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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht's an diesem Sonntag. Komplett anzeigen

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Akt X - Blut des Teufels: 14-3

14-3: DANTE
 

Über die Feststellung, dass Rogers magische Uhr Yuri nicht nach Wales, sondern fast vor seine Haustür transportiert hatte, musste Dante einen Moment lang nachdenken. Yuri hätte bei einem Bekannten landen sollen, und niemand im Jahr 2008 kannte ihn – außer Roger. Ein möglicher Grund für die Abweichung war – aber das erschien Dante einfach zu absurd –: Yuri hatte auf der Zugfahrt spekuliert, dass sein Vater, Oberst Jinpachiro Hyuga, ein Verbündeter Spardas gewesen sein könnte. Das an sich war lächerlich genug, und selbst wenn die Beiden mal irgendwo über denselben Teppich gelaufen waren, so musste das noch lange kein Grund dafür sein, dass ihre Söhne in irgendeiner Hinsicht in Verbindung standen. Dante fand Yuris Abenteuer zwar nicht uninteressant, zumal es darin irgendwie um die Historie des professionellen Teufelschlachtens ging, doch mehr Sympathie konnte er diesem kleinen ordinären Draufgänger einfach nicht entgegen bringen.

Als Jin dann ins Nebenzimmer gegangen war, wo Yuri ganz offenkundig allein vor sich hin brütete, stupste Roger Dante gegen das Knie. »Hast wohl geglaubt, du wärst der einzige Teufelsjäger, eh? Jeder Erdteil dieser Welt hat seine Dämonen, sie finden immer wieder Wege in unsere Welt, mit Toren oder ohne. Wo es Dämonen gibt, gibt es Jäger.«

»Ich weiß«, behauptete Dante und schaute auf Rogers kahlen braunen Schädel herab. Dann hörte er, wie Jin und Yuri im Nebenraum leise miteinander sprachen. Dass die rohen Wände Echos warfen, ließ sich nicht vermeiden. »Was hat Yuri?«

»Ach. Dies und das«, lavierte Roger. »Dass ich ihn hierher geholt habe, wenn auch indirekt, weiß er nicht. Er hat schon genug zu verdauen. Bis er weiß, was er zu tun hat, werden noch ein paar freundliche Kopfnüsse nötig sein.«

Dante lachte leise. Als ob das genug wäre.

»Jaja, da lachst du. Dass du ihn nicht trösten würdest, war mir klar! Dabei ist der junge Jin ziemlich … reserviert, nicht wahr? Ich glaube trotzdem, dass Yuri sich ihm noch am ehesten anvertrauen würde.«

»Yuri mag Jin anscheinend«, räumte Dante ein. »Er sieht in ihm eine Art Leidensgenossen. Jemanden, dem es genauso beschissen geht wie ihm.«

»Yuri ist äußerst loyal gegenüber Freunden«, nickte Roger. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich mit der Aufgabe beschäftigen wird, Jin zu helfen.«

Dante betrachtete den kleinen türartigen Übergang in den Nachbarraum. Ja – leider war das ein Problem, mit dem sich seit einer Weile niemand mehr beschäftigt hatte. »Tatsache ist«, sagte er mit echtem Bedauern, »dass ich nichts für Jin tun kann.« Es war das erste Mal, dass er es aussprach – und auch sich selbst bewusst machte. In gewisser Weise war es eine Niederlage, aber er musste sie akzeptieren. »Ich bin Dämonenjäger. Ich kann Teufel töten. Ich kann auch Devil Jin töten, kein Problem. Aber Jin von ihm befreien – Devil töten, sodass Jin am Leben bleibt –, kann ich nicht.« Er senkte den Blick auf Roger, der seinerseits zu ihm aufsah. »Ich kann Jin nicht helfen«, wiederholte er und ergänzte dann vielsagend: »Aber Yuri kann es. Richtig?«

Roger nickte wieder. »Der Meinung bin ich auch. Yuri ist ein Harmonixer wie kein anderer. Die meisten von ihnen konnten nur eine einzige Verschmelzung eingehen, sehr wenige zwei oder drei … Aber Yuri hat keine natürliche Grenze, was das betrifft; das macht ihn einzigartig. Er ist weit stärker als sein Vater, er hat Teufel und Geister unterworfen, die in der Lage sind, dieser Welt enormen Schaden zuzufügen. Ich bin überzeugt, er kann auch den Dämon in Jin unterwerfen. Aber …«

»Irgendwas ist ihm im Weg«, beendete Dante den Satz. Man musste kein tausendjähriger Gelehrter sein, um das zu erkennen.

»Exakt. Aber nicht irgendwas. In Yuris Weg ist niemand anderes als Yuri.«
 

Auch über diesen Satz hatte Dante im Weiteren nachgedacht. Es gab keinen nervigeren Gegner als das eigene Ego; wie oft hatte er selbst sich schon blockieren lassen, vor allem dadurch, dass er Andere unterschätzte. Nun, bei Yuri war der Gegner nicht die Arroganz, sondern der Selbstzweifel. Aber daran konnte man arbeiten. Dante hatte fest vor, in dieser Hinsicht noch einiges aus Yuri herauszukitzeln.

Als Besagter sich schließlich wieder blicken ließ, wirkte er verheult und aufgelöst. Er trat schweigend zu ihnen (während Jin offenbar das Brüten übernommen hatte und drüben geblieben war) und versuchte krampfhaft so auszusehen, als wäre er bester Stimmung.

