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Demonheart

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
»As I have said before, the weird studies of Harley Warren were well known to me, and to some extent shared by me. Of his vast collection of strange, rare books on forbidden subjects I have read all that are written in the languages of which I am master; but these are few as compared with those in languages I cannot understand. Most, I believe, are in Arabic; and the fiend-inspired book which brought on the end―the book which he carried in his pocket out of the world—was written in characters whose like I never saw elsewhere. Warren would never tell me just what was in that book.«
– H.P. Lovecraft: ›The Statement of Randolph Carter‹ (1920) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»There is no reason to fight.«
– Jin (Tekken 4) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
... Uuuund es geht weiter! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»I am a monster. It’s all that’s left.«
– Jin (Tekken: Blood Vengeance) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Währenddessen in Dantes Kopf ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mal ein kurzes Kapitel, zur Abwechslung. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»Don’t get in my way.«
– Jin (Tekken 4, 5, 6, 7) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Aufwachen, Yuri ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Oh je, schon wieder so viel Zeit vergangen. Dafür hab ich jetzt 18 Sorten Plätzchen für Weihnachten. Ist auch was ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»I’m just out for revenge for my parents. It’s none of your concern!«
– Yuri (Shadow Hearts) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach der etwas längeren Weihnachtspause geht’s nun mal wieder weiter. Ich hoffe, alle hatten schöne Feiertage. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich mal wieder ein bisschen Jin-Kram! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»Nothin’ to worry about. I always have nightmares. Ever since I was a kid.«
– Yuri (Shadow Hearts) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Heute mal etwas früher ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mal sehen, was die anderen Herren währenddessen treiben ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»That’s how it starts, sir. The fever, the rage, the feeling of powerlessness that turns good men cruel.«
– aus ›Dawn of Justice‹ (2016) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich hab echt keine Ahnung, warum dieses Kapitel so furchtbar lang geworden ist -.- Gut, dass es ne Lesezeichenfunktion gibt. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Was macht Jin eigentlich währenddessen? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»Trish, devils never cry. These tears … Tears are a gift only humans have.«
– Dante (Devil May Cry) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nanu, was passiert jetzt ... Allgemeines Outing, Heart-to-Heart und sogar so was wie Plot?! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Wow, wir kommen tatsächlich mal weiter im Plot. Jin ist am Zug ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»Mundus … His heinous ways make me sick. Killing even his own, like they were nothing. He’s the one that took the life of my mother and my brother, I’m sure. My mother used to always tell me that my father was a man who fought for the weak. He had courage and a righteous heart. In the name of my father, I will kill Mundus!«
– Dante (Devil May Cry) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
In der Woche schafft man nix, Leute, einfach nix ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen zusammen. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»So, you’re looking to play, huh? All right, I guess I got some time to kill …«
– Dante (Devil May Cry 4) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Krass, ich bin echt nicht dazu gekommen. Uff. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen am Fronleichnam-Donnerstag. Leider kein Feiertag bei uns ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»This whole business started with my father sealing the entrance between the two worlds. And now, my brother is trying to break that spell and turn everything into demonville. This is my family matter too.«
– Dante (Devil May Cry 3) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»You think I’m scared? Don’t make me laugh! I’ve been huntin’ monsters for over 10 years.«
– Yuri (Shadow Hearts) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hier wieder was Kurzes ... Kurz ist ja auch mal schön, oder? Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Falls ihr dachtet, das letzte Kapitel wäre kurz gewesen, schaut euch dieses an ... So ist das eben, wenn man aus 3 Perspektiven gleichzeitig erzählen will. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»You know, this place makes me wonder …«
»Yeah, what’s that, boss?«
»… which would be worse – to live as a monster or to die as a good man …«

– aus ›Shutter Island‹ (2010) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Nur noch ein paar Tage Urlaub für mich ... Für unsere Helden umso länger. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dante tut mal wieder erstaunlich wenig. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»My mother gave her life protecting me from the monsters. But when I looked into her eyes a moment before she died, it awakened in me the blood of my father that had been lying dormant. A fire ignited within me, and my emotions exploded like a hurricane. I don’t really remember anything after that. The next thing I knew, the room was littered with the torn-up body parts of the monsters that had killed my mother. I was the only one left alive in a house covered with blood. I clung to my mother’s corpse all night long, weeping and begging her to forgive me. For failing to keep my promise to my father. For failing to protect her. I could never stand to feel that way again. So the day that I fail to protect you … is the day that I, too, will die.«
– Yuri zu Alice (Shadow Hearts) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Jin, wir müssen reden. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Weiter geht's an diesem Sonntag. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»I hate it … when people let others die just to get what they want …«
– Yuri (Shadow Hearts: Covenant) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Happy Halloween! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Guten Morgen, heute mal aus der Hotellobby in Marburg. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»I don’t have time to be swayed by emotions. I must go to fulfill the destiny of my cursed blood.«
– Jin (Tekken 5) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Habt eine schöne zweite Adventswoche! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Morgen ist schon der 3. Advent?! Das ging mal wieder viel zu schnell ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»I will teach you the true meaning of fear!«
– Devil Jin (Tekken 5) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Frohes neues Jahr für alle! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
When the nice guy loses his patience, the devil shivers.
– Sprichwort Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Das hat diesmal lange gedauert. Danke für die Geduld. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»The sky is fair. It’ll always be above everyone’s head, no different.«
– Dante (Devil May Cry) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Freu mich, falls noch jemand her findet. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
So, erfahren wir noch, wie das alles endet ... Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
»You either die a hero or you live long enough to see yourself become the villain.«
– aus ›The Dark Knight‹ (2008) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
JIN: He has already begun to stir.
ZAFINA: You speak as if you actually know what these ruins hold.
JIN: Long ago, they called him the Rectifier. This temple was built in his name. The name of Azazel.
ZAFINA: How do you know that? Answer me! How is it you know that?
JIN: Why? Does it really make a difference?
ZAFINA: No, but …
JIN: It’s already started. And nobody has the power to stop it. Nobody except me.

– aus Tekken 6 Komplett anzeigen

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Aufgesang: 1-1

1-1: JIN
 

Jin Kazama lauschte auf das Geräusch seiner Schritte auf dem gefrorenen Schnee, das abrupt verebbte, als er stehen blieb. Es hatte ungewöhnlich stark geschneit an diesem Nachmittag. Die Kälte war feucht, nicht trocken wie sonst, und er spürte ihre klamme Berührung durch seinen Wintermantel mit wärmendem Cashmerefutter bis auf die Haut. Hinter ihm verklangen die Schritte seiner Leibwächterin in einiger Entfernung. Er drehte sich nicht nach ihr um; sein Blick war starr auf das unwirklich riesenhafte Gebäude gerichtet, das, so nah am Stadtrand und doch mitten im Nirgendwo, in der Abenddämmerung wie ein finsteres Ungetüm vor ihm aufragte.

Jin mochte den Winter nicht. Er war ein Kind des Sommers, der warmen Nächte und des Flüsterns der Winde in grünen Blättern. An seinem Geburtsort, der Insel Yakushima, herrschte tropisches Klima. Das Meer war selten kühler als zwanzig Grad, und es schneite niemals. Hier, wo die Welt ihm im Frost ihre blanken Knochen zeigte, fühlte Jin Abscheu.

»Und?«, fragte Nina Williams’ Stimme, in ihrem üblich herablassenden Ton und mit nur noch dem Hauch eines irischen Akzents, den die vielen Jahre fern der Heimat fast gänzlich verwischt hatten. »Gehen wir rein? Oder sehen wir sie uns an, bis wir festgefroren sind?«

Jin ließ seinen Blick unverwandt auf den dunklen Umriss der Mishima Zaibatsu gerichtet.

»Du kannst reingehen, Jin, es wird niemand mehr auf dich schießen. Hörst du mir zu?« Wahrscheinlich war ihr kalt. Ihr Unterton wurde zunehmend ungeduldiger. Lauter fügte sie hinzu: »Sie gehört jetzt dir! Also, worauf wartest du? Mach mit ihr, was du willst.«

Jin unterdrückte ein Zittern, als ihn eine schwache Brise streifte. Sie hatte Recht, er kannte diesen Ort gut genug, den Sitz seiner Familie. Hier hatte er einen Teil seiner Jugend verbracht, nachdem er gezwungen gewesen war, Yakushima zu verlassen und seinen Großvater Heihachi Mishima um Hilfe zu bitten. Und Hilfe hatte er gefunden … doch bei Weitem nicht nur das. Leider. Die spukenden Erinnerungen hatten sich tief in seinem Gedächtnis eingenistet, nur noch geisterhafte Schatten, die zusammenzuckten, wenn er sie mit dem Geist berührte. Alles, was er hier erlebt hatte, drang verschwommen an die Oberfläche, sobald er auch nur daran dachte, den Fuß zu heben und auf das Gebäude zuzugehen.

Mach mit ihr, was du willst.

Ja, das könnte er – und es fiel ihm immer noch schwer, diese Realität zu begreifen. Er hatte die Zaibatsu den schmutzigen und gierigen Händen seiner Verwandten entrissen, um nun sein rechtmäßiges Erbe anzutreten.

Doch war er dazu überhaupt in der Lage? Er, ein junger Mann mit zu vielen Feinden, der die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens in einem Wald auf einer einsamen Insel verbracht hatte, auf der es keine Autos gab? Nun, die Jahre danach waren die prägendsten seines Lebens gewesen. Hatten ihn gegen die Felsen von Zwietracht, Intrigen, Macht und Hass geworfen wie ein Stück Treibgut und der heilen Welt seiner Kindheit klaffende Wunden zugefügt. Doch immer noch war er innerlich wenig mehr als ein Kind, glaubte er. Jedenfalls fühlte er sich jetzt so hilflos wie nie seit dem gewaltsamen Tod seiner Mutter. Eben noch, als der luxuriöse Sportwagen, in dem er sich kaum eine Bewegung zu tun traute, ihn und Nina durch das Gewirr belebter Straßen hierher gefahren hatte, war er still gewesen, hatte gedankenverloren aus dem Fenster gestarrt und schließlich zugesehen, wie auf der Innenseite der Scheibe Eisblumen wuchsen. Diesen filigranen Gebilden aus lebendiger Kälte hatte er mehr Aufmerksamkeit gewidmet als den wütenden Menschen, die sich im Zwielicht wie eine zähe Masse durch die Straßen bewegten. Als Kind hatte er Eisblumen angehaucht und zugesehen, wie sie schmolzen und neu erblühten. Und derselbe Mann sollte nun das Mishima-Imperium anführen? Eine billionenschwere Firma mit Einfluss auf jeden denkbaren Wirtschaftszweig, korrupt von der Wurzel bis in die Spitze und in jedes schmutzige Geschäft verwickelt, das sich Jin mit seiner unschuldigen Vorstellungskraft ausmalen konnte?

Kein Wunder, dass die Menschen protestierten. Das war undenkbar. Und es war nicht das, was er wollte.

»Jin!«, schnarrte Nina. »Deine Anweisungen? Ich höre!«

Sie war sein Wachhund, und genauso sollte es sein. Sie an seine Seite zu holen war das erste gewesen, was er getan hatte, als ihm die Zaibatsu zugefallen war. Er hatte sich überfordert gefühlt, brauchte jemanden als rechte Hand, der das Unternehmen seit vielen Jahren kannte und es so sehr hasste wie er. Doch er hatte nicht gewusst, wem er trauen konnte – bis auf Nina. »Der Prinz ist zu jung zum Regieren und braucht einen Berater, der ihm sagt, was zu tun ist?«, hatte sie gespöttelt. Doch gesträubt hatte sie sich nicht. Möglicherweise hegte sie irgendeine Art von mütterlichen Gefühlen für ihn. Es interessierte ihn nicht wirklich. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er für keinen Menschen mehr wirklich etwas empfunden. Er hatte gelernt, nur noch sich selbst etwas wert zu sein. Die Misshandlungen seines Großvaters hatten ihn geformt wie Ton, der in einem langsamen Brennprozess erhärtet war.

»Jin!«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich ihr über die Schulter zu. Sie hatte ihre pelzbesetzte Kapuze hochgeschlagen, die Hände tief in die Taschen geschoben und sie dort, wie unschwer zu erkennen war, im Frösteln zu Fäusten geballt. Einige goldblonde Haarsträhnen flatterten im Abendwind über ihre missmutige Miene. »Nein, wir gehen nicht rein«, gab er knapp zurück.

Nina knirschte mit den Zähnen und stapfte zwei Schritte auf der Stelle, als würde das irgendetwas gegen die Kälte nützen. Ihr Protest hing ungehört in der Luft.

Jin wusste, dass er nicht hineingehen konnte. Der Anblick des Anwesens erfüllte jede Faser seines Körpers mit Abscheu, ließ ihn bis in die Haarspitzen zittern, obwohl er die Kälte längst gewohnt war.

Und was mache ich jetzt mit ihr? Mit einem solchen Drecksladen?

Seine Mutter hätte ihm gesagt, was richtig war. Wie immer dann, wenn er es nicht selbst wusste. Und bei dem anderen Problem, dessen Bürde er außerdem trug – dem Problem, das ihn nachts in Dunkelheit und Schweiß erwachen ließ, das ihn bis ins Mark verängstigte und seiner psychischen Gesundheit immer schwerer zusetzte –, dabei nützten ihm seine neuen Errungenschaften, nämlich Macht und Reichtum, nicht im geringsten.

Er hatte versucht, nach Hause zu gehen. Auf seine Insel. In seinen Wald. Hatte das Haus, in dem er mit seiner Mutter gelebt hatte, wieder aufgebaut. Hatte geglaubt, nach dem vierten großen Tekken-Turnier seinen Frieden gefunden zu haben, als er das Leben seines verabscheuungswürdigen Großvaters verschont und sich von den Mishimas abgewandt hatte.

Doch der Teufel … der Dämon in seinem Inneren … Er hatte diesen Frieden zunichte gemacht. Hatte den ganzen Wald, der Jins Refugium gewesen war, buchstäblich ausradiert. Bäume, zerborsten und abgeknickt wie Zahnstocher, die warme Erde aufgerissen wie von einer ganzen Armada bestialischer Pflugscharen. Tiere abgeschlachtet, ihre Kadaver zerfurcht und zermalmt … Allein bei der Erinnerung an diesen Anblick flutete der bittere Geschmack von Galle seinen Mund. Er hatte nie zuvor so viel davon ausgespuckt wie in dieser Nacht, die sein Leben endgültig aus den Fugen gerissen hatte. Jin hatte sofort gewusst, dass er selbst es gewesen war. All diese Gräuel trugen seine Spuren, die Spuren von Klauen, Flügeln und Hörner. Der Dämon in ihm war zu einer Größe, Macht und Willensstärke angewachsen, mit der Jin als Mensch es nicht mehr aufnehmen konnte. Vorbei war die Illusion, er könne das Monster beherrschen.

Voller Verzweiflung hatte er sich erneut seiner verfluchten Verwandtschaft in den Weg gestellt. Hatte nicht nur mit seinem Großvater, sondern auch mit seinem Vater und seinem Urgroßvater gerungen, die alle ebenso vom Bösen berührt waren wie er selbst, vom gleichen dreckigen, verfluchten Blut. Und er hatte gewonnen. Deshalb war er hier. Er war der Erbe der Mishimas.

Und der Teufel in ihm frohlockte.

Sollte er nicht doch hineingehen? Jins Blick glitt zur zweiflügligen Eingangstür, die ihm protzig entgegen grinste, mehr als zwei Mann hoch. Rechts und links waren uniformierte Wachposten mit Gewehren postiert, die, als er Blickkontakt zu ihnen herstellte, sofort zackig salutierten. Wie alle von Heihachis ehemaligen Untertanen gehorchten sie ihm, als bestünde ihr Leben aus nichts anderem Auf seinen Wink hin würden sie ihm öffnen und ihn mit pflichtschuldiger Fürsorge in den Thronsaal geleiten.

Den Thronsaal. Jin spürte, wie seine Kiefermuskeln sich verkrampften. Es war so lächerlich. Andere Unternehmensführer hatten ein Hauptbüro. Ein Empfangszimmer. Einen bequemen Sessel vor einem ausladenden Schreibtisch.

Doch Heihachi hatte einen Thronsaal.

Nein, bei allem Bemühen – Jin konnte sich nicht vorstellen, in den prunkvollen Raum mit der unerreichbar hohen Decke zu gehen und sich auf den hohen, von Feuerschalen flankierten Stuhl zu setzen, das weiche rote Polster unter dem Hintern, die Hände auf den vergoldeten Armlehnen … und dazu die Beine lässig überschlagen, herablassend lächelnd … wie sein Großvater. Oh, ja. Und an seiner Statt würde nun er, Jin, seine Befehle schreien, das Personal herumscheuchen und seinen Launen aussetzen. Wie der Kronprinz, der er war.

Du bist nicht der Kronprinz, korrigierte er sich. Nicht mehr. Jetzt bist du der rechtmäßige König.

Wieder drehte er den Kopf nach Nina. Sie hatte die Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Sie glaubte, niemand sähe ihr Frieren, doch Jin sah alles. Ihre bleiche, gekränkte Miene sprach Bände.

Nach einem tiefen Atemzug, der seine Lungen mit kalter, feuchter Luft füllte, setzte er sich in Bewegung und stapfte durch den Schnee zu ihr, abermals auf das harsche Knirschen seiner Sohlen horchend, das ihm nie so laut vorgekommen war wie heute. Vor ihr blieb er stehen und fing ihren Blick auf; forschend sah er in das kalte Blau, das ihm mit unterdrückter Wut, aber auch mit jener unerschütterlichen Hingabe begegnete, die ihm von Anfang an ihre Treue garantiert hatte. Nina mochte irgendetwas an ihm und glaubte, ihn beschützen zu müssen. Oder zu können.

»Wir gehen nicht rein«, wiederholte er. Dann wandte er den Blick ab und wollte an ihr vorbeigehen.

Reflexartig schnellten Ninas behandschuhte Finger vor und umfassten seine Schulter. »Jin.«

»Was?« Er mied ihren Blick. Es gab nichts mehr zu sagen. Er war eine Enttäuschung, wie immer.

»Wenn wir schon verdammt noch mal umsonst hier sind, dann rede wenigstens mit mir, okay? Interessiert dich überhaupt nicht, was ich gefunden habe?«

»Gefunden?«

»Hast du schon vergessen, worum du mich gestern gebeten hast?«, fragte sie frostig.

Widerwillig drehte er sich zu ihr um. »Ich wusste nicht, dass du sofort damit anfangen würdest.«

Nina stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn fast herablassend an. »Hast du erwartet, dass ich Monate für eine simple Recherche brauche? Ich bin Profi. Überleg dir, was du mit meiner Arbeit anfängst, aber langweile mich nicht.«

Er erwiderte ihren kalten Blick und nickte nur. Ninas Arbeitstüchtigkeit hatte er offenbar unterschätzt. Natürlich kannte er ihre Vergangenheit – oder zumindest einen Teil davon – und hatte sie genau deswegen rekrutiert. Der springende Punkt war, dass sie selbst nicht mehr über sich wusste als er. Seit sie von Jins Vater Kazuya, den sie hatte ermorden sollen, überwältigt und zum Opfer eines Kryoschlaf-Experiments gemacht worden war, waren ihre Erinnerungen großteils verschüttet, bis auf die vage Suggestion, dass sie Jin um jeden Preis töten musste. Jin hatte sie aufgehalten und von den Stimmen in ihrem Kopf befreit, indem er das Monster tötete, das sie verursachte. Deshalb war es jetzt, einige Jahre später, nicht schwer für ihn gewesen, Nina Williams als seine rechte Hand zu verpflichten. Er nutzte ihre Schuldgefühle ihm gegenüber aus, aber das wussten sie beide. Nina traute niemandem mehr – ebenso wenig wie er. Sie trauten beide niemandem. Und vielleicht waren sie deshalb dafür prädestiniert, einander zu helfen.

»Gut«, sagte er. »Was hast du gefunden?«

Sie kreuzte die Arme vor der Brust. Eine weitere sinnlose Maßnahme gegen die Kälte. »Es gibt viele, die behaupten, sich solcher Probleme wie deinem anzunehmen. Sehr viele.«

»Und wie viele davon nehmen sich ernst?«, fragte er.

Richtige Frage. Ihr Mundwinkel zuckte. »Kann man an zehn Fingern abzählen.«

»Und wie viele, glaubst du, wissen wirklich, womit sie es zu tun haben?«

»Einer. Vielleicht.« Sie seufzte und rieb sich die Schultern. Sie fror wirklich schlimm. »Sagen wir, alles lässt darauf schließen, dass er sein … Handwerk versteht.«

Mehr brauchte Jin nicht zu hören. »Gut. Ich besuche ihn.«

»Vorsicht«, sagte sie. »Dem Typen eilt ein gewisser Ruf voraus. Angeblich setzt er schwere Waffen ein und macht alles platt, bis kein Grashalm mehr steht.«

»Klingt genau nach dem, was ich brauche.«

»Er soll bei seinen Aufträgen wählerisch sein. Wenn er dir nicht helfen will, dann tut er es nicht, egal was du ihm anbietest. Aber …« Sie zuckte die Achseln. »Er ist der Beste.«

»Der Einzige, meinst du.«

»Das macht ihn zum Besten.«

Jin dachte noch einmal darüber nach. »Ich brauche jemanden mit Expertise, ja. Aber keinen Irren, der mich erschießt.« Noch nicht.

»Tja, was du haben kannst, ist ein Auftragskiller für Dämonen.« Unumwunden fügte sie hinzu: »Irre könnte er natürlich trotzdem sein.«

Jin schnaubte leise. »Wie sonst kann man so einen Beruf auch ertragen?« Er sah beiseite, dann wieder in Ninas Gesicht. Ihm war plötzlich unbehaglich zumute, als würde ihn jemand beobachten. Ein absurder Gedanke. Leiser, nur noch raunend, fuhr er fort: »Wo finde ich ihn?«

Nina lächelte freudlos. »Na, wo wohl? Wo alle Irren wohnen.«

»Schick mir die Details.«

»Wir sollten allerdings nichts überstürzen. Er soll … nicht ganz ungefährlich sein. Willst du ihn anrufen? Ich bin über einige Kontakte an seine Telefonnummer gekommen. Man braucht ein Passwort, wenn man so einen … Spezialauftrag für ihn hat. Der Mann scheint eine Art Insider-Tipp zu s–«

»Ich will nicht mit ihm telefonieren«, unterbrach Jin sie und wandte sich abrupt von ihr ab, um zurück zum Fahrzeug zu gehen. Hier hielt ihn nichts mehr. »Eine Ferndiagnose nützt mir nichts. Ich will zu ihm.« Nach einigen Metern tauchte in der Dunkelheit der Umriss des Autos auf. Der frierende Chauffeur wartete an der hinteren Tür. »Ich kann dich doch damit betrauen, mir eine Reise zu arrangieren?« Das war keine ernst gemeinte Frage.

Ninas schnelle Schritte holten ihn rasch ein. »Wenn’s nur das ist, Kleinigkeit«, versicherte sie kühl. »Ich bringe dich dahin. Wann willst du bei ihm anklopfen? Noch in dieser Woche?«

»Morgen.«

Der Fahrer nickte ihm zu, öffnete die Tür und wies auf den Rücksitz. Jin musste kaum einen Muskel bemühen, um in das Gefährt zu steigen und auf dem komfortablen Polster Platz zu nehmen, so geräumig waren die Kutschen der Mishimas. Keine drei Sekunden später saß Nina neben ihm und schlug die Kapuze zurück.

»Morgen also«, wiederholte sie unbeeindruckt. »Dann solltest du früh aufstehen.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Folgte einer grauen Straße in einer grauen Landschaft. Jin sah nach draußen, sah nirgendwohin, und sagte dann: »Eins noch.«

»Was?«

»Ich reise mit dem öffentlichen Fernverkehr. Kein Privatjet, kein Charterflug. Ein normaler Linienflug.«

»Economy Class, oder was?« Ihr Blick war fast enttäuscht. »Das hier gefällt dir wohl nicht?« Sie machte eine vage Geste, die den Innenraum des Sportwagens einschloss.

