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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Freu mich, falls noch jemand her findet. Komplett anzeigen

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Akt XV - Die Uhr des Toten: 19-2

19-2: YURI
 

Tat Sterben weh?

Yuri hatte sich diese Frage schon mehrmals in seinem Leben gestellt, genaugenommen immer dann, wenn er dem Tod geradewegs ins Antlitz sah. Und das war gar nicht so selten gewesen.

Im Moment glaubte er, dass es nicht wehtun würde. Es hatte wehgetan, als Devil ihm den Bauch aufgerissen hatte – oder Dante, oder wer es am Ende auch gewesen war –, aber inzwischen war der Schmerz irgendwie … in ihn hineingesickert, hatte sich in seinem ganzen Körper verteilt … und war nun nur noch eine dumpfe, pochende Wärme, die kaum noch unangenehm war. Der kalte, nasse Boden machte ihm nichts mehr aus; das klebrige Blut überall machte ihm nichts mehr aus; und auch die Aufregung um ihn herum machte ihm nichts mehr aus.

Er lag ruhig unter den Strahlern des Teleporters, die schwarz und stumm über ihm schwebten, und atmete langsam den schweren, süßlichen Geruch der Kräuter ein, die Roger in seine Wunde gedrückt hatte. Atmete langsam … sehr langsam … Er ertappte sich sogar, wie er sekundenlang gar nicht atmete. Auch das machte ihm nichts aus. Irgendwann gab sein Körper ihm schon den nötigen Impuls, und dann nahm er wieder einen Zug von der feuchten Luft. Und dann ließ er es wieder bleiben.

Was um ihn herum geschah, war nicht mehr besonders wichtig. Er war dankbar, dass er einfach nur hier liegen durfte und in Ruhe gelassen wurde. Seine Taschenuhr – die den Platz seiner Lebensuhr eingenommen hatte, seit er hier war – tickte nicht mehr, sondern schnurrte. Wie ein Kätzchen.

Dante war da, Jin war da … und Roger. Besonders Roger. Die besten Leute, die er hier und jetzt kriegen konnte, waren bei ihm. Es war alles gut. Er musste nicht allein sein.

Er bedauerte ein wenig, dass er sich von keinem von ihnen verabschieden konnte. Leider ging das nicht. Seine Lebenskraft reichte nicht mehr dafür. Still und mit leeren Gedanken driftete er durch die Schatten – glaubte, irgendwo in der Ferne erstes Tageslicht zu sehen, aber es konnte auch eine Halluzination sein … bis er irgendwann das heiße, schweißtreibende Licht der Strahler auf sich fühlte, das ihn ganz einhüllte. Das war nicht fremd für ihn. Zu seinen großen, schweren Schlachten war er immer mit Rogers Maschine gereist: zu Feldwebel Kato … zu Albert Simon … zu dem Gott aus den Sternen. Diese gewaltige Energie würde ihn dorthin zurückbringen, wo er hingehörte. Dorthin, wo er seine Entscheidung neu treffen musste.
 

Und seine Lebensgeister kehrten zurück. Der Moment, als seine Wunden sich schlossen, als wären sie nie da gewesen, fühlte sich an, als würde er wieder jünger werden. Doch das Gegenteil war der Fall: Er wurde älter. Fünfundzwanzig, um genau zu sein. Das Jahr war 1915. Die temporäre Krümmung, die ihn durch die Jahrzehnte schleuste, verwandelte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Kleidung. Der braune Mantel lag wieder zusammen mit Alice’ sterblichen Überresten in einem Grab in Zürich. Und die Nachtvogelklaue war … irgendwo, wo er sie zurückgelassen hatte.

Seine Füße setzten auf festem Boden auf. Die Steinplattform. Wind rauschte ihm um die Ohren. Der Zeitsturm tobte und rüttelte an dem schwebenden Untergrund.

»Yuri!«

Er öffnete die Augen.

Und alles rastete wieder ein.

