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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das hat diesmal lange gedauert. Danke für die Geduld. Komplett anzeigen

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Akt XIV - Am Ende: 18-3

18-3: JIN
 

Seine Faust in dem lodernden Flammenhandschuh fand ihr Ziel nur Sekundenbruchteile nachdem Yuri gefallen war. Mitten in den rauchenden Rubin rammte er die geballten Fingerknöchel, wie er es bei Furfur getan hatte, und der Knochen gab nach.

Doch es war vorbei. Egal, was Jin jetzt noch tat – Azazel hatte Yuri besiegt. Alles begann sich aufzulösen, als ihre Seelen sich voneinander trennten. Die Fusion war zerrissen.

Das Letzte, was Jin sah, war, wie Azazel wieder zu Devil wurde – das Erstaunen, der Unglauben in der schwarzen Fratze –, dann erfüllte ihn aufs Neue das Gefühl furchteinflößender Körperlosigkeit, die Empfindung zu fallen, in alle Richtungen gleichzeitig – bis er abrupt irgendwo aufschlug. Sein Geist fand den Anker wieder, zu dem er gehörte, und schoss in diesen wieder hinein, mit der Macht einer Sturmflutwelle.

Die Realität war wie ein Hammerschlag. Alles schmerzte. Er atmete hastig, jeder Zug schien Dornen in seine Körpermitte zu treiben.

Als er es endlich schaffte, die Augenlider zu heben, sah er Nina; ihr gewohnt unbewegter Blick ruhte auf ihm, argwöhnisch. Ihre Wangen waren dunkel von Schlamm, das blonde Haar dreckverklebt. Sie sah auf, als schlanke, dunkle Beine sich neben sie schleppten – Trish. Dantes Partnerin war genauso voller Matsch, ihre Kleidung war stellenweise verbrannt, das Leder rauchte über dem Ausschnitt leicht, und das Fleisch darunter … Jin hatte noch nicht die Kraft, entsetzt darüber zu sein. Wortlos streckte Nina Trish die Hand entgegen, und die schwer verletzte Dämonin nahm sie nach kurzem Zögern und ließ sich auf die Erde ziehen.

»Er ist wieder da«, stellte Trish mit Blick auf Jin erschöpft fest. Ihre strahlend blauen Augen verschwammen, als Jin mit der Müdigkeit kämpfte. »Scheint, als wäre er in Ordnung.«

Dantes Stimme meldete sich aus einiger Entfernung. Sie klang … ungewöhnlich. »Trish? … Bist du okay?«

Sie stöhnte leise. »Wie oft muss mich noch ein Blaster treffen, bis du einsiehst, dass ich das überleben kann?«

Dante sagte nichts.

»Was hast du da eigentlich gemacht, wenn ich fragen darf? Ein Nickerchen?«

Dante sagte immer noch nichts.

Jin atmete so tief ein, wie es möglich war, ohne dass er wieder ohnmächtig wurde, dann zog er die Unterarme an, um sich darauf zu stützen. Sein ganzer Körper war seltsam taub, die Muskeln gehorchten nur schwerfällig – er fragte sich, warum dann überhaupt etwas wehtun konnte.

Sofort als er sich hochzustemmen versuchte, fassten auf jeder Seite ein Paar Hände nach seinen Schultern. Die beiden Frauen stellten ihn auf die Füße und ließen ihn los, sobald sich abzeichnete, dass diese ihn tragen würden. Doch als er dann tatsächlich sein ganzes Gewicht auf seine Beine lud, raste ein Schmerz durch seine Unterschenkel bis zu den Knien und zurück. Er stöhnte auf, blieb aber stehen; die vielen Hände, bereit, ihn wieder zu halten, kamen ihm nicht zu nahe.

»Sorry«, sagte Trish. »Dante musste die roten Patronen gegen Devil einsetzen. Seine Schmerzen scheinen sich auf dich übertragen zu haben.«

Endlich kam Dante zu ihnen getrottet, trat vor Jin und betrachtete ihn von oben bis unten. Auch er sah ziemlich mitgenommen aus. »Du lebst, wie ich sehe.«

Jins Blick zuckte hoch, als auch der letzte Teil seines Verstandes wieder einrastete. »Yuri …« Er wollte losstürzen.

Dante hielt ihn am Arm fest. Gott, wie er das hasste. »Stopp, Kazama. Lass uns nach –«

»Wo ist er abgestürzt?«

»Da drüben, bei den Felsen. Konnte noch ein gutes Stück flattern, bevor –«

Jin umschloss Dantes Handgelenk mit der freien Hand so fest, dass es unmöglich nicht wehtun konnte, und löste dessen Finger von seinem Arm. Dabei sah er, dass auf diesem Devils Zeichen freigelegt war. Unverändert.