Nein, das war es nicht. Sie wusste es auch. Es war das Erbe der Mishimas, das anzutreten ihm widerstrebte. Jetzt noch. Irgendwann würde er wohl herausfinden, auf welche Weise er die Firma sinnvoll nutzen konnte, und sich damit auseinandersetzen; jetzt aber war sie eine unheilvolle Bürde, ein verfluchter Schatz, etwas, mit dem er nichts zu tun haben wollte.

Endlich hatte Nina ein Einsehen und hob die schmalen Schultern. »Wie du willst. Ich organisiere alles.«

»Gut.«

Jin betrachtete das Fenster. Eisblumen bildeten sich an der Innenseite der Scheibe, und er wischte sie weg.

Aufgesang: 1-2

1-2: DANTE
 

Dante war überfordert mit dem seltsamen, verhärteten Gefühl in seiner Magengegend. Wie in einem gestoppten Video schwebte die Kuppe seines Zeigefingers für lange Sekunden über dem kleinen, rot blinkenden Schalter des quadratischen Geräts, das neben dem archaisch anmutenden Telefon auf seinem Schreibtisch stand.

Wollte er sich das wirklich noch mal anhören?

Sein Büro war still. Ganze zwei Tage schon war es nicht mehr erfüllt gewesen von guter, alter Rockmusik – und vor allem nicht von Trishs spitzen Bemerkungen.

Eben gerade war es nicht still gewesen: Er hatte die Aufzeichnung des letzten während seiner Abwesenheit eingegangenen Anrufs abgehört. Und jetzt saß er immer noch in seinem Bürostuhl, der eigentlich eher ein Sessel war, die Füße auf der Tischplatte und den Finger über dem Aufnahmeapparat.

Wollte er wirklich noch mal auf Play drücken?

Über den Apparat ließ sich sagen, dass er so ziemlich das einzige moderne Gerät in diesem Raum war. Wobei, modern war im Grunde auch das falsche Wort: Das Gerät stammte aus den späten Achtzigern und enthielt zwei Tonbandkassetten; alles Neuwertigere wäre mit dem antiquierten Telefon nicht kompatibel gewesen. Gut, dass Dante es sowieso nicht neuwertig mochte.

Seine Fingerkuppe schwebte weiter über der Taste. Der scharfe Stich von Unbehagen verwirrte ihn. An diese Empfindung war er nicht gewöhnt, sie versetzte ihn in plötzliche Handlungsunfähigkeit – so entstand ein langer Moment, in dem er nichts anderes tun konnte als trocken zu schlucken. Und zu denken: Na prima.

Endlich wandte er den Blick von dem Gerät ab und überwand sich dazu, mit dem weiterhin ausgestreckten Finger auf die Wiedergabetaste zu drücken.

Ein kurzes Knistern, dann eine astreine, saubere Stille, fast frei von Störtönen. Und dann: »He, Dante. Ich glaube, du vermisst etwas. Oder?«

Dante wäre dankbar gewesen, wenn Drohnachrichten an ihn – wenn er denn schon welche bekommen musste – mit einer unbekannten, feuchtschleimigen oder dämlichen Stimme hinterlassen werden würden, die er dann verachten oder verspotten konnte (am besten beides); doch leider, diese Stimme kannte er. Diesen irgendwie erschöpften und unglücklichen Tonfall, der sich anhörte wie der eines kriegsmüden Generals, der ein letztes Ultimatum stellt, obwohl er am liebsten kapituliert hätte.

»Keine Sorge, ihr passiert nichts. Aber ich lasse sie nicht gehen, bis … du weißt schon.« Ein müdes Seufzen. »Wenn es nicht anders geht, dann eben auf diese Art. Du weißt, warum es sein muss.«

Dann plötzlich Trishs Stimme, betont ruhig, betont lässig, betont Trish, doch er hörte die Unruhe in ihr, als sie sagte: »Hör nicht hin, Dante, es ist die gleiche Leier wie immer. Mir geht’s bestens. Sorry, dass ich mich so lange aufhalten lasse. Spätestens heute Abend bin ich raus aus diesem Loch.«

Das erneute Seufzen ihres Entführers schluckte das Wort ›Loch‹ fast zur Gänze. »Nein, Trish. Sicher nicht. Ganz sicher nicht. Dante, ich meine es wirklich ernst. Sie geht nirgendwohin.« Ein schweres Atmen. Dann: »Du weißt, was ich von dir brauche. Lass uns nicht ewig warten. Bis dann.«

Ein kurzes Knistern. Das Band stoppte. Ende der Aufzeichnung.

Dante ließ die Hand langsam auf das zerkratzte Holz des Schreibtisches sinken. So also hörte sich eine Erpressungsnachricht an. Es war zwar keine sehr aggressive Erpressungsnachricht, doch das änderte nichts an ihrem Inhalt. Dabei war sie eigentlich absurd – oder war am Morgen vor zwei Tagen, als er und Trish das Devil May Cry verlassen und sich an die Arbeit gemacht hatten, noch absurd gewesen. Sie beide kannten diesen Mann, und Trish ›wehrhaft‹ zu nennen war ein Understatement. Und dennoch war sie am Nachmittag nicht wiedergekommen. Wie in aller Welt hatte das passieren können? Was hatte der Kerl gemacht, wie hatte er Trish weggeschnappt? Wie?

Spätestens am Abend zurück, hatte sie gesagt. Tja, es war jetzt Abend. Trish war nicht da. Nur diese Nachricht mit ihrer Stimme und der laxen Drohung dieser Nervensäge. Zwei Tage … und nur das.

Dante hatte keine Ahnung, was er unternehmen sollte. Er mochte dieses Gefühl nicht. Situationen, in denen ihm all seine überlegenen physischen Kräfte nichts nützten, beunruhigten ihn – mehr, als er je zugeben würde.

Vor dem Fenster des geräumigen Büros, das gleichzeitig sein Wohnzimmer war, schüttelte ein harscher Wind die Kronen der wenigen kümmerlichen Ahorne, die die Straße säumten. Es war eine schmutzige und schlecht geteerte Straße, an deren Seiten sich Ruinen gleich neben unsanierten Wohnblöcken erhoben. Zwischen ihnen war Dantes Residenz schwer zu übersehen. Und jetzt, in der Dunkelheit, wies auch noch der Name seines Geschäfts den Weg dorthin mit rot leuchtender Neonschrift.

Die Tür, dachte er stumpf. Ich sollte die Tür zumachen. Sonst kommt noch jemand und nervt.

Nicht, dass er viel Besuch bekam, aber jetzt gerade wollte er wirklich niemanden sehen. Nicht mal jemanden, der lediglich aufs Klo musste.

Dante erhob sich ungewohnt langsam und ließ im Aufstehen seinen Ledermantel von den Schultern gleiten, der die satte Farbe von gerinnendem Blut hatte, um ihn missmutig über die Sessellehne zu werfen. Bei der verzierten, zweiflügligen Eingangstür angekommen, streckte er die Hand durch den Spalt (für mehr als einen Spalt war es zu kalt draußen) und tippte kurz das Schild an, das dort im Wind hing, um sich zu vergewissern, dass es noch da war. Gut, die meisten Leute konnten ja lesen, oder? Er zog die Finger zurück und stieß die Tür mit der Ferse zu, dass sie mit einem befriedigenden Krachen einrastete.

Ich brauche einen Plan, dachte er.

Missmutig ließ er sich wieder in seinen Schreibtischsessel sinken. Er könnte den Kerl suchen, theoretisch. Nur gab es keinen Anhaltspunkt, wo er war. Der gewisse Hall hinter der aufgenommenen Stimme ließ vermuten, dass Trish und ihr Entführer (lächerlich) sich in einem Gebäude befanden. Das war alles.

Die andere Option wäre, einfach das zu tun, was der Kerl von Dante wollte. Aber das verbot sich. Das war eine Sackgasse. Auch wenn der arme Kerl das nicht verstand. Er war zu verzweifelt, um noch irgendwas zu verstehen, und Dante hatte nach all der Zeit immer noch Mitleid mit ihm – aber sein Mitleid war ebenso endlich wie die Geduld dieses Mannes, der jetzt, wie Dante fand, eindeutig einen Schritt zu weit gegangen war.

Jetzt haben wir ein echtes Problem, du und ich.

Draußen vor der Tür ging jemand vorüber. Dante hörte die Schritte sehr leise durch die Stille und hoffte, dass sie nicht vor seiner Tür anhalten würden.

Doch sie taten es.

Auch das noch.

Dante verhielt sich still, als könnte der Fremde von draußen sehen, dass er da war. Konnte er nicht. Trotzdem rührte Dante sich nicht und horchte in die Stille. Er hatte wirklich überhaupt keine Lust auf Besuch.

Nach einigen Sekunden setzten die Schritte etwas zögernd wieder ein und entfernten sich.

Dante atmete auf und fuhr sich mit beiden Händen über die Schläfen. Er spürte die kurzen Stoppeln an Wangen und Kinn, hart wie eine Drahtbürste. Keine Überraschung. Er hatte sich die letzten zwei Tage nicht darum gekümmert. Rasieren gehörte zu den unwichtigen Dingen, für die er im Moment keine Aufmerksamkeit verschwenden wollte. Dazu zählten auch Aufräumen und Dokumente Sortieren. Alles unwichtig. Nebensächlich. Die Welt sollte dankbar sein, dass er noch ans Duschen dachte.

Die Schritte kamen zurück. Sein Nacken kribbelte.

Verdammt.

Er bemerkte den Schatten, der von außen im Schein der Neonschrift an seine Tür getreten war, in dem Moment, als das Geräusch verstummte. Sieh an: Wer auch immer dort stand, war offenbar des Lesens nicht mächtig.

Dann klopfte es auch noch.

Na großartig. Er schloss die Augen, unternahm aber keine weitere Bewegung. Lies das Schild, Dumpfbacke. Das Schild.

Wieder das Klopfen.

Es gab eindeutig zu viele Leute mit Leseschwäche.

Wieder das Klopfen, diesmal fester und energischer.

Das ›OPEN‹/›CLOSED‹-Schild hing erst seit einer Woche dort und Dante wusste bereits, dass er es sich sparen konnte. Niemand beachtete es. In den beiden letzten Tagen hatte er erschreckend viele Analphabeten an der Tür gehabt, aber Rot von Grün zu unterscheiden sollte doch eigentlich jedem möglich sein. Außer rot-grün-blinden Analphabeten.

Natürlich konnte man das Schild auch einfach ignorieren. So wie dieser Klopfer. Der jetzt wieder klopfte, noch nachdrücklicher als zuvor.

Seltsam. Normalerweise kamen Nervensägen immer einfach herein. Erstaunlich, wie hartnäckig dieser unerwünschte Gast war, wie er nach kurzen Pausen immer aufs Neue wieder eine Reaktion zu provozieren versuchte.

Und zwar völlig umsonst. Ich bin nicht da. Geh weg.

Zu Dantes Überraschung erklang plötzlich von draußen eine Stimme: »Ich habe das Passwort!«

Dante sah wieder zur Tür. Hatte der Typ Passwort gesagt? Es war schwer zu verstehen gewesen, ein seltsamer Akzent. Hoffentlich hatte er nicht das richtige Passwort. Das war schon zu vielen Idioten in die Hände gefallen.

»Purgatorio!«, rief es triumphierend vor der Tür.

Mist. Es war korrekt.

Dante ließ die Schultern fallen und stöhnte: »Die Tür ist offen, du Trottel.« Für gewöhnlich war er eine Spur höflicher, doch jetzt hatte er weder Zeit noch Lust dazu. Er konnte und würde sich nicht belästigen lassen. Nicht jetzt. Nicht, wenn Trish, die Mutter aller Höllenbräute, verdammt noch mal entführt worden war.

Die Tür ging auf. Erst ganz vorsichtig, dann, auf halbem Weg, etwas forscher. Dante schaute noch immer nicht hin. Dieser unerwünschte Gast sollte ruhig merken, dass er unerwünscht war.

Aber es waren keine Schritte zu hören. Nur ein monotones: »Kann ich reinkommen?«

Das war doch jetzt nicht sein Ernst. »Nein.« Das Wort kam als undefinierbare Silbe heraus.

»Warum nicht?«

»Du hast gefragt.« Unwirsch drehte Dante sich nach seinem Besucher um.

Na so was … Unwillkürlich hob er die Augenbrauen. Das war ausnahmsweise mal kein Verlaufener, Irrer oder Junkie. Und kein komischer Larry, der nicht nur zufällig so hieß wie der Random Guy, der in Filmen immer zuerst starb. Das hier war überhaupt kein Amerikaner; nicht nur, dass er eindeutig asiatischer Herkunft war, auch die Art, wie er gekleidet war, verriet sofort, dass er weder von hier stammte noch jemals hier gelebt haben konnte. Einem Anflug von Neugier nachgebend schwang sich Dante – diesmal deutlich eleganter – aus seinem Sessel, um in großen Schritten auf den Fremden zuzugehen. Dieser wich nicht vor ih, zurück. Interessant. Dante blieb direkt vor ihm stehen und ließ den Blick erneut an ihm herab gleiten. Der junge Mann war einen Kopf kleiner als er – was zu erwarten gewesen war –, hatte ein für einen Asiaten auffällig fein geschnittenes Gesicht und absonderlich abstehendes schwarzes Haar, von dem ihm lange Strähnen in die Stirn fielen. Schon als Dante ausatmete, bewegten sie sich leicht. Die Kleidung des Fremden war ebenso auffällig: Der lange, schwarze Mantel und alles, was darunter zu sehen war, wiesen aufgrund ihrer guten Qualität so offensichtlich auf Wohlstand hin, dass der Kerl wirklich ein Idiot sein musste, in dem Aufzug durch die hiesigen Straßen zu spazieren. Nein, der war nie und nimmer jemals hier gewesen.

Trotz seines anhaltenden Desinteresses überwand sich Dante zu einer Frage. »Was willst du?« Er wollte es nicht wirklich wissen. Er brauchte nur einen Grund, den Typen wegzuscheuchen.

Leider war der Mann über Dantes Unhöflichkeit nicht besonders entsetzt. Kein konsternierter Blick unter den schwarzen Fransen. Stattdessen antwortete er in seinem etwas umständlich artikulierten Akzent: »Ich brauche Hilfe.«

Dante war enttäuscht und schaute geradewegs über ihn hinweg. »Okay. Wenn es ein Notfall ist, ruf ich gerne für dich 911 an. Ansonsten: Wiedersehen.«

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte der Mann.

»Ich hab nicht geöffnet. Komm wieder, wenn dieses Schild –« Dante tippte mit dem Finger auf den an der Tür hängenden, rot unterlegten CLOSED-Schriftzug. »– grün ist.«

Sein Gegenüber sah an ihm vorbei. Dante wusste nicht, ob das Höflichkeit oder Arroganz war. »Sie denken, ich wäre umsonst den ganzen Weg hierher gekommen.«

»Stimmt, das denke ich.« Dante straffte sich und kehrte dem Typen im teuren Mantel den Rücken. Zurück zum Schreibtisch schlendernd las er im Vorbeigehen eine Hand voll loser Zettel vom Couchtisch auf, um sie lustlos zu durchblättern. Die meisten waren nur Notizen, uninteressant, doch sie ließen ihn erstens beschäftigt und zweitens unbeteiligt wirken. Als noch immer kein Geräusch sich entfernender Schritte zu vernehmen war, hörte er sich fragen: »Bist du sicher, dass du Englisch kannst? Weil du anscheinend immer Ja verstehst, wenn ich Nein sage.« Er warf die Zettel weg.

Der Mann stand einfach weiter in der Tür. »Geld spielt keine Rolle«, erklärte er.

»Stimmt«, gab Dante schroff zurück. Er wollte fragen: Woher hattest du das Passwort?, doch er fragte: »Nur aus Neugier: Was hast du für ein Problem? Nicht, dass ich mich drum kümmern werde.«

»Sie sind Dante«, stellte der Asiat nüchtern fest. »Sie kennen sich mit … Dämonen aus.«

Oh, spannend. Danke für die Information. »Ich kenne mich vor allem damit aus, wie man sie umlegt.«

»Gut. Ich möchte, dass Sie einen umlegen.«

»Ach. Wie groß?«

»Etwa so.«

Dante musste hinsehen, um zu erkennen, dass sein Gast mit der flachen Hand an sich selbst Maß nahm. »Dein Ernst?« Er legte den Kopf schief. »Du selber?« Vielleicht wurde die Sache doch noch interessant.

Das Schlitzauge sagte voll feierlichem Ernst: »Ja.«

Schnell wandte Dante den Blick wieder ab, während er versuchte, nicht laut loszulachen. »Tja«, bemerkte er schließlich, »in so einem Fall bin ich nicht dein Mann, Kumpel. Aber ich hab rein zufällig die Nummer von einem Haus mit lauter netten Leuten drin, die sich gerne darum kümmern werden.«

Anstatt weiter dummes Zeug zu reden, ließ der andere Mann die Schultern sinken und sagte missmutig: »Ich glaubte, Sie wären der Einzige, der mir helfen kann. Aber Sie können es nicht, ich verstehe.«

Dante sah ihn finster an. Mit Herabwürdigungen kriegte man ihn. »Jetzt hör mal zu«, sagte er. »Erstens: Dein Akzent ist grausam. Wenn du Englisch redest, hört sich das immer noch an wie Chinesisch.«

»Ich –«

»Zweitens«, fuhr Dante schneidend fort, nicht bereit, den Kerl ausreden zu lassen. »Jemand, der mit einem echten Teufel zu tun hat, sieht anders aus.«

»Anders? Wie?«

»Anders als du. Wahrscheinlich kann ein Voodoo-Priester mehr für dich tun.«

Der andere schüttelte den Kopf. Er hatte eine bewundernswerte Geduld – und eine lästige Beharrlichkeit. »Dieser Dämon ist keine … Besessenheit. Er übernimmt meinen Körper nicht nur, er verändert ihn auch, setzt extreme Kräfte f–«

Dante fiel ihm erneut hart ins Wort: »Noch mal: Du brauchst keinen Dämonenjäger, nur weil du ins Bett machst oder grünen Schleim hustest.«

»Das tue ich n–«

»Was dann? Pinkelst du Smarties?« Gott, er hatte keine Zeit für so was. »Du siehst nicht aus wie jemand, der mich braucht.«

»Wie sehe ich dann aus?«, fragte der junge Mann, der der Resignation nun endlich näher kam.

»Wie ein reicher Chinese.«

»Ich bin Japaner.«

»Auch gut. Und?« Dante schnaubte ärgerlich. Er kannte den Unterschied sehr genau, verspürte aber nicht auch nur die geringste Lust, nett zu sein. Über Japaner kannte er genau drei Vorurteile: dass sie nur an Arbeit dachten, dass sie nie über Sex redeten und dass sie zum Lachen in den Keller gingen. Dieser hier sah aus, als träfen alle drei auf ihn zu. »Wie auch immer, du hast auf jeden Fall kein Dämonenproblem. Gegen deine Halluzinationen kann ich nichts machen. Such dir einen Therapeuten.« Zum zweiten Mal nahm er Anlauf auf den Störer, wobei er einem unschuldig dastehenden Stuhl einen Tritt verpasste, der das Möbelstück einen Salto schlagen ließ.

Die emotionslosen Züge des Asiaten entgleisten kurz. Er machte einen Schritt rückwärts – doch dann fasste er sich wieder, immer noch nicht bereit aufzugeben.

Zu ganzer Größe aufgerichtet baute Dante sich vor dem Jüngeren auf und fixierte ihn, bereit, den Störenfried niederzustarren, bis diesem der Arsch auf Grundeis ging.

Aber stattdessen sah ihm der Andere direkt in die Augen. Zu Dantes maßloser Verblüffung begegnete ihm unter den kräftigen schwarzen Brauen ein so messerscharfer Blick, dass er selbst ein gewisses Unbehagen verspürte. Die kalten braunen Augen hielten Stand, und Dantes sonst so erfolgreicher böser Blick versagte. Kaum zu glauben. Der Bursche war ungewöhnlich resistent.

»Was soll das?«, fragte der Fremde. In seiner Stimme blieb dieselbe Ruhe, dieselbe steinerne Kühle, doch er klang jetzt gereizt.

»Was das soll?« Dante stieß ein freudloses Lachen aus. »Wonach sieht’s aus? Ich versuche dich aus meinem Büro zu treten. Ich bin wohl immer noch zu nett. Würdest du jetzt so freundlich sein, mir den Rücken zu kehren und so auszusehen, als ob du immer kleiner wirst?«

Wieder flackerte in den dunklen Augen Widerstreben auf. Ein kurzer Kampf zwischen Sorge und echter Verzweiflung. »Warum wollen Sie mir nicht helfen?«

Dante zwang das kurzzeitig aufkeimende Mitleid nieder. Herablassend gab er zurück: »Ich mag keine Leute, die einen teureren Mantel tragen als ich.«

Und da, zu seiner Überraschung, schien der Fremde zu verstehen. Seine Miene verhärtete sich, wurde noch emotionsloser als zuvor schon. Er trat von der Türschwelle zurück, verschmolz wieder ein Stück mit der Dämmerung. »Sie wollen es also nicht. Ich habe mir eine Menge von Ihrer Hilfe erhofft, aber ich kann Sie wohl nicht zwingen. Sie sind nicht, für wen ich Sie gehalten habe.«

Dante hatte keine Ahnung, was er damit meinte.

Der Asiat drehte sich um und ging. Sein Schritt war schnell und kräftig. Ein letztes Wort kam nicht von ihm, genauso wenig wie ein Blick über die Schulter. Er hatte also kapiert. Endlich.

»Na bitte«, seufzte Dante, drehte sich um und trat mit der Ferse nach der Tür, sodass sie krachend wieder ins Schloss fiel. Die Angeln ächzten.

Jetzt würde er sich nur noch darauf konzentrieren, wie er den Bekloppten finden konnte. Und Trish. Er musste anfangen, die Hinweise zusammenzusetzen. Und wenn er das Versteck von diesem Kerl erst aufgemischt hatte, würde dort kein Stein mehr auf dem anderen stehen.

Aufgesang: 1-3

1-3: YURI
 

Die Erde begann zu beben.

Zuerst war es nur eine schwache Vibration, die Yuri und seine Gefährten, verwundet und völlig erschöpft von der soeben gefochtenen Schlacht, unter den Sohlen spürten, dann begann die Steinplattform unter ihnen zu zerspringen. Risse durchzogen den Fels wie feine Äste, wurden jäh krachend zu klaffenden Spalten, aus denen Hitze und Staub heraufwirbelten. Spitze steinerne Gebilde stießen durch die Bruchstellen empor wie Speere. Der Lärm wurde unerträglich, die Luft schien sich in Asche zu verwandeln und brannte ihnen in den Lungen.

Yuris Blick zuckte hektisch über die stolpernde kleine Gruppe seiner Freunde, während unter seinen Füßen dröhnend der Boden zerbarst. Sie mussten sich beeilen. Was hatte ihr besiegter Feind, der die Welt um ein Haar in Chaos und Verdammnis gestürzt hatte, mit seinem letzten Atem gesagt?

Von diesem Ort könnt ihr nicht in die Gegenwart zurückkehren …

Aber wohin dann? Wohin wollten sie zurückkehren?

Inmitten von flirrendem Nichts kauerte Yuri sich zu den anderen Sieben, deren konsternierte Gesichter genauso viel Kummer und Ratlosigkeit zeigten wie sein eigenes. Er sah in die Augen des weißen Wolfes Blanca, der vor Erschöpfung wie ein Blasebalg hechelte, bis er jäh ruckartig den Kopf hob und ein leises Winseln ausstieß.

