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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
»This whole business started with my father sealing the entrance between the two worlds. And now, my brother is trying to break that spell and turn everything into demonville. This is my family matter too.«
– Dante (Devil May Cry 3) Komplett anzeigen

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Akt VII - Der Gott aus den Sternen: 11-1

Er sah aus dem Zugfenster nach draußen in die langweiligste Landschaft, die er je gesehen hatte. Hügel mit Schafen. Wales sah wirklich genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte.

Leider stand der Zug jetzt, und sie warteten darauf, dass Jin die magische Blockade entschärfte. Dante fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, Jin das machen zu lassen; schließlich hatte die Aktion im Flugzeug bewiesen, dass er genau derjenige war, auf dessen energetische Signatur der Bann geeicht war, wahrscheinlich mit seinem Blut. Dante hatte genug eigene Erfahrungen mit magisch versperrten Zugängen, die sich nur dann für ihn öffneten, wenn er zuerst bestimmte Umstände schuf, die den Zauber brachen – wenn er dennoch versucht hatte, eine solche Sperre zu überwinden, dann hatte der Zauber ihn physisch angegriffen, sogar verletzt. Als die Stille nun anhielt, wuchs Dantes Bedürfnis, diese Sorge zu äußern.

»Sag mal, Hyuga … Kann es nicht sein, dass gerade Jin den Bannkreis nicht anfassen sollte?«

Yuri zögerte. Auch er sah mittlerweile beunruhigt aus. Dante glaubte keinen Moment daran, er könnte Jin aus Bosheit und mit Absicht nach draußen geschickt haben, damit der sich die Finger verbrannte. Das passte nun wirklich nicht zu ihm. »Hm«, machte Yuri unschlüssig. »Du meinst, weil er das Ziel ist? Hm … Eigentlich macht das keinen Unterschied.«

»Dir ist aber sicher aufgefallen, dass in dieser Zeit alles moderner ist als in deiner. Kann nicht auch Schwarzmagie moderner werden?«

»Hm.«

»Wie?«

»Keine Ahnung. Er soll ja gar nichts anfassen, er soll nur den Kaffee drauf gießen …«

»Und wenn das nun typisch englischer Kaffee ist, den man chemisch nicht von Spülwasser unterscheiden kann?«

»Schon gut, schon gut!« Yuri sprang auf. »Weißt du was, vielleicht hast du Recht. Ich geh gucken, okay? Ich geh gucken …«

Dante sah zu, wie Yuri sich widerwillig aus seiner bequemen Position auf der Bank hochrappelte. Gut, dann würde ja gleich alles in Ordnung sein.

Oder auch nicht.

Yuri hatte gerade seinen Daumen in den Druckknopf an der Tür gebohrt, die das Abteil öffnen sollte, da krachte plötzlich von der Seite etwas in den Zug. Die Erschütterung warf sie beide zu Boden, und der Lärm – vor allem das schrille Aufeinanderreiben von Metall – riss schmerzhaft an Dantes Trommelfellen.

»Oh, Scheiße!«, keuchte Yuri neben ihm und kämpfte sich auf die Füße »Ich glaub, wir haben ein Problem!«

Dante packte eins der Sitzpolster und riss es aus seiner Halterung, um es gerade noch rechtzeitig gegen die Zugwand zu pressen, als diese durch den nächsten Schlag polternd nach innen gedrückt wurde. »Raus mit dir!«, rief er Yuri zu, denn hier drinnen waren sie weder wehrhaft noch geschützt – und jede Verletzung, egal wie trivial, behinderte beim Kämpfen.

Yuri schlüpfte durch den offenstehenden Spalt der Abteiltür, deren zerstörte Automatik sie nicht mehr richtig öffnen oder schließen ließ, und Dante wand sich unter der gerissenen Wandverkleidung hervor und folgte ihm; mit der Rechten packte er dabei die schwarze Reisetasche, deren Tragegurt unter einem Sitz hervorlugte, und zerrte an ihr – und sie flog ihm leicht und leer entgegen, ein langer Riss klaffte in der Seite. Verdammt, wo waren die Waffen? Irgendwo im zerknautschten Großraumwagen verteilt? Das fehlte noch! Mit einem resignierten Seufzen ließ Dante die leere Tasche fallen und kroch aus dem Wrack.

Der Zug war an mehreren Stellen halb umgekippt. Devil Jin hockte auf dem Dach der Lok, die beiden schwarz befiederten Flügel um den Körper geschmiegt wie einen Umhang. Er freute sich offenbar, Dante zu sehen, denn eine Grimasse entblößte seine spitzen Zähne.