Ein scharfer Schmerz flammte in seiner Brust auf – eine wohlbekannte Pein, dort, wo der silberne Dorn der Heiligen Mistel in sein Herz gedrungen war. Automatisch presste er die Hand darauf. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh.

»Yuri!«

Karin hörte nicht auf, seinen Namen zu rufen. Er war wieder hier, an diesem schrecklichen, endgültigen Zeitpunkt, der seine Welt für immer zerreißen würde.

Doch jetzt würde er sich anders entscheiden.

»Wenn du einen Fuß hierhin gesetzt hast, kannst du nicht mehr in die Gegenwart«, hatte sein Feind im Sterben gesagt. Katos Leiche lag fast friedlich auf dem nackten, sturmumtosten Fels, wenige Schritte entfernt. »Bete … Bete, so viel du kannst … für die Welt, die du willst.«

»Die Welt, die ich will?«

»Ja … Die beste, die du dir vorstellen kannst. Dann … kannst du zurück …«

Schon begannen Yuris Gefährten im Zeitstrudel zu verschwinden. Sie alle hatten gebetet, hatten im Stillen ihre Wünsche an das Schicksal gerichtet. Die Tore der Zeit standen weit offen, für diesen einen Moment. Gleich würden sie sich für immer schließen. Gleich.

Karin blieb bei ihm, auch diesmal. Er hatte diesen Augenblick schon erlebt, bevor er sich, damals, dem Fluch ergeben hatte – und mit einer Schonfrist in die Zukunft gesandt worden war. Dorthin, wo seine Perspektive sich veränderte. Dorthin, wo er Hoffnung fand.

Seine Brust glühte. Der Fluch kam zum Ende; die Zeit war um. Die Taschenuhr, deren Zeiger sich wie wahnsinnig im Kreis gedreht hatten … Sie hatte ihm bis zuletzt genau gezeigt, wie lange der Zeitzauber ihn vor dem finalen Zuschlagen des Mistelfluches bewahren würde. Eine Verzögerung, um sein Umdenken zu ermöglichen.

»Hast du Angst?«, fragte Karin, und obwohl ihre Augen ruhig waren, sah er ihre weißen Finger zittern.

»Nein.«

»Verlierst du auch deine Erinnerungen?«

Er gab ihr dieselbe Antwort wie zuvor. »Niemals.« Und jetzt log er nicht. Jetzt sagte er die Wahrheit … wenn auch nicht auf die Weise, die sie verstand.

»Bitte, versprich es mir! Ich … will dich nicht verlieren!«

Aber das würde sie. Kein Weg führte daran vorbei.

Er nickte ihr zu.

Sie ging. Ihr Körper leuchtete und erhob sich in den kreiselnden Wind hinauf. Er wusste, wie sich das anfühlte. Doch ein zweites Mal würde er es nicht erleben.

Fest packte er ihre ausgestreckte Hand. »Karin!«

»Was?«

»Danke!«

Sie verblasste.

Nun war er allein auf der Ebene. Allein zwischen den umherwirbelnden Felsen, die wie Papierfetzen der Gewalt des heulenden Strudels folgten. Alle Anderen waren fort. Hatten ihren Wunsch gefunden. Waren abgereist in die Welt, die sie sich gewünscht hatten.

Yuri würde nicht abreisen.

»Tut mir leid. Ich kann dieses Versprechen nicht halten«, sagte er. Seine Stimme war ruhig, doch in ihm tobte es. Auf einmal wusste er nicht mehr, welches Versprechen er gemeint hatte. Das, was er Karin eben gegeben hatte – sie wiederzusehen –, oder das an Alice, damals, am Grab des Priesters. Er hatte ihr gesagt, dass ihr Tod auch seiner sein würde. Und sie hatte ihn gebeten zu leben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, dass sein Leben ihren Tod bedeuten würde. Er hatte sich selbst versprochen, für sie weiterzuleben.

Ich kann dieses Versprechen nicht halten.

