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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen am Fronleichnam-Donnerstag. Leider kein Feiertag bei uns ... Komplett anzeigen

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Akt VI - Der Zug: 10-3

10-3: JIN
 

Jin bedachte Dante, der soeben unter dem Tisch die Atravet-Tube hervorholte und gemächlich wieder zuschraubte, mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Ich habe dir gesagt, er wird es merken.«

»Gut, du hast die Wette gewonnen. Ich geb dir einen aus, wenn wir da sind.«

Jin war von dieser Art Humor nach wie vor angewidert, doch auch jetzt sparte er sich seinen Atem. Schon bei ihrem Einstieg ins Flugzeug hatte das Aufsichtspersonal recht besorgt gewirkt, als sie Yuri mehr oder weniger hinter sich her geschleift hatten – zumal die drei Männer in den langen Mänteln nicht eben die unauffälligsten Passagiere waren. Jetzt hatten sie wieder das gleiche Problem. Nur mit dem Zug.

Jin hatte die Tickets schon an einem einsamen Schalter im Erdgeschoss gelöst, sie kosteten fünfunddreißig Pfund pro Person, und er hatte keine Ahnung, ob das viel oder wenig war.

Glücklicherweise war der Gebäudeteil des im Flughafen befindlichen Bahnhofs nur wenig frequentiert, als Jin und Dante den (schon wieder) halbkomatösen Yuri zwischen sich hinunter zu den Gleisen dirigierten. Es war dunkel und windig, der nahende Morgen noch nicht zu erahnen. Stumm lag der grün und gelb gestrichene Zug der Gesellschaft Virgin Trains von London Midland in seinem Gleisbett. Links und rechts der Überdachung führten die Schienen unter dem kalten Licht von Laternenreihen zwischen farblosen Gebäuden und Baugerüsten ins Nichts.

»Die Stadt scheint nicht viel zu bieten haben«, stellte Dante fest, und seine ruhige Stimme warf ein majestätisches Echo in die Stille.

»Birmingham ist eine reine Industriestadt, sie muss nicht schön sein«, erwiderte Jin. Und das war sie auch nicht, nach allem, was er sah. »Wir müssen in Newstreet umsteigen und haben nur zehn Minuten Zeit. Schaffen wir das?«

»Kazama.« Dante quittierte seine skeptische Miene mit einem belustigten Ausdruck. »Ich glaube, wir haben bis hier schon ganz andere Sachen hingekriegt, meinst du nicht?«

Niemand beobachtete sie, als sie einstiegen, und niemand kontrollierte sie. Genau sieben Minuten später setzte sich der Zug fast schweigend in Bewegung und durchquerte das Industrieviertel, in dem sich um diese Zeit noch nichts regte. Die Fassaden blieben grau und unästhetisch, auch als sie, durchs Fenster den ersten hellen Streifen am Himmel betrachtend, Birmingham verließen und England Richtung Westen durchfuhren.
 

Der Zug, in den sie in Newstreet Station wechselten, war ein walisischer Zug. Er gehörte der Gesellschaft Trenau Arriva Cymru und führte sämtliche Beschriftungen zweisprachig: Neben Exit stand Allanfa, die Sicherheitshinweise waren alternativ mit Mewn Argyfwng betitelt. Jin empfand das Schriftbild als Zumutung. Schon für Europäer musste es schwierig sein, das Rätsel um die Aussprache solcher Wörter zu lösen, aber für ihn als Japaner war es schier unmöglich. Er hoffte, dass die Waliser verständliches Englisch sprachen.

Aus den Durchsagen ging hervor, dass Aberystwyth die Endstation war. Nach jeder hochfreundlichen Ankündigung des nächsten Halts folgten Dankesworte; das fand Jin eigentlich ganz sympathisch.

Um halb sieben besuchte sie das Zugpersonal und kontrollierte die Fahrkarten. Inzwischen wirkte Yuri zum Glück nur noch wie jemand, der von seiner nächtlichen Sauftour erschöpft war, und so sprachen Dante und Jin besonders leise, um diesen Eindruck zu bestärken. Jin bestellte sich einen Kaffee, ohne große Hoffnung, er könnte besser sein als der im Flugzeug, und wurde hierin nicht enttäuscht: Kaffee war nicht die Stärke der Briten.