»Du bist immer noch dieselbe lästige Plage, Sohn von Sparda«, sagte er mit seiner zwietönenden Stimme, deren tiefer Hall in der umgebenden Erde zu vibrieren schien.

»Danke, das kann ich nur zurückgeben.«

Yuri schien nicht beleidigt zu sein, dass der Teufel ihn für ihn überhaupt nicht interessierte. Er rannte kletterte zwischen den vielen Einzelteilen herum, die aus dem Zug herausgepurzelt waren, und versuchte, irgendwas Nützliches hervor zu wühlen. Im Moment hatten sie buchstäblich nichts in der Hand.

Dante hielt Devil Jins Blick, ohne auf ihn zuzugehen, und sah aus den Augenwinkeln ein paar Gesichter hinter den Waggonscheiben. Keiner der Insassen traute sich heraus – gut, so konnte auch niemand den Dämon auf dem Dach sehen.

Yuri stieß ihn in die Seite und hielt ihm auffordernd das Doppelholster mit Ebony und Ivory hin. Hey, theoretisch ein phänomenaler Fund – doch Dante schüttelte unauffällig den Kopf und raunte: »Nicht geladen.« Natürlich nicht, wer transportierte denn geladene Pistolen?

Yuri schnaubte und warf die Schießeisen ins Gras. Devil Jin sah es und lachte, hoch und schrill. Gott, war dieses Lachen ekelhaft: Wenn Jin auch im Original so klang, war klar, warum er nie lachte.

»Du bist in einer schlechten Position, Mensch. Gleich werde ich all diese Seelen hier auf einen Schlag vernichten.« Der Teufel richtete sich auf, die Flügel langsam entfaltend, und das dritte Auge auf seiner Stirn begann rot zu glühen. »Und es gibt nichts, das du dagegen tun kannst.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Dante ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Siehst du, wie ich in Panik gerate?«

Neben ihm drückte Yuri sich weiter um den Zug herum, suchte die Umgebung ab. Devil Jin beachtete ihn immer noch nicht.

»Wie lange willst du dir noch Zeit lassen? Komm, zerstör den Zug, wenn du dich traust. Du langweilst mich.« Dante wusste, dass der Dämon diesen Moment des Dilemmas genoss und sein Innehalten als Provokation einsetzte. Devil Jin hatte genau verstanden, dass Dante nicht bewaffnet war und trotzdem die wehrlosen Menschen im Zug nicht im Stich lassen würde. Es war selten, dass Teufel so etwas wie List einsetzten – doch dieser hier kannte Menschen sehr genau. Denn er kannte Jin.

Doch wenn er zustieß, würde Dante nicht so hilflos sein, wie das Biest glaubte. Komm doch, du Dummschwätzer. Er würde Devil Jin mit bloßen Händen abwehren, wenn es nötig war.

Der Dämon taxierte ihn noch immer quälend ruhig. Der halb in Trümmern liegende Zug ächzte, wann immer der scharfe Wind über ihn hinweg fuhr.

Hatte Yuri inzwischen endlich irgendeine der drei Teufelswaffen, die sie dabei hatten, unter den Klamotten ausgebuddelt? Dante riskierte einen Seitenblick, mehr nicht –

– und doch reagierte Devil Jin sofort auf die Unaufmerksamkeit.

Sein glühend roter Laserstrahl brach aus dem dritten Auge hervor und hatte bereits ein Drittel des Zuges der Länge nach zerspalten, bevor irgendjemand reagieren konnte. Dante dachte nur noch daran, ihn zu zu stoppen, und er wollte losspringen und das Vieh von der Lok stoßen, ehe es den ganzen Zug in zwei klaffende, rauchende Schrotthälften verwandelt hatte –

– doch zu seiner Überraschung war Yuri einen Sekundenbruchteil schneller.

Sie sprangen beide, doch nur Yuri erwischte das Ziel. Und, das ließ sich nicht leugnen: Ein ernstgemeinter Schlag von Yuri war wirklich kein Spaß. Seine Faust traf nicht nur das Laserauge und beendete den glühenden Strahl sofort, sie brachte auch die Schädeldecke bis auf das Hirn zum Bersten, sodass es Blut und Knochensplitter regnete.

