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Raum und Zeit

(Titelvorschläge werden entgegengenommen)
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Midgard, Massachusetts - 2016

Loki begutachtete seine Gestalt im Spiegel und hielt kurz inne. So oft er sein Aussehen auch schon verändert hatte, er war es noch immer nicht gewohnt, sich dabei auch zuzusehen. Er schob sich den goldenen Haarreif höher auf die Stirn und die junge Frau im Spiegel tat es ebenfalls, anschließend strich er sich übers gewellte Haar und kontrollierte seinen Sitz.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand mit einem Filzstift etwas an den Spiegel geschmiert hatte.

Crying for daddy to change is a different kind of hurt.

Er rollte die Augen und schaute sich daraufhin selbst mit strenger Miene im Spiegel an.

Dann besann sich Loki sich wieder auf sich und die feminine Variante seiner selbst.

Inzwischen hasste er es, sich von früh bis spät für jemand anderen auszugeben. Ob auf Asgard als Odin, der zwar Respekt erhielt und mit königlichen Würden ausgestattet war, oder ob hier als durchschnittlicher Mensch, der in der Masse untergehen konnte, wann immer er wollte: Niemand sah ihn.

Immerzu stand er im Schatten anderer.

Doch so sehr ihm dieses Versteckspiel auch missfiel, er akzeptierte es. Jedenfalls jetzt. Denn mittlerweile war sein Gesicht überall auf Midgard bekannt und gerade, wenn er mit Stark konfrontiert war, musste er Vorsicht walten lassen.

Inzwischen konnte er nicht mehr als Professor Guðason durchgehen, wenn er Midgard besuchte. Stattdessen nutzte er meist diese Gestalt.

Mit mittellangen blonden Haaren, schwarzer Steppweste und festem Schritt verließ Loki die Toilettenräume des MIT und machte sich auf den Weg zum Audimax.

„So hätte ich es mir gewünscht“, erklärte Tony Stark etwa eine halbe Stunde später an das Publikum gerichtet, nachdem er eine herzerweichende kleine Sequenz auf der Bühne vorgespielt hatte, eine manipulierte Erinnerung an die letzten Minuten mit seinen Eltern. Offenbar war sie dazu geeignet, sein schlechtes Gewissen und seine Sehnsucht nach ihnen zu stillen, zu therapieren, wie er es nannte. In dieser falschen Erinnerung strafte Stark die beiden, die nur kurze Zeit nach der Szene sterben würden, jedenfalls nicht mit Nichtbeachtung, wie es der Realität entsprochen hatte.

„Sensitives emotionales Neuro-Framing. Kurz: SENF - ich brauch dringend ‘ne schärfere Abkürzung… - Eine extrem kostenintensive Methode, um durch das Kapern des Hippocampus traumatische Erinnerungen zu löschen.“

Eins musste man ihm lassen. Stark wusste, wie man die Aufmerksamkeit eines Publikums fesselte. Die Studenten um Loki herum schienen ihn zu vergöttern. Seine Lippen wurden schmal, während er den kleinen Mann musterte.

Stark würde nie ein Gott sein.

Nun wendete der Sterbliche sich direkt an die Studierenden. Da Loki in der ersten Reihe saß, kam er in den zweifelhaften Genuss von Starks Versuch, Augenkontakt aufzunehmen. Loki tat so, als reagierte er auf ihn, aber schaute in Wirklichkeit durch ihn hindurch. Auch wenn es unbegründet war, seine Enttarnung zu befürchten, war Loki nicht gewillt, dem Avenger direkt in die Augen zu sehen. Er strich sich über das wellige Haar und entspannte sich erst, als Stark eine andere junge Frau anschaute.