Etwas geschah dort draußen. Die Winde, die um die Felsen pfiffen, sangen nun klarer. Yuri sah seine Gefährten plötzlich in ein helles, reines Licht gehüllt. Sie würden nicht hier sterben, keiner von ihnen, er wusste es. Ihre unfassbare Tat, ihr Opfer hatte ihnen eine Reise zurück in die Welt der Lebenden erkauft, die ihm nach all den Strapazen, den Kämpfen und der Trauer wie ein fernes Paradies erschien. Yuri wusste nicht, ob er zurückkehren konnte.

Schon begannen zwei seiner Mitstreiter sanft empor zu schweben, die zerbrechende Dimension wie einen Traum unter sich zurücklassend. Ihre Silhouetten verblassten vor ihm, als seien sie selbst der Traum gewesen, der nun im Geist des erwachten Träumers an Bedeutung verlor. Ihre Gesichter wurden friedlich. Sie durften ziehen.

Und Yuri wusste, dass er der Einzige von ihnen war, der nicht so aufwachen würde, wie er eingeschlafen war. Sein Herz krampfte sich zusammen.

Nach wenigen Sekunden hatte er jeden seiner Freunde an das Nichts verloren. Nur Karin blieb mit ihm in der sterbenden Welt des falschen Gottes zurück. Karin, die grazile deutsche Fechterin, schaute ihn fest an, die Augen angefüllt mit Furcht und Fürsorge und all den anderen Gefühlen, die sie für ihn empfand und die er nicht erwidern konnte, weil sein Herz bereits gebrochen war.

Dann kehrte der bekannte Schmerz in seiner Brust zurück. Stechend, als würde der Misteldorn von neuem hineingestoßen, zwischen die Rippen ins weiche Fleisch. Das grelle Pulsieren über dem Herzen war so stark wie nie zuvor, und er presste hilflos die Hand darauf. Karin sah es. Der Fluch. Sie wussten es beide.

Yuri fasste sich mühsam. »Scheint, als wäre die Zeit um«, sagte er leise. Sein Hals war trocken, trotzdem klang seine Stimme fest und viel ruhiger, als sein Innerstes sich in diesem Moment anfühlte. »Es ist der Fluch der Mistel. Ich wusste, dass ich von geborgter Zeit lebe.« Und nun, nach all der Zeit, in der er gehofft hatte, dem grausamen Finale doch noch irgendwie entgehen zu können, war es soweit. Endlich … Endlich würde all das ein Ende haben. Wenn auch alles Bangen umsonst gewesen war, so war Yuri sein Dasein in dieser Einsamkeit doch so leid. Umgeben von Freunden, und doch so isoliert, der klaffenden Leere in seinem Inneren ausgeliefert.

Karins Augen glitzerten, als sie mit dünner Stimme fragte: »Hast du Angst?«

Yuri schüttelte den Kopf, obwohl alles in ihm angesichts dessen, was mit ihm geschehen würde, wie im Fieber bebte. »Nein.«

»Wirst du … deine Erinnerungen auch verlieren?«

Der Schmerz wurde noch größer. Nur noch Augenblicke trennten sie beide vom Ende dieses letzten gemeinsamen Moments. »Niemals.« Es klang überzeugt. Voller falscher Zuversicht verbarg dieses eine Wort eine schreckliche Lüge.

»Yuri …«

»Sieh mich nicht so an.« Noch immer sah er viel zu viel in ihren Augen. Er konnte ihr nichts davon zurückgeben. Jetzt schon gar nicht mehr. Sie würden einander niemals wiedersehen. »Wir sehen uns bald«, hörte er sich lügen. Sein Blick ging an ihrem von Kummer verzerrten Gesicht vorbei.

»Bitte … versprich es mir. Ich will dich nicht für immer verlieren.«

Er versprach es ihr.

Dann hob auch sie langsam vom Boden ab. Zusammen mit Steinen und Felsen, die unaufhörlich vorüberströmten, glitt sie lautlos auf einem unmerklichen Strom aus Licht aufwärts.

Aus einem Reflex heraus griff Yuri noch einmal nach ihrer Hand und bekam sie zu fassen. »Karin!«, rief er.

»Was?«

»Danke!« Es war das Einzige, das er ihr mit auf den Weg geben konnte.

Auf ihren bleichen Zügen breitete sich ein liebevolles, trauriges Lächeln aus. Noch immer fühlten ihre Finger sich warm und wirklich an. Yuri zwang sich, sie loszulassen. Es kostete ihn mehr Überwindung, als er für möglich gehalten hätte.

Als ihre Gestalt sich in weißem Schein auflöste, sagte er leise in die Stille: »Ich sehe euch alle eines Tages wieder.« Und dies war die letzte Lüge, die er laut aussprechen würde. Als könnte sie irgendetwas ändern.

Nun war er allein. Allein in einer Welt, die um ihn herum zerfiel. Eine sterbende Öde aus nacktem Fels und darüber ein fahler, farbloser Himmel. Sein Herz pochte schmerzhaft.

Das Abenteuer ist vorüber, dachte er wehmütig. Ich habe viel verloren. War es das am Ende wirklich wert? Wird die neue Zukunft in irgendeiner Weise besser sein? Sie hatten alles dafür gegeben, alles versucht. Meine Geschichte ist jetzt vorüber. Ich kann es fühlen … Er schluckte hart. Am Ende raubt die Mistel mir meine Seele. Selbst wenn ich zurückkomme, ich bin dann nicht mehr das, was ich war. Seine Hand lag noch immer auf seiner Brust, fühlte das heftige Flattern seines Herzens. … Aber wenn das bedeutet, dass ich den Rest meines Lebens in Frieden verbringen kann … Ich schätze, ich könnte mir kaum mehr erhoffen.

Mit einem letzten bebenden Atemzug schloss er die Augen. Auch seine Finger, die kalt und klamm geworden waren, entkrampften sich. Er fühlte, wie sein Körper von wärmendem Licht umhüllt wurde. Zusammen mit ihm würde seine Seele sich in nichts auflösen – und ohne sie würde er irgendwie, irgendwo weiter existieren …

Und dann war der alptraumhafte Ort endlich auf immer verschwunden.
 

Ein harter Schlag auf den Rücken riss Yuri aus einer Reise durch geräuschlose Schatten. Eben noch war er körperlos durch das Nichts geglitten, nun strömten Sinneswahrnehmungen auf ihn ein, Geräusche, Kälte, grelles Licht. Sein Körper fühlte sich so lebendig an, dass jede Muskelfaser unter Strom zu stehen schien.

Das war nicht … richtig.

Reglos blieb Yuri auf dem Rücken liegen, die Augen fest zusammengekniffen. Seine Gedanken kreisten wild. Er lebte – oder besser, er lebte, das war das Besondere daran, er befand sich hier, was bedeutete, dass seine Seele noch immer in seinem Körper war.

Aber wo waren sie hier, seine Seele und er?

Ein scharfes, zischendes Brummen jagte an ihm vorüber. Er zuckte zusammen und schlug die Augen auf, um sich aufspringend in Sicherheit zu bringen. Hart landete er nach diesem ungeschickten Manöver auf Händen und Knien. Er hatte auf Asphalt gelegen, kaltem, ungewöhnlich glattem Straßenteer, und was ihn fast gestreift hätte, war ein Automobil gewesen. Er sah den Lichtkegel des lärmenden Fahrzeugs in die Dämmerung tauchen und hob den Kopf, um direkt oberhalb in eine Straßenlaterne zu sehen. Ihr gelber Schein beleuchtete seine Gestalt und warf einen scharfen Schatten unter ihn. Er sah sein wirres Haar, den Saum seines im Hochschnellen halb umgeschlagenen Mantels.

Augenblick.

Was?

Der Mantel …

Yuri packte das Revers des abgetragenen Kleidungsstücks und zog es über dem verwaschenen roten Shirt zurück, das darunter zum Vorschein kam.

Moment, Sekunde. Diese Kleidung … Er hatte sie zuletzt getragen, als …

Nein, das war unmöglich.

Er zog den linken Handschuh aus und schob die Finger unter den Saum des Oberteils, presste sie auf seine nackte Brust.

Keine Narbe. Kein Schmerz. Keine Mistel hatte ihn verletzt und mit dem Fluch beladen, der seine Seele tilgte. Noch nicht …

In grenzenloser Verwirrung ließ Yuri sich auf sein Hinterteil fallen und sah einmal ganz um sich. Er befand sich auf einer schmutzigen, ziemlich einsamen Straße. In regelmäßigen Abständen reckten sich magere Alleebäume dem Himmel entgegen. Die Ebenmäßigkeit der Straße verblüffte Yuri in demselben Maße wie die friedlich dastehenden, absonderlichen Fahrzeuge. Es mussten Automobile sein, doch es waren mehr, als er je gesehen hatte, und sie sahen aus wie Raumschiffe. Zum ersten Mal hatte er Automobile in Paris sehen, wo sie die neusten Luxusgüter waren. Doch die klobigen vierrädrigen Ungetüme, die laut tuckerten und mächtige Wolken stinkenden schwarzen Rauchs ausstießen, waren nicht zu vergleichen mit dem, was ihn nur einen Moment zuvor fast überfahren hätte. Das, war er kannte, waren Kutschen ohne Pferde, mit Handkurbeln für die Richtungsvorgabe; ihre Türen gingen nach vorn auf, und Ersatzräder klebten außen am Blech. Diese Wagen hier sahen so vollkommen anders aus: runder, farbiger, glänzender …

Die Tore der Zeit, dachte er. Ich bin selber Schuld, dass sie so weit offen standen.

Er kam aus dem Jahr 1915, und er trug seine Kleidung aus 1913 – doch er war nicht in 1913. Niemals. Vielleicht war er nicht mal auf der Erde. Wenn er diese ihm unbekannte Welt betrachtete … war er vielleicht sogar …?

Nein, es hatte keinen Sinn, diese Gedanken und Fragen jetzt im Kopf hin und her zu wälzen. Er war auf der Erde, davon musste er ausgehen, in der Welt der Menschen, denn schließlich konnte er an diesem seltsamen Ort all die Errungenschaften der Zivilisation entdecken: Häuser, Straßen, Fahrzeuge. Wo genau er war und vor allem wann, das würde er jetzt herausfinden müssen.

Umständlich erhob Yuri sich auf die Füße – wobei er feststellte, dass er gesund und unverletzt war, denn nichts tat ihm weh – und rieb den Straßenstaub vom schwarzen Stoff seiner Hose. Wohin? Er lauschte und folgte dem leisen Brummen der Fahrzeuge in Richtung einer Kreuzung. Nein, die Automobile hier tuckerten nicht, sie liefen viel glatter und fuhren so schnell über die ferne Kreuzung hin und her, dass er ihnen kaum mit den Augen folgen konnte. Und so viele davon! Schnellen Schrittes hielt er auf die große Querstraße zu, auf der die Gefährte unterwegs waren, und als er in sie einbog, war er plötzlich mitten unter Menschen, die eilig an ihm vorübergingen, ihn nicht beachteten, ihn lediglich umrundeten wie ein unbewegliches Hindernis. Die meisten starrten geradeaus, hatten die Hände tief in den Taschen von Kleidungsstücken vergraben, die auf Yuri teils vertraut, teils fremd und fast außerirdisch wirkten, und mieden seinen Blick. Einen Moment lang stand Yuri einfach völlig still inmitten dieses Flusses aus Körpern und streckte schließlich langsam eine Hand aus, weil er einfach nicht glauben konnte, dass das hier wirklich passierte.

»He!«, blaffte die blonde Frau, die gegen seinen Arm gestoßen war. »Pass doch auf, du Idiot! Du bist nicht alleine auf der Welt!« Dann wandte sie sich schnaubend ab und stöckelte weiter.

Hab verstanden, dachte Yuri, seltsam erleichtert, und rückte näher an die Wand des Gebäudes zu seiner Rechten, damit die Leute an ihm vorübergehen konnten.

Also war all das hier real. Er war unter Menschen, die Englisch sprachen. Er würde mit ihnen reden können. Auch wenn ihre vorüberrauschenden Unterhaltungen in seinen Ohren anders klangen als jedes Englisch, das er je gehört hatte.

Yuri schaute über die Schulter, um nach jemandem Ausschau zu halten, der es nicht ganz so eilig hatte, ihn hinter sich zu lassen.

Ein bärtiger Mann mit einer grauen Mütze warf ihm einen abschätzigen Blick zu, als er vorüber ging, und Yuri nutzte diesen Moment, um ihn anzusprechen.

»Äh, ’tschuldigung … Wo bitte bin ich hier?« Hoffentlich verstand ihn der Typ.

»In der 274th Street«, kam die ebenso unspektakuläre wie nichtssagende Antwort.

»Ähm.« Yuri beeilte sich, etwas präziser zu werden, denn der Bärtige schien seinetwegen nicht anhalten zu wollen. »Ich meine die Stadt. Das Land … und das Jahr.«

Nun blieb der Mann doch stehen. Er starrte Yuri mit hochgezogenen Brauen an, dann schüttelte er ungläubig den Kopf. »Was ist denn los mit dir, Junge? Hast du was an den Kopf gekriegt?« Er murmelte noch etwas Leiseres hinterher, das wie »Isses denn zu fassen« klang, und setzte dann schnell seinen Weg fort.

Yuri sah ihm verdrossen nach. Sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich gerade vom Himmel gefallen bin? Ihm war klar, dass derlei Fragen ihn nur wie einen Verrückten aussehen lassen würden, und so entschied er sich, erst einmal in den Menschenstrom einzutauchen und sich von ihm mittreiben zu lassen, bis ihm etwas Besseres einfiel.

Obwohl Yuri nicht gerade dafür bekannt war, dass ihm bessere Dinge einfielen.

Einen Fuß vor den anderen setzend grübelte er, während rechts und links die sonderbarsten Geschäfte und Wohnhäuser vorüber zogen. Und dann, als in der Mitte der geradezu abnorm riesigen, mehrspurigen und mit weißen Linien bemalten Straße ein kleines einsames Häuschen in sein Blickfeld geriet, kam ihm der großartige Gedanke: Das war ein Kiosk! Ganz sicher! Und ein Kiosk hatte Zeitungen! In einer Zeitung stand immer alles drin. Datum und Ort wurden in großen Lettern auf die erste Seite gedruckt, zumindest in seiner Zeit. Zielstrebig schob Yuri sich aus dem Pulk heraus und steuerte das Verkaufshäuschen an, wo in einer Metallhalterung gleich mehrere Stapel der grauen Papierbündel auslagen. Es waren überraschend viele verschiedene, auch Zeitungen in anderen Sprachen waren darunter, französische, deutsche und sogar chinesische. Yuri konnte also immer noch nicht sagen, wo er sich befand, doch das Datum sprang ihm von sämtlichen Titelseiten schwarz auf Weiß entgegen:

Wednesday, February 5, 2008.

Yuri stand wie erstarrt.

Zwei.Tausend.Acht!

Er war von der Asuka-Steinplattform aus fast hundert Jahre in die Zukunft gereist?! Fassungslos starrte er auf sie erste Seite der New York Times, die seine Finger krampfartig umklammert hielten. Was sollte er jetzt machen? Wie kam er hier wieder weg? Er gehörte hier nicht hin!

Neben ihm räusperte sich jemand. Sein Blick zuckte hoch.

»Ähem, junger Mann. Wenn Sie die Zeitung ganz lesen wollen, müssen Sie sie schon kaufen«, erinnerte ihn eine dicke Frau, die sich aus dem Fenster des Häuschens beugte und beim Reden auf einem Kaugummi kaute.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis diese Information Yuris völlig leerstehendes Hirn durchquert hatte. »Oh … Äh … Nein. Danke.« Wie ein Schlafwandler legte er die Zeitung zurück und blieb ratlos an Ort und Stelle stehen.

Die Frau betrachtete ihn argwöhnisch. »Geht’s Ihnen gut, Mister? Sie sind blass wie’n Ziegenkäse.«

Yuri schluckte. »Geht schon.« Nein, eigentlich ging überhaupt nichts. Er war hier verloren. Er kam nicht weiter. Warum hatte er hier landen müssen? Was sollte das? »Hören Sie«, seufzte er schließlich, »ich glaube, ich brauche Hilfe. Ich … gehöre nicht hierher.« Nun hatte er es ausgesprochen.

Der Blick der Dicken hatte sich indes nicht verändert. »Wie, nicht hierher?«, hakte sie nach und musterte ihn prüfend.

»Na, ich …« Da kam Yuri eine Idee. Er befand sich fast hundert Jahre in der Zukunft! Natürlich! Zeitreisen waren hier keine realitätsfernen Träumereien mehr wie in seiner eigenen Welt. Ganz sicher nicht! Vorsichtige Erleichterung stieg in ihm auf. Die technischen Möglichkeiten dieser Zeit vermochte er sich nicht einmal auszumalen. Tapfer fragte er: »Sagen Sie, gibt’s hier so was wie … eine Institution für … Zeitreisen?«

Die Frau starrte ihn an. Sie hörte sogar auf, ihr Kaugummi mit den Kiefern zu malträtieren. »Klar«, sagte sie dann, in einem etwas veränderten Ton. »Einen Moment. Ich ruf da für Sie an, okay?«

Nun endgültig von Erleichterung durchflutet ließ Yuri den angehaltenen Atem ausströmen. »Oh, gut. Sehr gut. Äh, vielen Dank.«

Die Dicke lächelte breit und griff nach ihrem Telefonhörer. Zumindest glaubte Yuri, dass es einer war, denn er hing an einem Kabel. Telefone gab es also noch. Die Frau wandte sich hinter dem Verkaufstresen von ihm ab, sodass er nicht genau verstehen konnte, was sie sagte. Ihre Worte drangen nur noch gedämpft an seine Ohren: »… ist ein junger Mann, der … verirrt … braucht dringend … Zeitreise. … Ja. … glaube nicht, dass er US-Bürger ist … Sie können … eher weiterhelfen als ich. … Ja? Oh, gut … fühle mich auch nicht unbedingt … ja … meine ich. Sehr schön … bis gleich …« Schon nach kaum einer Minute beugte die Frau sich wieder zu ihm über die Theke. »Alles klar, Mister. Die sind in fünf Minuten da und nehmen Sie mit.«

Gott sei Dank, dachte Yuri, ehrlich dankbar. Endlich jemand, der sich seines Problems annehmen würde. »Ah, prima. Hätte nicht gedacht, dass das heu– … äh, dass das so leicht ist.«

Er fragte sich, was diese Leute unternehmen würden. Ihn zurück ins Jahr 1915 schicken? Vielleicht konnte er die Anderen doch wiedersehen. Vielleicht war gar nicht alles verloren. Vielleicht hatte der Fluch seine Wirkung gar nicht entfaltet! Vielleicht …

… vielleicht sollte er lieber nach 1913 zurückkehren. Dorthin, wo es eine Möglichkeit gab, Alice zu retten. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Sollte er diese Möglichkeit bekommen, würde er alles versuchen … Er würde –

»Na sehen Sie mal!« Die feiste Frau zeigte auf die Straße, die ihnen gegenüber lag und auf dem gerade neben einigen anderen auch ein zweifarbiges Fahrzeug in Schwarz und Weiß herangefahren kam. »Diese netten Herren kümmern sich gleich persönlich um Sie.«

Yuri beobachtete das Auto, wie es aus dem Verkehr ausscherte und auf ihn und den Kiosk zuhielt. Er konnte die Buchstaben auf der Seite lesen – POLICE –, ein vertrautes und Sicherheit erweckendes Wort. Darauf hätte er eigentlich auch selber kommen können, sich an die Polizei zu wenden. Die waren schließlich für ihre Bürger da. Sicherlich würden sie dafür sorgen, dass er so schnell wie möglich wieder nach Hause kam.

Als das Auto fast direkt vor Yuri hielt, stieg auf der Fahrerseite ein kräftiger Mann mit buschigem Oberlippenbart aus und lächelte ihn breit an. Er trug keine Uniform. »Guten Abend! Sind Sie der junge Mann mit dem Zeitreiseproblem?«

»Jap. Sorry, dass ich so spät noch Probleme mache.« Vertrauensvoll ging Yuri auf den gemütlich aussehenden Polizisten zu.

Dieser legte ihm eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu einer der hinteren Türen. Wie viele Türen diese neuen Autos hatten! »Na, dann kommen Sie mal mit. Ich bin Anthony Green vom Hallow Hills Police Department.« Er klappte seine Brieftausche auf und zeigte Yuri eine silbern blinkende Marke mit einem Wappenvogel darauf. Ah, deshalb also keine Uniform. »Das Zeitreisebüro ist gleich nebenan. Im Handumdrehen haben wir Sie wieder in Ihrer eigenen Zeit.«

»Großartig. Ich bin froh, ehrlich.« Yuri nahm auf dem Rücksitz Platz und begegnete kurz dem Blick des Beifahrers, der ein wenig beunruhigt aussah und kein Wort des Grußes verlor.

Das Auto sah innen aus wie ein Unterseeboot. Sauberer Stoff, bewegliche Gläser an den Fenstern, weiche Formen, keine Ecken oder Kanten – und vorn, im Cockpit, lauter Hebel, Köpfe, Anzeigen … Yuri fühlte sich mit einem Mal so unwohl, dass er sich unwillkürlich in den Sitz duckte.

Green setzte sich hinter das Lenkrad, fuhr aber nicht los, sondern betrachtete Yuri durch eine Art kleinen Spiegel, der vorne mittig befestigt war. »Schnallen Sie sich bitte an.«

»Äh – was?« Yuri war verwirrt.

Green lachte. »In ihrer Zeit gibt’s keine Sicherheitsgurte, hmm?«

»Äh … Nö.«

»Schon klar. Stecken Sie das silbrige Ende in das schwarze eckige Plastikteil, bis es einrastet.«

Voller Erstaunen tat Yuri wie geheißen. Als er an dem Gurt ruckte, bewegte sich dieser kein Stück. »Wow, das verhindert also, dass man vorn rüber fliegt? Ziemlich cool!«

Der Beifahrer hüstelte nervös. Green lachte nur und startete den Motor, der ganz und gar nicht tuckerte, sondern schnurrte wie ein kleiner Brummkreisel.
 

Während der Fahrt konnte Yuri sich nicht bremsen, Anthony Green mit Fragen zu überschütten. Eigentlich hatte er sich diskret zurückhalten wollen, doch nun war sein Wissensdurst größer denn je, und er hörte sich selbst so viel plappern wie ewig nicht mehr. Er wollte alles wissen. Und Green erzählte. Ja, natürlich könne man ins Weltall fliegen und mit Außerirdischen sprechen. Klar, Zeitreisen wären gerade ganz groß in Mode, er selbst sei schon bei den alten Römern gewesen. Yuri lauschte fasziniert, hatte sogar ein paar Mal das Gefühl, das Gehörte sei allzu fantastisch, um wahr zu sein.

Hoffentlich werde ich nicht gerade komplett verarscht, flackerte kurz ein beunruhigender Gedanke in ihm auf, doch Hoffnung und Vertrauen machten diesen Zweifel sofort wieder zunichte. Bald würde er zu Hause sein, daran klammerte sich sein Verstand,

»Kann ich auch den Ort aussuchen, an dem ich landen will?«, fragte Yuri, als Green ihn gerade aus dem Wagen steigen ließ. »Denn wenn man das irgendwie einstellen kann …«

»Keine Sorge, das geht alles«, beruhigte ihn der Polizist und wies ihn mit einer Geste an, ihm und seinem Kollegen vom schwach beleuchteten Parkplatz ins Innere des Police Departments zu folgen.

Innen wie auch außen bestaunte Yuri das moderne Gebäude voller Neugier und wachsendem Wohlbehagen. Ein bisschen schade war es schon, dass er nicht länger bleiben und diese Zeit erkunden konnte. Aber wenn er dafür zurück zu Alice gelangen konnte, dann gab es nichts, das ihn hier hielt. Er musste gehen. So schnell wie möglich.

Sie betraten einen ganz winzigen, innen metallisch glänzenden Raum, der sich irgendwie mit ihnen aufwärts zu bewegen schien, und als die Türen wie von Zauberhand wieder aufglitten, waren sie auf einem anderen Flur. Wow, ein geschlossener Aufzug in einem so hohen Haus? Den niemand betätigen musste? Es wurde immer krasser.