Einen Moment lang packte Dante der Schreck, weil er glaubte, dass dieser Hieb Jin getötet hatte; doch nachdem Devil Jin mit einem mörderischen Schrei, der den ganzen Zug durchschüttelte, zur Seite gestürzt war, spannte er jäh seine Flügel auf, noch bevor er den Erdboden berührte, und stieg wieder auf. Blut strömte ihm über Gesicht, Hals und Schultern. Dante konnte sehen, wie der offene Schädelbruch sich langsam regenerierte, wie jedes kleine Teil wieder an seinen Platz rückte und Haut die furchtbare Wunde wieder abzudecken begann. Doch das Heilen entzog dem Dämon alle Energie. Das war der einzige Grund, warum man Teufel überhaupt verletzte, ehe man sie sicher töten konnte: Sie heilten ihre Körper sofort – doch Heilen war teuer. Träge schwebte der Teufel neben dem Zug, eine lange Sekunde, die Dante, nun neben Yuri auf dem Dach, gerne mit irgendeinem wirksamen Nachschlag gefüllt hätte, um das Monster ganz und gar K.O. zu kriegen. Doch er hatte zu lange gezögert, als die Sorge um Jin ihn gepackt hatte, und nun war er mit jeder Reaktion eine Zehntelsekunde zu spät. Schon kam Devil Jin knurrend wieder zu sich. Yuris Angriff hatte nicht gereicht, ihn auszuknocken und Jin zurückzuholen; ein Zeichen dafür, dass Devil stärker wurde. Erbost schlug er mit seinen riesigen Schwingen, warf seinen Widersachern einen letzten Blick zu und katapultierte sich dann mit einem einzigen Flügelschlag so hoch in den Himmel, dass er kaum noch zu sehen war. Als winziger Punkt am Horizont verschwand er aus Dantes Sichtfeld.

»KACKE!«, tobte Yuri und machte einen harten Satz auf dem Lokdach, so dass es unheilvoll dröhnte und knirschte.

Dante ergriff wie aus Reflex seinen Arm. Nicht, dass das noch einen großen Unterschied machte, ob Yuri in Unbeherrschtheit irgendwas kaputt machte. »War schlecht für ihn, nicht auf dich zu achten«, stellte Dante fest.

»Ich hätte mehr draus machen können!« Yuri knirschte mit den Zähnen. »Was machen wir jetzt?«

»Wir folgen ihm später«, entschied Dante. Das hier war das Hinterland von Wales; es war kaum besiedelt, und Devil Jin war mit seiner Energie so ziemlich am Ende. »Er wird sich bald zurückverwandeln.«

»Woher willst du das wissen?«

»Teufelskräfte verbrauchen eine riesige Menge Energie, die ein menschlicher Körper nicht lange zur Verfügung stellen kann.« Er sprach aus Erfahrung. Sein Devil Trigger hielt auch nicht gerade ewig. »Wir werden ihn schon finden.«

Noch immer faszinierte ihn, wie kalkuliert Devil Jin mit seinem Laserstrahl gewartet hatte, bis sein Gegner den kleinsten Moment lang unaufmerksam war. Dante staunte: Dieser Teufel war nicht nur stark, nicht nur brutal, nicht nur grausam – er war fies. Das Ding ist ein richtiges Arschloch, dachte Dante bewundernd. So was war ihm lange nicht mehr untergekommen.

Als er geradeaus über das hügelige Land blickte, sah er ganz in der Nähe noch etwas Schwarzes im Gras liegen. Es war Jins Mantel. Natürlich. Jin schaffte es irgendwie immer, seinen Mantel zu retten. In der linken Tasche des Mantels fand er außerdem Jins Mobiltelefon. Sehr gut. Damit konnte man arbeiten.
 

Zusammen mit Yuri lief er den ganzen zerstörten Zug einmal von vorne bis hinten ab. Der Laser hatte sogar die Schienen geschmolzen, wo er sie berührt hatte. Der Gestank nach zerflossenem Kunststoff und versengtem Polster war überwältigend, überall schwelten Teile oder brannten offen mit rauchender Flamme. Glücklicherweise mussten sie nur wenige Menschen aus den Trümmern befreien; offenbar wollten nicht viele Fahrgäste an einem Dienstagvormittag nach Aberystwyth reisen. Bis Hilfe kam, dauerte es allerdings eine Weile. Der Nieselregen setzte wieder ein, als irgendwann auf der fernen Straße die ersten Sirenen ertönten und schließlich Polizei- und Rettungswagen über den grasbewachsenen Fußweg zu ihnen ins Niemandsland holperten.

Dante und Yuri standen bei den beiden Zugbegleitern, die konsterniert vor sich hin schwiegen und sich mit zitternden Fingern eine Zigarette teilten. Die anderen Menschen saßen oder lagen, stöhnten oder weinten oder waren apathisch.