Dante tat gar nicht erst so, als ließe er sich täuschen. Wozu auch? »Alles in Ordnung?«, fragte er sanft.

Yuri hob eine Braue. »Oooh. Ist das der liebevolle Tonfall, auf den Trish so abfährt?«

»Das ist der liebevollste, den du kriegen kannst.«

»Wir haben geredet«, fuhr Yuri fort. »Ich bin ein bisschen durch den Wind, weißt du. Ich hab euch ja von Alice erzählt …«

»Hast du.«

»Du wirst bestimmt nicht fragen, aber ich sag’s dir trotzdem. Meine Fähigkeit … erzeugt Bosheit. Und wenn die Monster, die ich töte, sich in mir ansammeln …«

»Das hast du alles schon ausgebreitet. Du gehst auf den Friedhof und machst sauber.«

»Das ist aber nicht alles! Ich hab unter diesem Bösen in mir so sehr gelitten, dass ich mich beinahe von diesen Ängsten hätte zerstören lassen. Alice hat das beendet. Und dafür hat sie mit dem Leben bezahlt.«

Dante erinnerte sich, was er in Yuri gesehen hatte, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren; jetzt verstand er, dass der Moment, in dem Alice ihn gerade noch rechtzeitig gerettet hatte, derjenige war, in dem Yuri die wahren Schrecken der Hölle erfahren hatte. Genau dann hatte er in jenen Abgrund geblickt, dessen bloße Nähe gewöhnliche Menschen in den Wahnsinn trieb. Normalerweise erlosch ein gesunder Verstand bei der bloßen Berührung dieses unaussprechlichen Grauens wie ein winziger Funke in alles erstickender Dunkelheit; doch Yuri war mit abnormer mentaler Stärke gesegnet. Nur deshalb lebte er noch.

»Was hast du da unten zurückgelassen?«, fragte Dante.

»Meine Angst.« Yuri straffte die Schultern, nahm wieder Haltung an. »Sie ist noch irgendwo, ich spüre sie noch immer, bei jeder Fusion. Aber sie kann mir nichts mehr anhaben. Das hat Alice für mich getan.«

Erstaunlich, fand Dante, wie sehr Yuri mit sich selbst im Reinen zu sein schien. Es stand zu seinem gelegentlich recht unreifen Verhalten im Widerspruch. Dante musste sich eingestehen, dass der Verlust, den Yuri erlitten hatte, ihm großen Respekt abnötigte. Um ein Haar wäre es ihm selbst so gegangen, dass Trish ihr Leben für seines gegeben hatte. Es hatte ihm den Boden weggezogen, als sie, Mundus’ Angriff erahnend, für Dante in den Laser gesprungen war, um ihn abzuschirmen; sie wollte, dass er Mundus besiegte, ihre eigene Existenz bedeutungslos im Vergleich zu diesem höheren Ziel. Ihr Opfer hatte Dante tatsächlich die Kraft gegeben, die Schlacht zu gewinnen; doch Trishs vermeintlicher Tod war für ihn kaum zu ertragen gewesen, und das, obwohl er sie kaum kannte und sie ihn zudem kurz zuvor hinters Licht geführt hatte. Wie wäre es wohl, wenn er sie jetzt verlöre? Jetzt, da sie ein Teils seines Lebens war, eine Gefährtin bei vielen Kämpfen … Würde er das aushalten? Er begriff, dass Yuri es nicht aushielt. Hinter allem, was er tat, war die Sehnsucht nach etwas, das er im Leben nicht mehr finden konnte. Und trotzdem verwandte er weiter Zeit darauf, etwas zu tun, das – wenn auch nicht ihm selbst – Anderen half.

Dante beschloss, ihm einen weiteren Stups zu geben.

»Vielleicht«, begann er, »kannst du dann auch was für Jin tun. Du wärst sehr wohl in der Lage, ihm zu helfen, also streite das nicht ab.«

Anscheinend hatte Yuri damit gerechnet, dass man ihn irgendwann darauf ansprechen würde. Er brach sofort den Blickkontakt, ein Vermeidungsverhalten. »Geht nicht. Zu gefährlich.«

»Sei nicht albern. Du bist schon mit ganz anderen Monstern als Devil eine Fusion eingegangen.«

»Ja, eben!«, hielt Yuri mit einem Anflug von Verzweiflung dagegen. »Nur weil ich mich überschätzt habe, war Alice’ Hilfe überhaupt nötig! Deswegen ist sie tot, verstehst du? Ich hab den Kampf verloren, und das Böse in mir konnte mich überwältigen. Zwing mich nicht, das noch mal zu machen!«

A-ha, dachte Dante. Da lag das Blatt doch etwas anders. Ob ein Appell an seine Ehre Yuri womöglich aus dem Trauma-Modus rausholte? »Du hast selbst gesagt, dass Jin einfach nicht stark genug ist, Devil zu kontrollieren. Los, dann versuch du es. Sollte doch ein Kinderspiel für dich sein.«

Es funktionierte nicht. Yuri schüttelte so energisch den Kopf, dass sein Wühlmaushaar flatterte. »In dem Fall bin ich auch nicht besser. Ich kann das nicht.«

Dante taxierte ihn unfreundlich. Gut – dann eben eine noch härtere Gangart. »Du willst nur nicht«, behauptete er. »Du siehst Jin bloß als Leidensgenossen. Du weißt, dass er von Devil befreit werden könnte, und deshalb bist du neidisch. Weil du nicht dir selbst helfen kannst, willst du auch ihm nicht helfen. Richtig?«

Angesichts dieses unhaltbaren Vorwurfs wäre Yuri fast auf ihn losgegangen. Ihn hielt wohl nur die Tatsache zurück, dass Jin noch nebenan war und jedwede Auseinandersetzung zwischen ihnen mitbekommen würde. Also funkelte Yuri Dante nur an – aber hinter diesem Funkeln sah Dante in seinem Gesicht etwas erschreckend Hilfloses.
 