Green schob Yuri einen kalt aussehenden Raum, in dem sich nichts befand außer einem Tisch mit je einem Stuhl auf jeder Seite. Ein einziges Fenster war in die Wand gegenüber eingelassen, es war klein und weit oben und zeigte kaum den schwarzen Himmel. Bläuliches Licht beschien das spärliche Inventar des Zimmers und den blanken Fußboden. Instinktiv blieb Yuri stehen. Wenn er bisher solche abweisend wirkenden Räume betreten hatte, war nie etwas Gutes in ihnen geschehen …

Wieder schob Green ihn vorwärts, diesmal nachdrücklicher; er legte seine großen Hände auf Yuris Schultern und drückte ihn auf einen der Stühle, dann trat er vor ihn, lächelte ihn an und nickte seinem stillen Kollegen zu, dessen Schritte sich Yuri von hinten näherten. Starke Hände packten seine Handgelenke zu beiden Seiten der Rückenlehne und zogen sie nach hinten, und ehe Yuri reagieren konnte, spürte er eiskaltes Metall und ein in der Stille nachhallendes Klicken.

Hektisch bewegte er die Arme. Nichts da – er war gefesselt. Mit Handschellen! Was zur Hölle?

»Hey!«, fuhr er auf. »Was soll denn das jetzt bitte?«

Langsam ging Green um den Tisch herum und setzte sich ihm gegenüber. Sein Lächeln war verschwunden; stattdessen war sein Gesicht nun völlig abgeklärt und kühl. »So«, sagte er mit tonloser Stimme. »Nun unterhalten wir uns noch mal genauer über Ihre Lage, was meinen Sie?«

Yuris Mund war plötzlich ganz trocken. Er war verarscht worden. Und zwar ziemlich gründlich. In seinem Kopf flossen Wut über die grobe Behandlung und Angst zusammen und bildeten dort einen brodelnden Sud. Er presste die Lippen aufeinander. Was für einen Sinn hatte es jetzt noch, etwas zu sagen?

»Wissen Sie, den geistig verwirrten, amnesischen, aber sonst völlig gesunden Mittelschichtler kaufe ich Ihnen nicht ab«, fuhr Green in sachlichem, aber unverhohlen drohenden Ton fort. »Halten Sie mich nicht für einen Idioten, mein Freund. Für wen arbeiten Sie?«

Wieder starrte Yuri ihn nur finster an.

Green verlor keine Zeit. »Also schön. Wir wissen längst, dass die SWR einen Spitzel ins Riverside Park einschleusen will, wo Tochowjiew untergebracht ist, also können Sie sich alle Dummheiten sparen. Ich will Details.«

Yuri dachte nur: Wer? Was? Sein Blick musste aussehen wie der eines besonders dummen Hundes.

Green furchte die Stirn, dann wandte er sich an seinen wie unbeteiligt dabeistehenden Kollegen. »Smith, schicken Sie nach Lockwood. Er soll maßnehmen für das Thiopenthal. Ich hab keinen Bock auf das hier.«

Yuri hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete, doch es klang alles andere als vertrauenerweckend.

Er saß mächtig in der Scheiße.

Ouvertüre: 2-1

2-1: JIN
 

Jin wollte wütend sein. Er wollte so viel Zorn verspüren, dass Devil Jin, sein teuflisches Alter Ego, diesem Idioten in seinem Devil May Cry die Tür eintrat. Doch er fühlte keine Wut; jedenfalls nicht genug davon. Dieser Dante hatte selbst ein Problem, das war deutlich. Jin hatte seine grimmige Mimik und sein abweisendes Verhalten lesen können wie ein offenes Buch. Das waren Dinge, die ihn das Leben gelehrt hatte.

Trotzdem wollte er wütend sein. Schuld daran war nicht der Umstand, dass er diesen Weg umsonst gemacht hatte, wie er Dante gegenüber behauptet hatte. Nein, was ihn ärgerte, war diese ganze Begegnung und dass sie nicht so verlaufen war, wie er sie geplant hatte.

Nina hatte ihm alles mitgeteilt, was sie über Dante herausgefunden hatte – dass er unbestechlich war, dass er mit Dämonen kein Erbarmen kannte, dass er gern seine Feinde verhöhnte und dass er – so wurde gemunkelt – übermenschliche Kräfte besaß. Dass niemand wusste, wozu er wirklich fähig war. Jin, der schon oft erlebt hatte, dass der Ruf einer Person rein gar nichts über sie verriet, hatte erwartet, kaum eines dieser Clichés bestätigt zu finden. Vor allem hatte er sich gesagt, dass der Mann sicher nicht wie der abgebrühte Held eines Actionfilms aussehen würde. Irrtum, denn genauso sah Dante aus: hochgewachsen, muskulös und schlecht rasiert, dabei aber unerwartet stilsicher gekleidet und mit den kalten, eisblauen Augen eines Killers gesegnet. Als sein und Jins Blick sich getroffen hatten, hatte Jin das unangenehme Gefühl gehabt, diese Augen könnten ihm das Fleisch von den Knochen brennen, wenn sie wollten. Damit hatte er nicht gerechnet. Dante war genau das, was er sich als Kind unter einem Dämonenjäger vorgestellt hatte: unverschämt, einschüchternd und voller Vertrauen auf die eigene Überlegenheit. Nur seine Stimme hatte nicht gepasst. Jin hatte eine tiefe, schnarrende Stimme erwartet, ohne jede Emotion darin. Aber tatsächlich war sie überraschend hell und reich an Intonation. Dante klang mehr wie ein Showmaster als wie der Auftragsmörder, nach dem er aussah. Bist du sicher, dass du Englisch kannst? Weil du anscheinend immer Ja verstehst, wenn ich Nein sage. In einer Sitcom hätte das Publikum sicher gelacht.

Eine weitere Auffälligkeit war die Haarfarbe. Silbrigweißes Haar ohne jedweden anderen Farbeinschlag war schon schwer zu färben, und in der Natur kam es nicht mal bei uralten Menschen in dieser Qualität vor. Doch es war Natur bei Dante. Ein genaues Hinsehen machte das sofort klar.

Wie alt mochte er sein? Älter als dreißig, aber vielleicht jünger als vierzig. Es war schwer zu sagen. Warum nur hatte er mit voller Absicht bedrohlich auf Jin wirken wollen? Wieso wollte er ihn so dringend loswerden, wie jemand, der versucht, eine Spinne mit dem Fuß aus der Tür zu schieben, weil er sie nicht erschlagen will?

Nachdenklich folgte Jin der wenig belebten, halb von verrottendem Laub bedeckten Straße auf dem Fußweg, den hier und da große Furchen durchzogen. Abfall lag hier und dort an den Rändern verstreut, leere Plastikbecher oder Hüllen von Schokoriegeln. Amerikanische Straßen wurden offensichtlich nur dann gepflegt, wenn sie einigermaßen frequentiert waren. Die ärmlich aussehenden Häuser ließen eher auf ein Slum schließen. Nicht in allen Fenstern brannte Licht.

Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Dante hatte ihn so grob abgewiesen, dass Jin schon allein aus Stolz kein zweites Mal versuchen würde, ihn wie eine Memme um Hilfe anzuflehen. Nein, er hatte noch so etwas wie Würde, die ihm das klar verbot. Dante glaubte ihm nicht … Er hatte ihn sogar verspottet. Warum hatte sich bei dieser Kränkung nicht Devil gezeigt, um die Arroganz dieses Mannes in Entsetzen zu verwandeln? Der Dämon in Jin hatte tatsächlich kein bisschen aufgemuckt. Eher schien es, als wäre er unter Dantes frostigem Blick ganz still geworden.

Und genau deshalb wusste Jin, dass er nicht wütend sein konnte.
 

Er war bestimmt eine gute Stunde gegangen, hatte den ghettoartigen Bereich der äußeren Kernstadt hinter sich gelassen und war durch Alleen in eine Art flaches Tal hinabgestiegen. Hier waren die Häuser größer und wirkten freundlicher. Mit der vorherrschenden Architektur konnte er nicht viel anfangen, denn er konnte, wie er glaubte, nicht einmal Viktorianisch von Gotisch unterscheiden. Die Straßen waren enger, ihr Pflaster gröber, das Licht spärlicher. Er musste in einem der Vororte sein.

Neben ihm tauchte vor dem lichtverschmutzten Himmel ein etwas höheres, völlig lichtloses Gebäude auf. Halb zerfallen, wie im Licht der Straßenlaternen gerade noch zu erkennen war, aber dennoch eine antike Imposanz ausstrahlend. Es war ein kleinerer Sakralbau, eine Kapelle oder kleine Kirche. Jin hatte noch nie eine verlassene Kirche gesehen, aber diese war es: Ihre Schalllöcher (sofern es solche waren; nichts deutete auf das Vorhandensein einer Glocke hin) zeigten Spuren von altem Ruß wie nach einem inneren Brand, außen verwitterten die erdgrauen Backsteine der Mauer unter schwärzlichen Flechten vor sich hin, und ein korrodiertes Schild mit der Zahl 1809 nannte das Baujahr – ein sehr frühes Jahr für diese Gegend. Erstaunlich, dass sie überhaupt noch stand.

Jin schob die Hände tiefer in die gefütterten Manteltaschen, als ihn beim Anblick des stillen Bauwerks fröstelte. Trotz des äußeren Verfalls standen auf dem kleinen Kirchhof Kübel mit grau erscheinenden Astern, deren wirkliche Farben im gelben Licht nur zu erahnen waren. In einer Halterung neben der Tür steckte eine offenbar frische, wenn auch nicht brennende weiße Kerze. Vielleicht war in der Kirche doch noch jemand. Jin entschied sich, hineinzugehen, sich hinzusetzen und nachzudenken.

Mit Kirchen hatte er eigentlich nie wirklich etwas zu tun gehabt. Weder seine Mutter noch sein Großvater hatten irgendeinen Bezug zum Christentum – zumindest seine Mutter hatte ihn eher dem Buddhismus etwas näher gebracht, wenn auch ihn nicht wirklich danach erzogen – und Jin hatte sich Religion ohnehin nie zugetan gefühlt. Sie konnte ihm nicht helfen gegen das dunkle Vermächtnis, das seinen Geist plagte.

Drinnen war der Eindruck von Desolation noch größer. Zwar befand sich alles, was hierher gehörte, an Ort und Stelle, genau dort, wo man es erwartete; doch die Staubschicht, die alles einhüllte, wirkte Äonen alt und hatte der äußerst schlichten, fast an falschen Geiz erinnernden Ausstattung einheitlich dieselbe graue, leblose Farbe verliehen. Ein paar Krähen flatterten unter der gänzlich nackten, undekorierten Kuppel im Kreis und wirkten dabei so rastlos, als würden sie etwas suchen, das es nicht zu finden gab.

Tatsächlich wurde das erstorbene Innere der steinernen Kapelle von einigen blakenden Kerzen erhellt. Sie waren das Einzige, das nicht in Staub gehüllt war. Alles, was ihr schwaches Licht nicht erreichte, lag im Dunkeln; der Altar war nur ein finsterer Block auf der rechten Seite.

Wärmer als draußen war es nicht. Jin wusste nicht, warum er hier so fror. In Japan war es wesentlich kälter, und er war bestens gegen Frost gerüstet. Irgendetwas stimmte mit diesem Ort nicht. Ebenso mit der Straße, mit dem ganzen Ort schien etwas nicht zu stimmen.

Und mit Dante stimmte ebenfalls etwas nicht. Ärgerlich darüber, schon wieder über ihn nachdenken zu müssen, ließ Jin sich in die vorderste Bankreihe fallen und überschlug die Beine, als er merkte, dass sogar das blanke Holz, auf dem er saß, ungepolstert wie es war, nur Kälte an sein Hinterteil abgab.

Er verstand außerdem nicht, was der Teufelsjäger an seinem Englisch auszusetzen gehabt hatte. Natürlich war Jins Aussprache nicht fehlerlos, aber weit besser als die der meisten seiner Landsleute, unter anderem auch deshalb, weil er mit der Mishima Polytechnical High School eine internationale Schule besucht hatte. Die Zeiten, in denen er im Englischunterricht an Wörtern wie skyscraper fast erstickt wäre, waren lange vorbei. Und sein Exiljahr in Brisbane, Australien, hatte ihm noch mehr Sicherheit in der täglichen Anwendung der Sprache verliehen.

Wahrscheinlich hatte Dante ihn nur auf jede erdenkliche Art verscheuchen wollen.

»Unterschätze ihn nicht«, sagte Jin in die Stille hinein. Seine tiefe Stimme klang gespenstisch, ein leises, fast bedrohliches Echo folgte ihr. Doch wenn er mit dieser Stimme die Mishima Zaibatsu regieren wollte, dann würden die hohen, verkleideten Wände des Thronsaales dieses eindrucksvolle Echo schlucken und darunter nur Jins verstörten, unsicheren Tonfall zurücklassen. Das Kind, das sich immer noch so sehr nach seiner Mutter sehnte. Leiser sagte Jin, auf den flüsternden Nachhall lauschend: »Devil ist kein netter Spielkamerad

Um ihn herum war es still. Still und kalt.

Dante hatte gut reden. Was auch immer ihn plagte, er teilte seinen Körper zumindest nicht mit einem Teufel.

»Und du«, sagte urplötzlich eine weiche, gleichfalls männliche Stimme in die wieder eingekehrte Ruhe, »du bist wohl auch kein netter Spielkamerad?«

Beunruhigt sah Jin um sich. Er war sicher gewesen, dass außer ihm niemand hier war. Es konnte auch niemand hier sein, es sei denn, jemand war ihm hinein gefolgt.

Nach einigen ziellosen Blicken quer durch das Innere der Kirche blieben seine Augen schließlich auf dem Umriss eines Mannes, der aus dem im Dunkeln liegenden hinteren Gebäudeteil gemächlich auf ihn zukam. Er trug eine kurze, rehbraune Jacke – Wildleder, oder ein Imitat – und eine beigefarbene Cordhose mit breitem Gürtel, an dem seitlich etwas Dunkles befestigt war. Sein Haar war blond, etwas schütter und an den Seiten bereits grau. Die Augen, die unter schweren Lidern tief in dem kantigen Gesicht lagen, waren umrahmt von Fältchen und betrachteten Jin aufmerksam durch das flackernde Kerzenlicht.

»Dieser Devil ist wohl ein Problem, hm?« Friedlich trat der Fremde an Jin heran und ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. »Du musst wissen …« Er zögerte, befeuchtete sich die Lippen, schien seine Worte mit Bedacht zu wählen »… dass so etwas wesentlich häufiger vorkommt, als berichtet wird. Solche Dinge kommen nur sehr selten ans Licht. Aber Dämonen … nun, sind hier sehr häufig. Und wenn du einen gesehen hast … oder schlimmer, dich von einem bedroht fühlst … dann kann ich dir möglicherweise helfen.«

Jin blickte in die freundlichen Augen und war auf einmal seltsam berührt. »Sie … glauben mir?«

»Das fühlt sich gleich besser an, habe ich Recht?« Der Fremde schmunzelte. »Möchtest du mir von deinem Dämon erzählen?«

Jin sah ihn unverwandt an, die Miene steinern. Er wusste nicht, ob er diesem wildfremden Mann trauen sollte. Er war hier in Amerika. Wo alle Irren wohnen, hatte Nina gesagt. Er versuchte einen Rückzieher: »Das mit dem Teufel war natürlich metaphorisch gemeint.«

»Ich denke nicht, dass das metaphorisch gemeint war«, erwiderte der andere Mann ruhig, doch sein Blick war eindringlich. »Und ich denke, du bist Dante begegnet. Habe ich Recht?«

Jin spürte sein Misstrauen anwachsen. »Dante?«

»Ich glaube, wir wissen beide, dass ich nicht von dem italienischen Dichter spreche.«

»Sie kennen ihn also.« Jin war wachsam. Wenn er mehr über Dante erfahren konnte, würde ihm das vielleicht dabei helfen, ihn von der Notwendigkeit seiner Mitarbeit zu überzeugen.

Der Fremde winkte ab. »Ja, er ist ein gewisser Name hier in der Gegend. Er versucht sich bedeckt zu halten, hat aber keinen Schimmer, wie man das macht. Jedenfalls nicht, indem man als Untergrund-Söldner gegen Bezahlung halblegale Erledigungen übernimmt.«

»Sie meinen, er tötet Teufel«, sagte Jin.

»Richtig, aber das wissen nur sehr wenige. Und wer es weiß, der meidet Dante lieber.«

»Warum?«

»Das ist kompliziert«, antwortete der Mann. »Vor allem kann er offenbar nicht das tun, was er glaubt tun zu können. Ich habe ihn einmal um Hilfe gebeten. Ich weiß, dass ich es nie wieder tun werde.« Er wandte den Blick ab.

»Was hat er getan?« Oder nicht getan? Jins Abneigung gegen den Dämonenjäger wurde stärker. Er würde sehr vorsichtig sein müssen.

Der Andere lachte leise. Es klang traurig. »Nur so viel: Er hat ein Geheimnis. Ein ziemlich unschönes. Wenn du es kennst, bist du nicht mehr sicher vor ihm. Er hat vor nichts Angst. Nicht vor Macht, nicht vor Geld … vor nichts

Jin brütete über diesen Worten. »Warum ist er so?« Er erinnerte sich nur zu gut an Dantes durchdringenden Blick. Hinter der Leichtigkeit, mit der er auftrat, lag etwas Finsteres.

»Es heißt, Teufel haben seine Familie ausgelöscht. Seitdem lebt er in seiner eigenen Realität, einer Realität, in der es nur ihn und seinen Rachefeldzug gibt. Er liebt es, Dämonen zu töten. Er ist fanatisch auf sie fixiert.« Unbehaglich knetete der Ältere seine Hände; auch ihm war das Frösteln nun anzumerken. »Es heißt, wenn er keine Teufel mehr findet, wird er … vielleicht nicht aufhören mit dem Töten.«

Im Gebälk über ihren Köpfen knackte es. Jin wunderte sich, warum es hier keine Vögel gab; keine Tauben, keine Krähen. »Dämonen zu töten und Menschen zu töten sind zwei sehr verschiedene Dinge«, sagte er.

»Ich weiß«, erklärte der Fremde ernst. »Du möchtest einen Dämon töten. Ich kann dir dabei helfen.«

Jin sah ihn wortlos an. Sein Misstrauen war nicht kleiner geworden, im Gegenteil: Wenn er Dante nicht trauen sollte, warum dann diesem namenlosen Fremden?

Der Mann rückte näher an ihn heran – fast unangenehm nahe –, und sagte dann in ruhigem Ton dicht an Jins Ohr: »Zeig ihn mir.«

Eilig stellte Jin die alte Distanz zwischen ihnen wieder her. Seine Hand ließ er zwischen ihnen auf der Bank liegen. »Was soll ich zeigen?« Doch er wusste es.

»Deinen Teufel. Ich will ihn sehen.«

»Das geht nicht.«

»Tut mir leid, aber es ist wichtig. Ich muss ihn sehen.«

»Nein.« Jin rückte weiter von dem Fremden ab. Dessen Blick hatte sich verändert; seine Augen glänzten nun, sahen beinahe fiebrig aus. »Sie wissen nicht, was Sie verlangen.«

»Das kann ich besser beurteilen, meinst du nicht? Mach dir keine Sorgen.«

Etwas war nicht richtig.

Der blonde Mann fixierte Jin. Sein Lächeln war verschwunden, der freundliche Ton einer unerwarteten Kühle gewichen. Einen Moment lang starrte Jin zurück – dann wurde das Gefühl der Gefahr übermächtig. Blitzschnell spannte er seine Muskeln und sprang von der Bank auf. Die Bewegung seines Nachbarn sah er nur noch aus den Augenwinkeln, denn dieser hatte im selben Augenblick reagiert: Ein kurzer Griff an seinen Gürtel, dann sauste mit lautem Sirren etwas quer durch die kalte Luft und schlug mit siebenfachem Scheppern auf dem Steinboden auf.

Jin versuchte hektisch seine Gedanken zu ordnen. Alle seine Synapsen feuerten. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig geduckt: In der Hand des anderen Mannes lag das Ding, das Jin im Dunkeln nicht hatte erkennen können, nun voll entfaltet – eine mächtige, siebenschwänzige Geißel. Ihre dornbewehrten Enden blinkten im Kerzenschein rot auf.

»Zeig ihn mir!«, befahl der Fremde. Er zitterte nun. Erneut schlug er mit der Peitsche zu – wieder ins Leere.

Jin rollte geschmeidig beiseite und floh hinter die erste Bankreihe. So schnell er konnte, entledigte er sich des schwarzen Mantels und warf ihn zusammen mit dem gleichfarbigen Lederrucksack, der sein weniges Reisegepäck enthielt, irgendwo in die hinteren Reihen. Er musste sich frei bewegen können.

Sein Angreifer hatte sich zwischen ihm und der Tür positioniert. Er sah aus, als wäre er selbst entsetzt über das, was er tat. »Es muss sein!«, rief er heiser, beinahe jämmerlich. Das Echo durchquerte den Raum wie der Peitschenknall, dem Jin gerade noch entgangen war. »Dein Teufel! Na los, zeig ihn mir!«

Jin lauerte angespannt einen Moment lang in Kauerstellung, dann wagte er einen Ausbruch in Richtung Flügeltür. Der Mann fuhr herum, die Geißel krachte unmittelbar neben Jin auf den Stein. Einer der Dornen streifte seinen Arm mit ihrem roten Biss, und er zuckte zurück. »Hör auf!«, fuhr er den Fremden an. »Du weißt nicht, was du aufweckst, du Narr!«

Der Andere lachte. Ein wildes, trauriges Lachen. »Ich glaube, das weiß ich sogar besser als du.«

Erneut warf Jin sich zur Seite, um der Peitsche auszuweichen. Sie war eine furchteinflößende Waffe, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dieser Mann in der kurzen Lederjacke, der nicht jünger als fünfzig sein konnte, schwang sie mit einer Anmut, die die schwere, rohe Kraft der langen Knuten in tödliche Präzision verwandelte. Jin wusste, dass er aufgrund der Reichweite einer solchen Waffe nur dann eine Möglichkeit hatte, diesen Kampf für sich zu entscheiden, wenn er diesen Wahnsinnigen an sich herankommen ließ und ihm die Peitsche abnahm. Anders ging es nicht. Devil würde sich einen sinnlosen Kampf nicht ewig ansehen.

Jin sprang auf die Füße, um in seine Abwehrhaltung zu wechseln. Mit kurzen Sätzen entging er den nächsten groben Schlägen in seine Richtung, ohne den ganzen Körper zur Seite werfen zu müssen. Dadurch blieb er in Bewegung. Seine Fäuste hielt er zur Sicherheit erhoben, doch abwehren würde er dieses Monstrum von Waffe mit ihnen nicht können; er musste ausweichen, durfte sich nicht von den Dornen berühren lassen. Jeder noch so kurze Schmerz riss an Devils unruhigem Schlaf.

Mit dem nächsten Vorstoß gelang es Jin, unter dem gut gezielten Hieb abzutauchen und seinem Kontrahenten näher zu kommen. Ohne zu zögern platzierte er die Fußspitze in dessen Kniekehle, um einen Schmerzreiz auszulösen, der jeden unerfahrenen Gegner aus dem Konzept und vielleicht sogar zu Fall gebracht hätte. Der Mann schrie leise auf, doch nur das getroffene Knie knickte ein; mit dem anderen machte er einen Ausfall, bewahrte sich vor dem Sturz.

Jin sprang vor dem nächsten Schlag der sieben pfeifenden, wirbelnden Spitzen beiseite und hob erneut den Fuß, diesmal um dem Anderen mitten in das ihn noch stützende Beine zu treten. Der Treffer saß präzise. Der Fremde stürzte hin, sofort, die Miene schmerzverzerrt.