Niemand protestierte mehr, als er loslief. Sein Körper erholte sich rasant von der neuen Erfahrung, und Jin forderte von ihm Gehorsam ein. Nur Augenblicke später schlossen die anderen Drei zu ihm auf.
 

Yuri lag zwischen zwei Felsen, totenblass. Für Jins Ankunft konnte er keine Aufmerksamkeit erübrigen: In einer zitternden Hand hielt er die Taschenuhr und starrte sie mit schreckweiten Augen an. Jin konnte kaum erkennen, was ihn so entsetzte, doch dann sah er schwach die Bewegung auf dem hellen Ziffernblatt: Die Zeiger waren zu schnell. Der Sekundenzeiger raste, umrundete die Bahn so rasch immer wieder, dass der Minutenzeiger seinen Platz eingenommen hatte und in Sekunden vorrückte.

»Nein«, ächzte Yuri, »nein.« Kraftlos schlug die Uhr gegen den Felsen, einmal, noch einmal, bis Jin sich vorbeugte und seinen Arm ergriff. »Nein, bleib stehen, du Scheiß– …«

»Hör auf.«

»Meine Zeit läuft ab!«, jammerte Yuri. »Wenn sie auf zwölf landet, war alles umsonst!« Er stemmte die Hände gegen den Stein und rollte sich keuchend auf den Rücken. Sein Shirt war längs aufgetrennt, der Stoff durchtränkt von Blut.

Jin schluckte Kälte. Der Alptraum wurde wahr.

»Ich hatte keine Wahl mehr«, sagte Dante gefasst hinter ihm.

»Das warst nicht du. Es war Devils Laser.«

Unvermittelt brach Yuri in ein abgehacktes Lachen aus. »Ist mir scheißegal, wer das war. Mir läuft die Zeit davon!« Und er streckte die Hand mit der Amok laufenden Uhr nach ihnen aus.

Jin verlor keine Zeit. Er kniete sich neben Yuri, ungeachtet des Gemischs aus Schlamm und Blut, in dem er lag, schob die Arme unter ihn und hob ihn auf. Trish und Nina flankierten ihn sofort, und Dante lief voraus über das Grasland und hielt Ausschau – eine Maßnahme, die sofort belohnt wurde, denn er rief: »Roger! Wo hast du gesteckt?«

Jin sah die kleine Gestalt schemenhaft im Dunkeln näher huschen.

»Keine Zeit!«, krächzte der Mönch. »Schnell, mir nach!«

Jin umfasste Yuri fester, der schmerzerfüllt aufstöhnte, und beschleunigte mit seiner Last im Arm in den Laufschritt. Roger konnte rennen wie ein Hase.

Im Rennen beugte sich Jin über Yuris Ohr. »Warum?«

Yuri hatte ihn tatsächlich gehört. »Weil … der Fluch meine Seele auslöschen wird, egal wo, egal wann ich bin … Die Flucht hierher ist … auch nur geliehene Zeit … Was auch immer für ein Zauber mich in dieses Jahr geschossen hat, er endet jetzt, und dann ist meine Chance vertan … Verstehst du? Ich kann nur etwas ändern, wenn ich … noch mal starte …«

Jin verstand nicht. Offensichtlich war Yuri schon halb im Kreislaufschock, seine Stimme wurde dünn, seine Mimik maskenhaft, und was er sagte, ergab keinen Sinn.

»Du bist nicht böse … Azazel wird dich nie in etwas verwandeln, das du nicht bist.«

Jin antwortete nicht. Er spürte einen Stich von Schuld.

»Du musst am Leben bleiben, weil du … nämlich die … Katastrophe verhindern kannst.« Yuri hustete kurz und ließ es sofort wieder sein, weil es offenbar zu schmerzhaft war. »Jin, ich hab mich geirrt. Du bist nicht schwach. Du hast ja auch … zweimal die Welt gerettet, vor Toshin … und vor dem Geist deines Urgroßvaters. Und du wirst sie … glaub ich … noch mal retten … auch wenn der Weg dahin bestimmt scheiße ist. Das ist er immer.«