In dem Moment war Jin wieder dazu gekommen. Und da er völlig unempfänglich war, was die Emotionen Anderer betraf, merkte er auch nichts. Gut so.

Es folgte das reichlich dämliche Gespräch über Jins möglicherweise dämonische Abstammung. Dabei ergaben sich keinerlei neue Erkenntnisse, und Dante war dankbar, dass Jin diese abstruse Theorie ebenso ablehnte wie er selbst und stattdessen den Fokus auf Yuris Rückreise ins Jahr 1915 lenkte. Schließlich war Sarris nicht gekommen – obwohl er all die Fallen ausgelegt hatte, in die sie gegangen waren –, und wenn sie nicht umsonst hierher gekommen sein wollten, dann konnten sie genauso gut zu etwas nützlich sein.

»Hast du noch was anderes als Kaffee?«, fragte Yuri, als sie die Einzelteile des Teleporters, oder was auch immer das sein sollte, auf dem Steinboden auszubreiten begannen.

Dante betrachtete interessiert ein Kabel in seiner Hand. Er war kein Genie in Sachen Technik, seine Stärken lagen woanders; also wartete er einfach auf Anweisungen.

»Ich habe ziemlich viel Bier«, giggelte Roger. »Englisches Bier ist das beste! Den Automaten findest du rechts in der Wand – ja, einfach draufdrücken.«

Diese Höhle entpuppte sich immer mehr als ein Kuriosum aus genialen kleinen Konstruktionen. Yuri drückte eine Handfläche gegen die Steinwand links von ihnen, und eine hohe rechteckige Fläche, die sich vorher überhaupt nicht vom Rest der Wand abgehoben hatte, schwenkte herum. Auf der anderen Seite stand ein … Gerät, das auf zahllosen kleinen Knöpfen wild blinkte und mit vielen Kabeln irgendwo befestigt war.

»Du hast ihn noch!«, rief Yuri selig.

»Nimm dir, was du möchtest«, erwiderte Roger großmütig.

Dante sah zu, wie Yuri eifrig Knöpfe zu drücken begann, und fragte sich, woher er wusste, was er drücken musste. Offenbar war das eine von Rogers älteren Konstruktionen. »Ha!«, rief Yuri. Irgendwo klapperte es; dann Stille. »Och nö, immer dasselbe …Hast du an diesem Ding überhaupt nicht gearbeitet in all den Jahren?« Er schob seine Hand ins Ausgabefach, was wirklich lächerlich aussah. »Muss ich dir erst wieder eins draufgeben, du Kackding? Na schön!.« Yuri trat mit voller Kraft gegen den Kasten – was Roger in aller Seelenruhe hinnahm –, und daraufhin spuckte das Ding tatsächlich vier Flaschen Pale Ale aus, die unschuldig nacheinander in den Sand rollten.

Dante bemerkte anerkennend: »Ich sehe, du bist genauso versiert im Umgang mit Maschinen wie ich.«

»Gewalt löst bei so was immer das Problem«, erwiderte Yuri achselzuckend. »Willst du auch eins?«
 

Jin lehnte das Bier vorerst ab und war so ziemlich der Einzige, der wirklich ernsthaft an der Transportmaschine bastelte. Er schien gewisse technische Kenntnisse zu haben, etwa was Stromstärken, Zwischenschaltungen und Widerstände betraf. Sicher eine Begleiterscheinung seiner technisch ausgerichteten Schulbildung. Angeber.

»Wenn mein Antriebssystem, das allein mit Wasser funktioniert hat, den Zweiten Weltkrieg überlebt hätte, stünden wir vor diesem Problem nicht«, stellte Roger bekümmert fest, nachdem die Beiden tatsächlich (während Dante mit Yuri Ale getrunken und diverse Shanghai-Angels-Ausgaben durchgeblättert hatte) alle Kabelverbindungen wiederhergestellt hatten.

»Wie hast du den Apparat bisher betrieben?«, fragte Jin Roger.

»Ich bin auf dem Band gelaufen, was denkst du denn?«, gab der Mönch zurück. »Damit lässt sich eine Leistung von annähernd achtzig Wattstunden erreichen, wenn man eine Stunde ordentlich rennt! Was denkst du, warum ich so gut in Form bin?«

»Achtzig Wattstunden mit sechzig Minuten Laufen … Und wie viel brauchst du, um Yuri in den Zeitstrom zu schicken?«

»Mindestens zweihundertfünfzig Wattstunden«, seufzte Roger.

Dante hätte gern gefragt, wie Roger es dann geschafft hatte, die manipulierte Taschenuhr an sein jüngeres Ich zu schicken; aber Yuri, der zufrieden neben ihm saß, brauchte nichts darüber zu wissen.