»Sie sollten mich in Ruhe lassen«, sagte Jin, so ruhig er konnte, doch sein Adrenalinpegel kletterte immer noch weiter. »Sie wissen nicht, was Sie da tun.«

»Das weiß ich sehr genau«, ächzte der Mann. Mit einer zittrigen Hand wischte er sich das schweißfeuchte Haar aus dem Gesicht.

Jin hatte eine Gänsehaut. Das aufgeregte, fast irrsinnige Funkeln in den Augen dieses Mannes sagte ihm, dass er es vielleicht wirklich wusste.

Devil knurrte in ihm. Jin raffte alle geistige Kontrolle zusammen, alle Konzentration. Nicht jetzt.

Sein Kontrahent nutzte den Moment, er zwang sich auf die Füße, drückte die malträtierten Knie durch. »Ich zeige es dir«, keuchte er. »dann verstehst du schon!«

Jin schwankte plötzlich. Er fand nicht die mentale Kraft, den nächsten Hieb abzuwehren. Jäh spürte er die ganze Wucht der siebenschwänzigen Peitsche quer über seine Seite pflügen und das Fleisch aufreißen. Ein Schmerz wie reines Feuer, der alles in ihm versengte – sogar Devils Zorn. Es war, als ob dieser fast überirdische Schmerz sogar einen Moment lang stärker war als Devil – als würde in den sieben Dornen eine Macht wohnen, die den Dämon betäubte.

Aber sie betäubte auch Jin.

Seitwärts taumelnd drehte er sich nach dem Fremden um, ging ihn an, fast blind, ohne Hoffnung, ihn überhaupt zu treffen.

Sein Angreifer sah die Bewegung kommen, doch er ließ die Peitsche fallen, warf sie geradezu von sich. Stattdessen schnellte die fleckige Hand zur Jackentasche und von dort wieder zurück. Jin spürte den kräftigen Fausthieb in seine eigene ungeschützte Seite.

Der Schmerz war wie eine Explosion und riss ihm die Luft aus dem Körper. Jins Hände jagten hoch zu der getroffenen Stelle, die sich warm und nass anfühlte. Keuchend fiel er auf die Knie. Er hatte den Treffer für einen Faustschlag gehalten, doch nun sah er zwischen seinen Fingern dunkles, warmes Blut hervorquellen.

Ein Messerstich.

Eiseskälte befiel ihn und zugleich die schwarze Wut. »Das war ein Fehler!«, spie er seinem Gegner entgegen und fletschte die Zähne. Sein Herzschlag beschleunigte sich auf die Frequenz eines Presslufthammers. Hitze floss aus seinem Innersten bis in alle Zeh- und Fingerspitzen. Devil öffnete alle drei Augen weit.

Vor ihm lag der andere Mann in seiner braunen Jacke auf dem Bauch, einen zugleich verschreckten und freudig erregten Blick in den leuchtenden Augen. Die tropfende Messerklinge zog eine Spur aus roten Flecken, als er die Hand zitternd wieder an den Körper zog. »Weigere dich nicht länger«, keuchte er. »Gib ihm nach

Jin ging neben ihm zu Boden. Um Beherrschung und Bewusstsein ringend wand er sich auf dem kalten, von hundert Jahre altem Staub bedeckten Stein. Umsonst. Sein Blickfeld verengte sich, versank immer mehr in dunklem Violett. Seine Sehnen und Muskeln pulsierten von Feuer.

Dann brachen die Dämme.

Jin schrie heiser auf, als er endgültig die Kontrolle verlor und mit jeder Faser spürte, wie sein Bewusstsein in rotem Zorn ertrank.

Dann wurde alles finster.

Ouvertüre: 2-2

2-2: DANTE
 

Seitdem der reiche Japaner, oder was auch immer er sein wollte, von seinem Büro verschwunden war, hatte Dante sich nicht gerührt. Er stand noch immer an genau derselben Stelle vor seiner nun geschlossenen Tür mit ihren filigranen Verzierungen und starrte auf die getönte Glaseinfassung.

Eigentlich hatte er über Trish und die überfällige Suche nach ihr grübeln wollen, doch nun kehrten seine Gedanken immer wieder zu dem komischen Vogel zurück, der ausgesehen hatte wie die finstere Verzerrung einer japanischen Comicfigur und der so überhaupt nicht auf Dantes Einschüchterungstaktik angesprungen war.

Der hielt sich allen Ernstes für einen Dämon? Wie kam man auf so was?

Nicht, dass es nicht möglich gewesen wäre. Die Welt war voll von Dämonen, die in menschlicher Gestalt herumliefen und ihr Unheil auf subtilere Weise verübten als das niedere Gesocks, mit dem er fast täglich zu tun hatte. Aber Dante kannte sich mit Teufeln aus. Er glaubte, sie mittlerweile in jeder Form und Gestalt erkennen zu können. Und: Sein Sensor schlug auch dann an, wenn ein besonders hoch entwickelter Dämon die Kontrolle über einen menschlichen Körper ausübte. Bei dem reichen Japaner war das nicht der Fall gewesen. Der war völlig er selbst. Verhärmt und einsam hatte er ausgesehen, Düsternis ausstrahlend wie andere Männer seines Status den Duft ihres Aftershaves. Aber er hatte als normaler Mensch mit ihm gesprochen. Kein verräterisches Flackern in den Augen, kein unterschwelliges Grollen in der Stimmlage, das normale Menschen nicht hören konnten, kein auffälliges Zucken der Muskeln, wenn der Dämon den ihm fremden Leib nur unbeholfen kontrollierte. Sondern einfach nur ein Mensch. Ein reicher, trauriger und vielleicht geistesgestörter Mensch.

Hätte ihn zu den Cops oder zu einem Arzt schicken können, dachte Dante. Aber im Moment hatte er weder Zeit noch Muße für Mitleid und Hilfsbereitschaft. Manchmal mussten die Leute einfach mal selber zurechtkommen. Ich bin doch kein Seelsorger für jedes arme Schwein, das an meiner Tür vorbeikommt.

Im Übrigen konnte Dante reiche Leute nicht ausstehen. Die meisten dieser Schurken beuteten Schwächere bis auf das letzte Hemd aus und saßen sich auf deren harter Arbeit die Ärsche platt. Die Welt war ungerecht, vor allem in Sachen Geld. Ihm war bewusst, dass er selbst kein Sinnbild der Tugendhaftigkeit war. Doch Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren Tugenden, an denen er festhielt. Er hielt nichts von Lügen, Betrügen und dem Ausnutzen von Schwäche; er fand, dass richtige Männer das nicht nötig haben sollten. Leider wurden richtige Männer immer seltener. Genauso wie richtige Frauen. Schade eigentlich.

Auf seinem Weg in die Küche machte er einen großen Schritt über ein Billard-Queue, das im Weg lag. Er dachte gar nicht daran, es aufzuheben. In dem Moment, als er den Teekessel in die Spüle gestellt und das Wasser aufgedreht hatte, klingelte sein Telefon – ein antikes Telefon aus den Zwanzigern mit einem Messinggehäuse, einer gläsernen Wählscheibe und schrillem, dennoch melodischem Klingeln, das er dreimal ignorierte, bevor er abnahm.

Nach dem dritten Klingeln verstummte das Gerät.

Auch das noch.

Das bedeutete, es waren die Cops.

Missmutig drehte Dante den Wasserhahn zu, ließ den Kessel stehen und ging wieder ins Büro, wo er den Hörer nahm und auf der schnurrenden Wählscheibe 911 wählte. Als der Anruf durchgestellt wurde und am anderen Ende jemand abnahm, sagte er so freundlich wie möglich: »Hey. Du hast angerufen.«

»Na Gott sei Dank, du bist zu Hause«, murrte es am anderen Ende. »Los, warm anziehen. Wir brauchen dich in Hallow Hills.«

»Es ist immer Hallow Hills, oder?« Dämonen schienen den düsteren Vorort zu lieben. »Wie auch immer, du weißt, dass ich mich ohne offiziellen Auftrag vom Police Department gar nicht erst über meine Türschwelle bewege.«

»Und DU weißt, dass du kein E-Mail-Konto hast«, schnarrte es. »Herrgott, du hast nicht mal ein Faxgerät!« Chief Fordham klang genauso vergnügt wie jeden Mittwochabend, seit er sein Amt angetreten hatte. »Meine Ansage muss dir jetzt offiziell genug sein. Paulus-Kirche. Mach schnell.«

Dante zwang sich, seine Verdrossenheit im Zaum zu halten, und knirschte: »Bin auf dem Weg«, ehe er den Hörer zurück auf die Gabel schnippte und seinem Schreibtisch einen Tritt gab, der die massive Eiche nicht beeindruckte.

Er musste zugeben, dass er mit dem Chief auch nicht tauschen wollte. Das Konzept, dass in jedem Kaff ein Typ an die Spitze der Macht gewählt wurde und dann als Sheriff jegliche Polizeigewalt innehatte – völlig egal, ob er dazu ausgebildet war oder nicht – hatte ihn schon immer mehr verwundert als fasziniert; aber in einem Police Department sollte es keine Wahlen geben, sondern Ernennungen. Klar standen die geltenden Gesetze in Büchern, aber Beachtung fand meistens sowieso nur das eine, das jeden Bürger ermutigte, eine Waffe zu führen, damit er sein Hab und Gut selbst beschützen konnte.

Jedenfalls musste die Entwicklung eines heldenhaften Plans wieder verschoben werden. Dante würde diese Sache mit Trishs Verschwinden nicht den Cops anvertrauen, auch wenn es fähige Leute unter ihnen gab. Es war … zu persönlich.

Dennoch musste er jetzt erst einmal für die Polizei irgendwas umbringen.

Ergeben packte Dante den Kragen seines roten Mantels, der mit seinen Metallbeschlägen, seiner Lederhaut und der Fütterung gute zwanzig Pfund wog, und warf ihn um die Schultern, ehe er zur rechten Wand trat und Rebellion von der Halterung nahm. Wäre der reiche Japaner weiter hereingekommen, hätte er das Schwert sehen können und wäre vielleicht von alleine verduftet. Die mehr als armlange Klinge mit dem breiten, wie eine Teufelsfratze aussehenden Griff jagte Fremden oft noch mehr Angst ein als die Trophäen, die an der hinteren Wand und auch neben der Tür aufgehängt waren: Köpfe erlegter Monster mit im Tode verzerrten Grimassen und entblößten Fangzähnen. Es gab wenig, das dekorativer war.

In den beiden Holstern, die an seinem breiten Gürtel aufgezogen waren, versenkte Dante Ebony und Ivory, seine handgefertigten Pistolen, die ihn auf jeden Einsatz begleiteten. Dann marschierte er zur Tür und dachte einen kurzen Moment darüber nach, sie einzutreten. Doch was sollte das, wenn sowieso niemand zusah und Trish nicht genervt die Augen verdrehte? Also öffnete und schloss er die Pforten zu seinem Reich wie ein normaler Mensch und trat hinaus in die Dunkelheit.
 

Dantes Wohnort – das einzige auf Landkarten verzeichnete Kuriositätenkabinett der Welt – war eine mittelgroße Stadt an der oberen Ostküste. Sie hatte Anbindung ans Schnellzugnetz, wenn auch keinen an den Luftverkehr; ein eigener Flughafen war lange geplant gewesen, jedoch schlussendlich nie gebaut worden (schließlich hatte man mit Eastport City ein Hinterland-Drehkreuz ganz in der Nähe). Die Stadt lag zum großen Teil in einen flachen Talkessel, aus dem sie, vor allem im östlichen Teil, bereits herauszukriechen begann wie ein schäumender Sud; allein in den letzten zwanzig Jahren hatte massiver Zuzug sie dramatisch wachsen lassen. Quer durch das Tal floss der River Tyke, ein eher schmaler und träger Strom, dessen einzige Qualität darin bestand, im Sommer malerisch auszusehen. Wegen seines schwachen Gefälles lieferte er den Mühlen nur wenig Energie und führte auch nicht besonders viel Fisch; ein durchweg gewöhnlicher Fluss, den immerhin die kleinen Segelboote und schwimmenden Lokale im Zentrum optisch aufwerteten. Die Stadt zählte etwa achtzigtausend Einwohner, vielleicht hunderttausend mit den wenigen Vororten. Anstelle eines Flughafens gab es ein zumindest eigenes Wissenschaftszentrum sowie eine international renommierte Universität, und als sich rasch entwickelnder Forschungsstandort wurde der Ort vornehmlich bei jungen Akademikern zunehmend beliebter. Die Außenbezirke, vor allem Spatts, Hob’s Town und natürlich Hallow Hills, waren recht beschaulich mit ihrer vorherrschend gotischen und viktorianischen Architektur, doch im Inneren der Stadt pulsierte das moderne Leben, und Wolkenkratzer durchzackten die Skyline, die vom Rand des Tals aus bei Sonnenschein an die schillernden Facetten eines Kristallclusters erinnerte.

Kurz gefasst war die Stadt einerseits klein genug, um unauffällig und uninteressant zu wirken und nicht als erster Anlaufpunkt für Suchende in Frage zu kommen, dabei aber gleichzeitig auch groß genug, um darin in der Anonymität unterzutauchen und nicht so schnell bekannt zu werden wie ein bunter Hund. Eigenschaften, die Dante sehr an ihr schätzte und mit denen die kleineren Nachbarorte Capulet City und Enamel City nicht punkten konnten.

Was Hallow Hills betraf, den äußersten der Vororte: Dieser Bezirk war speziell.
 

Die Paulus-Kapelle stand seit dem Versterben des Grundstückseigentümers nutzlos herum. Sie gehörte nun der Stadtgemeinde, doch diese unterhielt sie nicht, da die Restaurierung sich nicht mehr lohnte, seit die viel größere (und dekorativere) Wallis Church auf dem gleichnamigen Platz stand. Nun verfiel das Gemäuer so vor sich hin. Vor wenigen Jahren noch war von einigen Nostalgikern des Viertels ein Aufruf gestartet worden, Sponsoren für eine Sanierung an Land zu ziehen, um die Kirche wieder einem Nutzen zuführen zu können; doch bei grandioser Erfolglosigkeit war diese Bewegung schnell wieder eingeschlafen.

Dante bremste das Motorrad kurz hinter dem Ortsschild von Hallow Hills und ließ es dort stehen. Schon von Weitem konnte er die Vorderseite der kleinen, windschiefen Kapelle sehen, vor der ein wild blinkender, aber nicht jaulender Streifenwagen stand, umrundet von drei ratlos nach oben blickenden Gestalten in blauen Uniformen. Ganz vorn stand breitbeinig Chief Fordham, als Einziger in Jeans und khakifarbenem Polohemd und mit seinem albernen Rangerhut auf dem Kopf. Als er Dante sah, nickte er ihm zu, aber seine grimmige Miene blieb steinern. Nur Fordham schaffte es, seine Mundwinkel so zu verziehen, dass sein Mund wie ein umgedrehtes U aussah.

»Da bist du ja endlich«, seufzte der Chief, als Dante in aller Ruhe an die Gruppe herangetreten war. »Hat ja ewig gedauert. Dabei höre ich immer wieder jemanden behaupten, du könntest fliegen. Und toll, du schleppst allen Ernstes wieder dieses Schlachtmesser an.«

»Ich erinnere mich, dass irgendjemand hat gesagt, ich soll arbeiten.«

Fordham brummte. Dante ließ sich aus Prinzip nicht von ihm aufziehen. Es mochte sein, dass er zurzeit ein wenig emotional instabil war, doch für den Moment hatte er seine Coolness zurück gewonnen. Lässig fragte er: »Wo ist das Ding?«

»Ist dir etwa nichts aufgefallen?«, fragte der Chief mürrisch. »Guck nach oben.«

Dante hob den Kopf. Oh. Erst jetzt bemerkte er, dass das halbe Dach der Kirche fehlte. Oder besser: Es befand sich nicht mehr dort, wo Dächer sich normalerweise befanden. Vermutlich lag es in Trümmern im Inneren des Gebäudes, direkt unter dem klaffenden Loch.

Dante schnalzte mit der Zunge. »Naja, war ja nur eine Frage der Zeit, bis es den Kasten zerlegt.«

»Würdest du bitte noch weiter nach oben sehen?« Fordham gestikulierte ungeduldig.

Folgsam legte Dante den Kopf in den Nacken und spähte, soweit es möglich war, von unten über den Dachrand der Kapelle. Den noch halb stehenden Teil der Turmkuppel, dessen Glaseinlagen in bunten Splittern über die die Ziegel verstreut lagen, hatte er zunächst nicht weiter beachtet, doch nun sah er, dass dort ein dunkler Schatten hockte. Der Umriss erinnerte entfernt an einen Menschen, doch aus dem in Schwärze liegendem Gesicht starrten zwei rot glühende Augen direkt auf sie herab.

Oh, dachte er aufs Neue. »Er beobachtet uns.«

»Richtig erkannt, Sherlock.«

Das Ding kauerte halb unter dem Dachloch auf einem Balken, ein Bein angewinkelt, und quittierte Dantes drohenden Blick mit keiner Regung. Es hatte lange Hörner, die seitlich aus den Schläfen herauswuchsen und in halber Windung nach vorn zeigten. Dante schärfte seinen Blick noch ein wenig mehr; ja, Krallen hatte das Ding auch, und wie. Er überlegte, wo er es am besten packen sollte. Dämonen kämpften in aller Regel nach einem vorhersehbaren Schema, und wie bei einem Computercode folgte auf einen bestimmten Input immer die gleiche Reaktion. Diese Dinger hatten eine Art Battle Mode, ein abrufbares Verhaltensprogramm, das sie mehr instinktiv denn überlegt kämpfen ließ. Jede Spezies war eigen in Sachen Angriff und Abwehr, aber einmal durchschaut, waren sie unproblematisch zu töten – wenn man über die nötige Stärke und die richtigen Waffen verfügte.

»Na dann«, sagte Dante und legte Rebellions Klinge quer über die Schultern, ehe er sich gemächlich in Bewegung setzte. Let’s rock.

Er gab den Polizisten ein halbherziges Handzeichen und schlenderte durch das offenstehende Eingangsportal ins völlig demolierte Innere der Kapelle.
 

Wie erwartet sah es dort drinnen noch chaotischer aus als bei ihm zu Hause. Dachstücke, sowohl behauene Steinbrocken als auch ganze Elemente des Buntglasfensters, lagen herum wie langweilig gewordene Bauklötze, und noch immer rieselte Staub aus dem gähnenden Loch in der Decke, durch das ein dünner Strahl silbrigen Mondlichts hereinfiel. Die alten Bänke waren kreuz und quer verstreut und umgeworfen, mindestens drei waren durchgebrochen. Auf dem Altar brannte noch eine einzelne Kerze; alle anderen lagen auf dem Boden in erstarrten Lachen ihres geschmolzenen Wachses, unschuldig weiße Flecke inmitten des stummen Chaos.

Dante schaute nach oben zum Dachbalken, auf dem der Teufel hockte wie eine Eule. Sie musterten einander. Jeden Moment würde das Ding die Geduld verlieren und durch das Loch im Dach zu ihm hinunter springen.

»Dante!«, hörte er Chief Fordham von außen krähen. »Wie lange wird’s dauern?«

»Zehn Minuten«, antwortete Dante. »Ihr bewacht die Tür.«

»Worauf du wetten kannst.«

Er hörte die schwere Kirchentür zufallen, erst die eine Seite, dann die andere. Dann Stille.

Als sich einige Sekunden später immer noch nichts regte, rief Dante Richtung Decke: »Brauchst du noch lange? Ich hab heute noch was vor.«

Kurz darauf polterte ein tiefes, abgehacktes Gelächter zu ihm hinunter. »Eine kleine Ratte ist aus ihrem Loch gekrochen und mischt sich in meine Pläne ein?«

Erstaunt nahm Dante den Klang der Stimme zur Kenntnis. Es war die eines Menschen – zumindest oberflächlich. Getragen wurde sie vom donnernden Bass eines Dämons, ihr Unterton nicht hörbar für Fordham und die anderen Polizisten. Es war ein Teufel, der in einem Menschen saß.

Ein ungutes Gefühl befiel Dante. Schnell riss er den Blick von der fehlenden Kuppel los und ließ ihn durch das Kircheninnere gleiten, von einer Seite zur anderen, unter jede der Bänke. Was, wenn irgendwo –

– oh ja. Dort lag der schwarze Mantel, daneben der Reiserucksack. Bull’s Eye.

Der reiche Japaner hatte die Wahrheit gesagt. Jetzt waren alle Warnzeichen vorhanden, alle, die bei seinem Auftritt auf Dantes Türschwelle gefehlt hatten: die boshafte Aura, die trockene Hitze, der stechende Geruch nach schwarzer Erde, nassem Stein und kalter Asche.

»Komm runter!«, rief Dante, und die Mischung aus Ärger und Bestürzung verlieh seiner Stimme zusätzliche Kraft. »Los, komm spielen!«

Er wusste, was er tun musste. Der Gedanke schmeckte ihm gar nicht. Einen starken Teufel vom Körper eines Menschen zu lösen war so gut wie unmöglich. Diese Monster ließen nicht los, sie klammerten sich wie Parasiten an das blanke Leben ihres Opfers, infiltrierten dessen Geist und schleusten ihre eigenen zerstörerischen Überzeugungen ein. Ein derartig versklavter Mensch litt solcherlei Qualen, dass es eine Erlösung für ihn war, zusammen mit seinem Peiniger sein Leben auszuhauchen, und nicht selten bettelten die Opfer in lichten Momenten sogar um den Tod, um von ihrem Dasein als leere Marionetten befreit zu werden.

Dante hasste diesen Job. Es war selten nötig, aber wenn, dann war es das Übelste, das er aufgrund seiner Berufung zu tun gezwungen war. Dieses Verhalten, das das pure Böse in der Natur von Teufeln offenbarte, ließ ihn die Höllenbrut nur noch tiefer verabscheuen.

Und dieser Mann – er kannte nicht mal seinen Namen – war zu ihm gekommen, um ihn um Hilfe zu bitten. Zweifellos hatte er gewusst, was ihm bevorstand. Und er hatte seine letzte Hoffnung in Dante gesetzt.

Und Dante hatte ihn im Stich gelassen.

Nun war es zu spät. Das Monster hatte die Kontrolle übernommen; jetzt gab es keinen Ausweg mehr. Nur eine gute halbe Stunde war es her, dass Dante hätte eingreifen können, dieses Leben vielleicht hätte retten können.

Am besten hoffte einfach niemand mehr darauf, dass er irgendwas rettete.

»Komm runter!«, brüllte er ein zweites Mal zum Dach hinauf.

Und das Ding lärmte zurück: »Du erbärmliche Kreatur forderst mich heraus? Ich werde dich zum Schweigen bringen!«

Das typische Drohgeschwätz lenkte Dante nicht von einer bemerkenswerten Tatsache ab: Er störte dieses Vieh bei irgendwas. Es hockte dort oben, weil es mit irgendetwas beschäftigt war. Vielleicht damit, den armen Kerl, in dem es haust, in Schach zu halten. Zeit, es abzulenken.

»Weißt du, ich bin kein Exorzist, aber irgendwas sagt mir, dass dein Wirt mit Bibelzitaten nicht weit kommen würde.« Er hob die sehr schwere, sehr staubige Ausgabe des Neuen Testaments vom Altar und warf sie nach dem Biest – locker die zehn Fuß hoch, mit schönem Linksdrall, sodass sich der Wälzer drehte wie eine Frisbee und dem Dämon zwischen die Beine pflügte.

Das dem Aufschlag folgende Aufheulen war eindeutig mehr Wut als Schmerz. Welches Monster rechnete schon damit, dass ein Mensch auf diese Art werfen konnte?