Jin hatte keine guten Erfahrungen damit gemacht, Menschen zu vertrauen. Seine jüngsten Erfahrungen in Amerika und Europa hatten dieses Bild nicht verändert; Sarris und selbst Dante hatten ihn in dieser Hinsicht erneut enttäuscht. Dass Yuri sich jetzt für ihn geopfert hatte – und ihm, wie selbstverständlich, bedingungslos vertraute –, verwirrte Jin. Er war überfordert mit diesem Verhalten, so etwas hatte er nicht kennen gelernt. Dieses seltsame Gefühl des … Angenommenseins? … war es womöglich gewesen, das die Stimme des Dämons in seinem Kopf abgeschwächt hatte, das Böse in ihm weiter unterdrückt hatte, als nach der Befreiung des Geistes aus Hon-Maru Jun Kazamas Schutz von ihm abgefallen war wie eine zerschmetterte Rüstung. Azazel hatte keinen Zugang zu Jins Moral und Überzeugungen gefunden, weil … weil Jin daran erinnert worden war, dass es Menschen gab, denen er etwas bedeutete. Erst jetzt dachte er wieder an sie; es mochten weniger sein, als er Finger an den Händen hatte, doch sie glaubten an ihn.

Schweigend trug er Yuri weiter. Er hätte ihn bis ans Ende der Welt getragen.

Yuri sagte jetzt nichts mehr. Er war mit Atmen genügend beschäftigt. Ein dunkles Rinnsal sickerte aus seinem Mundwinkel, ein Zeichen dafür, dass Blut in seine Lungen lief.

Er würde ganz sicher sterben.
 

Roger führte sie auf direktem Wege, über Felsen und durch Schlammpfützen, zurück Richtung Aberystwyth, wo auf dem Hügel vor der Seepromenade das kleine Café thronte. Das Häuschen auf der Anhöhe war nicht zu übersehen: Sein Dach stand in Flammen, und der Feuerschein erhellte die Nacht wie ein irrwitziger Leuchtturm.

Bereits von weitem war zu sehen, dass Roger am Fuße des Hügels die jämmerlichen Überreste seines Teleporters wieder aufgebaut hatte. Der kleine Mann musste schwer geschuftet haben, während der Rest von ihnen gegen Devil kämpfte, immer im Hinterkopf, dass seine Mühen vergeblich sein mochten. Sie konnten es noch schaffen. Jin sah das aufgetürmte Gerümpel in der Ferne, und er stolperte fast, als Roger vor ihm scharf bremste.

Der kleine Mann fuhr herum. »Jin! Ich habe noch eine Aufgabe für dich.«

»Was?« Das passte Jin nicht besonders. Er hatte einen sterbenden Mann auf den Armen und wollte gerade nichts mehr, als ihn in Sicherheit zu bringen.

Roger wies mit dem Gehstock auf die Hügelkuppe, wo das Caféhäuschen hell durch die Finsternis loderte wie eine Fackel. »Sarris hat sich dorthin zurückgezogen. Er ist besiegt, keine Sorge, aber er klammert sich auch jetzt noch an seine Hoffnung – und er hat noch einiges, das uns gehört.«

Jin schnaubte unwillig.

»Um die Tore der Zeit zu öffnen und Yuri dorthin zurückzuschicken, wo er hingehört, brauchen wir die Émigré-Schrift.«

»Darum kann sich Dante kümmern, er kennt Sarris persönlich.«

»Außerdem«, fuhr Roger fort, den Einwand überhörend, »hat er die vierzehn Seiten bei sich, die dringend vernichtet werden müssen, diesmal endgültig. Und er hat die Heilige Mistel.«

Jin verstand. Roger wollte nicht, dass Dante das Exorzismus-Artefakt berührte; anscheinend traute er nur Jin zu, achtsam damit umzugehen.

»Gut, ich gehe.« Jin drehte sich um; Dante war hinter ihm und streckte bereits die Arme aus, um ihm Yuris schon beinahe schlaffen Leib behutsam abzunehmen.

Sobald Jin von dem Gewicht befreit war, stürmte er vorwärts, die Anderen zurücklassend, den Hügel hinauf und geradewegs auf das kleine brennende Häuschen zu.
 

Kein Wort war darüber verloren worden, was Jin mit Sarris machen sollte. Niemand schien einen Plan für diesen bedauernswerten, fehlgeleiteten Mann zu haben. Nicht einmal Dante hatte darum gebeten, ihm zu helfen. Und Jin würde es nicht tun. Er hatte vor, Sarris seinem Schicksal zu überlassen. Es gab nichts, das er noch für ihn tun konnte oder wollte.

Als er oben ankam, sah er, dass das Dach des Cafés zwar brannte – genaugenommen nur ein Teil des Giebels –, dass das Innere des Häuschens jedoch vom Feuer nicht betroffen war. Der nächste Regen würde die Flammen bald löschen; sie stellten keine Gefahr mehr dar.