Roger löste das Rätsel selbst: »Eine Zeitlang hatte ich drei abgerichtete Riesenhamsterratten, die für mich gelaufen sind: Lucy, Fred und Ragnild. Die haben was zuwege gebracht, sag ich euch! Mit den Dreien wäre es kein Problem gewesen. Für ein paar Essiggurken haben die alles getan!«

»Na klar«, winkte Yuri ab. »Essiggurken.«

»Stell mich nicht immer in Frage! Ich hab dir ja gesagt, die Energiequelle ist ein Problem. Anstatt faul zu sein, könntest du dir etwas einfallen lassen!«

»Ich denke scharf nach«, behauptete Yuri, obwohl zweifellos das Gegenteil der Fall war. Dante kippte den letzten Schluck Ale hinunter und stellte die leere Flasche nachdenklich beiseite. Er kannte theoretisch einen Weg, mehr Strom zu erzeugen, doch dieser involvierte Trish und eine Menge Alkohol. Tja, zumindest Ersteres befand sich gerade eine Idee zu weit weg.
 

Als es schließlich daran ging, das Gerät aufzustellen und die Emitter zu montieren, war die körperliche Kraft aller Anwesenden unentbehrlich. Zu viert schafften sie es in weniger als einer Stunde, das Laufband und die Strahler punktgenau zu platzieren (hierfür musste die Couchgarnitur an die Wand und ein Teil der anderen Geräte ins Nebenzimmer verschoben werden) und alle Schrauben und Zwingen so festzuziehen, dass sie nicht einmal Sparda wieder auf bekommen hätte. So weit, so gut – das Ding stand jetzt.

»Wir brauchen einen zusätzlichen Transformator«, sagte Jin endlich. »Es kann ein ganz einfacher sein, aber ohne geht es nicht.«

Es war schon Nachmittag und die Sonne auf der absteigenden Bahn, als sie gemeinschaftlich beschlossen, sich in Aberystwyth eine Stärkung zu gönnen. Roger, der sich – zu jedermanns Überraschung – in einen eleganten kleinen Frack gekleidet hatte, an dem nicht einmal ein Knopf fehlte, kündigte an, sie gern zu begleiten. Eifrig kletterte er hinter Yuri her, der leichtfüßig voran ging. Dante mutmaßte, dass die Einheimischen den Mönch für einen dressierten Affen halten würden.

Zumindest das war ein Irrtum.

Rhys’ Vorschlag folgend lautete der Plan, an der Seepromenade Sandwiches zu essen und Espresso zu trinken. Hierbei zeigte sich, dass Roger in Aberystwyth alles andere als unbekannt war. Im Gegenteil: Schon am Hafen grüßten den kauzigen Alten viele der Arbeiter, und als sie sich im Café Promenade niederließen, das von einer kleinen Anhöhe aus ein hübsches Panorama über den Cardigan Bay bot, begrüßte die Bedienung ihn mit einem freudigen: »Aaaach, Herr Gilbert, wie schön!«

Chapeau, dachte Dante. Roger hatte sich hier wirklich ein soziales Netzwerk geschaffen und pflegte mit Höflichkeit und Liebenswürdigkeit seine Kontakte. Von wegen isoliert. Ein kleiner bunter Hund war er. Und vor allem mit den Mädels verstand er sich prächtig.

Durch die große Fensterfront, an der ihr Tisch stand, blickten die Vier hinunter auf das Meer hinter dem betonierten Gestade. Der Horizont war dunkel von schweren Wolken, die sich dort zusammenballten.

Jin lenkte Dante von diesem Anblick ab, indem er fragte: »Wenn du nur zur Hälfte ein Teufel bist … warum bist du so viel mächtiger als reinblütige Dämonen?«

»Bin ich?«, erwiderte Dante gelassen.

»Stell dich nicht dumm. Du bist ihnen überlegen, und das ergibt keinen Sinn.«

Yuri, der soeben den letzten Schluck seines Kakaos (von dem die Bedienung behauptete, darin sei eine ganze Tafel Schokolade versenkt worden) hinter gekippt und sich den Milchbart abgeleckt hatte, warf ein: »Dohoch! Wisst ihr, was ein Liger ist? Ich hab mal einen in einem Mitternachtszirkus gesehen. Das ist eine Kreuzung aus Löwe und Tiger. Das Vieh ist sooo groß!« Zur Veranschaulichung breitete er die Arme aus. »Die Eltern sind beide normal groß für ihre Art, aber wenn man sie kreuzt, kriegt man sooo ein Monster. Das gibt’s in der Natur.« An seinem triumphalen Blick las Dante ab, für wie superschlau er sich hielt. »Na, dann wissen wir ja jetzt bescheid«, sagte er gnädig.

Roger wandte sich an Jin, der unverändert aus dem Fenster gestarrt hatte. »Wenn wir zurück sind … möchte ich dir etwas zeigen.«

Jin nippte an seinem Wasser – er war wohl der einzige Mensch auf der Welt, der seinen Espresso ernsthaft mit Wasser trank – und fragte: »Und was?«

»Geduld. Ich zeige es dir nachher.« Roger sah nicht besonders glücklich dabei aus. Nicht grundlos, denn wäre es etwas Erfreuliches, das er Jin zeigen wollte, dann wäre er sicher früher damit herausgerückt.

Nachdem sie ihre Zeche gezahlt hatten (Jin schien es okay zu finden, für alles der Goldesel zu sein), standen sie wieder draußen in der beginnenden Dunkelheit; diese Dunkelheit, das war jetzt offensichtlich, zog über das Meer immer näher heran. Während die Anhöhe, auf der sie standen, noch in schwindendem Sonnenlicht lag, war der Himmel über dem Wasser tiefschwarz.