In letzter Zeit, eigentlich seit seiner Machtübernahme in Odins Gestalt, hatte auch Loki versucht, das kollektive Gedächtnis Asgards in seinem Sinne zu beeinflussen. Er hatte nicht nur als Odin Reden gehalten oder sich selbst ein Denkmal in Auftrag gegeben. Nein, er hatte sogar begonnen, ein Theaterstück zu entwerfen, das sich um Lokis angeblich letzte Stunden und seine Heldentaten auf dem Schlachtfeld von Svartálfheim drehte. Sein Volk und auch Thor waren nach wie vor davon überzeugt, dass Loki damals gefallen war. Bereits beinahe drei Jahre lang.

Und fürwahr, Loki hatte die Hand des Todes schon um seine Kehle gespürt. Alles war kalt geworden. Kälter noch als damals, als vorübergehend die Urne der Jotunen die Macht des Eisriesen in ihm entfesselt hatte. Die Kälte war ihm vom Herzen her unter die Haut gekrochen und hatte sich wie ein Virus bis in die Haarspitzen vorgefressen.

Irgendwann hatte er nicht einmal mehr Thors Gewicht auf sich gespürt, der Lokis reglosen Körper an sich gepresst hatte.

Als kurze Zeit später ein Sandsturm aufgekommen und unwirtlich über die verwüstete Ebene von Svartálfheim hinweggefegt war, hatte Thor sich und Jane Foster in Sicherheit bringen müssen.

Im Auge des Sturms hatte Lokis Bewusstsein geflackert wie eine Kerzenflamme. Mal hallte Thors Schrei, der die Trauer um seinen verlorenen Bruder widerspiegelte, laut in ihm nach. Mal spürte Loki nichts als die Kälte, die sein Herz und sein Hirn im festen Griff hielt.

Der Kummer, der aus Thors Stimme gesprochen hatte, war ähnlich dem, den er gezeigt hatte, kurz bevor Loki vor einigen Jahren vom Wurmloch verschlungen worden war. Der Kummer, der sich nur wenige Monate später als Farce erwiesen und Loki zu seinen Taten in New York City getrieben hatte.

Loki hatte selbst nicht gewusst, wie viel Zeit vergangen war, als er mit Sand in den Augen und trockener Kehle wieder erwacht war. Der Planet schien wie ausgestorben und seine Brust schmerzte an der Stelle, wo der Dunkelelf ihn mit dem Schwert durchbohrt hatte.

Mit zittrigen Händen hatte Loki die Stelle betastet und festgestellt, dass seine Haut sich bereits wieder geschlossen hatte. Einzig das bläulich glänzende Gewebe zeigte, dass seine Jotunen-Herkunft mehr konnte als nur die gewöhnliche Heilung der Asen.

Als Loki von seiner Brust abließ, stürmte die überwältigende Einsamkeit eines verlassenen Planeten auf ihn ein. Das bedeutete es also, wenn ein Volk seine Heimat aufgab.

Es war, als würde über die leere Steppe hinweg eine Erkenntnis auf ihn zu rollen wie eine Sturmflut, vor allen ungeschützten Flanken auf einmal.

Er war allein. Vollkommen allein.

Sie hatten ihn zurückgelassen.

Loki war zu geschwächt gewesen, um aufzustehen. Gekrümmt und ohne Zuversicht saß er zwischen dem Geröll am Boden und wartete darauf, dass die Kälte zurückkehrte.

Er war nicht einmal mehr ungeduldig.

Doch als nach einer Zeit, die sich wie die Unendlichkeit angefühlt hatte, eine asgardische Wache in Svartálfheim eintraft, stritten sich zwei verbliebende Gefühle in ihm. Einerseits war da die unbändige Erleichterung, von hier fortzukommen und zu überleben. Andererseits die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, die sich nicht abschütteln ließ.

Eines der zwei Gefühle war überwältigend.

In Gestalt der Wache und an Bord deren Raumschiffs war Loki zurück nach Asgard geschlichen.

Bis heute zogen sich die Jahre.

Natürlich war er nun König von Asgard, aber es fühlte sich noch immer nicht so an. Die Leute jubelten nicht ihm zu, nein, sie hielten ihn natürlich für Odin, und nach und nach hatte Loki festgestellt, wie hohl und inhaltsleer sein Leben war. Frigga war nicht mehr da. Thor war nicht mehr da. Und Odin hatte er mühelos entfernt.