Einige Kilometer später, am Halt Shrewsbury, änderte sich die Fahrtrichtung. Es war die Grenze zu Wales – und es war der Zeitpunkt, an dem Yuri wieder zu sich kam. Jin sah, wie wieder Spannung in seinen Körper kam, dann öffnete er die Augen, erst einen Spalt breit, dann sehr schnell sehr weit. Er hielt einige Sekunden lauschend den Atem an und begriff offenbar, wo er sich befand. Augenblicklich entspannte er sich. Er streckte Arme und Beine, und ein schweres Seufzen hob seine Brust.

»Das war jetzt das dritte Mal, dass mir jemand irgendwas unterjubelt, um mir das Hirn weich zu machen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass in eurer Zeit alle Probleme durch Drogen gelöst werden.« Es klang matt und resigniert, als hätte er sich mit dieser Tatsache abgefunden.

Jins Blick wanderte zu Dante, der zurück schaute und in keiner Weise schuldbewusst wirkte. »Ich weiß nicht, warum du keine Züge magst, Hyuga, denn du machst ja ein Geheimnis draus … aber es kam so rüber, als würden Züge dich ernsthaft nervös machen.«

»Das hier«, versetzte Yuri und umfasste das Innere des Großraums mit einer Geste, »hat echt gar nichts mit der Art von Zug zu tun, die ich kenne.«

Dampflokomotiven, dachte Jin. Yuri war an laute, stinkende, schrill pfeifende Ungetüme gewöhnt. Ein E-Zug dagegen rollte einfach nur.

Dante wandte sich dem Fenster zu und betrachtete die Umgebung, die allmählich von urbanisiert in ländlich und einsam überging, und fragte Jin: »Was machen wir, wenn wir keine Unterkunft finden?«

»Dann bauen wir uns ’ne Höhle im Wellington Monument«, schlug Yuri vor und lächelte breit. Er hatte erstaunlich wenig Bedenken dafür, dass er Großbritannien nur von 1913 bis 15 kannte.

Jin schüttelte den Kopf. »Tatsächlich wird das vielleicht etwas schwieriger, da gerade eine Art wissenschaftliche Tagung in Aberystwyth stattfindet.«

»Was? In dem Kaff? Unmöglich!«

»Du bist hundert Jahre zu spät mit deinen Einschätzungen. Überlass mir das. Ich werde uns schon unterbringen.«

»Dann aber bitte ohne Schmiergeld und Tote.«

Diese Bemerkung fand Jin nicht besonders komisch. Schmiergeld und Tote, das war in der Tat der Stil des Mishima-Konzerns. Yuri konnte das nicht wissen; sicher kannte er nicht viele Leute aus diesem Business. Oder … vielleicht gerade doch.

Inzwischen fuhren sie durch vereinzelte Häuschen, die auf sanften Hügeln verstreut lagen. Der Regen war schwächer geworden, nur noch Niesel prasselte in weichen Schwüngen gegen die Scheiben. Die Schatten der Wolken glitten rasch über das zarte Grün hinweg, jede verlor einige Tropfen und zog dann weiter. Mehr und mehr tat sich die Landschaft um sie herum auf, felsige Wiesen mit karger Vegetation, in denen keine Zivilisation mehr zu sehen war außer den Bahnschienen, die durch das Nichts führten. Und dann … erschienen ringsumher immer mehr weiße Tupfen, größere und kleinere, bis es unzählige von ihnen waren: Schafe, die ohne Zäune auf den endlosen Flächen weideten.

Für eine lange Zeit gab es draußen nichts zu sehen als Wiesen, Wolken und Schafe. Ein sehr einsames, schönes Land entfaltete sich vor ihnen, das geradezu erstrahlte, als endlich die Wolken sich verzogen und schließlich die Sonne mit voller Kraft auf feuchtes Gras und Erde strahlte.

»Endlich!«, freute sich Yuri. »Wales im Sonnenschein! Genießt es, so oft wird das nicht passieren.«

Jin brauchte man das nicht zu sagen; er genoss die Aussicht. Die grünen Hügel wurden flacher, wichen einer Art Moor mit von Wasser bedeckten Wiesen und hohen Gräsern, deren Ähren wie kleine Fahnen im Wind flatterten. Zahllose Wildvögel kauerten im Gras oder zogen darüber: Reiher, Kanadagänse, Fasane, Brandgänse, Rebhühner, Kolkraben und alle Arten europäischer Singvögel. Jins Mutter war eine Koryphäe für Wildvögel gewesen, und sie zu beobachten hatte ihr stets das Herz aufgehen lassen. Obwohl Jin diese Leidenschaft nicht teilte, hatte er sie immer respektiert und daran teilgehabt.