»Na hallo!«, rief Yuri alarmiert. »Schnell, bewegt euch! Kann sein, dass uns gleich eine Regenfront in die Fresse fliegt!«

Das war keine Übertreibung. Als sie die Grasebene hinter Clarach erreichten, gerieten sie ins Rennen, weil der Regen dicht, nass und eisig auf sie niederzugehen begann. Schon nach wenigen Augenblicken waren sie trotz aller Schutzschichten bis auf die Haut durchtränkt und sahen nicht einmal mehr die Hand vor Augen. Gewöhnlich war Dante ziemlich abgehärtet, was Niederschläge betraf, und pflegte sich, wenn kein Unterstand da war, wie ein Gaul mit dem Rücken in den Wind zu stellen; jetzt aber mussten sie gegen die waagerecht einströmenden Fluten bergauf gehen, und er hatte Mühe, seine Augen mit der Hand abzuschirmen.

Roger huschte voran wie ein Karnickel und führte sie. »Hier!«, krähte er, angestrengt den Regen übertönend, und dann tauchte vor ihnen das Gottesschlächter-Denkmal auf, wo sich der sichere Eingang auftat.

So schnell wie möglich stolperten sie ins Trockene.

»Der Winter ist mir hier zu kalt«, jammerte Yuri. »Noch ein Grund mehr, warum ich hier nicht alt werden sollte!«

Sie schüttelten sich das Wasser aus den Mänteln und hängten diese über die Stühle am Tisch, um sie leidlich trocknen zu lassen. Rasch sammelten sich Pfützen unter ihnen.

»Wir haben schon den ganzen Tag für die Reparatur von diesem Ding gebraucht«, brummte Dante und betrachtete mürrisch den Teleporter, dessen Umrisse im Nachbarraum durch den Eingang zu sehen waren. Er hasste nasse Klamotten. Hoffentlich hatte sich die Arbeit wenigstens gelohnt.

»Es ist erst halb sieben«, gab Roger ungerührt zurück und schälte sich aus seinem triefenden erdbraunen Mäntelchen. »Also hör auf zu meckern. Wenn du eine Idee für den Antrieb hast, immer raus damit.«

Dante schnaubte nur. Mechanik war nun wirklich nicht sein Ding. Er reparierte Sachen meistens, indem er sie aus- und wieder einschaltete – oder herzhaft gegen sie trat. Das genügte in der Regel.

»Nun gut«, seufzte Roger. »Letzte Station für heute …«

»Du wolltest mir etwas zeigen«, erinnerte Jin.

»Oh! Ja. Natürlich. Warte hier.«

»Dürfen wir es auch sehen?«, fragte Yuri.

»Sicher, wieso nicht.« Wieder glitzerten Rogers Augen bedeutsam, als er das sagte.

Er kroch in seine Falltür im Boden, dieselbe, aus der er gestern die Handschriften hervorgezaubert hatte. Als er nun wieder herauskletterte, hielt er wieder ein Bündel an die Brust gedrückt; dieses reichte er feierlich – nicht Yuri, der wieder seine Finger dazwischen schob, sondern Jin; aber er schien dabei zu beabsichtigen, dass Yuri sehr genau sehen konnte, was darin war.

Jin schlug das fleckige Tuch zurück und enthüllte, was in seiner Hand lag: ein silberner Dorn, etwas länger als eine Faust, aus dessen Griffstück mehrere kleine, schwarz beblätterte Zweige rankten. Das Ding glänzte im Kerzenlicht wie poliert und warf Reflexionen an die Wände, die durch die Blätter gespenstische Zacken formten.

Yuris Reaktion war spektakulär. Er machte einen Satz nach rückwärts und rief entsetzt: »Was? Nein, Roger, bitte nicht – nicht das
 

Dante und Jin bestarrten beide perplex das Exorzismuswerkzeug. Es sah wirklich nicht freundlich aus, aber Yuris Abscheu dagegen ließ sich dadurch erklären, dass er selbst in den Genuss der Wirkung gekommen war. Schnell hatte Dante eins und eins zusammengezählt: Das hier war das Artefakt, das Yuri verflucht hatte.

»Die Heilige Mistel hattest du bei dir, als ich dich fand«, berichtete Roger ruhig.

»Ja, aber – aber …« Yuris Züge waren rundweg konsterniert, und er sah aus, als würde er gleich kotzen. »… w-warum gibst du es ihm

Jin hielt den Dorn in der Hand und strich fasziniert mit dem Daumen darüber. »Das ist doch offensichtlich.«

»Es ist ein unfehlbares Werkzeug zum Austreiben jedes Teufels.« Roger schien mit Yuris Bestürzung gerechnet zu haben. Er blieb völlig unbeteiligt.

Hilflos protestierte Yuri weiter: »Aber – aber das ist keine Lösung! Es ist – das gleiche wie ein Todesurteil!«

»Ich kann mein Leben nicht selbst beenden«, stellte Jin fest. »Devil würde mich immer zurückholen.«

»Und dann würdest du lieber auf deine Seele verzichten?«

»Wenn es nicht anders geht …«

»Aber das ist grauenhaft!« Yuri machte eine verlorene Geste nach der anderen und versuchte, dabei auf keinen Fall die Mistel anzusehen.

Dante bemitleidete ihn ein wenig; für Yuri war das, was er durch den Exorzismus erlebt hatte, der blanke Horror – Jin aber begegnete dieser Option erschreckend leidenschaftslos. Wenn er Devil damit töten konnte, war ihm alles andere egal, wie es schien.

