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Schwanenlied

London: Law&Noir
von

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Ein langer, schmaler Finger drückte auf einen bronzefarbenen Klingelknopf, welcher in der Mitte eines aufgesperrten Löwenmauls saß. Toko und Richard sahen neugierig die Fassade des Hauses hinauf vor dessen Eingangstür sie nun warteten. Efeu rankte sich überall hinauf. Nur die großen Fenster waren sorgfältig frei gelassen worden. Auch die Büsche, welche am Rand der Fassade wuchsen wirkten ordentlich beschnitten. Da öffnete sich auch schon die weiße Tür. Eine ältere, aber sehr gepflegt wirkende Frau stand in der Öffnung und musterte mit einem freundlichen Lächeln ihre Besucher.

„Guten Tag, Mrs Gent?“, fragte Richard und streckte eine Hand aus. Charlotte Gent ergriff sie und schüttelte sie fest.

„Ja, ich bin Charlotte Gent. Sie müssen Mr Byron sein.“

„Genau und das ist meine Assistentin Miss Seijō. Sie hatte uns angekündigt.“ Und Mrs Gent schüttelte auch Tokos Hand und bat beide ins Haus. Sie geleitete sie durch den großzügigen Flur und in einen gemütlichen Raum voller Polstermöbel, Kissen und Bücherschränken. Alle Möbel wirkten sehr alt und kostbar. Und waren sehr gut gepflegt. Mrs Gent schenkte Tee für alle ein und stellte einen Teller mit offensichtlich selbst gebackenen Scones und Erdbeermarmelade auf den kleinen Holztisch.

„Sind ihre Nichte und ihr Neffe auch im Haus?“, fragte Richard und öffnete seine Aktentasche.

„Ja, ich habe beide gebeten in ihren Zimmern zu bleiben. Sie sagten ja, dass sie zunächst mit mir allein sprechen wollen. Ich nehme an es geht um das Erbe der Beiden“, sagte Mrs Gent und nippte an ihrem Tee. Richard nickte und zog einen schmalen Ordner heraus.

„Genau. Sir Redvers hat genaue Anweisungen hinterlassen, weswegen ich Ihnen ein paar Fragen stellen möchte.“ Er gab die Aktentasche an Toko weiter, welche sie neben sich auf das Sofa stellte.

„Nur zu“, lächelte Mrs Gent weiter.

„Kannten Sie Sir Redvers gut?“, fragte Richard.

„Nein, das würde ich nicht sagen. Wir sind uns nicht häufig begegnet. Und nachdem meine Schwester Isabella und ihr Mann Patrick gestorben waren, habe ich ihn nur noch einmal im Jahr zum Weihnachtsessen zu Gesicht bekommen.“

„Wissen Sie, dass er Ihnen nichts vermacht hat?“, fragte Richard weiter. Mrs Gent lachte leise.

„Aber natürlich. Warum sollte er auch? Ich bin gut selbst versorgt. Peter hat mir jeden Monat eine Summe für die Kinder überwiesen, aber ich habe nichts davon angerührt. Es liegt auf getrennten Konten auf der Bank. Jonathan bekommt in zwei Jahren, wenn er fünfundzwanzig wird seinen Anteil und Abygail in vier Jahren. Ich denke das wird eine nette Überraschung.“

„Wie ist das Verhältnis der Erben zu ihrem Großvater gewesen?“, fragte Richard weiter. Toko hatte angefangen sich ein Scone mit Marmelade zu bestreichen, hielt aber ihre langen Ohren weiterhin gespitzt für jedes Wort.

„Hmm... das ist etwas schwerer zu beantworten“, zögerte Mrs Gent und nahm einen Schluck Tee. „Ich denke Johnny war ihm recht gleichgültig gegenüber. Auch auf der Beerdigung war er eher am Leichenschmaus interessiert. Aber er ist nun mal ein junger Mann. Hat den Kopf voll mit den Damen und der Universität. Und sie haben nicht viel Zeit miteinander verbracht. Ich denke nicht, dass es ihm egal ist, dass nun auch sein Großvater gestorben ist.“ Mrs Gent hielt gedankenverloren inne.

„Und wie ist es mit ihrer Nichte?“, fragte Toko freundlich. Mrs Gent blinzelte und schien wieder in die Gegenwart zurück zu kommen.