Jin schob die Tür auf. Innen roch es ein wenig verbrannt, aber nicht sehr. Die Elektrizität funktionierte nicht. Der Schein von draußen musste genügen.

Aidan Sarris saß an einem der Tische, als würde er geduldig auf eine unlängst getätigte Bestellung warten. Seine Schultern waren herabgesunken, und er schaute nicht hoch, als Jin an ihn herantrat. Er sah aus wie jemand, der nach einem langen und verlustreichen Kampf endlich eingesehen hatte, dass er besiegt war.

Unvermittelt begann er zu sprechen. »Bist du hier, um mich zu töten, Jin Kazama?«

»Nein.« Jin hatte weder Zeit noch Kraft dafür übrig. »Es gibt genug Andere, die ich töten muss. Diese Liste darf nicht noch länger werden. Ich bin hier, um die Émigré-Schrift zu holen und die gestohlenen Seiten zu vernichten.«

»Oh, und wir wissen natürlich beide, dass du das tun wirst.« Sarris schüttelte den Kopf. »Du weißt, Azazel ist und bleibt deine einzige Chance, dein Schicksal zu verändern. Ich habe verloren … aber du kannst immer noch versuchen, dein böses Blut loszuwerden.«

Jin schwieg, starrte nur auf das, was zwischen Sarris’ reglosen Händen auf der Tischplatte ruhte: die Heilige Mistel, blank glänzend in ihrer ganzen Abscheulichkeit.

Doch sie war es nicht, von der Sarris sprach.

»Tu es, Jin. Wenn das Leid auf der Welt groß genug ist, werden Zeichen erscheinen … und dann ist es an dir, Azazels Grab in der Wüste zu suchen und ihn aus den Tiefen heraufzubeschwören …«

»Gib mir die Seiten«, sagte Jin ruhig.

»Natürlich.« Sarris griff in die Tasche seiner Jacke. Sie war auf dieser Seite vom Feuer stark angesengt. »Hier.« Er legte das Bündel auf den Tisch und schob es Jin zu. »Du wirst sie brauchen.«

»Wohl kaum.« Jin schob sich die Seiten unter den Arm. »Und jetzt das Émigré-Manuskript.«

Auch dieses förderte Sarris bedächtig zutage und legte es auf den Tisch, und Jin griff fast gierig danach. Der schädelförmige Kodex schien unter seinen Fingern zu brennen.

»Warte«, sagte Sarris, als Jin schon im Begriff war, sich von ihm abzuwenden. »Eins solltest du noch wissen. In der Prophezeiung – ich weiß nicht, ob du sie kennst – heißt es, derjenige, der Azazel aus den Tiefen holt, wird ein Mann mit dem Herzen eines Dämons sein.«

Jin hielt gegen seinen Willen im Schritt inne.

»Diesen Mann wollte ich mir zunutze machen, um Selina zu holen. Ich glaubte, es wäre Dante. Ein Mann mit Dämonenblut, was läge näher? Aber als ich ihn näher kennen lernte, wurde mir klar, dass er keine Ahnung hatte, was ich von ihm wollte. Und er sabotierte meine Pläne – so hartnäckig, dass er nicht dieser Mann sein konnte. Später las ich über den Gottesschlächter, und zu viel von dem, was ich verfolgte, war mit seinem Schicksal verknüpft … Wie konnte er einen Gott erschlagen ohne Teufelskräfte? Ein Übermensch, ein ebenso guter Kandidat. Aber dann … als ich dir in der Kirche in Hallow Hills begegnete, Jin … wurde mir klar, dass du es bist. Du, der Azazels Blut trägt. Du bist das Dämonenherz, von dem die Rede war. Der dunkle Stern.« Erst jetzt sah Sarris ihn direkt an, und ein schwaches, trauriges Lächeln verzerrte seine Züge. »Seltsam, oder? Gleich mehrere kommen in Frage, bei einigen ist es überdeutlich … doch am Ende ist es der unscheinbarste von allen.«

Jin sah ihn hasserfüllt an. »Dann ist es nicht wahr, dass ich der Einzige bin, der Azazel töten kann. Das war eine Lüge.«

»Vielleicht«, sagte Sarris ruhig. »Aber du bist der einzige Mensch, der es kann. Dante zählt nicht dazu, und der Gottesschlächter sollte in der heutigen Zeit gar nicht existieren. Gut möglich also, dass jeder von euch Azazel töten könnte. Aber … du bist derjenige, der es tun sollte

Jin schüttelte den Kopf und versuchte zum zweiten Mal, sich abzuwenden. Er brauchte keine Lügen mehr.