Als die Fahrzeuge schon fast am Zug angekommen waren, beschloss Dante: »Wir haben keine Zeit für so was. Komm.«

Yuri reagierte schleppend. »Wie … Wir können einfach weggehen?«

»Dürfen nein, können ja. Wir haben unsere Pflicht getan und die Verletzten betreut, jetzt übernehmen die Profis und wir verschwinden unauffällig.« Betont ruhig setzte er sich in Bewegung, als wollte er sich nur noch etwas umsehen. Yuri zog er am Ärmel sanft mit sich.

»Hast du dich gerade unauffällig genannt? Roter Mantel, und so?«

»Die sind zu beschäftigt, um auf uns zu achten.« Dante nickte in Richtung einer kleinen Felsengruppe, einer von vielen, die scheinbar sinnlos verstreut die Eintönigkeit der Ebene durchbrachen. »Da vorne überlegen wir, wie es weitergeht.«
 

»Weißt du, wenn Sarris uns eine Falle gestellt hat, dann sind wir voll reingelaufen. Und dann weiß er jetzt bestimmt, dass wir in Wales sind«, eröffnete ihm Yuri, als sie sich hinter den Felsen ins Gras gesetzt hatten, komfortabel an den flechtenbewachsenen Stein gelehnt.

Dante war es gerade ziemlich gleichgültig, was Sarris wusste und was nicht. Er nahm Jins Handy aus der Tasche, scrollte ein wenig durch die Kontakte und fand schließlich, was er suchte.

Das erste Freizeichen erklang noch nicht einmal bis zu Ende, als Nina auch schon abnahm. »Was kann ich für dich tun, Jin?«, fragte sie in ihrer leidenschaftslosen Art.

»Jin ist nicht bei uns. Leider. Ein Zwischenfall, du kannst es dir denken.«

Nina stöhnte auf. »So viel dazu, dass ihr auf ihn aufpassen wolltet. Ihr seid hoffnungslos unfähig.«

»Wir müssen ihn aufspüren, bevor ihn jemand sieht«, insistierte Dante, die Beleidigung ignorierend. Schließlich wollte er etwas von ihr.

»Oh bitte«, schnaubte die Irin. »In Wales? Wer soll ihn sehen – die Schafe?«

»Kein Grund, schnippisch zu werden, Schätzchen. Du hast doch seine Leute im Griff. Finde ihn mit deinem Supercomputer und sag uns, wo er ist.«

»Ich kann ihn finden. Aber ganz Wales zu scannen wird dauern.«

»Wenn wir ihn vor dir finden, lassen wir es dich wissen.«

Nina war merklich gereizt. »Merk dir eins, Dante. Ich tue das jetzt für Jin, aber wenn du glaubst, du könntest mich zukünftig dazu gebrauchen, Dinge für dich zu suchen, dann liegst du falsch. Verstanden?« Sie schnaubte wieder. »Fangen wir an. Ihr sucht, ich suche. Wir hören uns.« Dann legte sie auf.

Schade, fand Dante. Nina konnte man nicht necken. Sie war kalt wie eine Tiefkühlpizza.

Zusammen mit Yuri machte er sich also zu Fuß auf den Weg quer über das Hügelland, immer in die Richtung, in die Devil Jin verschwunden war.
 

Es war leichter als erwartet. Zwar schien das gelbgrüne Meer endlos, bis auf gelegentliche Ansammlungen von Häuschen oder Höfen. Doch sie brauchten nur einer eindeutigen Spur zu folgen.

Und das war eine Schneise toter Schafe.

Überall dort, wo sich die Tiere zu etlichen auf den vegetationsarmen Kämmen tummelten, waren tiefe Krater in die Erde gerissen und das umgebende Gras versengt. Weißwollige, rotgetupfte Kadaver begleiteten jede dieser Visitenkarten. Der Dämon hatte sie im Vorüberfliegen getötet und liegen gelassen – aus Lust.

»Diese Panne hat genau einen positiven Aspekt«, merkte Dante an, »nämlich dass Jins Verletzungen durch das Attentat jetzt geheilt sein dürften.«

»Darüber freut er sich bestimmt ein Loch in den Arsch«, gab Yuri sarkastisch zurück.

Schließlich, eine gute Stunde später, fanden sie Jin am Rand eines Hochmoors kauernd und auf den sumpfigen Grund starrend. Dort stakste in einsamer Kranich umher, und Rohrkolben sangen leise im Wind. Jins Hemd war – natürlich – über dem Rücken zerfetzt, und er hatte die Arme um sich gelegt, als würde er frieren. Insgesamt bot er einen ziemlich mitleiderregenden Anblick.