„Ach ja, Abby mochte Peter sehr. Das weiß ich sicher. Sie hat auf der Beerdigung viel geweint, aber sie ist generell nah am Wasser gebaut, müssen Sie wissen. Die Familie bedeutet ihr viel und nachdem sie nun so früh ihre Eltern verloren hatte, da wollte sie wohl das Band zu ihrem Opa aufrechterhalten. Ich weiß nicht was Peter dazu gesagt hat, dass sie so oft zu ihm wollte, aber er hat es auch nicht verboten.“ Mrs Gent goss sich noch einmal aus der bauchigen Teekanne nach und sah Richard mit freundlicher Aufforderung wieder an.

„Wann haben Sie Sir Redvers das letzte mal lebend gesehen?“, fragte Richard und trank nun ebenfalls einen Schluck seines inzwischen kalten Tees. Toko überlegte ob ihr Boss überhaupt wusste wie Sachen schmeckten, wenn sie warm oder heiß waren.

Mrs Gent überlegte kurz. „Nach unserem Weihnachtsessen tatsächlich nicht mehr. Ja, als wir uns am 26. Dezember verabschiedeten, da sah ich ihn zum letzten mal. Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Weihnachten sein würde, hätte ich mir bei der Suche nach seinem Geschenk mehr Mühe gegeben.“ Die alte Dame lachte leise. „Oh verzeihen Sie bitte. Ich will nicht pietätlos wirken. Peter und ich haben oft kleine Scherze über sein Alter gemacht“, fügte sie schnell hinzu.

„Gut, noch eine letzte Frage, wenn Sie erlauben“, sagte Richard ohne die Mine zu verziehen. „Hatte Sir Redvers irgendwelche Feinde, von denen Sie wissen?“ Mrs Gents Augen wurden groß.

„Feinde? Ich glaube nicht. Gibt es wirklich Leute die richtige Feinde haben? Ich hielt das immer für ein Klischee aus Krimis“, erwiderte sie verwundert.

„So selten ist das tatsächlich gar nicht, Mrs Gent. Sir Redvers hat also nie etwas in der Richtung erwähnt?“, hakte Richard noch einmal nach. Mrs Gent schüttelte langsam den Kopf.

„Nein. Aber wie ich schon sagte, wir hatten kein enges Verhältnis. Vielleicht wissen die Kinder etwas darüber.“ Sie nahm ihre Tasse in die Hand und sah kurz in die dunkle Flüssigkeit. „Gibt es denn den Verdacht, dass Peter ermordet wurde?“, fragte sie schließlich leise und es kostete sie sichtlich Überwindung.

„Nein Mrs Gent. Dafür gibt es keinen Hinweis. Das gehört immer zu den Standartfragen“, erwiderte Richard beruhigend. „Ich denke das wäre es, oder?“, wandte er sich an Toko und sah sie fragend an. Toko nickte und wischte sich so gründlich wie möglich die Marmelade von ihren Fingern an der Serviette ab.

„Ja, könnten wir nun mit ihrem Neffen sprechen?“, fragte Toko und entnahm ein anderes Blatt Richards Aktentasche und reichte es ihm.

„Aber natürlich meine Liebe. Ich werde ihn holen“, sagte Mrs Gent und verließ den Raum.

„Was für eine freundliche Dame“, sagte Toko lächelnd und bestrich den nächsten Scone mit Marmelade.

„Ja allerdings. Ich hoffe wir erfahren heute noch irgendetwas verwertbares, denn bisher versteh ich nicht ganz warum Sir Redvers angenommen hat, dass er ermordet werden würde. Auch die Polizei hat keinerlei Verdachtsmomente finden können...“ Er schwieg kurz und musterte das Papier in seiner Hand. „Apropos. Erinnern Sie mich nachher, wenn wir im Büro zurück sind daran, dass ich noch mal Constable Brakmore anrufe.“ Toko nickte und notierte wieder etwas auf ihrem Block. Sie hörten Schritte sich dem Zimmer nähern und sahen erwartungsvoll zur Tür. Ein junger Mann trat ein, hochgewachsen und bekleidet mit kostspieliger Garderobe, was Toko sofort auffiel. Er hatte flammend rote, kurz geschnittene Haare und einen dazu passenden, sehr hellen Teint ohne Sommersprossen. Sein Gesichtsausdruck war recht mürrisch und er schloss die Tür hinter sich mit etwas mehr Kraft als nötig gewesen wäre. Richard und Toko erhoben sich.