»Jin!«, fuhr Yuri eindringlich fort, nun scheinbar etwas gesammelter. »Denk nach! Ich hab fast sechs Monate durchgehalten, bis der Fluch mich zerstört hat. Du hast doch auch einen starken Willen – was, wenn es bei dir genauso lange dauert und du in der Zwischenzeit einen anderen Weg findest?«

»Unwahrscheinlich«, entgegnete Jin eisig. »Mein mentaler Widerstand ist nicht halb so mächtig wie deiner.«

Zu allem Unglück sprang ihm Roger auch noch bei: »Er hat Recht, Yuri. Bei dir haben die vielen Seelen der Fusionsmonster einen Großteil der Wirkung abgepuffert und sind ausgelöscht worden, während deine eigene Seele nur langsam zerfressen wurde. Bei ihm wird es nicht derart lange dauern. Vielleicht nur Stunden. Vielleicht nur Sekunden. Wenn seine Seele nicht dagegen ankämpft …«

Yuri warf ihm einen kalten Blick zu. Es war offensichtlich, was er fühlte: Ausgerechnet Roger, der ihn zuvor noch wegen seines Schicksals bedauert hatte, fiel ihm in den Rücken. Warum hatte er Jin überhaupt die Mistel gezeigt, warum diese Möglichkeit zur Sprache gebracht? Dante, der den Streit unbeteiligt beobachtete, konnte sich darauf nur einen Reim machen: Roger hegte irgendwelche hintergründigen Pläne dabei – schließlich hatte er angedeutet, Yuri gewisse Denkanstöße geben zu wollen … Wenn das so war, dann hatte es brillant funktioniert. Jin verzog zwar keine Miene, aber die Aussicht, Devil auf diese Art hinzurichten, sorgte bei ihm sicherlich für Verzückung. Yuri hingegen war außer sich. Er mochte Jin, das war Dante ohnehin klar, und er wollte auf keinen Fall, dass der Andere das gleiche Ende nahm wie er selbst, das er so sehr fürchtete.

Einen Moment lang standen sich Yuri, Jin und Roger in einem konfrontativen Dreieck gegenüber. Dann ließ Yuri jäh die Schultern fallen und drehte sich auf dem Absatz um.

»Okay, bitte. Macht doch. Jin, wirf doch deine Seele weg und hab deine Ruhe! Was Anderes als Devil interessiert dich ja nicht, du kümmerst dich mehr um ihn als um dich selber – bitte! Aber ohne mich. Ich hör mir das nicht mehr an. Ich hau ab.« Im Vorbeigehen packte er seinen Mantel, und der Schwung riss den Stuhl um.

Dante sah Yuri nach und fand wieder einmal sein Temperament ziemlich sympathisch. Leider war Yuri (zumindest aus Dantes Sicht) nicht besonders furchterregend, wenn er angepisst war, sondern eher ein bisschen drollig. »Der beruhigt sich schon«, kommentierte er den rasanten Abgang.

»Es ist nicht seine Entscheidung. Das weiß er.« Jin betrachtete immer noch eingehend den fein ziselierten Dorn in seinen Händen.

»Zeig mir das mal«, forderte Dante und nahm Jin die Mistel ab, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Das Ding war schwerer als erwartet und die Oberfläche sehr kalt; entweder hatte Jin furchtbar kalte Hände oder die Kälte kam aus dem Inneren des Metalls. Die kleinen Zweige stammten von keiner echten Pflanze, sondern waren steif und leblos und wirkten irgendwie unirdisch. »Wie tötet man mit so was Teufel?«, fragte er. Das war etwas, das ihn wirklich interessierte. »Was ist das für ein Ding?«

»Man sagt«, antwortete Roger bedächtig, »der Kern sei eine Lebensform. Ein lebendiger schwarzer Kristall, der einst in der Unterwelt verbreitet war. Vielleicht ist es sogar eine außerirdische Substanz, wer weiß das schon? Angeblich ernährt er sich von dämonischer Energie und kann sie vollständig verzehren. Eine Art natürlicher Feind aller Teufel. Allerdings … In der Dämonenwelt scheint er nicht überlebt zu haben. Vielleicht haben sie ihn ausgerottet, weil er sonst sie ausgerottet hätte.«

Dante hatte die Unterwelt als einen schwer fassbaren, äußerst wechselhaften Ort kennen gelernt, an dem weder Zeit noch Materie denselben Regeln folgten wie hier. Dort gedieh eine andere Art von Leben. Eine halb lebendige, halb gegenständliche Kreatur, wie Roger sie beschrieb, hielt er nicht für ausgeschlossen; schon gar nicht, wenn sie vor Urzeiten aus einer gänzlich anderen Welt gekommen war.

»Es gäbe nicht diese Horden von Dämonen, wenn mehr von diesem Kristall übrig wäre«, fuhr Roger fort. »Vielleicht ist er das letzte Fragment seiner Art, konserviert in diesem Artefakt.« Roger deutete auf die Spitze, die auf Dantes Handschuh ruhte. »Ihr seht, wenn mit ihr zugestoßen und der Ring aus Blättern gedrückt wird, dringt nur dieses feine, nadelartige Ende in die Haut ein. Sie muss das Herz anstechen und den Fluch einimpfen.«

Wie eine Spritze, die ein tödliches Gift injiziert, dachte Dante.