Leider hielt das schöne Wetter nicht an: Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dunkler bezog sich der Himmel, und schließlich begann es wieder ausdauernd zu regnen.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Dante. Offenbar langweilte er sich schon. Jin hatte geglaubt, dass Dante gerne gar nichts tat, doch das hier war wohl selbst für ihn etwas zu viel gar nichts.

Er sah auf seine Uhr. »Wir fahren erst eine gute Stunde.«

»Dann habt ihr mein Schlafmittel ja schlecht berechnet«, fand Yuri.

»Ich bin kein Tierarzt«, erwiderte Dante gleichmütig.

Yuri trat halbherzig nach ihm und verfehlte ihn, weil Dante sein Bein rechtzeitig beiseite zog, wie immer ohne einen Muskel unnötig zu bemühen. »Mist. He, Dante … wie hieß dein Vater noch mal? … Sparda?«

»Ja … Wieso? Er hat 2000 Jahre über die Menschheit gewacht, ohne dass es jemand mitgekriegt hat. Im Verborgenen.«

»Oh, klar, sehr verborgen. So verborgen, dass meine Freunde und ich die Welt retten mussten. Zweim–«

»Zweimal, ich weiß«, fiel Dante ihm ins Wort, »Hey, wenn du was über meinen Vater weißt, dann spuck’s doch einfach aus.«

Yuri zögerte und betrachtete Dantes herausfordernde Miene. »Es kann sein«, sagte er dann, langsam, »dass mein Vater deinen kannte. Ich denke, sie … waren damals auf derselben Seite. Es gab ja immer eine Menge Irrer, die sich der Kräfte von Monstern bemächtigen wollten …«

»Und dein Vater hat diese Leute bekämpft. Er war doch Oberst bei der japanischen Armee, hm? War er auch wie du? Du hast deine Kräfte von ihm, richtig?«

»Ja. Und ich weiß, dass es zu seiner Zeit einen legendären Dämonenkrieger gab – einen Rebellen, einen Verräter –, der vor über tausend Jahren mal einen Krieg gegen die Welt der Teufel geschlagen und gewonnen hat, um eine Invasion zu verhindern. Er hat der Menschheit so ziemlich den Arsch gerettet.«

»Ja, klingt nach meinem Vater«, sagte Dante mit einer Spur von Stolz, aber auch Befremdung in der Stimme. Es sah so aus, als wäre sein Vater zwar Gegenstand seiner Bewunderung, aber zugleich auch ein großes Rätsel für ihn, dessen Lösung er sein Leben lang auf der Spur war.

»Er hat sich mit Menschen verbündet. Mit denen, die … auch dämonische Kräfte hatten, durch irgendwelche Blutsvermischungen …«

»Was? Erzähl keinen Mist, Hyuga. Das wüsste ich.«

»Dass es noch mehr Leute mit Dämonenblut gab?«, fragte Yuri herausfordernd. »Was glaubst du, warum manche Menschen gewisse unerklärliche Fähigkeiten haben? Dünnes, sehr dünnes Teufelsblut.«

»Tsssss.« Dante blieb dieser Idee gegenüber völlig indolent. »Erzähl das deinem Schrank.«

Jin für sein Teil hatte nie von Sparda gehört – aber wie auch, schließlich war er nicht eben viel in Schwarzmagier-Kreisen unterwegs. Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten hingegen … Das konnte einem gar nicht entgehen, wenn man aufmerksam den Lauf der Welt beobachtete. »Wie soll das möglich sein?«, wollte er wissen. »Konnte dein Vater menschliche Gestalt annehmen, Dante?«

Dante sah ihn an, als hätte Jin soeben festgestellt, dass die Erde eine Kugel war. »Ja, natürlich, was hast du gedacht? Das können viele von denen – die höher entwickelten. Und viele dürften jetzt gerade unerkannt durch unsere Straßen spazieren.«