In Wirklichkeit hatte er immer nur den Tod gesucht, seit sie fort war. Es war genauso gekommen, wie er es ihr gesagt hatte. Seine Sehnsucht zu sterben hatte er zu maskieren versucht, zu verdrängen, zu begraben, zu zerstreuen; aber sie war immer da gewesen. Bei jedem Lachen mit seinen neuen Freunden, bei jedem beherzten Angriff, bei jedem Entschluss, einfach immer weiterzumachen. Sie hatte ihn immer wieder eingeholt.

Yuri schloss die Augen.

Da war ihre Stimme. Alice’ Stimme. Sie sprach zu ihm – von weit weg, aus einer nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Distanz – als blicke sie auf etwas zurück, das lange vorbei war. »Ich weiß, warum du allein zurückgeblieben bist.« Natürlich wusste sie es. Wie konnte sie irgendetwas, was in seiner Seele vorging, nicht wissen? »Du hattest Angst, dich zu verlieren. Du hast erkannt, dass der einzige Weg, deine Seele und Erinnerungen zu retten, der Tod war.« Er hielt die Augen geschlossen. Sein Herz flatterte, wie ein kleiner eingesperrter Vogel. »Die Zeit, die du mit deinen Freunden verbracht hast … deine Gefühle für den Freund, den du bekämpft hast … alle deine Erlebnisse bis zu diesem Moment … All das hat dich zu dem gemacht, was du bist … zu dem Mann, der du heute bist … ja, dem Mann, den ich kenne … dem Mann, den ich liebe.«

Endlich war es so weit. Yuri öffnete die Augen und atmete tief ein. Er lächelte.

Tat Sterben weh? Nein. Nicht sehr. Nicht so sehr wie erwartet.

Ein Felsstachel brach aus dem Gestein hervor, stieß in seinen Rücken und durchbohrte sein Herz.

Das Periapt zerbrach. Die Splitter rieselten über seine Brust. Der Atem wich aus ihm, und er wurde still. Seine Augen blieben offen. Auf seinem Gesicht würde keine Überraschung sein, kein Entsetzen. Nur Frieden. Niemand würde ihn hier jemals finden. Er würde ewig an diesem Ort liegen und träumen. Das letzte Bett, das das Schicksal ihm bereitet hatte.

Ewig.
 

»Jetzt brauchst du nicht mehr zu leiden«, flüsterte Alice’ weiche Stimme dicht an seinem Herzen. Er öffnete die Augen. In ihm waren keine Schmerzen mehr, kein Kummer. Das Leid war vorüber. »Du brauchst nicht mehr allein zu sein. Ich werde für immer an deiner Seite sein.«

Er war in seinem Seelenbaum. Er war hier – der schlafende Körper, der aus dem Stamm herauswuchs. Endlich kannte er seinen Zweck. Seine Seele, eingesperrt unter der Last des Fluches, war wieder erwacht. Und sie war frei.

Über ihm schwamm ein helles Licht, das sich öffnete wie eine Tür. Eine weiße Hand streckte sich ihm entgegen. Alice’ Hand.

»Nun werden wir zusammen sein … für immer.«

Sie schwebte ihm entgegen. Eine Gestalt aus Licht. Ihre Augen waren, wie er sie kannte: leuchtend, rein, angefüllt mit nichts als Liebe.

Ihre Hände berührten sich. Er fühlte sie. Egal, wie viel Zeit auch vergangen wäre – ihre Herzen hätten einander immer und überall erkannt.

Leicht, völlig mühelos, erhob er sich aus dem dunklen Baumstamm. Frei.

Ihr Licht verband sich mit seinem, als sie sich an ihn schmiegte. Nichts würde sie jemals wieder trennen, nicht Tod, nicht Teufel – es gab nichts mehr, das ihnen etwas antun konnte. Sie hatten alles überwunden. Alles.

Für immer, dachte er.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So, Yuri hätten wir entsorgt ... Damit haben wir nicht mehr allzu viel vor uns.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen

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