»Wessen Herz auch immer mit dem Dorn verletzt wird, der nimmt einen winzigen Teil der Lebensform in sein Blut auf, und dort verdaut sie alles, was teuflisch ist. Manches schneller, manches langsamer.«

»Und auch manches, das nicht teuflisch ist, wie?«, merkte Dante an. »Zum Beispiel Seelen?«

»Gut erkannt. Es unterscheidet nicht zwischen menschlicher Seele und dämonischem Geist; wozu sollte es auch, gewöhnlich gibt es keine Menschen in seinem Lebensraum. Es verzehrt einfach. Unaufhaltsam. Wenn alles verschlungen ist, stirbt es – und lässt nichts zurück. Das ist der Fluch der Mistel.«

»Nett.« Dante stellte sich gar nicht erst unbeeindruckt. Noch immer erwärmte sich das Silber in seiner Hand nicht. Er drehte den Dorn und betrachtete die Spitze von nahem; dann prüfte er sie versuchsweise mit der Fingerkuppe. Beiläufig fragte er: »Würde irgendwas passieren, wenn man mich damit sticht? Ich bin ein Hybrid – also wahrscheinlich nicht?«

Roger sah zu, wie Dante mit der Mistel spielte, zog missbilligend die Brauen zusammen und erklärte: »Ganz im Gegenteil. Da du zur Hälfte ein Dämon bist, würde der Fluch sowohl deinen Geist als auch deinen Körper tilgen. Ein äußerst langsamer und qualvoller Tod.«

»Oh.« Dante hielt inne, dann zuckte er die Achseln und gab Jin die Mistel zurück. »Okay. Nein, danke.« Es gab heldenhaftere Arten zu sterben.

»Strenggenommen ist es eins der wenigen Mittel, um jemanden wie dich zu töten, Dante«, grinste Roger. »Mit deinen Fähigkeiten bist du so mächtig, dass dich niemand aufhalten könnte, wenn du es darauf anlegtest. Nur ein so starker Fluch, der einen Teufel vollständig zerstören kann, wäre dazu in der Lage, nicht wahr?«

Jin sinnierte: »Der Tod zerstört den Körper, lässt aber die Seele intakt. Der Fluch tut das Gegenteil.«

»Sehr richtig.«

»Du ziehst das nicht wirklich in Erwägung, oder?«, fragte Dante ihn skeptisch. »Dich mit der Mistel exorzieren zu lassen?«

Jin schwieg.

»Yuri aufzuscheuchen ist eine Sache, aber du willst das nicht ernsthaft durchziehen.« Dante hatte vollstes Verständnis für Yuris Horror vor dieser Maßnahme. Seiner eigenen Meinung nach war die Seele – die richtige Seele – das, was Menschen von Dämonen unterschied. Yuri wusste das auch, aber Jin offenbar nicht.

»Die Frage ist, wie man es macht«, wich Jin aus. »Ich habe keinen … Exorzisten.«

»Den brauchst du auch nicht zwingend«, erklärte Roger. »Es stimmt natürlich, dass Exorzisten darin geschult sind, ihren Willen genauso zu bündeln, dass ein Instrument wie die Mistel ihnen gehorcht … aber auch andere Menschen mit genug Willenskraft sind unter Umständen dazu in der Lage.«

»Ich verstehe«, murmelte Jin.

Dante legte die Stirn in Furchen. Er hatte geglaubt, bei der Präsentation dieser Möglichkeit wäre es einzig und allein darum gegangen, Yuri unter Druck zu setzen. Warum löste Roger das nicht auf? »He, Kazama, wie kann dir das irgendwas nützen? Wenn du alles vergisst und nutzlos durch die Welt kriechst, bist du ein gefundenes Fressen für alle, die dir ans Leder wollen.«

»Im Gegenteil. Sie werden jegliches Interesse an mir verlieren«, entgegnete Jin. »Allerdings …« Seine weiche Stirn legte sich in Falten. »… kann ich dann meine Mission, die Mishimas auszurotten, nicht zu Ende bringen. Dante …«

Der Teufelsjäger ahnte, was jetzt kommen würde. »Was?«

»Kannst du das für mich tun?«

»Deinen Vater und deinen Großvater umlegen? Vergiss es.«

»Bitte. Versprich es mir. Fordere, was du willst.«

Dante blieb ruhig, obwohl seine Aggressionsschwelle so gut wie erreicht war. »Nein«, sagte er. »Ich bin Dämonenjäger, kein Auftragsmörder. Kommt das bei dir irgendwie nicht an? Such dir wen anders.«

Jin fixierte ihn unausgesetzt mit seinen harten Augen; ein Verhalten, das vielleicht seine Gegner im Kampfring einschüchterte, aber nicht Dante.

»Es nützt nichts, mich so anzusehen. Ich ziehe nicht los und ermorde deine Sippe, egal wie niederträchtig die Typen sind. Dazu bin ich nicht da. Ich töte nur dann Menschen, wenn sie sich mit Dämonen verbündet haben. Oder deren Kräfte zum Bösen einsetzen.«

»Oh, gut«, knurrte Jin, »dann weißt du sicher noch, dass mein Vater einen Seelenpakt mit Devil geschlossen hat!«

»Schön, dass du dir das Wort Seelenpakt gemerkt hast. Hab ich je von deinem Vater gehört? Nein. Hat er schon versucht, die Menschheit zu versklaven? Nein.« Dante schnaubte, aber er entfaltete die Arme, um etwas weniger Abweisung zu vermitteln. »Jin, er ist dein Vater. Das ist deine Familie. Gibt es wirklich keinen anderen Weg für dich?« Abwartend sah er dem Jüngeren ins Gesicht – irgendwo musste doch da noch eine Regung sein –, doch Jins Züge wurden bei dem Wort ›Familie‹ bestenfalls noch kälter.