»Das bedeutet also, auch du hast eine … eine Teufel…form?«

Dante schien entzückt über die Frage. »Interessant, dass du das fragst. Ich glaube, mit ein bisschen Nachdenken kannst du dir das selbst beantworten.«

Doch Jin war ratlos, und als er nur zurücksah, warf Yuri ein: »Klar hat er eine. Dämonenblut manifestiert sich. Aber bestimmt kommt er da nicht ständig ran.« Er sah zu Dante und hob die Brauen. »Stimmt doch, oder?«

Jin erinnerte sich, dass Dante, ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft, in Bezug auf Jins Transformation das Wort Devil Trigger gebraucht hatte. Es klang wie ein selbst erfundener Terminus, der das willkürliche Verwandeln bezeichnete, doch zugleich implizierte das Wort Trigger, dass es nicht einfach so passieren konnte, sondern einen Auslöser brauchte. »Wie also wie aktivierst du deinen … Devil Trigger

Dante schien enttäuscht darüber, dass Yuri sein wohlbehütetes Geheimnis preisgegeben hatte. »Wille und Konzentration, wie sonst. Aus der Ruhe heraus ist es schwierig, mitten im Kampf ganz leicht. Je mehr Adrenalin, desto einfacher lässt sich der Schalter umlegen.«

Jin starrte ihn an; das klang so einfach, dass ihm fast schwindelig wurde. Den Teufel in sich willkürlich freilassen zu können, das war so unerreichbar fern für ihn. Und doch war er früher nicht weit davon entfernt gewesen … Zwar hatte er nie bestimmen können, wann es passierte, doch zumindest hatte er seine Handlungen weitgehend selbst steuern können. Wut, Hass, Schmerz, all das hatte die Raserei ausgelöst, aber es war kein purer Amoklauf gewesen – auch wenn seine Neigung zu Gewalt als Devil Jin deutlich gesteigert war. Dante sagen zu hören, dass eine völlig kontrollierte Verwandlung möglich war, erweckte in Jin tiefe Sehnsucht, eine Erinnerung an bessere Zeiten. Kannst du es mir zeigen?, fehlte ein Teil von ihm. Kannst du mir beibringen, wie das geht? Jin hatte seinen Devil Trigger nicht im Griff, nicht ansatzweise.

»Alles okay, Kazama?«, fragte ihn Dante und bewegte die Hand vor seinen Augen. »Hör mal, bei mir ist das nicht wie bei dir. Ich bin nicht getrennt von meinem inneren Dämon. Er ist ich, zu einhundert Prozent. Das in dir ist ein Parasit, okay?«

»Und warum kann es kein Symbiont sein? So viele Menschen haben sich im Laufe der Geschichte mit Teufeln verbündet und sie kontrolliert.«

»Ja, aber der Preis«, sagte Yuri ruhig, »ist immer zu hoch. Und am Ende verrecken sie alle auf die abartigste Weise.«

»Aber wenn ich Devil nicht loswerden kann, dann –« Jin schloss den Mund und wandte sich von den mitleidigen Blicken der Anderen ab. »Ich muss ihn loswerden. Egal wie.«

Behutsam fragte Dante: »Hast du es denn mal mit so einem Exorzismus-Hokuspokus versucht? Und es nur nicht zugegeben, weil ich davon nichts halte? Sarris mal beiseite, vielleicht kann ja doch irgend so ein Typ mit irgendeinem magischen Ding –«

»Nein!«, warf Yuri sofort ein, beinahe hysterisch. »F-falscher Ansatz! Vergiss Exorzisten.« Seine Hand war zur Mitte seiner Brust geflogen, und kurz schien er dort unbewusst nach etwas zu tasten, das er nicht fand; also ließ er die Hand wieder fallen.

Jin hatte es genau gesehen. Er begriff. »Erzähl mir von dem Artefakt, mit dem du verflucht wurdest«, bat er.

Yuri sah ertappt aus. »Äh … Was meinst du?«

»Du hast gesagt, bevor du hierher kamst – als du in deinem älteren Körper warst –, wärst du verflucht worden.« Jin war klar, warum Yuri bisher vermieden hatte, darüber zu sprechen, und er sah die Abneigung in dessen Augen – Yuris Emotionen waren lesbar wie ein Buch. Doch Jin wollte es jetzt hören. »Dieser Fluch, das war ein Exorzismus, ist es nicht so? Du sagtest, dass du früher Angst vor deiner Fähigkeit hattest, und auch Sarris hat angedeutet, dass Harmonixer zu sein selbst eine Art Fluch ist … Hast du versucht es loszuwerden? Wie?« Sein Herz schlug so laut, dass er fürchtete, die Anderen würden es hören.