Dante fühlte seinen Kummer beinahe am eigenen Leib. Das geschah nicht oft. Ohne ein Wort zu sagen ging er auf Jin zu, blieb bei ihm stehen und legte ihm den schwarzen Mantel über die Schultern. »Ich bewundere deine Fähigkeit, den immer schnell auszuziehen, bevor der Ärger kommt. Kann nicht mehr zählen, wie viele Mäntel ich schon kaputt gekriegt hab.«

Jin seufzte nur.

»Hey«, sagte Yuri, »hör auf durchzuhängen. Wir haben ein Date in Aberystwyth. Mach, dass du hochkommst.«

Jin gehorchte wortlos, aber als er wieder auf den Füßen stand, hob er den Kopf und sah die Beiden resigniert an. »Was ist passiert?«

»Was glaubst du?«, fragte Dante.

»Ich … habe den Zug zerstört.«

»Er war das. Du musst aufhören, immer ›ich‹ zu sagen, wenn du Devil Jin meinst.«

»Es ist ein Teil von mir, der das tut«, erwiderte Jin ungeduldig. »Aber lassen wir das.« Seine Stimme wurde wieder leise. »Wie viele Tote?«

»Keiner. Ein paar Verletzte. Gute Bilanz.«

Jin atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Es war schon schlimmer. Gut, gehen wir … wohin auch immer.«

Dante nahm das Handy aus der Tasche und hielt es ihm hin. »Du könntest uns eine Art Taxi holen.«

Jin hob eine Augenbraue. Er ahnte wohl, dass seine Gefolgsleute bereits informiert waren. Nach einem Seitenblick auf Yuri, der nicht zurückschaute, wählte er auf dem Telefon durch ein einziges Fingertippen eine Nummer – die zuletzt angewählte, vermutete Dante – und aktivierte den Lautsprecher.

Dante staunte nicht schlecht, als es nicht Nina war, die sich meldete, sondern Trish.

»Hey, was gibt’s? Neuigkeiten?«

»Du?«, fragte Jin, ebenfalls erstaunt.

»Jin! Sehr gut. Du bist wieder an Bord.«

»Moment mal«, warf Dante dazwischen. »Woher wusstest du, dass wir ihn verloren hatten? Und wieso hast du das Telefon von –«

»Nina ist noch hier«, antwortete Trish, als sei das völlig klar gewesen.

»Ach. Wirklich?«

»Sicher. Wir sind im Devil May Cry

»Und was bitte macht ihr da zusammen?«

Sie gluckste. »Ich weiß, was du denkst, was wir machen: Wir lackieren uns gegenseitig die Fußnägel. Nackt.«

Im Hintergrund hörte man Ninas tiefe Stimme freudlos auflachen. Jins Miene verriet, dass er seine Leibwächterin höchst selten lachen hörte und dass es gewöhnlich nichts Gutes bedeutete.

»Na fein«, lenkte Dante ein. »Frag sie, ob wir gewonnen haben oder ob ihre Leute Jin auch schon lokalisieren konnten.«

Trish gab das weiter; dann: »Sie sagt, die Frage könnt ihr euch selbst beantworten. In drei … zwei …«

In diesem Moment hörte Dante den Rotorenlärm eines Helikopters in der Ferne. Das zuerst noch dumpfe Geräusch kam rasch näher, und als er mit den Augen den Himmel absuchte, entdeckte er den kleinen Punkt am Horizont, der immer mehr zu einem Fluggerät heranwuchs.

»… eins.«

»Sag ihr, wir haben trotzdem gewonnen.«

»Dann lässt sie den Hubschrauber wieder abdrehen.«

Dante verdrehte die Augen. »Okay, okay. Wir bleiben genau hier stehen. Dürften nicht zu übersehen sein.«
 

Der Pilot gehörte nicht zur Tekken Force, wie Jins Privatarmee offenbar hieß, sondern flog eine kleine dunkelblaue Chartermaschine des Typs Bell 206. Er landete etwas verdrießlich auf dem Grasland und ließ die Rotoren laufen, während seine Passagiere an Bord gingen.

»Gibt keinen Landeplatz in Aberystwyth«, erklärte er knapp. »Ihr müsst den Rest der Strecke zu Fuß gehen.«

Wie sich herausstellte, meinte er mit dem ›Rest der Strecke‹ nur etwa fünfhundert Meter Straße, nach denen der Ort plötzlich mit einem kleinen Willkommensschild begann. Kurz nachdem sie ausgestiegen waren, hob der Pilot ohne jeden Gruß wieder ab, als sei er mit dieser Art von Kundschaft nicht recht glücklich. Dante fragte sich, wo Nina den Hubschrauber so schnell aufgetrieben und wie sie ihn hierher beordert hatte – aber manchen Dingen sollte man vielleicht besser nicht auf den Grund gehen.