Wenn die Leute doch nur erkannten, dass er es war, der erfolgreich herrschte und Asgard gedeihen ließ, dann würde sich endlich Genugtuung einstellen.

Wenn sie ihn endlich sahen.

Aber wie sollte das vonstattengehen?

Ohne Antwort auf diese Frage und ohne erfüllende Aufgabe vergrub Loki sich wieder in seine Bücher, verbrachte in Odins Gestalt mehr und mehr Zeit in seinen abgeschotteten Gemächern und experimentierte mal an dieser, mal an jener magischen Technik. Er musste sich beschäftigen, um nicht der Sinnlosigkeit zu erliegen und sich die Kälte zurückzuwünschen.

Und eines Tages lachte ihm das Glück zu.

Nach dem Kampf gegen Malekith und seine Dunkelelfen, nach Lokis vermeintlichem Tod und Thors Rückkehr nach Asgard hatte Letzterer bereitwillig auf den Thron verzichtet, um mit Jane Foster und den restlichen Menschen zusammen zu leben. Dieser Umstand sorgte dafür, dass Loki die meiste Zeit geschützt war vor Enttarnung. Nur, wenn Thor Asgard besuchte, lief Loki Gefahr, dass er sein Trugbild durchschaute. Thor war die einzige verbleibende Person, die Odin gut genug kannte, um die Züge seines vermeintlichen Bruders in dem Verhalten des Allvaters zu entdecken. Also war alles, was er tun musste, seine eigene Magie darauf zu verwenden, immerzu im Blick zu haben, was Thor auf Midgard trieb.

Und so entging Loki auch nicht, was Thors sterbliche Spielkameraden mit ihren erbärmlichen Leben anstellten. Einige kämpften sinnlose Schlachten, andere versuchten, sich vor ihrem eigenen Volk zu verstecken, obwohl sie als Helden gefeiert wurden.

Und als Tony Stark verkündete, eine neue Manipulationstechnologie am MIT vorzustellen, wurde Loki hellhörig. So sehr er diesen arroganten Menschen auch verachtete, es war nicht zu verleugnen, dass Stark immer wieder mit guten Ideen aufwarten konnte.

Jetzt schaute er Stark aus seinen blauen Augen unter dem goldenen Haarreif nach, der in unerwarteter Hast von der Bühne schritt.

Veränderte Erinnerungen…

Je weiter Loki das Thema durchdachte, desto klarer wurde ihm eine Erkenntnis: Manipulierte Erinnerungen boten eine unendliche Anzahl an daraus folgenden Realitäten. Wenn die Asen, die Menschen, das ganze Universum auf falsche Erinnerungen zurückblickten, dann würden ihre heutigen Empfindungen und Handlungen sich vermutlich fundamental anders darstellen.

Loki warf einen langen Blick auf die Stelle, an der Starks Hologramm seiner erinnerten Vergangenheit verblasst war, während sich das restliche Publikum erhob und den Raum verließ.

Es musste einen Weg geben, wie man nicht nur selbst Erinnerungen neu durchlebte, sondern auch wie man sie anderen glaubwürdig vor Augen führte.

Selbstredend war Asgards Technologie viel grundlegender entwickelt als die irdische. Dieses SENF nachzubauen, sollte für sie vermutlich keine Hürde darstellen. Aber damit würde Loki weitere Personen einweihen müssen, denn er war kein technischer Architekt.

Es war also selbstverständlich, dass Loki auf seine Magie zurückgreifen musste, nicht auf Technologie. Und dafür würde er mehr Energie benötigen, als er irgendwie aufwenden konnte.

Nun… Der Tesserakt lag ohnehin im Verließ des Palastes, seit Loki von Odin in den Kerker geworfen worden war, und wenn er, Loki, erst gelernt hatte, Erinnerungen zu verändern, würde er nicht zögern, seine Vision mithilfe von dessen Energie auch großzügig umzusetzen.



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