Yuri ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. »Nein«, widersprach er, »so war das nicht. Von meiner Angst vor mir selbst bin ich längst geheilt – durch … Alice. Ich hatte ganz bestimmt nicht vor, so ’nen bekloppten Vatikan-Typen an mich rankommen und meine Kräfte versiegeln zu lassen! Vor allem, weil mich das –« Er stockte, verkrampfte sich sichtbar. »– meine – Seele kosten wird.«

Jin verstand nicht. »Deine Seele?« Auch das hatte Yuri bereits als Bemerkung fallen lassen, er erinnerte sich.

»Was glaubst du, warum ich jetzt so in der Scheiße sitze, hä?«, fuhr Yuri plötzlich auf. »Weil dieser Kerl meinte, ich wäre eine Bedrohung für seine Geheimgesellschaft! Er hatte dieses Ding – diese Mistel … Jetzt bin ich verflucht, und meine Seele wird sich in Nichts auflösen, als hätte es mich nie gegeben! Und mein Körper wird das überleben! Verstehst du? Mann, wenn ich mir das nur vorstelle, krieg ich schon vor Angst die Scheißerei! Eine leere Hülle sein – glaubst du, das ist die Lösung? Ich kann davor nicht wegrennen. Wenn ich es schaffe, in meine Zeit zurückzukommen –« Er brach ab. Der Satz hing unbeendet in der Luft, und Yuri starrte nur auf das Sitzpolster gegenüber, die Augen weit, aber unfixiert.

»Deshalb bist du jetzt in deinem jüngeren Körper«, mutmaßte Dante. »Weil dein älterer …«

»Nur noch ein Zombie ist«, endete Yuri. Dann funkelte er Jin an: »Es gibt keine Teufelsaustreibung, bei der du völlig du selbst bleibst, jedenfalls nicht bei so starken Dämonen! Vergiss das!«

»Wie du willst.« Jin hatte nicht vor, das zu vergessen. Gerne hätte er noch viel mehr über dieses Objekt gehört – diese Mistel, was auch immer das war –, aber Yuri blockte schon jetzt mit aller Macht. Es war besser, nichts zu forcieren, auch wenn es schwer für Jin war, seine Wissbegier und Ungeduld im Zaum zu halten.
 

In einem kleinen Ort namens Machynlleth wurde der Zug geteilt. Die hinteren zwei Waggons fuhren mit einer eigenen Lok nach Barmouth weiter, die vorderen zwei setzten ihren Weg nach Aberystwyth fort.

»Wir sitzen im richtigen Teil«, fühlte Jin sich verpflichtet mitzuteilen, weil er nicht sicher war, wie gut Dante und Yuri aufgepasst hatten. Wahrscheinlich gar nicht – was die Reise betraf, hatte Jin so entschlossen die Führung übernommen (weil er überzeugt war, dass nur er es konnte), dass niemand außer ihm sich um irgendetwas gekümmert hatte. So weit, so erwartbar.

Noch immer waren sie in ihrem Waggon die einzigen Reisenden. Ein weiteres Ereignis auf der Fahrt überraschte Jin: der Bahnhof Dovey Junction. Er befand sich mitten im Nichts. Eine Gras- und Heidelandschaft erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und nur ein Schild mit dem Namen wies darauf hin, dass hier ein Halt war.

»Eigenartig«, sagte Dante stirnrunzelnd. »Wenn ich hier aussteige … Wo will ich hin?«

Minutenlang fuhr der Zug nicht weiter. Alles war still. Schließlich sprintete ein Zugabfertiger, ein junger Mann mit olivgrüner Sweatjacke und beigefarbenem Regenhut, einmal von vorne bis hinten am Zug entlang, rannte einmal herum und dann zum Führerstand zurück.

»Das tägliche Sportprogramm von dem?«, spekulierte Yuri.

Jin dämmerte, dass es draußen ein Problem gab, und er wurde ungeduldig. Diese Fahrt dauerte schon viel zu lange, und sie kamen ihrem Ziel nur quälend langsam näher.

