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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Jin, wir müssen reden. Komplett anzeigen

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Akt X - Blut des Teufels: 14-2

14-2: JIN
 

Das dumpfe, auf und ab schwellende Leuchten der Steinwände gefiel ihm nicht. Es wirkte unwirklich und bedrohlich, es erinnerte ständig daran, was hinter diesen dicken Mauern schlief. Yuri hatte gesagt, dass die Neam-Ruinen vom Bösen durchtränkt waren. Wer wusste schon, welche natürlichen Barrieren mächtig genug waren, es fernzuhalten?

Dante, der hinter ihm her trottete und sich leidenschaftslos umschaute, zeigte keinerlei Anzeichen von Stress. Sicher war er schon an ganz anderen Orten gewesen, Orten, die Jin sich nicht mal aus seinen Alpträumen kannte. Wie gern wäre er so abgebrüht wie Dante und Yuri; dann würden ihn nicht all diese Zweifel umkreisen wie Nachtgespenster.

Drei niedrige Stufen ließen den Tunnel in eine Sackgasse münden, in der ein kurzer Strick nach unten führte. Als professionellem Sportler bereitete der Abstieg Jin keine Mühe, und seine Sohlen setzten federnd auf dem Felsboden auf. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass der Raum, in dem er nun stand, der mit der vertrauten Sofagarnitur war.

Leise watschelnde Schritte kündigten Roger Bacon an. Er schien auf den Besuch gewartet zu haben und trat gebückt und mit friedlichem Lächeln an Jin und Dante heran.

»Willkommen zurück, hee hee.«

»Wo ist Yuri?«, wollte Jin wissen.

»Sitzt am Tisch vor seinem Kaffee.« Der Mönch zeigte keinerlei Absicht, sie dorthin zu führen; stattdessen schob er Jin und Dante mit einer Geste näher an die Rückseite der Grotte, wo all die langsam einstaubenden Geräte lehnten. Jin bemerkte jetzt, dass die beiden großen Räder des Laufbands zwar ziemlich lädiert aussahen, jedoch die Fläche, auf der gelaufen wurde, blank und frei von Staub war. »Ich muss euch etwas erklären«, seufzte Roger. »Kommt noch etwas näher … Also, dass Yuri hier in dieser Zeit gelandet ist, das ist kein Zufall. Ich habe ihm gerade mitgeteilt, wie es mit ihm zu Ende ging, nachdem er dem Fluch der Mistel zum Opfer gefallen war … Ihr könnt es euch sicher vorstellen. Ich habe ihn bis zu seinem Tod hier betreut, jede Minute. Und es war … die schrecklichste Zeit meines Lebens.« Er hielt kurz inne, rieb sich die Hände, und sein kleiner Körper ächzte unter einem tiefen Atemzug. »Yuris Ende als seelenlose Hülle hat mir das Herz gebrochen. Darum … habe ich ihm die Taschenuhr geschickt.«

Jin verstand nicht. »Du hast sie ihm geschickt … Wie meinst du das?«

»Yuri hat diese Uhr früher einmal in der Lotterie gewonnen. Ich war selbst oberstes Mitglied, hee hee! Nun, sie hat ihm im Kampf geholfen, da sie durch die Experimente, die McNab an ihr vorgenommen hat, Dinge in ihren natürlichen Rhythmus zurück lenken kann. Als Yuri nach der Erfüllung des Fluchs hier strandete, hatte er sie noch bei sich, und ich nahm sie an mich. Und dann … begann ich selbst mit Experimenten.«

»Das heißt – du hast ...«

»Ich habe Jahre damit zugebracht«, stöhnte Roger, ihm ins Wort fallend, »und jeden Tag wurde mein Wille, diesen Zauber zu vollbringen, dadurch befeuert, Yuri sehen zu müssen, wie er sinnlos vor sich hin vegetierte. Ich manipulierte das Innenleben der Uhr so lange, bis ich hoffen konnte, dass mein Plan funktioniert. Dann versah ich sie mit einer Notiz und schickte sie hiermit, mit meinem Teleporter –« Er strich bedeutsam mit der Hand über eines der gebrochenen Räder. »– an mein jüngeres Ich im Jahr 1915. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Yuri bereits und wusste, was er für mich und den Rest der Welt bedeutet. Als mein jüngeres Ich – vorbereitet durch meine Nachricht – wieder mit Yuri zusammentraf, nutzte es die nächstbeste Gelegenheit, um die Taschenuhr in Yuris Besitz durch die von mir bearbeitete auszutauschen, ohne dass er es merkte. Aus diesem Grund passierte nach seinem Kampf auf der Steinplattform nicht das, was ursprünglich passiert war … Er wurde nicht zu mir teleportiert, um hier seine Seele zu verlieren, sondern … nun ja.«