Die Provokation zeigte Wirkung. Über Dante krachte es, dann verdunkelte sich das Mondlicht, und aus dem Loch in der Kuppel stürzte sich das Monster auf ihn herab. Aus seinem Rücken ragten riesige Flügel, die sich im freien Fall entfalteten und mit nur einem einzigen mächtigen Schlag sämtlichen Staub aufwirbelten, den die Trümmer auf dem Boden verteilt hatten. Sie waren nicht ledrig und klauenbewehrt, sondern schwarz befiedert wie die eines dunklen Engels, und ihr Luftstoß beim Aufprall des Teufels riss Dante fast von den Füßen.

Die bläulichen Lippen zu einem Grinsen verzerrend richtete sich das Ungetüm vor ihm auf. Es war der reiche Japaner von vorhin. Sein Hemd hing in Fetzen, wo Flügel und Krallen es zerrissen hatten, und die zerkratzte Haut, die sich über stählerne Muskeln und Sehnen spannte, glänzte feucht von Schweiß. Der junge Mann bleckte messerscharfe Zähne und taxierte Dante aus leuchtenden Augen mit schlitzförmiger Pupille. Auf Brust und Stirn glommen gezackte Linien wie tätowierte Blitze, und die Hörner waren drohend auf Dantes Brust gerichtet. Auf der Stirn leuchtete ein rotes Auge wie ein in die Haut gebrannter Rubin.

Dante musterte das Monster und verzog angewidert das Gesicht. »Bah, auf dritte Augen reagiere ich allergisch.«

»Du bist meinem Plan im Weg!«, grollte der Teufel.

»Komm an mir vorbei, dann reden wir drüber.«

Dante wollte diese Sache schnell hinter sich bringen. Das Mistvieh konnte fliegen, was hieß, dass es jederzeit verduften und sich auf Wehrlose stürzen konnte, wenn ihm danach war. Er musste es im Inneren der Kirche zur Strecke bringen. Also griff er es an. Von vorn. Mit dem Schwert. Die Bengrenzung des Raumes machte es ihm leicht, an das Biest heranzukommen, es konnte nach nirgendwo entkommen außer nach oben – dachte er. Dann aber wich es seinen Schwertstreichen unerwartet wendig aus; schlimmer noch, es parierte sie sogar mit Hieben seiner gepanzerten Pranken. Jedes Aufeinandertreffen der beiden ließ Funken regnen. Schon nach wenigen Vorstößen hatte der Dämon den Spieß umgedreht und trieb Dante zur Wand, mit Schlägen und Tritten. Dante wehrte alles ab, aber er war ehrlich verdutzt. Die überaus koordinierten, vorausschauenden Attacken und Abwehrmanöver sprachen eine glasklare Sprache.

Ein Karateka, kam ihm die längst überfällige Kenntnis. Und dann: Ernsthaft?

Der Karate-Dämon bemerkte sein Zögern und fletschte die Zähne, einem Grinsen nicht unähnlich. Parasitäre Teufel bedienten sich immer der Fähigkeiten ihres Wirts, dessen Körper die physischen Limits vorgab.

Dante schnaubte. »War ja klar. Kaum verwirrt sich ein Japaner zu mir, ist er ein Martial Arts-Profi. Hättest du dir nicht einen Bonsai-Gärtner aussuchen können?«

»Du hältst mich von meiner Suche ab. Stirb!«, fauchte das Ungetüm, dann sprang es ihn wieder an.

Dante machte einen Ausfall zu Seite, ehe die Krallen dort auf die Wand trafen, wo eben noch seine Brust gewesen war. Leichtfüßig brachte er sich hinter dem nächsten Pfeiler in Deckung. Gut, ganz so einfach war die Sache nicht: Im Nahkampf war er diesem Monster rein technisch unterlegen. Also musste er anders vorgehen. Irgendwie … anders. Er war kein guter Stratege. Meistens probierte er einfach etwas aus und sah zu, was herauskam.

Gerade erhob das Ding drohend seine gewaltigen Fäuste und ballte sie so fest, dass die Krallen ins Fleisch der Handballen schnitten. Dünne Rinnsale sickerten bis hinunter zu den Ellenbogen, aus denen ebenfalls zwei dolchartige Stacheln wuchsen. »Kämpfe, Mensch!«, dröhnte der Dämon.

Dante beschloss, ihm den Gefallen zu tun. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er Ivory aus ihrem Halfter gerissen und jagte dem Monster die erste Kugel mitten in das glühende dritte Auge.

Es schrie auf – menschlich und teuflisch zugleich –, machte einen schwankenden Schritt rückwärts und tat dann genau das, was Dante erwartet hatte: Das getroffene, blutende Auge sprang auf und feuerte einen heißen, pfeifenden Strahl aus plasmatischem Licht in Dantes Richtung. Der Laser zerteilte die umgestürzte Bank, vor der Dante gerade noch gestanden hatte, glatt in zwei rauchende Hälften. Dante hatte das Manöver kommen sehen und entkam durch einen mühelosen Rückwärtssalto, der ihn auf der schmalen Lehne einer weiteren Bank landen ließ.

»Bist du fertig?«, spottete er. »Dann bin ich jetzt dran.« Er hatte den winzigen Zeitraum erkannt, der dem Abfeuern des tödlichen Lasers voranging, und den nächsten dieser Art würde er nutzen, um den Kampf zu Ende zu bringen.

Der Teufel senkte den Kopf und stürzte auf ihn zu wie ein Stier auf den Matador. Der Zorn über Dantes Unverfrorenheit ließ seinen beherrschten Kampfstil in rohe Brutalität umschlagen.

Auf der nur wenige Zoll breiten Holzleiste balancierend zog Dante blitzschnell Rebellion vor den Körper und schlug mit diesem ersten Hieb die Hörner des Teufels aus dem Weg. Wie geplant wich dieser getroffen vor ihm zurück und verharrte einen winzigen Moment, um die Energie für seinen nächsten Blaster-Angriff zu sammeln. Das langte völlig. Zu spät riss der Dämon die blutigen Fäuste hoch; seine ungeschützte Kehle lag plötzlich an Rebellions Schneide, seine Schulterblätter an der Wand, die Flügel eingeklemmt.

Dante spannte die Muskeln seines Schwertarms. Nur ein kurzer Druck auf den Griff fehlte, dann würde das Metall über die Gurgel fahren und die Knorpelspangen der Luftröhre wie ein Tranchiermesser durchtrennen.

Er zögerte eine Sekunde. Dann noch eine.

Verdammt. Das hier war der Kerl, der in seiner Tür gestanden hatte. Der reiche Japaner mit dem harten, verzweifelten Blick, der ihm besiegt den Rücken gekehrt hatte und gegangen war. Um hier und jetzt mit durchgeschnittener Kehle zu Boden zu fallen und an seinem eigenen Blut zu ersticken. Muss dieser ätzende Tag denn immer noch schlimmer werden?

Das Monster grollte. Beide Augen waren fest auf Dante gerichtet, seine ganze Haltung pure Provokation, obwohl es so gut wie tot war.

Dante sah dem Wesen direkt in die Augen. »Weißt du, ich fürchte, das hier ist nicht mein Stil.« Und er nahm die Klinge weg.

Sofort duckte sich der Teufel mit einem geschmeidigen Manöver beiseite, fächerte die Flügel – Staub wirbelte auf wie Pulverschnee – und riss die Faust hoch, um sie in Dantes Unterbauch zu rammen. Dante reagierte schnell und ließ sich rückwärts von der Bank fallen, um auf den Händen zu landen und sich zurück in eine aufrechte Position zu katapultieren. Kurz flog Rebellion kreiselnd durch die Luft, dann landete der Griff zielsicher in seiner ausgestreckten Hand. Zirkusreif. Dante grinste den Karate-Dämon an. Ihm gefiel die wuchtige Eleganz, mit der das Biest kämpfte, aber sie setzte ihn keineswegs schachmatt.

»He, wollen wir mal was Anderes versuchen?«

Von Dantes Gewandtheit sichtbar aus dem Konzept gebracht, ging der Teufel erneut in Angriffsstellung. Wieder schnellte seine krallenbewehrte Faust vor. Dante ließ ihn an sich vorbeilaufen, erklomm leichtfüßig die nächste Bank und verließ sie auch sofort wieder, als sein Gegner mit einem heiseren Wutschrei auf das Möbelstück eindrosch und es mit beiden Fäusten brutal zertrümmerte.

Mitleidig blickte Dante auf diese geballte Ladung Kraft und Hass hinunter. »Wird Zeit, dass wir dich zurückverwandeln«, stellte er fest.

Und er packte das Schwert und rammte es mit beiden Händen zwischen die Hörner des aufspringenden Monsters, sodass es sich zwischen den beiden Spitzen verkeilte. Mit aller Kraft drehte er den Körper und lenkte allen Schwung, der aus dieser Bewegung entstand, in Rebellion.

Die Klinge schleuderte den Teufel durch die Luft, gut mannshoch und mehr als doppelt so weit. Hilflos schlugen die Flügel, doch auf dem kurzen Weg konnte auch ihr Aufwind nicht verhindern, dass der ganze Körper rücklings gegen die steinerne Wand geschmettert wurde. Es krachte, Knochen knirschten, das Gemäuer erzitterte und ließ erneut Steine herabregnen.
 

Ein dunkelviolettes Licht blitzte auf und hüllte den still liegenden Leib des Dämons ein. Geblendet wandte Dante den Kopf ab und schützte seine Augen. Das Licht schien kurzzeitig den ganzen demolierten Raum zu erfüllen, dann verblasste es langsam und verschwand schließlich zur Gänze. Schummriges Halbdunkel kehrte zurück.

Sobald Dante wieder vage Umrisse erkennen konnte, ging er dorthin, wo der reiche Japaner in seinem zerfetzten Hemd am Boden lag. Halb befürchtete er, das Biest würde doch noch einmal aufspringen, aber alles blieb ruhig. Als Dante auf ihn herabschaute, sah er nicht den Dämon, sondern nur den jungen Mann.

»Du kannst dich also zurückverwandeln. Besser als nichts, würd ich sagen.« Er schlenderte zu den Überresten der zerstörten Bänke, um den Mantel und den Rucksack aufzulesen.

Der bewusstlose Mann lag völlig still, fast leblos. Dante ließ die Sachen neben ihm auf den Stein fallen, dann kniete er sich zu ihm und betrachtete ihn prüfend. Glücklicherweise hatte der arme Kerl keine Kopfverletzung davongetragen. Seine Atmung war flach und beschleunigt, aber unbeeinträchtigt. Dante bemerkte dunkle Flecken von trocknendem Blut, die ihm während des rasanten Kampfes im Halbdunkel nicht aufgefallen waren. Vorsichtig streckte er die Finger aus und berührte die Wunde in der Flanke des Mannes. Es war eine Stichwunde, und sie blutete noch. Das war … seltsam. Die Teufelskräfte hätten die Verletzung heilen müssen. Es sei denn …

Dante verdrängte den Gedanken vorerst. Erst mal musste die Wunde versorgt werden, denn obwohl sie nicht groß war, war sie sicher tief. Die Wundränder sahen glatt aus, also war die Klinge kurz und scharf gewesen. Keine Machete, kein Buschmesser. Ein Springmesser vielleicht.

»Dante!« Fordhams ärgerliche Stimme durchschnitt die Stille in mindestens ebensolcher Schärfe. »Du hast gesagt, zehn Minuten! Bist du fertig?«

»Was glaubst du?« Dante rieb die blutigen Fingerspitzen an seiner Hose ab und schaute zur Tür. »He, Chief, kann dein Team den Typen zusammenflicken?«

Statt einer Antwort wurde die Tür aufgestoßen. Chief Fordham trat ein, nur um angesichts des heillosen Chaos im Inneren wie erstarrt stehen zu bleiben. »Allmächtiger!« Sein bestürzter Blick fiel auf den Verletzten, und er kam langsam näher. »… Ist er das?«

»Ja. Lebt.«

»Lebt?«, wiederholte Fordham konsterniert. »Wieso hast du ihn nicht kaltgemacht? Was soll das heißen, wir sollen den zusammenflicken?«

»Mein Job ist es, Teufel zu töten. Das hier ist ein Mensch«, erklärte Dante, als wäre Fordham ein Idiot. Was er auch war. »Kann einer von deinen Leuten die Stichwunde nähen?«

Der Chief knurrte und spuckte aus. »Hör mal, wenn das der Kerl ist – oder das Ding, oder was auch immer –, dann glaubst du doch nicht im Ernst, dass ich den mit zum Department nehme oder sogar in eine Klinik bringe! Von mir aus kann das Sani-Team die Wunde nähen, wenn du das willst. Es ist ja dein Fall.« Fordham machte es sich einfach, wie immer. »Aber alles darüber hinaus ist nicht unser Problem. Wenn du das Ding aufpäppeln willst, dann mach’s selber.«

Dante hatte nichts Anderes erwartet. Er zuckte die Achseln. »Okay.«

»Okay?« Fordham wirkte fast enttäuscht. Wahrscheinlich hatte er gehofft, Dante zu ärgern.

»Ja, okay, von mir aus«, gab Dante gelassen zurück. Er war schwer zu ärgern. Es sei denn, man entführte Trish.

»Wie du meinst. Komisch. Wenn ich es von dir gewohnt wäre, dass du kranke Kätzchen von der Straße aufsammelst, na gut – aber seit wann kümmerst du dich um Andere?«

Die korrekte Antwort hätte gelautet: Ich bin es ihm schuldig. Aber Dante hatte keine Lust, vor Fordham seinen Moralkodex auszubreiten. »Lass das mal meine Sorge sein.«

»Wenn der ausbüxt, bist du verantwortlich.«

»Wird nicht passieren. Was ist, holst du jetzt jemanden oder gucken wir ihm weiter beim Bluten zu?«

Mit einer harten Bewegung rückte der Chief seinen Hut gerade und verzog den Mund erneut zu einem umgedrehten U. »Gefällt mir nicht, die Sache. Aber wie du willst. Ist ja dein Patient.« Und er drehte um und knirschte zurück zum Ausgang, bereits einen Befehl an den Einsatzsanitäter bellend, der sich – in der vergeblichen Hoffnung, nichts mit der Sache zu tun haben zu müssen – hinter dem Streifenwagen herumdrückte.

Dante sah ihm verdrossen nach und blieb minutenlang allein mit dem Verletzten zurück. Die Kirche war nun so still, als sei der tobende Dämon nur ein böser Traum des verwahrlosenden Gemäuers gewesen.

Ouvertüre: 2-3

2-3: YURI
 

Unter dem missbilligenden Blick des Polizisten, der ihn musterte wie ein verwahrlostes Tier, wurde Yuri langsam, aber sicher wütend. Seit der andere, zurückhaltendere Polizist leise aus dem Raum verschwunden war, hatte Anthony Green seinen Gefangenen nicht aus den Augen gelassen.

»Glaubt ihr wirklich, ihr könnt mich hier festhalten?«, fragte Yuri.

Green hob unbeeindruckt die Schultern. »Ich denke schon.«

»Ich bin kein Verbrecher.« Im Gegenteil, dachte er missmutig.

»Wer hat was von Verbrechen gesagt? Warten wir ab, bis das Thiopenthal wirkt.« Green lächelte ihn triumphierend an.

Yuri wünschte, er hätte auch nur die geringste Ahnung, was ihm vorgeworfen wurde. Wer oder was war die SWR? Er fühlte seine Abneigung wachsen.

In diesem Moment ging mit einem Quietschen, das genauso kalt klang, wie die Luft sich anfühlte, die Tür auf, und eine junge Frau, deren blondes Haar zu einem strengen Dutt geknotet war, trat ein. Auf ihrer Nase saß eine starke Brille, und auf dem Plastikschildchen, das in Brusthöhe auf ihrem weißen Kittel befestigt war, stand Dr. Phoebe Lockwood.

»Was haben wir denn hier?«, fragte sie so unbeteiligt, als hätte ihr jemand ein verdrecktes, weinendes Kind vor die Tür gestellt. »Einen Gastarbeiter aus Kasachstan?«

Green lachte auf. »Werden immer raffinierter, nicht wahr? Aber das werden wir schon nach und nach aus ihm rauskitzeln. Die erste Dosis, bitte.«

»Autorisieren Sie mir das bloß korrekt. Ich darf mit dem Zeug nicht rumspielen.«

»Ich unterschreibe alles, was Sie wollen, Phoebe.«

Yuri wusste, dass er hier mit Überzeugungskraft nicht punkten konnte, auch nicht bei der Frau. Wenn ich in meinem Körper von 1913 stecke, dann sehe ich gerade aus wie ein zerschossener Psycho. Super. Noch einmal versuchte er, seine Hände aus den Handschellen zu winden. Mit den Fesselmethoden aus seiner eigenen Zeit hatte er kaum noch Probleme, er war des Öfteren gejagt und eingefangen worden und war inzwischen einigermaßen geübt darin, aus prekären Situationen zu entkommen. Doch diese engen, kalten Dinger hier waren unangenehm widerstandsfähig.

»Wie Sie meinen.« Die Ärztin öffnete mit feingliedrigen, manikürten Fingern ein schwarzes Täschchen und entnahm ihr diverse kleine Verpackungen, dann ein Fläschchen mit Schraubverschluss und wasserklarem Inhalt. Abschätzend glitt ihr Blick über Yuri, der zähneknirschend immer ungeduldiger an den Handschellen zu zerren begann. »Hmm … Schätzen wir mal das Körpergewicht …«

Yuri starrte sie unverwandt an. Ihm war jetzt kalt am ganzen Körper. Dieser ganze Raum schien Wärme aufzusaugen. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen!«, machte er seiner wachsenden Verzweiflung Luft. »Nichts! Ich komme von 1915, ich – ich bin kein Terrorist!«

»… Mehr als hundertfünfzig Pfund werden das nicht sein …« Seinem Protest keinerlei Beachtung schenkend steckte sie die Nadel auf die Ampulle und zog in aller Ruhe die Spritze auf.

Yuri verstand diese Welt immer weniger. Was hatten diese Leute mit ihm vor? Er kannte Folter, er war bereits mehrfach wie ein Monster gejagt worden, und jedes Mal erfüllte die Aussicht darauf ihn aufs Neue mit Angst, obgleich er mit seiner verborgenen Stärke nichts zu befürchten hatte, nicht wirklich … Doch die dunklen Erinnerungen ließen sich, einmal wachgerüttelt, nur sehr schwer wieder in die Ketten der Vernunft legen.

Ein letztes Mal versuchte er es noch. »Ich bin …«, sagte er betont ruhig und unterdrückte das Zittern seiner Stimme, »… kein Spion. Ich wurde 1889 geboren …«

»Verarsch mich nicht!«, bellte Green dazwischen, und seine Faust schlug dröhnend auf dem Metalltisch auf. »Die Nummer kaufe ich nicht, Mann, kapierst du das nicht?«

»Seht doch in meinen Papieren nach!« Der rettende Einfall war Yuri ganz spontan gekommen, und jetzt fühlte er sich augenblicklich sehr viel sicherer. Das Gefühl verstärkte sich noch, als die Ärztin neben ihm mit verblüfftem Blick die gefüllte Spritze sinken ließ.

»Ach, wir haben Papiere?« Greens Brauen sanken so tief herab, dass seine Augen nur noch schmale Schlitze waren. »Die Mühe macht ihr euch also noch?«

Er stand auf, ging um den Tisch herum und schlug grob Yuris Mantel über der Hüfte zurück, um in die abgewetzte Gürteltasche greifen zu können. Yuri ließ ihn gewähren. Viel gab es dort ja nicht zu holen.

Green zog einen kleinen Baumwollbeutel heraus und warf ihn auf den Tisch, dann wühlte er weiter, fand ein paar Münzen aus England – zwei Pennies, zehn Schilling und ein Pfund Sterling –, und förderte schließlich das kleine Ledermäppchen zutage, das nichts enthielt außer einem knittrigen gefalteten Papier.

Er gluckste amüsiert. »Ist das ein Reisepass? Welche Sprache ist das? Ah – so, von 1913? Und was für ein Behördenstempel soll das bitte sein?«

»Manchurei, China«, antwortete Yuri wahrheitsgemäß. Er hoffte inständig, den starrsinnigen Polizisten endlich überzeugt zu haben. »Kann ich jetzt bitte befreit werden?«

Anthony Green kehrte an seinen Platz zurück und setzte sich ihm wieder gegenüber, mit demselben undurchsichtigen Lächeln und immer noch Yuris Papiere in den Händen hin und her drehend. »Eine beeindruckende Fälschung. Gut gemacht, wirklich. Nur leider weiß jeder, dass man vor dem ersten Weltkrieg auch mit einem chinesischen Pass nicht ohne Probleme ins böhmische Tschechien einreisen konnte.« Triumphierend tippte er auf einen der Einreisestempel auf der Rückseite.

Scheiße, dachte Yuri. Er hatte an so vieles nicht gedacht. Warum war das alles nur so anstrengend? Er hatte nicht vorgehabt, so viele Karten auf den Tisch zu legen, doch es schien, als käme er hier nicht so ohne Weiteres heraus.

»Ich war mit einer Spionin unterwegs. Margarete Gertrude Zelle.« Er hoffte, Margaretes Name würde in dieser Zeit irgendeinen Nachhall verursachen. Schließlich war sie schon damals eine Berühmtheit gewesen.

Doch wieder war Greens Reaktion nicht wie erwartet. Er und Lockwood tauschten erst einen ungläubigen Blick, dann brachen sie synchron in lautes Gelächter aus.

»Er meint Mata Hari!«, kicherte die Ärztin.

Green schüttelte belustigt den Kopf. »Da hast du dir aber eine schöne Geschichte zusammengereimt, Freundchen. Aber wenn man Geschichten erfindet, sollte man darauf achten, dass sie nicht zu abgedroschen klingen, weißt du? Sonst enttarnt man sich schneller, als einem lieb ist.« Noch einmal lachte er vergnügt vor sich hin, dann wurde seine Miene schlagartig wieder ernst. »Doktor? Los jetzt, rein mit dem Zeug. Ich bin gespannt, was noch so aus dem rauskommt.«

Als Yuri die gleichgültig dreinschauende Ärztin sich ihm nähern fühlte, entschied er, dass der Spaß vorbei war. Drohend sagte er: »Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, werde ich ungemütlich.«

Green zuckte nur die Schultern. »Na los, dann werd ungemütlich. Thiopenthal ist nicht das Einzige, das wir vorrätig haben, da sind noch andere kleine Wundermittelchen, die dich in ein Bündel labberige Reisnudeln verwandeln.«

»Ich warne euch«, knurrte Yuri. Dieses respektlose Verhör würde er keine Minute länger über sich ergehen lassen.

Der Polizist rollte die Augen. »Du hältst dich also für einen ganz harten Brocken. Smith?« Er nickte zur Tür, die sich hinter Yuri befand, und der schweigsame Kollege Greens betrat wieder den Raum. »Halt ihn mal fest.«

Yuri hörte den Mann an sich herantreten. Er machte sich steif und lauerte. Na komm.

Als Smith’ Finger seine Handgelenke berührten, stieß er sich mit den Fußspitzen hart vom Boden ab, sodass der Stuhl, auf dem er saß, polternd nach hinten überfiel. Yuri überschlug sich, landete auf den Füßen und duckte sich, als der plumpe Polizist nach vorne und beinahe auf ihn fiel. Im gleichen Moment sprang Green auf, als säße er in einem Schleudersitz, warf sich über den Tisch und auf Yuri, der in dem kleinen Verhörzimmer nicht ausweichen konnte. Noch immer waren seine Hände auf den Rücken gefesselt, und aus den Augenwinkeln sah er die Ärztin angewidert den Kopf schütteln und erneut das Fläschchen auspacken.

Yuri trat Green etwas unbeholfen in den Bauch, was diesen gegen den Tisch prallen und auch dieses Möbelstück zu Boden reißen ließ, dann legten sich Smith’ Arme um seine Brust. Das Gewicht des anderen drückte Yuri nieder und er spürte, wie sich das Knie des Mannes in seine Lendenwirbelsäule bohrte. Der spitze Schmerz entlockte ihm einen kurzen Aufschrei, mehr aus Zorn denn Verzweiflung. Dann war auch noch flink wie ein Frettchen Dr. Lockwood neben ihm. Es folgten der Einstich in die Schulter und der schmerzhafte Druck, als sie ihm das Mittel so schnell wie möglich in den Muskel presste, dann ließen – zu Yuris Überraschung – alle gleichzeitig von ihm ab.