Aberystwyth lag eingebettet in eine Bucht, den Cardigan Bay, und eine schmale Landzunge führte geradewegs in diesen hinein. Es war ein unerwartet weitläufiger Ort, und den Hafen erahnte man bereits von der Hauptstraße aus, so beschaulich lag alles nebeneinander. Unter dem wolkenverhangenen Himmel bildeten die Häuser feine, säuberliche Reihen, die einen Eindruck von Ordnung erweckt hätten, wären die Gebäude nicht so bunt zusammengewürfelt: Hohe, niedrige, schmale, ausladende, auffällige und unscheinbare Häuser waren scheinbar wahllos nebeneinander gesetzt; die meisten hatten bunte Fassaden in Pastelltönen, andere sahen aus, als wären sie am Zerfallen; wieder andere (in der Regel Industriebauten) brachten ein gewisses modernes Flair mit in die Mischung, das sich etwas deplatziert hervorhob. All das dominierte ein einziges Symbol: der rote Drache. Er begegnete dem aufmerksamen Beobachter überall, auf Schildern, an Brauereien, auf dekorativen Steinen und Bänken, sogar Hauswänden. Gegenüber der Bucht begrenzte die Ausdehnung der Stadt ein weiter grüner Hügel, dessen Kuppe ein Obelisk zierte. Im Ortskern ragten verschiedene Denkmäler auf und waren, wie auch die uralten Wände einer steinernen Burgruine, in eine parkähnliche Grünfläche eingebettet. Von fast jedem erhöhten Punkt musste das Meer zu sehen sein.

»Es sieht … anders aus«, befand Yuri nach einer Weile.

»Würdest du das Kloster wiederfinden?«, fragte Jin. Sie standen nun an einer Straßenkreuzung irgendwo in der Ortsmitte.

»Hmm. Vielleicht ist das gar nicht nötig, es ist bestimmt jetzt eine Sehenswürdigkeit oder so was, für die es Wegkarten gibt.« Bedeutsam fügte Yuri hinzu: »Man kommt überall zu Fuß hin.«

»Verstehe.« Jin sah sich um, und sein Blick blieb hängen. Auch Dante hatte das kleine Hinweisschild mit dem weißen i auf grünem Grund entdeckt.

»Was ist, machen wir einen Abstecher zur Touristeninformation?«

Jin nickte zustimmend. »Schließlich müssen wir auch irgendwo unterkommen.«

Das war so ziemlich das dringendste Problem. Sie hatten auf dem kurzen Weg bereits zu viele no vacancies-Schilder gesehen.
 

Das Canolfan Croeso, wie das Informationszentrum auf Walisisch hieß (wovon ein tannengrünes Schild mit weißer Schrift und – natürlich – einem Relief des roten Drachen zeugten), wirkte auf den ersten Blick ziemlich verwaist, wie auch der Großteil des Ortskerns. Doch die Tür war nicht verschlossen, und als die Drei eintraten, klappte eine junge blonde Frau im Strickjäckchen einen Katalog zu, der vor ihr auf dem Pult lag, und schob aufmerksam eine dunkel umrandete Brille auf der Nase zurück.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte sie vorsichtig.

Es war verständlich, dass sie misstrauisch war – bei einer Gruppe aus drei Männern in nicht eben unauffälligem Aufzug dachte man wahrscheinlich als erstes an die Mafia.

Dante übernahm die Antwort. »Zwei Dinge, Schätzchen. Erstens würden wir gern hier im Ort übernachten. Zweitens suchen wir das Kloster Nemeton. Oder was davon übrig ist.«

Das Mädchen protestierte nicht einmal dagegen, ›Schätzchen‹ genannt worden zu sein, sondern bückte sich und förderte einen Prospekt zutage, den sie hastig zu durchblättern begann.

Die hat wirklich Angst vor uns, merkte Dante und fand das ziemlich schade.