»Stattdessen landete er bei mir«, stellte Dante fest, »viele Jahrzehnte später. Und was, wenn ich fragen darf, sollte das?«

»Ich bitte dich!«, gab Roger leicht gekränkt zurück. »Glaubst du, es war eine einfache Aufgabe? Ich konnte die Wirkung des Zaubers auf der Uhr nicht testen, ich hatte keine Garantie dafür, dass es funktioniert – und die Details, die konnte ich erst recht nicht vorprogrammieren! Keine Technik, nur Versuche! Als mein Plan endlich ins Werk gesetzt war, begann Yuri bereits alt und müde zu werden. Ich nahm immer wieder Haare und Blut von ihm und webte den finalen Zauber über Monate hinweg. Es war ein mühsames, endloses Arbeiten … Doch endlich weiß ich, dass es die Schinderei wert war.«

Jin staunte über diesen Liebesbeweis des alten Mannes. Roger hatte sich nicht gelangweilt, während er all die Jahre in Wales festgesessen hatte; stattdessen hatte er Yuri, bis hin zu dessen Tod, beschützt und verzweifelt an dessen Rettung gearbeitet. Yuri hatte ein besseres Ende verdient … und Roger hatte es mit all seinem Herzblut möglich gemacht.

»Es hat nicht alles so geklappt, wie ich hoffte«, räumte Roger ein. »Mein Ziel war, dass in dem Moment, da Yuri in den Zeitstrom gerät, der Zauber ausgelöst wird und ihn wegbringt – und zwar in die Zukunft, natürlich, aber wie weit genau, das konnte ich nicht festlegen, nur dass es nach seinem tatsächlichen Tod sein sollte. Was das wohin betrifft: Ich plante, dass der Teleport Yuri zu einer Person schickt, die er kennt. Nach so vielen Jahren konnte das nur ich sein, alle anderen sind ja längst tot! Aber ich wartete und wartete, und er kam nicht. Mein Trugbild, das ihr draußen gesehen habt, sollte ihn erkennen und abholen. Nichts passierte! Ich hatte schon beinahe aufgegeben, die ganze Unternehmung erschien mir nur noch wie ein ferner Traum … Nie hätte ich damit gerechnet, dass er jetzt mit zwei neuen Freunden hier auftaucht. Nach so langer Zeit.« Er blinzelte etwas Feuchtigkeit weg, die seine Augen noch stärker glitzern ließ. Dann wandte er sich an Dante. »Mein Zauber hat ihn nicht zu mir, sondern zu dir gebracht. Und ich verstehe nicht, warum.«
 

Jin fand Yuri im Nachbarraum, wo er mit hängenden Schultern am Tisch saß, tief über eine unberührte Kaffeetasse gebeugt.

»Was ist?«, sprach Jin ihn ruhig an.

Im gleichen Moment sah er, dass er sich besser nicht hätte bemerkbar machen sollen. Yuri wandte sich nur halb zu ihm um; er war tränenüberströmt, gab aber keinen Ton von sich. Abwesend hob er den Arm, um sich mit dem Ärmel über die Nase zu fahren, und drehte sich wieder weg.

Jin stand wie angewurzelt. Beinahe wäre er sogar einen Schritt zurück gegangen. Mit den Emotionen Anderer konnte er nichts anfangen; sich selbst erlaubte er so wenig zu fühlen und diese Gefühle zu zeigen, dass seine Empfindsamkeit dafür im Laufe der Jahre immer mehr verkümmert war. Gewöhnt war er an offene Feindseligkeit, an Zornausbrüche und rohe Aggressivität; Tränen überforderten ihn. Für Japaner gehörte es sich nicht, Anderen den eigenen Kummer aufzubürden.

Yuri wusste das sicher. Er sagte nichts und ignorierte Jin, bot ihm damit an, seine Distanz zu wahren und wieder wegzugehen. Jin allerdings fühlte sich seltsamerweise nicht im Recht damit. Zwar behagte ihm die Situation nicht, aber er beschloss sie zu akzeptieren. Nur ein Moment des Sammelns, dann würde er sich damit auseinander setzen.