»Weg von ihm«, befahl die schneidende Stimme der Frau, wenn auch keinerlei Aufregung darin zu hören war. »Einfach liegen lassen Der ist entschärft. Zwanzig Sekunden, dann setzen wir ihn wieder hin.«

Yuri spürte, wie eine Welle von Schwindel und Übelkeit ihn von den Zehenspitzen bis zum Scheitel überrollte. Alle Kraft schien ihn plötzlich zu verlassen. Er blieb flach auf dem Bauch liegen, ein bitteres, verdorbenes Aroma auf der Zunge schmeckend. Vor seinen halbgeschlossenen Augen waberte der Raum bläulich und schattenhaft.

Er hörte Green ächzen und sich aufrappeln. Zwei Arme packten ihn, zogen seine schlaffe Gestalt hoch und hievten sie zurück auf den Stuhl, der nun wieder gerade stand. Yuri hatte das Gefühl, gleich erneut mit dem Sitzmöbel umzufallen, und lehnte sich schwer zur rechten Seite, bis er dort den Widerstand von Händen spürte.

»Das war gute Teamarbeit.«

»Und den Beweis für eine fundierte Nahkampfausbildung haben wir auch. So viel zu der Ausrede.«

Nur langsam ließ das Kreiseln und Flattern hinter Yuris Stirn wieder nach. Der ekelhafte Geschmack blieb, und er bemühte sich nach Kräften, nicht daran zu würgen. Sein Nacken fühlte sich von verdunstender Feuchtigkeit kalt an.

»So, mein japanischer Zeitreisender mit chinesischem Pass, russischem Namen und britischem Geld. Haben wir uns jetzt wieder eingekriegt und sind bereit, ein bisschen mehr zu erzählen?«

Yuri sah Greens Hände, die sich vor ihm auf dem Tisch unruhig bewegten. Es schien unendlich lange zu dauern, bis seine Zunge reagierte, doch schließlich antwortete er schleppend: »Chkannich mehr erzälhn.«

»Wir sind nicht die Bösen, weißt du. Das Thiopenthal wird dir keinen langfristigen Schaden zufügen. Mach uns die Sache nicht so schwer. Wer bist du wirklich?«

»Ich …« Yuri musste plötzlich gegen so viel zähe Spucke im Mund ankämpfen, dass es kaum möglich war, zwischen den dicht aufeinander folgenden Schlucken noch Worte herauszubringen. »Hörauf, Mann … Chab die Welt gerettet. Zzzzzzwei…mal. Unch bin in der Zukumpft unkeiner weises.« Nicht dass er jemals scharf darauf gewesen wäre, berühmt zu sein. Aber jetzt hätte es ihm weiterhelfen können, verdammt.

Green seufzte, aber darunter wirkte er noch immer belustigt. »Nein, tut mir Leid, ich hab deinen Namen noch nie gehört. Wie hast du denn die Welt gerettet?«

»Na, chab den … diesn irrn …« Was?, brach ein erschütterter Gedanke sich Bahn. Was erzähl ich denn hier? Drogen … Muss mich konzentrieren …! »… nix, nix Wichties.« Er musste sich unbedingt zusammenreißen, seine Gedanken beieinanderhalten. Seine Muskeln mochten nur lahm reagieren, doch das durfte nicht bedeuten, dass auch sein Geist sich einlullen ließ von diesem Gefühl des sanften Schaukelns.

»Wo hast du den Pass her?«, fuhr Green freundlich fort. Zu seinen Seiten standen noch immer Smith und Lockwood und starrten Yuri an wie ein Experiment in der Entwicklung.

»Fengtian … Da wurder ausgeschdellt.«

»Wann?«

»Vor fas hundert Jahrn, hehe …« Er konnte einfach nicht die Klappe halten, das Medikament regte ihn unaufhaltsam zum Reden an. Er spürte das Verlangen, seine Lebensgeschichte vor diesen wildfremden Menschen auszubreiten, und rang mühsam um Beherrschung.

Green indes verlor ein weiteres Mal die Geduld. »Lockwood, nächste Dosis. Das ist ja zum Kotzen hier, irgendwann wird ja wohl mal Feierabend sein mit der Lügerei!«

»Sie wissen«, verwies die Ärztin emotionslos, während sie erneut die Ampulle aufzog, »dass das Zeug kein Wahrheitsserum ist, Green. Es zwingt den Verhörten nicht, die Wahrheit zu sagen, sondern macht ihn nur etwas gesprächiger.«

Genau, dachte Yuri verwirrt und erinnerte sich, dass Margarete einmal darüber gesprochen hatte. Es gab keine Wahrheitsdrogen, es gab nur solche, die das Urteilsvermögen beeinträchtigten und die Hemmschwelle senkten. Dass er selbst einmal Opfer einer solchen Prozedur werden würde, wäre ihm damals nicht mal im Traum eingefallen.

»Die Wahrheit müssen Sie unter all dem Unsinn, der aus ihm rauskommt, schon selbst freischaufeln«, sagte Lockwood. »Viel Spaß damit.« Und sie setzte die zweite Spritze an.

Dieses Mal machte Yuri nur eine halbherzige Abwehrbewegung, als der Einstich kam. Ein zweites Mal das Gefühl des Zusammenfallens, ein zweites Mal das kurzzeitige Versinken in Schwärze, bis sein Geist sich zurück an die Oberfläche gerudert hatte; ein zweites Mal der Geschmack nach Verrottendem und das Aufkeimen von Übelkeit, das er mit einem gequälten Stöhnen quittierte.

Dann, als er wieder sehen und seinen Körper wahrnehmen konnte, merkte er, dass ihm ein dünner Speichelfaden über das Kinn rann und auf sein Shirt tropfte. Hastig versuchte er, ihn aufzulecken, doch die angewiderten Blicke der Polizisten sagten ihm bereits, dass sie seine zunehmenden Kontrollausfälle sehr wohl zur Kenntnis nahmen.

»So, Freundchen«, wandte Green sich in ungeduldigem und gar nicht mehr freundlichem Ton an Yuri, »du kriegst noch eine Chance. Was wolltest du ins Riverside Park schmuggeln, wenn du Tochowjiew aufgespürt hast? Drogen? Waffen? Los, raus damit!«

»Ja, ja, klaaar«, antwortete Yuri leutselig und schlürfte an dem Speichelbächlein, das den Stoff über seiner Brust durchweichte. Seit dem zweiten Einstich hatte er keinerlei Gefühl mehr für das, was er sagte. »Meine Waffn, genau. Guckt ’n meine Innntaschn, da sinsie.« Er lächelte herablassend, fühlte sich ihnen plötzlich klar überlegen. Er hatte etwas, das sie nicht hatten. Ha!

Green nickte Smith zu, und dieser machte sich ein ums andere Mal an Yuris Mantel zu schaffen, um nun die gut gefütterten Innenseiten zu befühlen.

»Stimmt, da ist was«, stellte er unsicher fest. »Das sind …« Seine Finger glitten erst links in die Tasche, dann rechts.

Was für Waffen hab ich da eigentlich drin?, dachte Yuri betäubt. Er hatte keine Ahnung. Es war zu lange her, dass er diesen Mantel getragen hatte. Diesen Mantel, den er gar nicht mehr haben sollte.

Als Smith die Schlagringe aus den eingenähten Stoffhüllen zog, hörte Yuri die beiden anderen im Raum bestürzt aufkeuchen. Das Metall blinkte in der entseelten Beleuchtung wie frisch behauen, die zwei fingerlangen silbernen Messer am Rahmen beider Waffen fingen in ihren feinen Verzierungen alle Reflexe auf und warfen sie als diamantartige Lichtsterne an die sterilen Wände.

Hübsch, dachte Yuri. Und dann: Die Nachtvogelklaue. Er erinnerte sich an sie.

»Wo hast du die her?«, entfuhr es Green, dessen entgleiste Züge Entsetzen spiegelten.

Plötzlich ließ Smith die Schlagringe fallen, als hätte er sich an ihnen verbrannt. Niemand bückte sich, um sie aufzuheben.

»Roger hatsie vommmmond ghold«, hörte Yuri sich nuscheln. »Midseimmm Teleporder …«

Diesmal kam keine der vorbekannten Reaktionen. Niemand schrie ihn an, keine Faust donnerte auf den Tisch. Alle drei waren vom beunruhigenden Anblick der Waffen wie gebannt.

»Großer Gott, das wird mir zu viel«, ließ Green mit leicht schwankender Stimme verlauten. »Ich guck mir das nicht mehr an. Wer weiß, was das für ein Kerl ist.« Sein Gesicht war auf einmal ziemlich weiß. Er vermied es nun, Yuri direkt anzusehen. »Smith, wir übergeben ans FBI. Sperren Sie ihn in eine freie Zelle. Lockwood, Sie stellen ihn ruhig. Sicher ist sicher.«

Die offensichtliche Angst der drei Personen, die ihn vor wenigen Minuten noch bedrängt und bedroht hatten, verwirrte und ermüdete Yuri gleichermaßen. Alles in seinem Kopf drehte sich. Er wollte nichts anderes mehr als weg von hier. Irgendwohin, wo es ruhig war … und dann schlafen … Hoffnungsvoll sah er zu dem kleinen Fenster auf, das viel zu weit weg und viel zu weit oben war. Er würde ganz sicher durchpassen … oder? Oder …?

»Lasst mich gehen«, bat er. Er hatte genug, so sehr, dass es keine Worte dafür gab.

»Du gehst nirgendwohin«, schnappte Green.

»Aberch muss weg vonnier. Chmuss zurück in meine Zeit oder inne andre, vleich kannich meine Freunnin rettn. Könntir das denn nich’ kapiern?« Er konnte es jetzt nur noch mit der Wahrheit versuchen. Alle Antworten, die ihr ausweichen sollten, schlüpften durch seine zupackenden mentalen Fäuste wie glitschige Fische, und er bekam sie nicht zu fassen.

»Ich kapiere nur, dass du irgendeine gequirlte Scheiße erzählst und gefährliche Waffen durch die Gegend trägst! Und von wem für wen, das kannst du morgen einer ganz anderen Sorte von Leuten erzählen! Die werden dir mit was Unangenehmerem als Thiopenthal zu Leibe rücken, das kann ich dir versprechen!«

Yuris bleierne Müdigkeit verwandelte sich unter seinen gelähmten Gedanken immer mehr in dumpfe Aggression, die kein Ventil fand. Er wollte hier raus, aber er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er konnte sich nicht konzentrieren, keinen klaren Gedanken fassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und die Empfindung, dass alles, was er dachte, vor seinem Verstand davon schwamm, trieben ihn zur Verzweiflung. Das hier musste aufhören.

Vor allem musste er endlich seine Hände aus diesen Handschellen herauskriegen. Sie hielten seine Arme in so unnatürlicher Position hinter dem Rücken zusammen, dass seine Schultern schmerzten. Außerdem spürte er das starke Verlangen, sich endlich das vollgesabberte Kinn abzuwischen.

Also biss Yuri, in Ermangelung irgendeines Plans, einfach die Zähne zusammen und zerrte.

Green, Smith und Lockwood sahen es – sahen dabei offenbar irgendwas, das er nicht sah – und erstarrten zu Salzsäulen. Wie einen Unfall beobachteten sie völlig unbeweglich, was sie nicht aufhalten konnten: nämlich, dass Yuri seine rohe, nunmehr unkontrollierte Kraft zusammenraffte und schließlich mit einem scharfen Ruck und einem Schmerzensschrei die kleine Kette zwischen den Metallreifen, die seine Hände zusammenhielten, sprengte. Ein Regen feiner Blutstropfen stob zu beiden Seiten, als er die Arme auseinanderriss und die Schellen an den blutigen Handgelenken plötzlich rotierend in der Luft hingen, das Verbindungsstück nutzlos herab baumelnd.

Alle drei Polizisten gaben ihrem Instinkt nach und zogen die Köpfe ein.

Mit einem Ächzen kam Yuri auf die Füße, taumelte kurz auf der Stelle und wandte sich sehnsuchtsvoll dem Fenster oben an der Wand zu, durch das er nichts als die Dunkelheit der Nacht sehen konnte.

»Nicht!«, quietschte Green, duckte sich jedoch noch mehr hinter den Tisch. »Bleib hier!«

»Geh schderbm, du Schhheißkerl«, knurrte Yuri zwischen Speicheltropfen. Nun, da er aufrecht stand, flutete erneut eine ekelerregende Übelkeit über ihn. »Ichau ab.« Noch immer floss alles hinter seiner Stirn durcheinander, war das, was er sagen wollte, nicht das, was er tatsächlich aussprach.

Ein großer Schritt brachte ihn unter das Fenster. Es war gar nicht so weit oben, wie er gedacht hatte.

Im gleichen Moment wagte Green eine beherzte Attacke. Er packte den Tisch und kippte ihn in Yuris Richtung, dann verpasste er dem Möbelstück mit beiden Händen einen derben Stoß direkt auf den Fliehenden zu.

Yuri machte einen Satz, besser koordiniert als erwartet, landete bäuchlings auf dem Tisch und schnaufte, als seine Fußgelenke zwischen Tisch und Wand gerieten.

Green und Smith stürzten auf ihn zu, aber Yuri schaffte es irgendwie, den Tisch wieder von sich ab- und auf sie zuzustoßen, sodass das sperrige Ding nun ihnen entgegen flog, während er mit einem waghalsigen Sprung halb durch das Fenster hechtete, das knapp über Kopfhöhe angebracht und nur angelehnt war. Keine Gitter – Gott sei Dank. Mit der flachen Hand stieß er es auf und wand sich hindurch.

»Der springt wirklich!«, hörte er die Ärztin schrill kreischen. »Halten Sie ihn auf, Herrgott!«

Nein, dachte Yuri wütend, jetzt hält mich überhaupt nichts mehr auf.

Und seine noch immer in nutzlos baumelnden Handschellen steckenden Hände packten den Fensterrahmen und beförderten auch den Rest seines Körpers mit einem befreienden Schwung hindurch.

Kopfüber fiel er plötzlich durch eiskalte Luft.

Dort waren Lichter neben ihm, Baumkronen direkt unter ihm, und all das kam so erschreckend schnell näher, dass sein von der Droge aufgeweichtes Hirn die Eindrücke kaum verarbeiten konnte. Erst kurz über dem auf ihn zurasenden Erdboden – war es überhaupt Erdboden, oder war es Asphalt? – durchzuckte ihn der Gedanke, dass ihm jeden Augenblick ein tödlicher Aufprall bevorstand.

Allein die vage Idee von diesem Bodenkontakt reichte aus, um ihn aufzurütteln.

In plötzlicher, alles überwältigender Panik tat Yuri das, was er am besten konnte: Er wurde zu etwas Anderem.

Tief und haltlos griff er in sein Innerstes, und dort wuchs eine grausige, schwarze Blume, aus deren Blüte ein Alptraum spross.
 

Eine knappe Armlänge über dem geteerten Gebäudevorplatz fing sich Yuris wie ein abgeschossener Vogel stürzende Gestalt, entfaltete ein Paar lederne Schwingen und ging mit heftigem Flügelschlag in einen steilen Aufwärtsflug über. Nur eine Flügelspitze streifte kurz die graue Staubdecke, die die Abgase des Fuhrparks über allem ausgebreitet hatten.

Yuri strebte in Richtung des finsteren Himmels und spürte den überirdischen Puls der Bestie, mit der er seine Seele verschmolzen hatte. Ein brennendes Trommeln am ganzen Körper. Dieses böse, göttliche Wesen vereinnahmte ihn, zerrte an seiner Ratio, und er rang mit ihm, wie er es immer tat, kämpfte um die Kontrolle über seinen Verstand und damit auch über den Körper, dem nun all die Kräfte der gebändigten Kreatur innewohnten.

Diesmal war es so viel schwieriger. Das Thiopenthal hatte ihn physisch und psychisch ausgelaugt. Benebelt und zu keinem klaren Gedanken fähig, wusste Yuri unter der zähen, schwarzen Decke der geistigen Lähmung dennoch, dass er diese Verschmelzung so bald wie möglich beenden musste, weil seine Vernunft sie in diesem Zustand nicht lange ertragen konnte.

Ein sicherer Platz …Er musste nur einen Ort erreichen, der weit weg von Polizisten und Ärzten und kaltem Licht war. Dunkel, einsam, still …

Und dann, irgendwann, erspähte er den erhabenen, verwüsteten Koloss aus Stein unter sich, schwarz und unbeleuchtet zwischen so vielen gleich aussehenden, viereckigen Häuserblocks. Ein kleiner bewachsener Hinterhof ohne jedes Zeichen von Leben umarmte das Bauwerk. Der Großteil des Daches war ein gähnendes Loch, durch das Yuri ins Innere des aus Ziegeln gezimmerten Bauwerks sehen konnte, und er sah weitere Zerstörung dort, gesplitterte Bänke, Trümmer, am Boden liegende Kerzen …

Und keine Menschenseele.

Eine Kirche. Ja. Das war das, was er jetzt brauchte. Kirchen hatte er als Orte der Sicherheit, als Orte des Rückhalts in Erinnerung behalten. Der Dämon von Domremy hatte dort Schutz und Trost gefunden … Wann immer Yuri auf einer der einsamen Bänke gesessen hatte, war Blanca neben ihn getapst und hatte aufmunternd seine Hand geleckt, dieses unwirklich zutrauliche Wildtier, dessen nebelfeuchtes Fell nach Wald und dunkler Erde roch.

Er musste in diese Kirche. Egal wie ramponiert sie war.

Was mache ich hier?, dachte Yuri müde, als seine Füße lautlos auf dem noch intakten Teil des Daches aufsetzten. Ich habe mir doch etwas gewünscht, so wie die anderen … Warum bin ich in einer Welt gelandet, die mit meiner nichts mehr zu tun hat?

Doch es half nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Erst mal musste er zur Ruhe kommen. Diesen elenden Rausch loswerden. Noch immer waren seine Bewegungen unkoordiniert, zitterte überall irgendein Muskel jenseits seiner Kontrolle, und sein rotes Shirt war über der Brust längst völlig durchweicht von der dünnflüssigen Suppe, die ihm schneller aus dem Mund drang, als er schlucken konnte. Ganz zu schweigen von der in seinem Bauch wütenden Übelkeit, die dem unangenehm vertrauten Gefühl von Reisekrankheit nur in Nuancen nachstand.

Immer noch saugte Amon gierig an seiner Zurechnungsfähigkeit. Yuri konzentrierte sich, sammelte seine allmählich klarer werdenden Gedanken zu einem festen Bündel und schnürte mit diesem seine Seele von der des Dämons ab.

Langsam ging das Gefühl der Schwärze, des Bösen zurück, das das leere Gefäß in ihm ausgefüllt hatte. Sein Geist reinigte sich vom zerstörerischen Willen des Monsters, das er damals, in einem der schwersten Kämpfe seines Lebens, unterworfen hatte. Seine Flügel verschwanden, die schwarzen Schuppen auf seiner Haut verblassten, und alles Material ordnete sich in Raum und Zeit wieder so an, dass der Spalt zwischen den Dimensionen sich schließen und alles so zurücklassen konnte, wie es zuvor gewesen war. Nun stand Yuri in ganz und gar menschlicher Gestalt auf dem Kirchendach, in sein nassgespucktes Shirt und das flatternde Trenchcoat gehüllt.

Er fing an fürchterlich zu frieren.

Er war wirklich so dämlich gewesen, mitten in einer Stadt zu fusionieren … Etliche Leute könnten ihn gesehen haben, und das bedeutete garantiert nichts Gutes. Dieses Zeug in der Spritze hatte ihn alle Vorsicht über Bord werfen lassen. Andererseits – welche Wahl hatte er denn gehabt? Sein Vertrauen in diese neue Welt, die ihn umgab, wahr gründlich erschüttert. Er musste jetzt unbedingt vorsichtig sein. Ziemlich sicher hing sein Leben davon ab.

Vorsichtig ging er in die Knie und lugte über den Rand des riesigen Loches ins Innere der halbzerstörten Kapelle. Sie war der kleinen Kirche im Ardennendorf Domremy tatsächlich nicht unähnlich. Dennoch schien über dem verwüsteten Innenleben Unheil in der klammen Luft zu hängen, als wäre ein Monster aus den Sternen herab und mitten in diesen heiligen Ort gekracht wie ein entwürdigender Meteorit.

Aber: Immerhin war es ruhig.

Yuri ließ sich auf sein Hinterteil nieder, schwang die Beine über den zerbröckelten Rand des Lochs und ließ sich hinabfallen. Es war hoch, sehr hoch, und als er aufkam, hallte der ganze Komplex nach, selbst die Orgelrohre stimmten unter der Vibration, die sekundenlang anhielt, ein dröhnendes Summen an. Während Yuri sich vorsichtig aufrichtete, glitt sein Blick durch die Dunkelheit.

»Hast du das gesehen?«, hörte er eine aufgeregte Frauenstimme von irgendwo draußen.

»Was denn gesehen, Süße? Wo guckst du schon wieder hin, wenn doch ich das Ziel all deiner Blicke sein sollte?«, säuselte eine zweite Stimme, eindeutig männlich.

»Nein, nimm die Pfoten weg! Da war ein Schatten mit Flügeln, er ist gerade in die Kirche runter gesprungen! Hast du das Rumsen nicht gehört?«

»Ich bin der Meinung, dass hier nur eins rumsen sollte, und das – au!«

»Schluss damit, ich hol die Bullen!«

Oh nein, dachte Yuri. Nein, nein, nein …

»Flieg besser weg«, sagte eine ruhige Stimme hinter ihm.

Yuri fuhr herum. Dort stand, mit locker gekreuzten Armen, ein abgekämpft aussehender blonder Mann mittleren Alters im Halbdunkel unter einer Säule, den Blick unverwandt auf Yuri gerichtet.

Verwirrt darüber, den Mann nicht eher bemerkt zu haben, stellte Yuri die dümmste Frage, an die in diesem Moment zu denken war: »Äh … wieso?«

Der Andere machte eine vage Geste über die ramponierte Umgebung hinweg. »Vor kurzer Zeit hat hier ein Ungeheuer gewütet.«

»Ach was. Und welches?«

»Das würde ich auch gern wissen.« Die wässrigen Augen des Mannes fixierten ihn seltsam scharf.

»Hey, guck mich nicht so an, als ob ich es gewesen wäre.« Yuri fühlte sich unbehaglich. Ihm war noch immer übel.

»Es war jemand, der nicht von hier war«, erklärte der Fremde.

»Die meisten Ungeheuer sind nicht von hier, oder?«

»Ich habe gesehen, wie du auf dem Dach gelandet bist. Und ich bin nicht der Einzige.«

Oh. Scheiße. »Ich …? Auf dem Dach?« Yuri fühlte unwillkommene Hitze in sich aufwallen. Er wusste, dass er immer noch nicht richtig denken und schon gar nicht gut lügen konnte. »Hey, weißt du …« Yuri hob die leeren Hände und versuchte ein entwaffnendes Lächeln. »… ich bin ein Mensch. Guck mich an. Da ist nix.« Er öffnete kurz seinen Mantel, was dem Anderen nichts Spannenderes offenbarte als einen dunklen Speichelfleck. »Lass dich besser mal untersuchen mit so … Halluzinationen …« Die Scheißdroge zirkulierte immer noch in seinem Blut. Es kam einfach nichts Sinnvolles aus seinem Mund. Nur blödes Zeug und Sabber.