Yuri starrte aus dem Fenster wie ein Spürhund, der eine Fährte aufgenommen hat. »Wollen wir wetten, der Sack hat’s schon wieder getan?«

»Du meinst, wie auf dem Flughafen?« Jin wusste, dass Yuri die von Sarris ausgelegte Falle dort gefunden und zerstört hatte – auf welche Weise auch immer.

»Ja, wie sonst? Ich müsste die Schienen und die Lok untersuchen, vor den Augen des Zugpersonals, und ich, äh, ich seh nicht besonders … vertrauenerweckend aus. Oder?«

Er und Dante richteten gleichzeitig einen forschenden Blick auf Jin.

»Unser japanischer Firmenboss sieht am ernsthaftesten aus«, befand Dante mit dem üblichen verdächtigen Schmunzeln. »Unter dem Mantel sieht man deine Muskeln nicht, keiner wird ahnen, dass du den Zug zerlegen kannst.«

Jin seufzte und fügte sich. »Wonach genau suche und was mache ich damit, wenn ich es gefunden habe?«

»Hör zu.« Yuri zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft und verzierte ihn mit einer Art Pentagramm in der Mitte und seltsamen Schnörkeln in jedem der imaginären Felder. »Es sieht wahrscheinlich irgendwie … so aus. Kann mehr Ecken haben. Frag nicht, was das bedeutet, ich hab keine Ahnung. Er hat den Bannkreis irgendwo drauf gemalt, mit Kreide, mit Kohle oder sogar mit Blut, je nachdem, was der Typ noch so in seine Reisetasche gepackt hat. Ich glaub nicht, dass er den Zug präpariert hat, wann hätte er das machen sollen, also prüf die Schienen. Wenn du das Siegel findest, dann unterbrich den Außenring an zwei Stellen. So viel weiß ich. Dann funktioniert der Rest auch nicht mehr. Wie wenn man Wörter aus einem Satz rausnimmt, der dann keinen Sinn mehr ergibt.«

»Den Außenring unterbrechen … womit?«

»Naja, mit was du willst. Mach eine Lücke in die Linie, wenn’s geht, oder mal drüber. Nur mit Wasser geht’s nicht, Wasser ist wie flüssige Luft. Neutral. Du kannst Blut nehmen. Oder drauf pinkeln.«

»Sehr witzig.« Jin überlegte, und sein Blick fiel nach unten auf seinen halbleeren Becher mit dem dünnen, inzwischen kalten Kaffee.«

»Ja, gute Idee!«, sagte Yuri. »Kaffee ist sogar eine Droge, das sollte wirken.«

Jin verkniff sich den Einwand, dass britischer Kaffee aufgrund dessen, dass er fast nur aus Wasser bestand, eigentlich wirkungslos sein müsste. Sicherheitshalber öffnete er noch das Päckchen mit Kondensmilch und kippte den Inhalt dazu; das sollte genügen, um die chemische Zusammensetzung des Siegels ganz sicher zu stören. Dann nahm er die Tasse, stand auf und ging zur Zugtür, die auf Knopfdruck vor ihm aufglitt.
 

Der Regen hatte so gut wie aufgehört. Die beiden Zugbegleiter, die in ihren grünbraunen Windjacken bei der Lok im Gras knieten und auf die Gleise starrten, sahen irgendwie ertappt aus, als sie Jin kommen sahen.

»Tja, tut uns leid«, sagte der eine etwas beschämt. »Alle Maschinen sind okay, aber wir kriegen im Moment die Lok nicht zum Laufen.« Dieses Statement erklärte nicht, warum er und sein Kollege hier draußen hockten, also fügte er hinzu: »Wir haben die Zentrale schon angerufen, die schicken Hilfe, aber das kann jetzt dauern.«

»Ausgerechnet hier im Niemandsland«, ergänzte der andere. Beide wirkten zerknirscht; vermutlich waren sie die technischen Supervisors dieses Zugs, und dass sie das Problem nicht finden konnten, bereitete ihnen ernsthaftes Kopfzerbrechen.

»Und was ist mit den Schienen?«, fragte Jin.

Der Erste hob fragend die Augenbrauen. »Was soll das mit den Schienen zu tun haben, wenn die Lok nicht startet?«

Jin überlegte, wie er sie vertreiben konnte. Er blickte über die Wiesenfläche, die sich in allen Ockertönen bis an den Horizont erstreckte. »Wo genau sind wir – und wohin kommt man von hier?« Schließlich war offensichtlich, dass er Ausländer war und sich nicht auskannte.