Yuri hörte nicht auf zu weinen. Von seiner Nasenspitze tropfte es in die Tasse, so tief gesenkt hielt er den Kopf, um bloß nicht aufsehen zu müssen. Jin trat neben ihn, mit höflichem Abstand, und so behutsam wie möglich fragte er: »Weinst du?« Es war eine ziemlich überflüssige, rein distanzorientierte Frage.

Yuri zog ärgerlich die Nase hoch. »Soll ich lieber sagen, ich hätte was im Auge?«

»Was ist passiert?«

»Ich … ich hab sie vergessen.« Er fuhr sich mit dem Ärmel quer über das Gesicht; es half nicht viel. »Ich hab sie wirklich vergessen! Verdammt.« Ein hilfloses Schluchzen.

Jin bedauerte, dass er mit den dummen Fragen fortfahren musste. »Wen?«

»Alice.«

Wieder dieser Name. Schon oft hatte Yuri ihn ausgesprochen, aber nie mit einer so von Schmerz durchtränkten Stimme. Jin erinnerte sich, dass sie seine Freundin gewesen war, die nach einer langen gemeinsamen Reise durch Terror, Gewalt und unirdischen Schrecken gestorben war – für ihn.

»Wie konnte ich das zulassen, oh Gott, wie konnte das passieren?« Yuri schlug mit der Faust auf den Tisch, und Kaffee schwappte über den Rand der Tasse. »Verdammt! Ich liebe sie mehr als alles auf der Welt, daran ändert nicht, dass sie seit zwei Jahren tot ist! Aber wenn sie dort … jenseits des Lebens … auf mich wartet, und ich sie einfach vergessen habe … dann wartet sie dort für immer …« Er presste die Hände auf die Augen und sog ein paar Mal tief und angestrengt den Atem ein, als würde er um Fassung ringen. Dann endlich gab er auf und ließ sich mit dem ganzen Oberkörper auf die Tischplatte sinken, das Gesicht auf den Armen.

Jin sah beiseite. Sie ist erst gestorben, als alle Gefahren überwunden waren, entsann er sich. Yuri und Alice haben gemeinsam die Welt gerettet und sind dann mit dem Zug in ein neues Leben aufgebrochen, das sie in Frieden zusammen leben wollten. Sie hatten in der Bahn nach Zürich geschlafen, aneinander gelehnt; und als der Zug angekommen und Yuri erwacht war, hatte er sich sicherlich gewundert, wie tief Alice schlief. Bis er merkte, dass ihre Haut kalt war und sie nicht mehr atmete.

»Du hast ihr Grab selbst ausgehoben, sagtest du.«

Yuri wimmerte leise.

»Und sie mit dem Mantel, den du jetzt anhast, hineingelegt.«

»Mmmmmh.«

Jin betrachtete ihn stumm. Sich vorzustellen, was Yuri durchlitten hatte, war für ihn kaum möglich. Er hatte nie geliebt, hatte es nicht gelernt, und entsprechend begrenzt war sein Horizont; doch jetzt spürte er Mitleid in sich aufsteigen, ungewohnt und unerwartet. Seit dem Verrat seines Großvaters hatte ihm nichts mehr weh getan, nichts mehr seinen Panzer durchdrungen; doch Yuri um seine grausam verlorene Liebe weinen zu sehen, weckte in Jin eine vage Erinnerung an seelischen Schmerz, die ihn erstaunte. Dante hatte Recht gehabt: Yuri verfügte über eine extrem starke Psyche, und nur das befähigte ihn, beim Verschmelzen mit Monstern die Oberhand zu behalten. Ohne diese mentale Stärke musste jeder normale Mensch dem Wahnsinn anheim fallen.

