würde groß genug sein, ein zweites Ausweichen zu ermöglichen –

– und Devil würde ihn nicht retten, sie hatten ihn mit Yuris Traumkraut betäubt …

Dante sah alle Bewegungen nur noch in Slow Motion, seine eigene eingeschlossen. Nie würde er schnell genug sein, den Killer mit einer Kugel zu erwischen, bevor –

Doch in diesem Moment betrat eine weitere Person die Bildfläche.

Zapp, zapp.

Dante kannte das Geräusch einer schallgedämpften Pistole, und er wusste: Wenn diese Schüsse ihr Ziel verfehlten, würden sie auf dem eisernen Rahmen der Brücke zu Querschlägern werden – nur, was war ihr Ziel?

Kurz darauf wusste er es.

Der Aufprall riss Raven von den Füßen, und die Spitze des Messers brachte Jin einen harmlosen, hauchzarten Schnitt vom Kehlkopf bis zum Schlüsselbein bei, der sich träge rot färbte. Mit einem Wumm prallte der dunkle Mann rückwärts gegen den Brückenpfeiler. Das ehrwürdige Konstrukt schluckte die Erschütterung einfach.

Es war nicht überraschend, dass aus dem Loch in Ravens Tarnfleck-Jacke kein Blut quoll. Natürlich war auch er gepanzert, sicher mit so einem Militär-Stahlwams Level Fuck You, das Dantes Kevlar-Weste kindisch aussehen ließ.

Als Vollprofi war Raven sofort wieder auf den Beinen und voll gefasst – jedoch konnte er das Messer nicht mehr halten, dafür hatte Treffer Nummer zwei gesorgt.

Zafina, die im Moment der Schüsse mit einem Überschlag davon gesprungen war wie die Stuntesse in einem Martial Arts-Film, glitt schlangengleich zwischen Raven und Jin. Wie eine aufgerichtete Speikobra stand sie vor ihrem ursprünglichen Opfer, die Hände geschlossen; Jins Fäuste waren instinktiv zur Deckung erhoben, und es hätte nur einer einzigen falschen Bewegung bedurft, ihn vom Verteidigungs- in den Angriffsmodus zu bringen.

»Wir werden uns wiedersehen«, verkündete Zafina dann ruhig und glatt, »und ich hoffe, dass du bis dahin weißt, was richtig ist.«

Raven salutierte zu Jin – eine unerwartete Geste des Respekts.

Dann machten die beiden Attentäter sich los und verschwanden, zusammen mit ihren Beuteln voll Sprengstoff, wie zwei Geister im dunklen Schatten, den der schwere Brückenkörper auf den Asphalt warf.
 

Langsam fuhr sich Jin mit der Hand über den Hals und wirkte erstaunt über das Rot an seinen Fingern. Mit dem altbekannten Was-soll’s-Ausdruck wischte er das wenige Blut mit einem Taschentuch ab und sah sich dann um. Dante wusste, dass nicht er es war, nach dem der Japaner Ausschau hielt; nein, Jin suchte den geheimnisvollen Schützen, der ihm soeben das Leben gerettet hatte. Dante wandte den Kopf Richtung Straße: Dort stand die Gestalt unbewegt unter einem Dachvorsprung und ließ soeben mit ruhiger Hand die Waffe wieder verschwinden.

Jin schaute hin, und seine Züge entspannten sich augenblicklich. Ohne zu zögern setzte er sich in Bewegung und ging auf die Person zu.

Dante blieb, wo er war. Zweifellos kannte Jin die Frau – denn ja, es handelte sich unverkennbar um eine solche –, doch das musste nicht bedeuten, dass sie auch Dante wohlgesinnt war. Hierin hatte er sich schon zu oft getäuscht.

Die Frau trug einen langen schwarzen Wintermantel, der mit einem breiten Stoffgürtel tailliert war und einen Kragen aus ebenfalls schwarzem Kunstpelz aufwies. Ihre Augen verbarg eine anthrazitfarbene Sonnenbrille, obwohl das nachts wohl kaum nötig war. Unter ihrer Kapuze lugte kein einziges Haar hervor, nur die milchig weiße Haut einer Europäerin.

Jin begrüßte die Dame auf seine freundlichste Art: »Was machst du hier?« Ein leises Seufzen. »Bist du mir gefolgt?«

»Was glaubst du wohl?« Ihre Stimme war unerwartet tief. Damit hätte sie gut in einer dieser Serien über knallharte Killerladies mitspielen können, wäre da nicht die Ahnung eines Akzents, der ein kleines bisschen putzig klang. »Ich habe dich schließlich hergeschickt.«

Interessant, dachte Dante, steckte endlich Ebony weg und trat nun ebenfalls näher.

Jin drehte sich halbherzig zu ihm um. »Dante, das ist Nina Williams. Meine …« Er zögerte.