„Mr Redvers?“, fragte Richard und streckte wie auch zuvor bei Mrs Gent seine Hand aus. Der jüngste, männliche Redvers Spross betrachtete seine Hand zögernd und schien zu überlegen, ob er sie wirklich schütteln sollte, tat es dann aber doch.

„Ja, ich bin Jonathan Redvers. Meine Tante sagte, Sie wollten mich wegen des Erbes meines Opas sprechen. Ich hoffe es geht schnell, denn ich habe heute auch noch etwas anderes vor“, sagte Jonathan kurz angebunden und setzte sich.

„Selbstverständlich werden wir Sie nicht länger aufhalten als es nötig ist Mr Redvers-“, fing Richard an, wurde jedoch plötzlich unterbrochen.

„Gut, also ersparen Sie mir einfach diese Auflistungen was der Alte mir so hinterlassen hat. Lassen Sie mir einfach eine Liste da und ich schau sie mir später an. Muss ich irgendwo unterschreiben?“ Richard und Toko warfen sich kurz einen Blick zu.

„Hier liegt ein Missverständnis vor Mr Redvers. Dies ist noch nicht die Testamentseröffnung. Der verstorbene Sir Redvers hatte noch ein paar Bedingungen gestellt, bevor es soweit ist, welche wir nun dabei sind abzuarbeiten. Deshalb sind wir hier, um ein paar Fragen von Ihnen und Ihrer Schwester beantwortet zu bekommen.“ Die bis eben noch blassen Wangen von Jonathan Redvers färbten sich rosa. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich zusehends. Sein Kiefer begann zu mahlen, als würde er nur mit Mühe Worte zurück halten können. Schließlich seufzte er, verdrehte die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück.

„Also gut, wenn die Sache dadurch schneller geht, dann stellen Sie Ihre Fragen“, blaffte er und sah Richard genervt an.

„Ich danke Ihnen. Also, wie nahe standen Sie Sir Redvers?“, fuhr Richard unbeeindruckt fort. Doch Toko wusste, dass es hinter der Stirn ihres Chefs bereits ratterte.

„Wie nah steht man jemanden, den man einmal im Jahr sieht?“, fragte Jonathan zurück. „Er hat sich nicht für mich interessiert, ich mich also auch nicht für ihn. Ende der Geschichte.“

„Wann hatten Sie Ihren Großvater das letzte mal gesehen?“, fuhr Richard fort.

„Weihnachten letztes Jahr. Jedes Weihnachten. Jedes Jahr. Zum Glück ist der Quatsch endlich vorbei“, seufzte Jonathan.

„Hat Ihr Großvater jemals mit Ihnen über sein Erbe gesprochen?“, fragte Richard einfach weiter, ohne auf Jonathans Erwiderungen einzugehen.

„Hmm... kaum. Mein Vater hat mir erzählt was alles unserer Familie gehört. Sie wissen schon, Land, Immobilien und so weiter. Das war kurz vor seinem Tot. Der Alte hat nie darüber gesprochen. Ich hab ihn einmal zu Weihnachten gefragt, ob es stimmt, dass nach seinem Tot alles mir gehören wird. Da hat er Ja gebrummt und dann seinen Plumpudding weiter gegessen. Das wars.“

„Gut, können Sie uns sagen wie das Verhältnis zwischen Ihrem Großvater und Ihrer Schwester war?“, fragte Richard weiter. Jonathans Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Grinsen und er schnaubte so laut, dass Toko fasst ihre Teetasse fallen ließ.