»Yuri. Du weißt, dass Andere …« Jin sprach nicht weiter, sondern setzte neu an: »Woher … nimmst du die Kraft?«

Seufzend hob Yuri den Kopf, wischte sich erneut die Nase ab und erklärte mit belegter Stimme: »Es gab viele Momente, in denen ich es nur zu gern beendet hätte, glaub mir. Vor allem am Anfang … Aber wenn ich das tue, ist Alice umsonst gestorben. Sie hat meine Bürde auf sich genommen, das Böse, das meine Fusionsfähigkeit aus den Toren des Todes heraufbeschwört. Wo ich zu schwach war, hat sie mich beschützt. Nur deshalb lebe ich noch. Nur deshalb kann ich noch kämpfen und meine Kräfte weiter einsetzen. Ich kann ihr Geschenk nicht wegwerfen.«

Jin schwieg nachdenklich. Er wusste nicht, was die richtigen Worte waren, hatte verlernt, wie man jemanden tröstet. Seine Mutter hatte es ihm mit ihrer Liebe beigebracht, doch er hatte vergessen, wie es sich anfühlte. Seit er fünfzehn war, hatte auch ihm nie wieder jemand Trost geschenkt. Und er hatte nie wieder geweint.

»Ich muss es verhindern«, presste Yuri zwischen den Zähnen hervor. »Ich darf nicht zulassen, dass der Mistelfluch alle meine Erinnerungen verschlingt.«

Seine Entschlossenheit erstaunte Jin. »Und wie? Wie willst du es aufhalten?«

Yuri schaute zurück, Zorn und Kummer in den nassen Augen. »Ich … habe allmählich eine Ahnung.« Damit stemmte er sich hoch und schob den Stuhl hart hinter sich zurück. Er ging an Jin vorbei, die letzte Träne energisch wegwischend, und verschwand im Nebenraum, wo Roger und Dante warteten.

Zögernd blieb Jin sitzen. Er blickte ins flackernde Licht der vielen Kerzen, die an jeder Wand brannten. Dass Yuri Züge verabscheute, war kein Wunder; der Moment, in dem er Alice’ Tod feststellte, war zweifellos wie ein Alptraum, den er immer wieder durchleben musste, wenn er nur das Rattern der Räder spürte.
 

Als Jin ins Wohnzimmer trat, standen alle Drei etwas verloren herum und sahen aus, als hätte er sie bei irgendetwas erwischt. Er vermutete stark, dass sie über ihn gesprochen hatten.

Eine Spur zu auffällig deutete Roger auf das seltsame Gerät an der Wand, das Jin schon am Vorabend fasziniert hatte. Das Laufband mit den Rädern – sicherlich ein primitiver Motor – war nun über eine Art Adapter verbunden mit den drei schlangenhaft gewundenen Strahlern.

Yuri drehte sich zu Jin um. »He, äh – meine Nachricht hast du anscheinend gefunden?«

»Ich … ja.« Strenggenommen hatte Dante sie gefunden.

»Konntest du alles lesen?«

»Nur ein Wort nicht.«

»Schon klar. Ich wollte ›Zeitreisegerät‹ schreiben, oder so was Ähnliches.« Yuri nickte zu dem Ungetüm. »Es ist natürlich noch keins. Es ist nur ein Teleporter, der nicht funktioniert.«

Jin kannte durchaus ein Wort für ›Zeitmaschine‹ und wusste auch, wie man es schrieb, aber zu Yuris Lebzeiten war die Vorstellung von so einem Wunderding vermutlich noch reichlich begrenzt gewesen, abgesehen von H. G. Wells’ Roman. »Damit willst du also zurückreisen.« Die Konstruktion sah alles andere als vertrauenerweckend aus.

»Wir, äh, arbeiten daran, Roger und ich.«

»Reden wir über dich, Jin«, nahm Roger das Wort und winkte ihn einladend näher. »Willst du auch einen Kaffee? Du magst meinen Kaffee, nicht wahr? Eh?«

Zuweilen erwies es sich als unvorteilhaft, dass in Jins Welt immer die japanische Höflichkeit siegte. Er fragte sich, wie viele Tassen dieses batteriesäureartigen Gebräus er noch heil überstehen würde.
 

Es fühlte sich an wie ein Verhör, als sie schließlich einander wieder gegenübersaßen und alle Augen auf Jin gerichtet waren. An einer Seite des Tisches lagen lose Zettel, von Rogers zittriger Hand bekritzelt, und ein Bleistift mit abgenagtem Ende.

»Hast du auf die Émigré-Schrift aufgepasst?«, erkundigte sich Roger.

Jin holte das schädelförmige Buch aus der Mantelinnentasche und legte es auf den Tisch.

»Ah, guter Junge. Ich denke, es dir wegzunehmen sollte für euren Gegner nicht so einfach sein. Nun … Er braucht dich für das Ritual, wie es scheint, oder glaubt zumindest, deinen Teufel – Devil – als Lockvogel für Azazel nutzen zu können, an den er nicht herankommt.«

»Ist das denn möglich?«, fragte Jin.