»Aberystwyth ist Moment leider überlaufen«, erklärte sie. Ein Umstand, der sich nicht gerade auf den Straßen widerspiegelte. »Es gibt hier noch Zimmer, soweit ich weiß.« Sie hielt ihnen den aufgeschlagenen Prospekt hin, die aktuelle Ausgabe von DARGANFOD Discover Ceredigion 2008 – Cardigan Bay & the Cambrian Mountains, und tippte mit dem Fingernagel auf ein Hotel in der Liste, das Coast Park. Ihr Finger zitterte ein bisschen. Armes Ding. Als Dante die Hand ausstreckte, drückte sie den Prospekt bereitwillig hinein. »Leider steht da drin nicht viel zu Aberystwyth«, brachte sie so gefasst wie möglich heraus, »deshalb glaube ich nicht, dass da ein Kloster erwähnt wird.«

»Moment mal«, mischte sich jetzt Yuri ein, der leider Gottes noch zwielichtiger aussah als Dante, und trat vor das Pult. »Keiner kennt das Kloster Nemeton? Es muss eine Ruine sein.«

Auf der Stirn der jungen Frau stand: Ich habe nie davon gehört, was ich gerade sehr bedaure. Ihre Rehaugen suchten einen Fixpunkt irgendwo über Yuris Scheitel.

Jin (dem nur noch eine Sonnenbrille fehlte, um als Yakuza durchzugehen, so steinern war seine Miene) fragte nüchtern: »Wer könnte etwas darüber wissen? Wen können wir fragen?«

Das Gesicht der Angestellten erhellte sich schlagartig. »Oh, ich – … da weiß ich was.« Wieder bückte sie sich, wieder tauchte sie mit etwas auf. Diesmal war es ein kleiner Ortsplan, auf eine Faltbroschüre gedruckt. Sie umkringelte eine Stelle darauf mit dem Kugelschreiber. »Ungefähr hier gibt es eine Kneipe, The Black Raven. Der Wirt kennt den Cardigan Bay ganz genau. Wenn er nichts weiß, dann gibt es dieses Kloster nicht«, behauptete sie.

Jin nahm ihr das Papier ab. »Danke. Wie heißt der Mann?«

»Rhys.« Sie wurde rot. Offenbar war ihr gerade aufgefallen, dass sie nur seinen Vornamen kannte.

Dante hatte das Wort nicht ganz verstanden; es klang wie Riis, aber so, als hätte sie das R ausgehustet. Seltsame Sprache.

Auch Jin sah ratlos aus, aber Yuri wiederholte mühelos: »Rhys. Ja, klar.« Angeber.

Das beunruhigte Mädchen sich selbst überlassend, kehrten sie dem Canolfan Croeso den Rücken. Jetzt regnete es wieder, stärker als zuvor.

Dante schlug im Gehen den DARGANFOD-Katalog wieder auf, damit sie das Hotel suchen konnten. Tropfen durchnässten das Papier, während die Drei geduldig der Straße folgten. Sie waren weit und breit die Einzigen. Bei solchem Regen blieben selbst Briten zu Hause.

Das Coast Park lag direkt an der Hauptstraße und war nicht schwer zu finden, aber irgendwie hatte Dante das Gefühl, dass sie hier nicht willkommen waren. Im Foyer unterhielten sich zwei geschniegelte junge Männer, die beim sich Öffnen der Tür sofort aufblickten und die Ankömmlinge neugierig beäugten. Zweifellos sollten die Blicke höfliches Interesse bedeuten, konnten das Misstrauen dahinter aber nicht verschleiern.

»Können wir helfen?«, fragte einer von ihnen und trat hinter die Rezeption. Er fragte nicht, ob sie bleiben wollten, und machte auch sonst kein Angebot. Sicher wollte er, dass sie verschwanden und das Regenwasser auf dem Parkett gleich wieder mitnahmen.

»Können wir hier übernachten?«, fragte Dante direkt, damit Jin gar nicht erst anfangen konnte, irgendwas viel zu Gestelztes zu formulieren.

»Eigentlich nicht«, war die genauso knappe Antwort. »Aber warten Sie. Ich weiß, wo Sie hin können.« Er tauschte einen Blick mit dem Anderen, der gar nichts sagte, und griff dann nach dem Telefon. Dann sprach er mit jemandem – auf Walisisch. Erst klang es beiläufig, dann zunehmend insistierend.

Dante stupste Yuri unauffällig an. »Was sagen die?«

»Denkst du, ich kann die Sprachen aller Länder, in denen ich war?«, murrte der zurück.

Sie warteten, bis der Portier auflegte und breit lächelte. »Gehen Sie die einfach die Straße runter bis zur Strandpromenade. Dort ist das Seaside. Direkt am Wasser.«

»Vielen Dank«, sagte Jin in seiner endlosen Höflichkeit.
 