„Ach die kleine Abby. Hat fast schon verzweifelt versucht Opas Liebling zu werden. Es war eklig, wirklich.“ Und er imitierte ein Würgegeräusch. „Sie weiß natürlich, dass ich alles bekomme. Dad war da immer sehr deutlich. Und Abby dachte sich wohl, wenn sie sich mit Opa gut stellt, dann ändert er das Testament mehr zu ihrem Gunsten. Hat natürlich nicht geklappt, möcht ich wetten. Der Alte war begeistert von Traditionen und dem ganzen Schmu. Und ich sag Ihnen was.“ Jonathan lehnte sich nach vorn und sprach nun mit leiser und wie er wohl glaubte kumpelhafter Stimme. „Ich glaub der Alte war von ihrem Verhalten genauso angeekelt wie ich.“ Er feixte erneut und lehnt sich wieder zurück.

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit Mr Redvers. Ich denke, dass waren alle Fragen von unserer Seite, nicht wahr?“ Und wieder sah er Toko an, welche wie betäubt nickte, so sehr hatten sie die kalten Antworten des jungen Erben schockiert. „Hätten Sie noch Fragen an mich, Mr Redvers?“, fügte Richard höflich hinzu.

„Ja, wann wird diese Eröffnung vom Testament sein?“, fragte Jonathan sofort.

„Das kann ich Ihnen leider noch nicht genau sagen, ich denke aber diese Sache wird sich nicht länger als zwei Wochen hinziehen. Wir informieren Sie natürlich umgehend, sobald ein Termin feststeht.“

Jonathan grunzte sichtlich unzufrieden. „Na gut, wars das dann?“, fragte er sich schon halb von seinem Sessel erhebend.

„Ja“, antwortete Richard und erhob sich. Er reichte Jonathan die Hand zum Abschied, welche dieser nur kurz ergriff und dann aus dem Raum stürmte. Toko ließ sich mit zitternden Knien wieder auf das bequeme Sofa nieder. Ihr Blick suchte den von Richard, doch er starrte noch stirnrunzelnd die Tür an, durch welche Jonathan Redvers soeben verschwunden war. „Nun, das war doch recht aufschlussreich“, sagte er kaum hörbar. Er drehte sich zu Toko um. „Was halten Sie von ihm?“

Toko schluckte und zuckte mit ihren Ohren. „Nicht viel, um ehrlich zu sein.“ Sie wollte noch mehr sagen, doch da schlug mit einem lauten Knall die Eingangstür zu. Und kurz darauf röhrte der Motor eines Autos laut auf. Tokos Ohren lagen inzwischen eng an ihrem Kopf an.

„Tja, ich denke wir erfahren von Mr Redvers heute nichts mehr“, sagte Richard. In dem Moment öffnete Mrs Gent die Tür des Raumes.

„Ich habe gehört, dass Jonathan gegangen ist. Ich hoffe doch er hatte noch genug Zeit für Sie gehabt?“, fragte sie mit einem leicht entschuldigenden Lächeln.

„Aber ja Mrs Gent, wir haben alles erfahren was wir mussten. Würden Sie nun bitte noch Miss Redvers holen?“, fragte Richard höflich. Mrs Gent nickte und schloss die Tür wieder.

„Ich bin wirklich gespannt auf Abygail“, sagte Toko leise und zog den nächsten Zettel aus der Aktentasche.

„Ich tatsächlich auch. Hoffen wir das Beste“, gab Richard zurück und nahm ihr das Blatt aus der Hand. Es klopfte. Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine junge Frau trat ein. Auch sie hatte rote Haare, allerdings weniger flammend als bei ihrem Bruder. Sie waren zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Auch ihre Kleidung wirkte eher schlicht, war aber ebenfalls nicht gerade billig gewesen. Sie lächelte Richard und Toko nervös an. Beide standen auf.

„Miss Abygail Redvers? Ich bin Mr Byron. Das ist meine Assistentin Miss Seijō.“ Und sie schüttelte nacheinander ihre Hände und setzte sich beiden gegenüber.

„Sie wissen warum wir hier sind?“, fragte Richard.

„Um ehrlich zu sein nicht genau. Ich weiß nur, dass es um meinen Opa geht und vermutlich sein Erbe“, sagte sie langsam.

„Ja, so in etwa. Sir Redvers gab uns vor seinem Tot einige Anweisungen sein Erbe betreffend, welche wir nun versuchen abzuarbeiten. Deshalb habe ich ein paar Fragen an Sie.“

Abygails Augen wurden größer und sie wirkte ehrlich überrascht.