»Denkbar. Ich weiß aus dem Gedächtnis nicht allzu viel über Azazel, aber ihn zu beschwören stellt den Ausübenden vor einige Hürden, wenn ich mich recht entsinne. Also … Wir sollten möglichst bald herausfinden, ob Devil Azazels Erscheinen beschleunigen kann, um Bosheit zur Verfügung zu stellen.« Wieder einmal furchte sich Rogers Gesicht. »Du kennst Devil sicherlich recht gut … Weißt du, ob er die Fähigkeit hat, die Kräfte anderer Personen … abzuzapfen?«

Jin erzitterte innerlich. »Ja … Das kann er. Er tut es, indem er seinem Gegner die Hand auf den Scheitel legt. Auf diese Weise kann er auch das chi blockieren.«

»Hm«, machte Roger.

»Ich habe es bei meinem Vater gesehen. Er und Devil sind eins … Er kann den Dämon kontrollieren.«

»Pah!«, spuckte Yuri. »Das ist keine echte Kontrolle. Das ist ein Bündnis. Man nennt es Seelenpakt. Es bedeutet nichts Anderes, als dass er seine Seele aufgegeben hat, um die Macht des Dämons zu nutzen. Er ist doch böse, oder? Ganz egal, was deine Mami versucht hat.«

»Ja«, bestätigte Jin mit zusammengezogenen Brauen. Zum ersten Mal hörte er, dass das, was zwischen Kazuya und Devil passiert war, ein bekanntes Phänomen war. Seelenpakt.

»Auch du könntest einen eingehen«, bemerkte Roger harmlos. »Wenn du dich ganz mit der Entität, die dich besetzt, vereinigst, stehen dir ihre Mächte zur freien Verfügung.«

»Und was ist der Preis?«

»Das ist eben der Punkt«, erwiderte der Mönch lächelnd. »Der Preis sind Tod oder Wahnsinn oder beides, wenn du scheiterst. In jedem Falle verlierst du deinen Willen, für das Gute zu kämpfen.«

Jin schüttelte den Kopf. »Es würde ohnehin nicht funktionieren. Ich bin ein Kazama, das Blut meiner Mutter stößt Devil ab.«

»So?«

»Und nicht nur Devil kann einem Menschen die Kräfte entziehen. Auch das Monster, das meine Mutter verschleppte und tötete, hatte diese Fähigkeit.«

»Ach.« Aufmerksam beugte Roger sich vor. »Was für ein Monster war das? Und was wurde aus ihm?«

Jin hielt einen Moment inne. Das Thema darauf zu lenken war nicht seine Absicht gewesen; über den Tod seiner Mutter sprach er äußerst ungern. »Niemand hat je genau herausgefunden, was es war«, wich er aus. »Manche hielten es für eine aztekische Gottheit.« Er streckte die Hand aus, griff nach einem der losen Zettel und dem Bleistift und schrieb ein Kanji – 闘神 – auf, das er Yuri zuschob. »Kannst du das lesen?« Da es ein Eigenname war, waren die Zeichen der Vereinfachungsreform entgangen.

Yuri beäugte das Blatt. »Toshin«, las er. »Kampf…gott.«

»Es hat die Kräfte meines Großvaters in sich aufgenommen, um die Gestalt zu wechseln und sich weiterzuentwickeln.«

»Hat das deinen Opa getötet?«

»Nein.«

Bedeutsam warf Dante ein: »Du hast es erwischt, Kazama, richtig? Du hast dich an diesem Ding gerächt.«

Jin schaute angewidert zurück. »Toshin hat meine Mutter getötet. Ich habe ihn verfolgt und nach seiner Verwandlung erschlagen – das willst du doch hören? Ja, ich habe es getan, mit bloßen Händen.«

»Oh, gut.« Dante lehnte sich zurück. Dann, wie beiläufig: »Das macht dich dann wohl auch zu einem Teufelsjäger.«

»Ich lasse mich aber nicht dafür anheuern«, knurrte Jin.