»Dein Kindermädchen?«

»Meine Leibwächterin. Nina, du weißt, wer er ist.«

Die Frau schlug ihre Kapuze zurück, unter der straff zurückgebundenes Haar in einem satten, fast leuchtenden Honigblond zum Vorschein kam, und nahm ihre Sonnenbrille ab, um Dante kritisch zu beäugen. Ihre blauen Augen waren ohne Wärme, ihre Züge jugendlich, aber hart. Er versuchte, sich dieses Gesicht lachend vorzustellen, und scheiterte. »Ich hatte Sie mir beeindruckender vorgestellt, Dante«, sagte sie.

»Ach, wirklich? Größer?« Er überragte sie um fast eine Kopflänge. »Oder …«

»Gefährlicher«, erwiderte sie achselzuckend.

Ich hätte mich doch nicht rasieren sollen.

»Wie auch immer, ich habe für Jin nach jemandem gesucht, der ihm helfen kann, und Sie wurden mir wärmstens empfohlen … Ich bin nur hier, um mich zu überzeugen, dass Sie ihn nicht einfach umgelegt haben.«

»Das wollte ich am Anfang.« Dante sah zu Jin. »Siehst du, das hat deine Funkstille uns eingebracht. Du hättest ihr mal ’ne Mail schreiben können, dass alles in Ordnung ist.«

»Sie hat uns gerade gerettet«, stellte Jin emotionslos fest.

Nina richtete ihren Blick wieder auf ihn, und sofort wich das finstere Starren einem fast freundlichen, neugierigen Examinieren. »Ich habe gesehen, wie dieser Idiot vorhin auf dich losgegangen ist … Ja, ich habe dich zuletzt ein wenig beschattet, zu deinem eigenen Schutz. Immer mehr Gruppierungen und auch Einzelpersonen werden auf dich aufmerksam, und die meisten sind nicht gerade an deiner Unversehrtheit interessiert. Aber …« Sie befeuchtete sich die Lippen. »… da er dich angegriffen hat und du keine Anzeichen von … Verwandlung gezeigt hast …« Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben, als warte sie darauf, dass er irgendeine positive Neuigkeit mit ihr teilte, doch sofort nahm sie sich wieder zurück. »… gehe ich davon aus, dass ihr dein Problem gelöst habt.«

Jin betrachtete sie einen Moment lang aufmerksam, und Nina schaute erwartungsvoll zurück; keiner von beiden blinzelte. Dann sagte er leise: »Nur temporär.«

»Das bedeutet?« Ninas rechte Augenbraue wanderte in die Höhe. Dass ihre Stirn sich dabei in Falten legte, bewies, dass an ihrem makellosen Gesicht noch alles echt war.

»Dass ich einer Lösung nicht wirklich näher gekommen bin.«

Nina schürzte die Lippen, als läge ihr so etwas wie ›Das tut mir leid‹ auf der Zunge, doch stattdessen wandte sie den Blick ab und trat von ihm zurück. »Wenn das so ist, sorge ich dafür, dass meine Kontakte sich weiter umhören. Bis dahin können wir zurück nach Tokyo fliegen, oder wohin auch immer du möchtest.« Ein kurzer Seitenblick galt Dante. Sie traute ihm nicht.

»Ich würde ihn gerne noch ein wenig behalten«, teilte Dante ihr lächelnd mit.

»Ich glaube nicht, dass Sie das entscheiden.«

Jin hob enerviert eine Hand zwischen die beiden. »Genug. Nina, wir haben noch etwas zu erledigen, etwas, bei dem wir möglicherweise deine Hilfe brauchen.« Er wandte sich an Dante: »Vielleicht sollten wir uns, da ich immer mehr Aufmerksamkeit zu erregen scheine, weiter mit unserer geplanten Reise nach Wales beschäftigen.«

»Wales?«

»Meinetwegen«, erwiderte Dante großzügig. »Abmarsch, wir gehen nach Hause und besprechen das bei einem … Scotch.« Er zwinkerte Nina zu. Die würde er schon noch um den Finger wickeln. Für ihren Trip würden sie jemanden brauchen, der ihnen den Rücken freihielt, und nur Nina würde die Mittel dazu haben.

»Scotch«, wiederholte die Blonde misstrauisch.

»Sie sind doch von den Inseln, oder nicht? Sie können keinen Whisky ablehnen.«

Nina, bezüglich ihrer Herkunft enttarnt, dachte darüber nach. »Nein, kann ich nicht wirklich«, entschied sie dann. »Wenn Jin das wünscht, werde ich tun, was ich kann.«

»Dann wäre das ja geklärt.« Dante wies mit der Hand geradeaus. »Da geht’s lang.«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Jin, du Glückskind. An dem Tag, als man dich hinterrücks zu erschießen versucht, hast du ZUFÄLLIG eine kugelsichere Weste an! Hier hat die Autorin wirklich Talent bewiesen ... *schäm*
Aber wenigstens ist Nina jetzt da. Mit Nina wird alles besser.

Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shenduan
2021-04-14T07:20:39+00:00 14.04.2021 09:20
Er sollte vielleicht einen Kugelsicheren Ganzkörper Anzug tragen. XD Aber da Nina jetzt da ist kann nur alles gut werden oder?
Antwort von:  CaroZ
14.04.2021 21:43
Jaaaah! Nina ist da ja sehr erprobt und zuverlässig. xD
Danke für den Kommentar!


Zurück