»Wieso schicken die uns durch die Gegend?«, sprach Yuri die Frage aus, die auch Dante beschäftigte. »Warum wollen die uns nicht haben? Sehen wir so scheiße aus?«

»Vielleicht. Oder sie wussten, dass wir kommen.«

Sie hatten die Strandpromenade mit ihren dicht nebeneinander aufragenden Häuserfassaden schnell erreicht und gingen sie entlang. Der Wind zerrte an ihnen, und das Meer war grau und aufgewühlt. Wenn Dante sich umdrehte und hinter sich sah, waren dort nur schwarze, flechtenbewachsene Felsen, ebenso wie gerade voraus. Aberystwyth lag eingekesselt von Klippen mitten in der Bucht. Wahrscheinlich sah das sehr malerisch aus, wenn das Wetter besser war. Falls es hier jemals besser war.

Jin erspähte das Seaside zuerst, denn es war nur ein schmaler Eingang zwischen zwei pseudogriechischen Säulen. Der Laden war klein und schlicht und hätte einer Sanierung bedurft. Und er war – das fiel sofort auf, wenn man den ersten Fuß über die Schwelle setzte – leer. An der Wand hinter der in dunklem Holz gehaltenen Rezeptionstheke hing das Brett mit den Zimmerschlüsseln, und es fehlte kein einziger.

»Willkommen im Seaside!«, sagte plötzlich eine Stimme von oberhalb überschwänglich. »Schön, dass Sie hergefunden haben!« Ein leicht untersetzter Mann kam die hölzerne Treppe herunter, auf der jeder Schritt laut knarrte. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf und trug einen braunen Anzug, der an den Schultern etwas spannte. »Bitte entschuldigen Sie den Regen. Er ist britisches Naturdenkmal.« Sein Lachen war wider Erwarten irgendwie … nett. Trotzdem sah er aus wie ein Gangster. Dante war schon zu vielen Gangstern begegnet; er hätte nicht benennen können, was genau ihnen anhaftete, doch diesem Mann stand es auf der Stirn. GANGSTER. In Großbuchstaben.

Dante wollte eine dumme Bemerkung machen von wegen, dass der Laden ja offenbar genauso ausgebucht war wie alle anderen (sehr witzig), doch Jin grätschte ihm wieder dazwischen, indem er dem Empfangsherrn ziemlich knapp und kühl erklärte, wer sie waren und was sie wollten. Jin hatte sichtbar keine Lust mehr auf Verzögerungen.

Der gedrungene Herr nickte nur professionell und knetete dabei seine Finger, und am Ende des Kurzvortrags griff er, ohne jede weitere Frage, über die Schulter und zog aus einem Fach das übliche Formular hervor, ehe er mit der anderen Hand in ähnlich routinierter Bewegung drei Zimmerschlüssel vom Haltebrett pflückte.

Nachdem jeder von ihnen für einen der Schlüssel unterschrieben hatte, verschwand der Gangster-Portier wieder die Treppe hinauf und warf den Dreien ein vielsagendes Lächeln zu, als hätten sie soeben ein geheimes, sehr lukratives Geschäft abgeschlossen. Dann klappte oben eine Tür, und es war wieder still.

»Seltsamer Mensch«, befand Yuri.

Dante drehte den kleinen Schlüssel in der Hand – der Anhänger, auf dem ›34‹ stand, war aus blankem Metall und zu einer Sonne geformt – und steckte ihn in die Manteltasche.

»Was jetzt?«, wandte Jin sich an die Anderen.

»Schlafen und essen«, erklärte Yuri. »Oder essen und schlafen. Ich weiß noch nicht, in welcher Reihenfolge.«

Es überraschte Dante nicht, dass Jin nicht widersprach, denn auch der musste furchtbar müde und hungrig sein, nachdem auch noch Devil auf einen spontanen Besuch vorbeigekommen war. Schlafen und essen – oder umgekehrt – war genau das, was sie alle jetzt brauchten.

»Gut.« Jin schob seinen Schlüssel ebenfalls in die Tasche. »Dann verabreden wir, dass wir uns um vier Uhr am Nachmittag wieder hier treffen und uns auf die Suche nach dem Kloster machen. Wir sollten so wenig Zeit verlieren wie möglich, aber wir müssen uns ausruhen.«

Dem gab es nichts hinzufügen.

»Man sieht sich.« Dante drehte sich um, machte den Beiden ein lässiges Handzeichen und spazierte zur Tür hinaus. Er wusste schon, welche Reihenfolge ihm am besten passte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir haben die magische 50%-Hürde jetzt hinter uns. Wales ahoi!
Vielen Dank fürs Lesen. Komplett anzeigen

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