»Das spielt keine Rolle. Du hast einen Dämon gejagt und ihn eigenhändig umgebracht, und jetzt machst du Jagd auf den nächsten – deinen Vater. Was ist der Unterschied zwischen dir und mir?«

»Ich tue es nicht für Geld.«

»Okay, das muss ich gelten lassen … Aber dein Motiv ist trotzdem das gleiche wie meins.«

»Rache.« Jin schluckte seinen Zorn hinunter. Er war wütend auf das Monster, nicht auf Dante, auch wenn dessen provokant-gleichgültige Haltung ihn ärgerte. »Toshin starb, bevor Devil in mir erwacht ist.«

»Und wie hast du es dann geschafft, diesen Kampfgott zu stellen? Ohne Teufelskräfte? Du bist nur ein Mensch, du hast nicht mal eine Waffe. Und dieses Ding hat offenbar viele wehrhafte Leute gefressen und ihre Kräfte absorbiert.«

»Ich war wütend.« Jin funkelte ihn an.

»Du warst Hulk, alles klar.«

Es hörte sich zwar so an, als würde Dante sich über ihn lustig machen, doch Jin wusste es besser. Der Teufelsjäger, Experte in seinem Fach, hatte keine Erklärung für Jins Triumph über Toshin, und das machte ihn misstrauisch. Wahrheitsgemäß erklärte Jin: »Ich habe eine Menge Hass in mir, Dante. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich bin selbst eine Art Monster … viel mehr ist von mir nicht übrig. Und ich habe das Teufelsgen.« Mit steifen Fingern zog er das Papier zu sich zurück und schrieb mit schnellen Strichen die Zeichenkombination デビルの血 darauf. »Wir nennen es so, aber ich weiß nicht mal, ob es wirklich ein Gen ist. Ich weiß gar nichts! Ich verstehe nichts von Genetik. Woher soll ich wissen, was das Teufelsgen wirklich bewirkt – außer dass Devil sich in mir einnisten kann?« Er hatte es satt, sich zu erklären. Wenn es nur möglich wäre, hätte er diesen Teil seines Erbguts längst eliminiert. Es interessierte ihn nicht, woher seine Kräfte rührten; sie konnten ihm gestohlen bleiben.

»Debiru … no chi«, las Yuri mit gefurchter Stirn. »Jin hat Recht. Das muss nicht ›Teufelsgen‹ bedeuten. Es kann auch ›Teufelsblut‹ heißen.«
 

Sekundenlang lag eine merkwürdige Ruhe über dem Tisch. Jeder schaute irgendwo anders hin; nur Dantes Miene zeigte – zum ersten Mal, seit Jin ihn kannte – so etwas wie offene Bestürzung. Schnell jedoch hatte er diese Entgleisung wieder im Griff und setzte einen Ausdruck forcierter Gleichmütigkeit auf, durch den der Argwohn hindurch schimmerte wie Licht vom Grund eines Teichs. Schließlich wandte er sich ruhig an Roger: »Wäre das theoretisch möglich? Dass Jin und seine Sippe zu, sagen wir, einem Hundertstel Dämonen sind – durch Einkreuzung von Teufelsblut?«

»Wie, ich denke, du glaubst mir nicht, dass es das gab?«, fragte Yuri spitz.

»Klappe, Hyuga. Es erscheint mir nur unwahrscheinlich. Würde bedeuten, dass Azazel zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte mal in eine menschliche Blutlinie reingewichst hat …«

»Wie dein Paps?«

»… und dass es deshalb heißt, Devil wäre Azazels Saat. Ich halte ihn eher für eine Art Fragment von Azazel, so wie Jins Dämon ein Fragment von dem ist, der seinen Vater besetzt. Aber das Teufelsgen … Wo das herkommt, ist schwer zu erklären.«

Jin starrte sie abwechselnd an, erschüttert. Die Vorstellung, womöglich dämonisches Erbgut zu haben, ließ sein Herz hart pochen vor Entsetzen. »Aber«, begann er schwach, »wenn Azazel die Menschenwelt nicht betreten kann, wie hätte er seinen … Samen … in …« Nein, das wollte er besser nicht zu Ende überlegen. Menschen und Dämonen – allein der Gedanke an eine solche Verbindung war ihm ein Gräuel. Auch Dantes Herkunft fand er abscheulich, er wollte nicht einmal daran zu denken. Er konnte nicht selbst in so etwas verstrickt sein!