„Das versteh ich nicht ganz. Johnny bekommt alles. Was gibt es da noch für Fragen?“

„Nun Ihr Großvater bestand darauf. Wir führen nur seinen Willen aus“, erwiderte Richard mit dem routinierten ausweichenden Ton eines erfahrenen Anwalts. Abygail seufzte leise und sah auf ihre Hände.

„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie. Stellen Sie bitte Ihre Fragen“, sagte sie leise und sah wieder auf. Toko hatte den Eindruck, dass ihre Augen verdächtig glitzerten.

„Es geht ganz schnell, Miss Redvers. Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Großvater?“ Richard bemühte sich um einen freundlichen Ton. Auch er musste das Glitzern bemerkt haben.

„Gut denke ich... Ich hatte wohl am meisten in der Familie mit ihm zu tun“, antwortete Abygail knapp.

„Können Sie mir sagen warum das so war?“, hakte Richard nach.

„Ähm... na ja... ich weiß nicht genau. Ich hab gern Zeit mit ihm verbracht. Und die anderen wohl nicht... oder Opa nicht mit ihnen...“, stammelte sie und verstummte schließlich. Ihre Wangen waren rot angelaufen und sie sah betreten zu Boden.

„Sie können uns ruhig alles sagen, was Sie beschäftigt. Es bleibt selbstverständlich unter uns“, sagte Toko beruhigend und lächelte Abygail aufmunternd zu. Sie brachte ein Lächeln zustande und schien sich wieder zu fassen.

„Mein Opa war kein einfacher Mann. Er hatte kein einfaches Leben.“ Wieder zögerte sie. „Unsere Familie hatte im Krieg fast alles verloren. Und Opa hat sich fast alles zurück erkämpft. Das hat ihn sehr hart werden lassen. Aber ich weiß, dass er es eigentlich nicht ist.... ich meine war.“ Niedergeschlagen sah sie nach unten.

„Er fehlt Ihnen sehr, oder?“, fragte Toko leise und kramte ein Taschentuch aus der Aktentasche heraus und reichte es Abygail, welche es mit einem dankbaren Lächeln entgegennahm.

„Ja... ich hätte mich so gern noch verabschiedet.“

„Hat Sir Redvers erwähnt, dass er sich krank fühlte?“, warf Richard ein.

Abygail schüttelte leicht den Kopf. „Nein... ich wünschte er hätte es getan.“ Kurz herrschte Schweigen.

„Diese Frage ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich, aber hat Ihr Großvater jemals erwähnt, dass er Feinde hat?“, fragte Richard, die Stille durchbrechend. Abygail runzelte die Stirn.

„Feinde? Na ja nein... ich weiß, dass ein paar seiner ehemaligen Geschäftspartner nicht gut auf ihn zu sprechen waren, aber nichts Ernstes. Zumindest klang es nie so.“

„Und wie sieht es mit seiner Familie aus?“ Richard sah ihr direkt in die blauen Augen. Sie zuckte nicht zurück.

„Das sind nur noch wir. Und ich versichere Ihnen, keiner hätte ihn tot sehen wollen. Keiner!“, sagte sie fest.

„Gut, können Sie uns sagen, wann Sie Ihren Großvater zuletzt gesehen haben?“

„Ja, das war eine Woche bevor er... gestorben ist. Ich habe mir ein Buch von ihm geliehen und mit ihm noch zu Abend gegessen.“ Abygails Stimme klang nun sehr traurig.

„War er da irgendwie anders als sonst?“, fragte Richard nach. Abygail schüttelte den Kopf.

„Nein, gar nicht. Nach dem uns gesagt wurde, dass er tot aufgefunden wurde, habe ich mir den Abend noch oft durch den Kopf gehen lassen, aber es war alles wie immer.“

„Was für ein Buch hatten Sie sich geliehen?“, fragte Toko neugierig. Abygail schmunzelte etwas.

„'Große Erwartungen' von Dickens. Opa hatte so eine schöne ledergebundene Ausgabe. Ich hab sie natürlich wieder zurück gebracht. Aber vielleicht lässt Johnny sie mich behalten. Er hat es nicht so mit Büchern.“

Richard nickte Toko zu, welche mit den Achseln zuckte.

„Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch und dass Sie unsere Fragen so offen beantwortet haben Miss Redvers. Haben Sie vielleicht noch Fragen an uns?“, schloss Richard und sah Abygail mit freundlicher Aufforderung an. Sie überlegte kurz.

„Könnte ich vielleicht bei der Testamentseröffnung dabei sein? Ich weiß, dass ich nichts bekomme, aber ich würde trotzdem gern zuhören.“

„Ich denke wir werden das arrangieren können Miss Redvers“, sagte Richard und lächelte ihr mitfühlend zu.

„Ich danke Ihnen!“ Sie erhoben sich und Abygail schüttelte beiden die Hand.

„Könnten Sie uns noch einmal Ihre Tante herein bitten?“, fragte Richard noch zum Abschluss und Abygail nickte, bevor sie zur Tür hinaus schlüpfte.

Toko seufzte leise. „Sie tut mir leid.“

Richard nickte langsame. „Ja mir auch. Aber wir stehen noch sehr am Anfang. Wir sollten uns hüten jetzt schon eine Schlussfolgerung zu ziehen“, sagte er nachdenklich und gab Toko das Blatt Papier zurück. Diese nickte heftig und suchte das Papier für Mrs Gent wieder heraus. Diese klopfte soeben und öffnete die Tür wieder.

„Abby sagte Sie wollten mich noch einmal sprechen?“, fragte sie freundlich.

„Ja Mrs Gent, nur noch kurz ein paar Fragen, dann sind Sie uns wieder los“, sagte Richard und wies freundlich auf den Sessel.

„Oh gar kein Problem. Ich habe sehr gerne Gäste im Haus. Wie kann ich Ihnen noch helfen?“, fragte Mrs Gent.

„Hatte Sir Redvers Ihnen gegenüber jemals etwas über seine Enkelkinder erwähnt? Egal was?“, fragte Richard geradeheraus. Mrs Gent überlegte kurz während sie sich noch eine Tasse Tee eingoss.

„Er hat selten über die Beiden gesprochen. Auch über seinen Sohn Patrick, meinen Schwager, hat er selten gesprochen. Aber er hat mich immer gefragt wie sich die Beiden in der Schule machen und später wie es mit dem Studium läuft. Typische Großvaterfragen eben.“

Richard schwieg und starrte nachdenklich in seine halbvolle Tasse kalten Tees. Dann sah er plötzlich auf.

„Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Gastfreundschaft Mrs Gent! Ich denke wir haben fürs erste alles was wir brauchen. Dürften wir Sie vielleicht anrufen, sollte mir noch etwas einfallen?“

Mrs Gent nickte lebhaft.

„Aber ja, selbstverständlich.“

„Ich danke Ihnen. Ich lasse Ihnen noch meine Karte hier, sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, was Sie uns gern erzählen möchten, so zögern Sie bitte nicht sich mit uns in Verbindung zu setzen.“ Toko reichte wie aufs Stichwort Mrs Gent die schlichte Visitenkarte des Anwaltskanzlei, welche sie mit einem Nicken entgegennahm.

„Das werde ich tun!“

Richard und Toko erhoben sich und verabschiedeten sich von der freundlichen Dame. Auf der ganzen Fahrt zurück in die Innenstadt von London schwieg Richard. Toko kannte das schon und überprüfte schweigend, ob das selbstschreibende Papier auch alle Worte aufgezeichnet hatte. Der neue Schreibwarenladen schien sich bezahlt zu machen. Zufrieden ordnete sie alles in sein richtiges Fach ein. Richard fuhr in die Tiefgarage, stieg nach wie vor schweigend aus, bestieg immer noch schweigend den Aufzug und setzte sich noch intensiver schweigend an seinen Schreibtisch.

„Sie wollten noch Constable Brakmore anrufen“, erinnerte Toko ihn wie aufs Stichwort. Richard nickte und nahm das Telefon in die Hand. Toko schloss die Bürotür und ging an ihren Schreibtisch zurück. Sie checkte die E-Mails, scannte die Aussagen ein und schaltete den PC in genau dem Moment aus, als die Tür zu Richards Büro aufging und ihr Chef hinaus eilte.

„Der Constable empfängt uns jetzt noch, wenn wir sofort kommen“, wehte es noch an Toko vorbei, als sie sich schon die Aktentasche schnappte und hinter Richard her jagte.



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