»Ich habe nie jemanden mehr gehasst als diese beiden Männer. Sie sind nicht meine Familie. Ich habe keine Familie mehr.«

Das war ein Statement. Deutlicher musste jemand wie Jin nicht werden. Vielleicht war es an der Zeit, ihm eine andere Perspektive zu eröffnen.

Unvermittelt sagte Dante: »Ich hab meinen Bruder getötet.«
 

Die Botschaft sank ein.

Jins bemüht entschlossene Miene durchlief ein Flackern. »Was?«, fragte er schwach.

»Meinen Zwillingsbruder«, fuhr Dante fort. »Vergil. Ich hab ihn getötet.« Ihm wurde klar, dass er diese Worte noch nie in dieser Reihenfolge ausgesprochen hatte. Ich hab Vergil getötet.

»Warum?«

»Er war ein Dämon geworden. Wurde verführt. Es gab keinen anderen Weg.«

Jin wandte den Blick nicht ab. Er hielt weiter seine dunklen, harten Augen auf Dantes gerichtet. Endlich sagte er: »Glaubst du, das erschreckt mich?« Sein mitgenommener Ton strafte die Worte Lügen.

»Es wäre schlimm, wenn nicht.«

»Ich habe meinen Urgroßvater aus dem gleichen Grund getötet. Heihachi hatte ihn unter Hon-Maru eingekerkert und verhungern lassen. Kannst du dir das vorstellen? Ein böser Geist nahm seinen Körper in Besitz und befreite ihn … Er war immer noch dort unten, niemand hatte jemals nach ihm gesehen!« Jin schrie ihn jetzt beinahe an. Dante ließ ihn. So laut zu werden war sehr ungewöhnlich für Jins verschlossenes Gemüt, und angenehm auch nicht. »Ich tötete ihn, weil er mich anflehte! Du hast keine Vorstellung davon, wie grausam meine Vaterlinie ist!«

Dante hielt weiter seinen Blick mit dem Rücken an der Felswand lehnend, die Arme verschränkt. Eine solche Enthüllung hatte er nicht kommen sehen.

»Du siehst also, wie leicht das geschieht«, fuhr Jin fort, wieder deutlich beherrschter. »Mein Vater verfiel dem Bösen, dein Bruder ebenso … Alle von ihrer dämonischen Seite aufgezehrt!« Er hielt inne, und dann wandte er sich plötzlich Roger Bacon zu. »Roger«, sprach er den Mönch an, »was wurde aus Yuris Vater? Warum wissen wir nichts über ihn?«

Traurig antwortete Roger: »Ich schätze, Yuri hätte es euch an dieser Stelle sowieso erklärt … Seinen Vater hat das Schicksal ereilt, dem er selbst nur knapp entgangen ist. Er ging eine Fusion mit einem Wesen ein, das er nicht beherrschen konnte, und musste von seinem engsten Freund vernichtet werden.«

Das war offenbar alles, was Jin hatte hören müssen. »Dann ist die Gefahr zu groß. Ich möchte nicht als ein Monster enden … wenn ich nicht schon eins bin.«

Seine Hand mit der Mistel hing unbeansprucht herab; nun hob er sie erneut vor die Augen. Dante konnte nicht leugnen, dass auch ihm der kalte Glanz des Werkzeugs ein gewisses leises Grauen einflößte. Yuri hatte Recht: Es war ein schreckliches Ende, seine Seele zu verlieren – fühlen zu müssen, wie sie zerfressen wurde. Doch Jin hatte keine Optionen. Devils Reflexe waren zu stark, selbst betäubt mit Traumkraut würde er alle verfügbaren Kräfte freisetzen, um seinen Wirtskörper am Leben zu halten. Jin würde nicht warten, bis es zu spät war – bis er so viele Leben genommen hatte, dass jemand wie Dante kam, um das zu beenden, was er selbst nicht bewerkstelligt hatte. Er würde rechtzeitig die Entscheidung treffen.

Sinnierend starrte Dante auf die Mistel. Er hatte erwartet, Jin mit seinem Anstoß in eine andere Richtung zu bewegen, doch das hatte nicht funktioniert. Und da er nicht tun wollte, worum Jin ihn bat – die Mishimas beseitigen –, würde Jin wohl jemand Anderen finden, der das tat. Auch auf die Gefahr hin, dass er sich der Zuverlässigkeit dieser anderen Person nicht gewiss sein konnte.

Wenn Kazuya Mishima, oder wie Jins Vater hieß, wirklich einen Seelenpakt geschlossen hatte …

»Hey!«, hallte plötzlich Yuris Stimme schneidend von nebenan herüber. »Leute! Kommt her, schnell! Ich glaub, mich tritt ein Pferd!«

Jin sah Dante und Roger an, unschlüssig.

Schließlich fragte Dante ohne große Begeisterung: »Was ist?«

»Seid ihr taub?«, ereiferte sich Yuri von drüben. »Bewegt eure Ärsche! Er war hier, verdammt! ER WAR HIER!«


Nachwort zu diesem Kapitel:
Gute Woche wünsche ich allen. Komplett anzeigen

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