»Eine gute Frage«, befand Roger. »In jedem Falle hat Devil einen eigenen Willen, er ist eine Entität, nicht nur eine Ausprägung ein und derselben Persönlichkeit, wie bei deinem Devil Trigger, Dante. Zumindest … glaube ich das.«

»Was soll das heißen, du glaubst das?«, bohrte Jin und konnte den drohenden Tonfall nicht unterdrücken. »Devil ist kein Teil von mir – er ist nicht mein Devil Trigger

»Vielleicht ja doch«, setzte Dante schonungslos obendrauf. »Vielleicht kommen bei deiner Transformation einfach nur unterdrückte Triebe und Instinkte an die Oberfläche. Du hast eine Menge unterdrückte Triebe, Kazama.«

»Ich – wie bitte?«

»Ich hab’s dir schon gesagt: Du schluckst alles runter und lässt nichts raus.«

»Ich …«

»Du zeigst nur dann Gefühle, wenn man dir richtig in die Eier greift.«

»Das reicht jetzt.«

»Und ich wette, du hast nie die Hand unter der Bettdecke, um mal nett zu deinem –«

»Ich sagte, es reicht!«, grollte Jin. Tief in seiner Kehle war ein kehliges Knurren aufgestiegen, das ihn so sehr erschreckte, dass sein Zorn augenblicklich verflog. Unter den alarmierten Blicken der Anderen zwang er sich zur Entspannung. Es stimmte … Dante hatte Recht: Er war nicht von sich aus aggressiv, er hatte sein Leben lang an einem ruhigen und ausgeglichenen Gemüt gearbeitet; doch Devil zehrte von Aufgestautem, von dem, was sich tief in Jins Innerem anballte – und das hatte er soeben demonstriert. Ihn zu provozieren konnte lange dauern, doch ihn beschämen, das war leicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er den Atem entweichen, langsam und kontrolliert.

»Tut mir leid«, sagte Dante versöhnlich. »Ich bin auf deiner Seite: Ich glaube nicht, dass du echtes Dämonenblut und einen Devil Trigger hast.«

Jin merkte, wie sehr ihn dieses Gespräch anstrengte. »Es ist egal. Ich werde nie herausfinden, woher das Teufelsgen kommt. Ich habe es von meinem Vater, aber sein Vater hat es nicht.«

»Na gut. Weißt du irgendwas über die Frau deines Großvaters? Die Mutter deines Vaters, deine Oma?«

»Nein.«

»Dann endet die Spur dort«, stellte Roger fest. »Nur sie kann das Teufelsblut in deine Familie gebracht haben.«

»Können wir bitte aufhören, von Teufelsblut zu sprechen? Lasst uns bei den Fakten bleiben.«

»Nun, was auch immer der Ursprung des Teufels…gens sein mag, es ist eine genetische Exposition, die mächtige Dämonen augenscheinlich gerne nutzen, um ein Fragment ihrer selbst in Gottes Kreaturen einzupflanzen und so in der Menschenwelt wirken zu können. Nicht jeder Sterbliche willigt in einen Seelenpakt ein … Das Teufelsgen eröffnet die Möglichkeit, dies zu umgehen und trotzdem eine langfristige Verbindung sicherzustellen. Anders als eine temporäre Besessenheit, an der der Wirt zugrunde geht.«

Jin war müde. Er rieb sich die Stirn und fühlte sich, als würden die schweren Räder eines Tanklastzugs wieder und wieder über seinen Geist rollen. »Lassen wir das. Meine Situation ist nicht das Wichtigste; wir sind wegen Sarris hier. Er ist nicht hergekommen. Wir haben die Texte vor ihm in Sicherheit gebracht, wie wir geplant hatten.. Unser nächstes Ziel muss es sein, Yuri in seine eigene Zeit zurückzuschicken.« Er schaute über den Tisch in dessen Richtung, und Yuri fing seinen Blick auf. »Also lasst uns versuchen, diesen Zeittransporter wieder funktionstüchtig zu machen. Ich denke, wenn Dante und ich schon hier sind, können wir ebenso gut dabei helfen.«

»Hmm«, machte Dante. »Wir haben nicht unbegrenzt Zeit dafür, wie’s aussieht.«

»Meine Taschenuhr darf nicht bei Zwölf ankommen«, murmelte Yuri.

»Gut. Dann lasst uns anfangen«, sagte Roger und hopste von seinem Stuhl.


Nachwort zu diesem Kapitel:
"Lasst uns Jins Herkunft diskutieren", said no one ever.
Und ja, Dante hat subtil auf Masturbation angespielt. *hust*
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

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