»Du hast eine Rechnung mit Azazel offen«, fuhr Sarris fort, »die Anderen nicht. Lass dir diesen Kampf nicht wegnehmen.« Jin hörte nicht mehr zu. Nur noch aus dem Augenwinkel sah er die plötzliche Bewegung, die Sarris’ leidenschaftlichem Appell folgte. Der gebrochene Mann hatte die Heilige Mistel vom Tisch aufgehoben. »Ich dagegen … ich lebe nicht länger mit dem Schmerz.«

Jin fuhr herum. »Nein – !«

Womöglich hätte er schnell genug sein können. Hätte dazwischen greifen, Sarris’ Hand beiseite schlagen oder ihm das Artefakt entreißen können. Doch sein Wille sperrte sich. Er sah hin, hob aus Reflex die Hand – die einzige Anteilnahme, die er noch aufbringen konnte –, und war zu langsam. Die funkelnde Spitze senkte sich durch den Hemdsstoff in die Brust des Mannes. Sarris’ wusste, wie man die Mistel einsetzte, es war völlig logisch; er hätte es die ganze Zeit tun können. Jin kniff die Augen zusammen und riss beide Arme vor die Augen, als ein gleißendes Licht aus dem Dorn hervorbrach, das den ganzen Raum erfüllte.

Sekundenlang war Jin geblendet. Zitternd und mit rasendem Herzen stand er vor Sarris’ Tisch, ohne etwas zu sehen; dann drehte er um und stolperte blindlings vorwärts, dorthin, wo er die Tür vermutete, durch die er hereingekommen war. Er wollte nicht warten, bis seine Sicht sich klärte. Er wollte nicht sehen, was der Fluch mit Sarris gemacht hatte, mit einem Mann, der keinen Puffer hatte wie Yuri. Wollte nicht sehen, wie jemand aussah, dessen Seele und Erinnerungen von einer außerirdischen Substanz zerfressen wurden.

Jin floh nach draußen. Dort klammerte er sich an das Geländer und atmete ein paar Mal tief gegen die aufsteigende Übelkeit an.

Es hatte zu regnen begonnen. Kleine, dichte Tropfen fielen kalt auf seine Wangen, kühl und lindernd. Jin bezwang das Krampfen in seinen Gliedern. Seine Fassung kehrte zurück, sein Atem wurde wieder gleichmäßiger. Später würde er sich dem Entsetzen hingeben; nicht jetzt. Zeit war etwas, das weder er noch Yuri hatte.

Als er die Augen öffnete, sah er in der Ferne, verteilt auf den Felsen, viele Menschen stehen. Sie waren sämtlich dunkel gekleidet, standen feierlich dort versammelt und schienen ihn zu beobachten. Ihn – oder eher das, was gerade passiert war. Nach nur wenigen Sekunden begannen die dunklen Gestalten einander zuzunicken und sich abzuwenden. Sie hatten gesehen, was sie sehen wollten. Ihr Ziel war erreicht; sie konnten diesen Ort verlassen, in ihren gewohnten Wirkungskreis zurückkehren – und wieder das sein, was sie vor vielen Jahrzehnten gewesen waren, bevor Rasputin sich an ihre Spitze gesetzt hatte: eine friedliche, Wissen sammelnde Geheimgesellschaft.

Jin wandte den Blick nach oben. Das Feuer auf dem Dach flackerte noch schwach. Heiß genug.

Eine letzte Aufgabe war noch übrig für ihn.

Aus dem Hemdsärmel zog er das Bündel der vierzehn Seiten. Nach allem, was sie hatten überstehen müssen, waren sie ein nur noch schwer leserlicher Pergamentwust, beschrieben mit Symbolen, deren Bedeutung nie ein Mensch begreifen würde.

Jin zögerte nicht länger. Azazel lebte von der Bosheit der Menschen – wer ihn entfesseln wollte, musste der ganzen Welt Gewalt antun. Diese Seiten waren der Schlüssel zu unermesslichem Horror, zu Tod und Elend und Grauen weit jenseits davon. Azazel würde die gesamte Menschheit versklaven.

Jin drückte die Seiten fest. Er wusste, was er zu tun hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Und ich glaube, wir alle wissen, was das ist. ._.
Die ursprüngliche Plotidee (vor so 100 Jahren) war, dass Jin Sarris tötet, weil der ihn benutzt hat wie so viele andere. Das erschien mir dann aber zu sehr OOC, auch wenn Jin jetzt diese harte Wandlung durchmachen wird, die wir aus Tekken 6 kennen.

Danke an alle fürs Lesen und ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen

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