Der Zweite antwortete eifrig: »Das hier ist das Dyfi National Naturreservat. Wenig Besiedlung, aber da hinten gibt’s einen Pfad – einen Fußweg zur Landstraße, etwa eine halbe Meile. Sie können auch auf den nächsten Zug warten, die Cambrian Coast Line fährt nach Pwllheli … aber das hilft nicht so viel, wenn Sie nach Aberystwyth wollen.«

Den Namen des anderen Bahnhofs hatte Jin nicht verstanden, aber er nickte kühl und sah sich dorthin um, wo der Pfad sein sollte. Ironisch war der Umstand, dass jetzt, da er nicht im Zug war, die Lok problemlos starten würde – doch das wussten die Beiden nicht.

»Ähm«, begann der Erste wieder, dem seine offensichtliche Ratlosigkeit und Untätigkeit immer peinlicher wurde, und er nahm seine Mütze vom ergrauenden Schädel und knetete sie in den Händen, »wir rufen am besten noch mal an und machen Druck, damit es hier bald vorangeht … Eine Doppelschicht haben wir schließlich auch nicht geplant …« Er lächelte versöhnlich. »Genießen Sie derweil doch ein bisschen die Natur … Wenn man Glück hat, sieht man ein paar seltene Vögel.« Er nannte keine Arten, wahrscheinlich, weil er keine blasse Ahnung von Vögeln hatte.

Beide erhoben sich und versuchten dabei würdevoll und arbeitsam auszusehen, ehe sie wieder vorn in die Lok stiegen. Durch das kleine Fenster sah Jin im Führerhaus die Silhouette der Lokführerin, die mit verschränkten Armen und ärgerlicher Miene dasaß und geradeaus starrte.

Gut so, niemand beachtete ihn mehr.

Jin versuchte, an der Lok vorbei den Schienen weiter zu folgen, und stellte fest, dass das nicht ging. Er kam nicht weiter als bis zur Nase des Triebfahrzeugs und musste auf gleicher Höhe stehen blieben, als wären seine Füße festgenagelt. Irgendwie erstarb jeder Wille weiterzugehen in dem Moment, als er vortreten wollte. Faszinierend, so ein magischer Bann – der nur auf ihn wirkte, auf sein Blut, sein chi.

Jin hatte keine Zeit, diese interessante neue Erfahrung weiter zu ergründen. Er ließ sich auf die Knie fallen und suchte das Gleisbett ab. Zum Glück war es nicht allzu schwierig, den Runenkreis zu finden; er befand sich in der Innenseite der rechten Schiene, winzig klein und mit einer haardünnen Linie gezogen – schwarz, im Rost kaum zu erkennen, wenn man nicht danach suchte. Wie ein mit Rauch fixiertes Spinnennetz.

In der Hocke kauernd kippte Jin großzügig den kalten Kaffee seitlich über den Bannkreis. Die schwarze Flüssigkeit versickerte im weichen Erdboden und nahm dabei, wie es aussah, ein Gutteil der Linien mit. Um sicherzugehen, streckte Jin die Hand aus, um den Kaffee auf dem Kreis zu verreiben.

Schlechte Idee.

Kaum berührten seine Finger den dunklen, nassen Fleck, da jagte ein Stoß durch seinen Körper wie ein Stromschlag. Jede seiner Muskelfasern füllte sich blitzartig mit so viel Schmerz, dass jede Reaktion im Keim erstickt wurde, alles erstarrte, alles verbrannte.

Im nächsten Moment merkte er, dass überall unter ihm Gras war, dass er zurückgeprallt sein musste. Kein Muskel gehorchte ihm, und sein Herz raste und stolperte.

Kontrolle!

Nein –

Er durfte sie auf keinen Fall verlieren –

Er musste sich jetzt unbedingt

Doch seine Machtlosigkeit schlug sich schon im nächsten Sekundenbruchteil folgenschwer nieder. Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt.

Dieser Bannkreis war zugleich eine Falle gewesen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube, Jin und Walisisch werden keine Freunde, lol.
Ich bin aber froh, dass sie jetzt in Wales sind, weil hier mehr die Post abgeht.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

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