Der blonde Mann lächelte traurig. »Spielt auch keine Rolle.« Er wandte sich ab und ging zurück ins Dunkel, auf die zerstörte Ausgangstür zu. »Wir sehen uns sicher wieder.«

Yuri sah ihm nach und spürte jäh eine beispiellose Frustration über sich hereinbrechen. Waren in dieser Zeit denn alle bekloppt? Doch es war ihm jetzt fast egal. Noch mal würde er sich jedenfalls nicht in diesen Raum sperren und misshandeln lassen. Nie wieder. Scheiß auf 2008 – wenn jemand kam, um ihn zu holen, dann würde er kämpfen. Mit allem, was er hatte.

Akt I - Arrest: 3-1

3-1: JIN
 

Als er langsam wieder aus dem Dunkel auftauchte, pochte dumpfer Schmerz hinter seiner Stirn. Er war nicht stechend wie nach einem K.O.-Schlag, sondern nur ein druckvolles Pulsieren, maskiert durch das Gefühl des völligen Verlorenseins, das ihn nach jedem Tobsuchtanfall Devils erfüllte. Ebenso kennzeichnend war die extreme physische und geistige Erschöpfung. Diese Kreatur vereinnahmte sein ganzes Sein für diesen einen Moment, in dem es herrschte, verschlang alle vorhandene Energie. Wie so oft wusste Jin nach einem solchen Vorfall nicht, wo er sich befand und was zuletzt passiert war: Alle Erinnerungen an die Ereignisse, die stattgefunden hatten, bevor Devils Präsenz sein Bewusstsein in lichtlose Tiefen geschleudert hatte, waren unter dem zähen Schlamm fremder Gedankenfetzen verschüttet und erhoben sich nur langsam wieder an die Oberfläche.

Licht drang durch seine halbgeöffneten Augenlider. Er hob sie vorsichtig, schärfte seinen Blick und sah eine mit Holz verkleidete Zimmerdecke. Mehrere Lampen glommen gelb von dort auf ihn hinunter, und ein dreiflügeliger Deckenventilator drehte sich langsam und geräuschlos.

Jäh durchzuckte das Abbild der halbverwahrlosten Kirche sein Bewusstsein. Flackernde Kerzen und zertrümmertes Inventar … und der Mann mit einer Peitsche. Er spürte den Anflug von Unruhe wie einen Hagel aus Nadelstichen. Was hatte dieser Wahnsinnige getan? Hatte er wirklich –

Jins Hände tasteten automatisch unter der milchkaffeefarbenen Decke, die über seinen ausgestreckten Körper gebreitet war, nach der Stichwunde. Sie war noch da. Devil hatte sie nicht, wie sonst, geheilt. Warum nicht? Er erfühlte einen gepolsterten Verband. Nichts tat weh; offensichtlich hatte man ihn ärztlich behandelt. Aber wer? In einer Klinik war er nicht, so viel war sicher. Aber wo sonst?

Ein langsamer Rundumblick, leicht getrübt durch die Nachwirkungen seines noch schwachen Kreislaufs, verschaffte Jin Klarheit in dieser Frage. Er lag auf einem von zwei tannengrünen Sofas, zwischen denen ein niedriger Tisch stand, und konnte gegenüber der Eingangstür, die sich links von ihm befand und die er sofort wiedererkannte, den ausladenden Massivholzschreibtisch erkennen. Auf ihm lagen, halb übereinander, lose Zettelsammlungen, ein Stehbilderrahmen und ein aufgeschlagenes Buch. Neben der Tür vor dem großen Fenster stand ein Schlagzeug, hinter der Sitzecke ein Billardtisch mit einigen Kugeln darauf. An den Wänden sah er ein paar Poster, in den oberen Zimmerecken altmodische Lautsprecher, die zu einer Musikanlage hinter dem Schreibtisch gehörten. Auch einen reich bestückten Bücherschrank mit Glastüren entdeckte er an der Wand. Der gewisse Charme der antiquiert anmutenden Einrichtung wurde brutal zunichte gemacht durch eine alles beherrschende Unordnung: Papierseiten, Billardkugeln und ein Queue lagen auf dem Boden, einige Schubladen standen halb offen und neben der Tür standen – als warteten sie darauf, dass sie jemand mit hinaus nahm – mehrere leere Flaschen, deren früherer Inhalt höchstvermutlich stärker alkoholisch gewesen war als Jins Rasierwasser.

Und was nicht zuletzt jeden Anflug von Heimeligkeit auf der Stelle zerstörte, waren die starren Fratzen dekapitierter Dämonen, abgeschlagene Köpfe mit stumpfen, blicklosen Augen, teilweise vertrocknet und mit Messern oder Schwertern an die Wand geschlagen als schaurige Dekoration. Ein Nachweis der Befähigung ihres Henkers.

Da wusste Jin, dass er etwas Grundlegendes falsch gemacht hatte. Etwas, das ihn das Leben hätte kosten können. Jetzt, da das passiert war, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen. erkannte seinen Fehler.

Ein Teil von mir ist ein Dämon. Und ich bin zu einem Dämonenjäger gegangen.

Dante hätte ihn töten können. Töten sollen, wenn er seinen Beruf ernst nahm. Doch aus irgendeinem Grund hatte er das nicht.

Klammes Unbehagen befiel Jin bei dem Gedanken, im Haus des Teufelsjägers zu sein. Auch wenn der Verrückte, der ihn in der Kapelle mit einer siebenschwänzigen Peitsche angegriffen und ihm ein Messer in die Seite gerammt hatte, sich jenseits aller Zurechnungsfähigkeit befand, hatten seine Äußerungen über Dante Jin tief beunruhigt. Sie bestätigten allzu sehr das Bild, das er sich bei ihrer ersten Begegnung selbst über Dantes Arroganz und Empathielosigkeit gemacht hatte.

Und trotzdem … Warum war er noch am Leben? Warum war seine Wunde verbunden? Warum war er nicht tot, warum hatte niemand Devils blutfleckige Hörner abgesägt und in ein pietätloses Mobile verwandelt, zwischen all den anderen abgeschlachteten Kreaturen?

Vorsichtig drehte Jin sich unter der Decke auf den Bauch und schob ein Bein über den Rand des Sofas. Er zuckte zusammen, als in der verbundenen Wunde Schmerz wie ein neuerlicher Stich aufflackerte. Das war nicht gut. Er konnte hier nicht weg, nicht so schnell.

Hinter dem Pooltisch, etwa quer gegenüber, öffnete sich schwungvoll eine ebenfalls holzverkleidete Tür. Dante machte zwei große Schritte in den Raum und blieb stehen, als er sah, dass Jin bei Bewusstsein war. In der Hand hielt er eine Teekanne, um seine Hüften lag ein Gürtel mit prunkvoller Schnalle und zwei Lederhalftern, aus denen die glänzenden Griffe einer schwarzen und einer silbernen Pistole ragten.

Jin war erstarrt. Unwillkürlich hatten sich seine Muskeln in Spannung versetzt, bereit, sein Leben zu verteidigen.

Dante warf den auf ihn gerichteten Blick stoisch zurück. Seine Miene war ernst, aber nicht feindselig, und seine Arme hingen entspannt herab, als hätte er nicht vor, im nächsten Moment seine Pistolen zu ziehen und Jin eine Kugel in den Kopf zu jagen.

Das hätte er in der Kirche tun können, dachte Jin mit zusammengebissenen Zähnen. Aber ich bin hier. Ich liege auf seiner Couch, und meine Wunde ist versorgt.

Sekundenlang rührte er sich nicht. Er war gefangen in seiner Unschlüssigkeit, nicht wissend, was er tun oder sagen sollte.

Kein Laut war zu hören. Keiner der beiden regte einen Muskel.

Als Jin bereits glaubte, dieser absurde Moment würde für immer andauern, hob Dante wie in Zeitlupe den Arm mit der schwarzen Kanne hoch und fragte ruhig: »Tee?«
 

»Du hattest Glück, dass er mit Stichwaffen nicht viel Übung hat. Wäre das Messer glatt zwischen zwei Rippen reingegangen, hätte es deine Lunge durchbohrt.«

»Warum bin ich hier?« Jin bemerkte zu seinem Unmut, dass er den Saum der Decke gepackt und wie einen Schild erhoben hielt, während seine angespannten Arme noch immer leicht zitterten.

Dante hingegen stand völlig unverkrampft in deeskalierender Haltung vor der Couch, als wäre alles völlig in Ordnung. Seine Antwort jedoch strafte diesen scheinbaren Frieden Lügen: »Du bist festgenommen.«

»Festgenommen? Von wem?«

»Von mir. U-Haft, bis ich rauskriege, was das für ein Vieh ist und was die Transformation auslöst.« Es war augenfällig, dass er mit dem ›Vieh‹ Devil meinte.

Jin verabscheute den überheblichen Tonfall. »Dürfen Sie das? Mich einsperren?«

»Natürlich nicht«, antwortete Dante ohne jeden Versuch, sich herauszureden. »Das ist Freiheitsberaubung.«

Gemächlich setzte er sich auf das gegenüber liegende Sofa und stellte die Kanne sowie zwei Tassen auf den Tisch. »Tee?«, fragte er noch einmal.

Jins anerzogene Höflichkeit rastete sofort ein, und er nickte mechanisch.

Dante musterte ihn von der Seite, während er die dunkle, dampfende Flüssigkeit einschenkte. »Kann sein, dass du besseren gewohnt bist.«

Jin nippte nur einmal an der Flüssigkeit, wie um einem ungeschriebenen Protokoll Genüge zu tun. Der Tee war tatsächlich unspektakulär, vermutlich ein englischer Frühstückstee, eine mittelmäßige Mischung aus Assam und Ceylon.

Er stellte die Tasse wieder hin. »Ich will gehen.«

»Vergiss es, du gehst nirgendwohin«, sagte Dante viel zu ruhig. »Finde dich damit ab, dass du eine Weile hier bleibst. Ich hoffe, du hast ’ne Zahnbürste dabei.«

Jin spürte, wie seine Kiefermuskeln sich verkrampften. Es höflich zu versuchen war sinnlos. Worte prallten an diesem rohen Kerl einfach ab.

»Ich werde gehen.«

»Denke ich nicht.« Seelenruhig stellte Dante die Kanne wieder hin und zog die zweite Tasse in seine eigene Richtung. »Okay, pass auf. Ich bin nett zu allen, die nett zu mir sind, aber ich hasse es, wenn man mir auf die Ketten geht. Verstanden?« Sein Blick traf Jins.

Wieder hatte Jin das Gefühl, dass etwas in ihm sich ganz winzig klein machte. Doch er zwang sich, nicht wegzuschauen.

»Und mit wem habe ich die Ehre?«

»Jin Kazama.« Er sagte es bereitwillig, zu seinem eigenen Erstaunen, und versuchte, es deutlich auszusprechen.

Dante stand vom Sofa auf und ging zum Schreibtisch, um wahllos einen Zettel aus dem Papierhaufen zu ziehen und mit diesem und einem Stift zurückzukehren.

»Hier, schreib’s auf.« Er warf beides über den Tisch auf Jins Decke. »Aber bitte in Buchstaben, nicht in Hieroglyphen.«

Schweigend griff Jin nach dem Stift. Er notierte seinen Namen in westlicher Schreibweise und gab Dante den Zettel zurück, der damit zur Wand ging, einen der vielen leeren Nägel aus dem Holz zog und ihn, das Papier durchlöchernd, mit einem einzigen Fausthieb wieder einschlug.

Jin unterdrückte ein Schaudern.

»Die Wände sind hier aus Papier, weißt du. So … Dann erzähl mal. Diesmal höre ich dir zu. Was ist das für ein Teufel, der da in dir rumspukt?«

Als Dante es sich wieder auf der anderen Couch gemütlich machte – halb im Liegen, als hätte er vor, einen mäßig unterhaltsamen Film zu verfolgen – und seinen Gast neugierig ansah, wuchs Jins Abneigung gegen ihn schlagartig so sehr, dass seine Vernunft von Trotz verdrängt wurde. Starrsinnig antwortete er: »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich Ihnen diese sehr persönlichen Informationen wirklich anvertrauen sollte.«

Die Schroffheit wirkte; sie schien Dante so sehr zu überraschen, dass er sich wieder gerade hinsetzte und Jin mit zusammengezogenen Brauen ansah. »Ich sehe nicht so vertrauenerweckend aus wie ein Seelenklempner, was? Gut, dann reden wir zuerst über mich. Woher weißt du von mir? Woher hattest du das Passwort?«

»Kontakte«, antwortete Jin ausweichend.

»Soso. Und was haben diese Kontakte dir über mich erzählt?«

Jin zögerte. Sie hatten eine Menge erzählt. Darunter sehr viel Lächerliches, etwa, dass Dante sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen konnte, so schnell, dass er Feuer fing, oder dass er alle Regentropfen in seinem Umkreis mit dem Schwert zerteilen könnte, bevor sie den Boden berührten, oder dass er aus der Stratosphäre zur Erde stürzen könnte wie ein Komet, ohne einen Kratzer abzubekommen. »Sie sagten, dass ich … vorsichtig sein soll«, antwortete Jin. Er war auf der Hut.

Dante stieß ein leises Lachen aus. »Wahrscheinlich untertreibst du damit ein bisschen. Ich sehe ja, dass du Angst vor mir hast.« Er lächelte; überlegen, aber immerhin nicht herablassend.

Jin schwieg. Er konnte nicht wirklich widersprechen; etwas in ihm fürchtete Dante, und er war sich nicht sicher, ob das nur Devil war.

»Wer hat dich mit dem Messer angegriffen?«, wechselte Dante das Thema. »Ich nehme an, dass das der Grund war, wieso du ausgetickt bist.«

»Ich …«, begann Jin automatisch, unterbrach sich und begann den Satz neu: »Ein Mann war in der Kirche.« Er beschrieb ihn: die helle braune Jacke und die blonden, an den Schläfen grauen Haare. »Er hatte eine Peitsche«, schloss er.

Als das Wort Peitsche fiel, sah Dante auf, und in seinen Augen flackerte es auffällig. Doch kurz darauf ließ er sich wieder zurücksinken und fragte in ziemlich beiläufigem Ton: »Peitsche? Interessant. Wie sah die aus?«

»Sie hatte sieben Riemen, mit Dornen an den Enden. Er hat … mich angegriffen. Dass er ein Messer hatte, habe ich nicht gesehen …«

»Natürlich nicht. Wer mit einem Messer richtig umgehen kann, wird nie vor deiner Nase damit rumfuchteln.«

»Sie kennen ihn«, folgerte Jin. Es war keine große psychologische Leistung, das festzustellen.

Dante nickte widerstrebend. »Ja. Das ist der Typ, der …« Nun hielt auch er kurz inne, als sträubte sich etwas in ihm dagegen, den Satz zu beenden. »… meine Partnerin entführt hat. Und ich weiß nicht, wie oder wohin.«

Jin nahm diese Information mit einem gewissen Entzücken zur Kenntnis, für das er sich fast schämte. Dante hatte also eine Partnerin, und sie befand sich in der Gewalt desselben Mannes, der Devil Jin aufgeweckt hatte? Dies veränderte die Situation. Vielleicht zu seinen Gunsten. »Er hat mir gesagt, ich müsse auf der Hut vor Ihnen sein.«

»Und dann sticht er dir ein Messer in die Seite. Vor wem musst du wohl eher auf der Hut sein?« Dantes Ton war ätzend. »Glaubst du dem Spinner?«

»Ich weiß überhaupt nicht, was ich glauben soll«, gab Jin scharf zurück. »Er hat gesagt, Sie würden nichts anderes tun als Teufel zu töten. Hat er gelogen oder nicht?«

Dante antwortete nicht sofort. Er sah nachdenklich beiseite, und Jin beobachtete das Zucken seiner schwarzen Pupille inmitten der eisklaren Iris. »Manche Leute sollten besser die Klappe halten«, sagte Dante schließlich. »Mit manchem hat er Recht, aber der Gefährliche ist wohl eindeutig er, nicht ich, oder?«

»Und warum?«, fragte Jin. »Was ist passiert, dass er sich so verhält?«

»Er hat … was verloren.« Dante schien dem Kern dieser Wahrheit ausweichen zu wollen, wie jemand, der sich unter einem Hindernis hinwegduckt statt es zu überspringen. »Etwas ziemlich Wichtiges.«

»Und er gibt Ihnen die Schuld daran?«

»Dazu gibt’s keinen Anlass.«

»Was will er dann von Ihnen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie lügen«, sagte Jin unverblümt.

Dante sah ihn einen Moment verständnislos an. Dann schien ihm aufzufallen, dass das stimmte. »Ich hab eine ungefähre Ahnung, was er will«, räumte er ein.

»Aber das können Sie mir nicht sagen.«

»Dazu bist du nicht hier, oder? Sagen wir einfach, es ist ein böser Plan, der nie klappen wird. Bei so was bin ich raus.«

Sie verfielen in Schwiegen. Es behagte Jin nicht, aber er tat nichts dagegen. Zurzeit bereitete seine Wunde ihm keine Schmerzen, doch quer über seiner Brust, wo die Peitsche ihn getroffen hatte, sah es anders aus.

»Komm mit«, sagte Dante plötzlich, stellte die Tasse so brutal auf den Tisch, dass der Inhalt beinahe überschwappte, und stand auf.

Jin wollte ihm folgen, aber jäh aufflammende Pein ließ ihn zusammenfahren und das Gesicht verziehen. Er hatte nicht verletzlich wirken wollen, doch in dieser Hinsicht hatte er versagt: Schon wieder beobachtete der Dämonenjäger ihn ganz genau.

Jin schaute an sich herab auf seine Brust, über der das helle Hemd in blutigen Fetzen hing, und zog den Stoff beiseite. Oberhalb des sauberen Verbandes leuchteten wie die Spuren eines Pflugs die roten Striemen, die der Aufschlag der Geißel in die Haut gerissen hatte. Auch sie waren nicht geheilt.

»Ich hatte den Typen zwar gesagt, sie sollen alle deine Wunden behandeln, aber offenbar bin ich heute der Einzige, der seine Arbeit macht«, brummte Dante, bückte sich nach einer niedrigen Schublade zur Linken und schien etwas ratlos darin zu wühlen.

Jin fühlte sich äußerst unwohl. Sein Blick wanderte zu den beiden leeren Flaschen neben der Tür, »Haben Sie nicht etwas Hochprozentiges zur Hand?«

»Klar«, antwortete Dante, offenbar ungerührt darüber, als Gelegenheitstrinker enttarnt worden zu sein. »Ich hab hier irgendwo hundertprozentigen Alkohol.«

Einen absurden Moment lang fragte sich Jin, ob Dante diesen wohl auch trank. Bei diesem Mann hätte es ihn nicht einmal gewundert.

»Und wofür …?«

»Um meine Waffen wieder sauber zu kriegen, wenn sie voller Dreck, Blut und Dämonenschleim sind. Mag sein, dass ich liederlich bin, aber meine Ausrüstung halte ich in Ordnung. Ah, da bist du ja.« Dante kehrte mit einer unetikettierten Flasche zurück und kippte eine kleine Menge des scharf riechenden Inhalts auf ein Baumwolltuch, das immerhin sauber aussah. »Das wird brennen. Ich hoffe doch, das Bisschen Schmerz löst nicht deinen Devil Trigger aus.«

»Meinen was?«, murmelte Jin halb abwesend, der sich auf die Überwindung, Dante so dicht herankommen zu lassen, konzentrieren musste.

»Ach, ich meine deinen gehörnten Kumpel.«

Unerwartet behutsam tupfte Dante das Desinfektionsmittel auf die blutverkrusteten Furchen. Es tat so weh, dass Jin scharf Atem holte und die Zähne zusammenbiss. Devil reagierte nicht. Offenbar leckte er noch immer seine eigenen Wunden.

»Jetzt nicht anfassen. Zieh was drüber. Du hast doch ein Hemd zum Wechseln?«

Jin kämpfte den beißenden Schmerz nieder, nickte und griff nach seinem Reiserucksack. Bei Devil musste man ohnehin auf Nummer sicher gehen: Jin hatte eingeplant, dass das Monstrum, das in ihm wohnte, diverse Kleidungsstücke zerstören würde.

Während er sich umzog, ging Dante in den Raum nebenan, wo sich offenbar die Küche befand, und hielt am ausgestreckten Arm einen Apfel durch die Tür.

»Willst du einen?«

»Nein.«

»Isst und trinkst du überhaupt was, oder lebst du nur von Luft und Licht?«

»Ich möchte nicht«, wiederholte Jin und zog das zerfetzte Hemd über den Kopf.

»Wenn in dir ein Dämon lebt, musst du einen hohen Energieumsatz haben.«

»Sie scheinen es ja zu wissen.«

Dante lachte leise. Er war deutlich entspannter als bei ihrer ersten Begegnung, was man von Jin nicht behaupten konnte.

»Wenn du fertig bist, nimm deinen Mantel und komm hoch. Hier in den Flur und links.« Dann war er verschwunden, und seine schweren Schritte wurden auf einer Treppe immer leiser.

Nach oben?, dachte Jin müde. Eigentlich wollte er im Moment nichts lieber als schlafen – doch er fühlte sich in Dantes Behausung ganz und gar nicht sicher.
 

Im kleinen Flur, der parallel zum Büro verlief, fand Jin zwei Türen vor: Eine, halb offen stehend, führte geradezu weiter in die kleine Küche, ein paar Meter weiter rechts befand sich eine geschlossene, hinter der Jin das Badezimmer vermutete. Am Ende des Flures, rechts neben dieser Tür, führte eine leicht angerostete Metalltreppe nach oben ins Dunkel. Jin folgte ihr aufwärts, vorsichtig, um seinen angeschlagenen Körper nicht unnötig zu belasten. Oben befand sich wieder ein schmaler Flur, und an seinem Ende stieß Jin auf eine schwere Luke über seinem Kopf, die sich mit einiger Kraft nach oben aufdrücken ließ.

Oben empfingen ihn kalte, klare Luft und jene Art von gelb durchlichteter Dunkelheit, die in größeren Städten des Nachts den Anblick der Sterne zerstörte. Dante saß am Rand des Daches, den noch jungfräulichen Apfel in einer Hand, und starrte auf die Straße hinunter, während ein schwacher Wind hier und da an einer seiner silbernen Strähnen zupfte, gespenstisch weiß im Halbdunkel. Obwohl er nur ein schwarzes T-Shirt trug, schien er nicht zu frieren.

Jin sah seinen eigenen Atem in der Luft kondensieren. Frost kündigte sich an. Wortlos trat er zu Dante und setzte sich neben ihn, in einem Abstand, den eine weitere Person hätte füllen können.

»Manche meiner Quellen sagen, Sie seien verrückt.« Er musste diese Bemerkung loswerden; die Zweifel waren einfach nicht länger zu ertragen.

Dante zuckte die Schultern. »Denken manche.«

»Dass Sie, wenn Sie keine Dämonen mehr finden, anfangen würden, Menschen zu töten.«

»Das sind ja schlaue Typen. Ich hab noch nie einen Auftrag angenommen, der irgendwas mit Menschen zu tun hatte. Beruflich interessieren Menschen mich überhaupt nicht. Es sei denn, sie wollen Dämonen zu irgendwas benutzen. Das ist nie was Gutes.«

»Und was werden Sie tun, wenn es keine Teufel mehr gibt?«, bohrte Jin.

»Dann kaufe ich mir ein Häuschen im Grünen und züchte Bienen.«

Jin starrte ihn an, und Dante brach in amüsiertes Lachen aus.

»Nein, streich das. Ich weiß, dass eine Menge über mich erzählt wird«, räumte er dann ein. »Manches ist wahr, aber anderes … naja.« Er warf seinen Apfel in die Luft, fing ihn mit dem Ellenbogen auf und ließ ihn über den Unterarm in seine Hand rollen, um dann herzhaft hinein zu beißen. »Da«, sagte er und nickte in Richtung Straße, immer noch gemächlich an dem Stück kauend. Ein Safttropfen lief ihm über das Kinn. »Siehst du das?«

Jin beugte sich vor und blickte auf den leeren Asphalt, wo unter einer Straßenlaterne zwei Mülltonnen standen. Eine davon bewegte sich verdächtig. Ein dunkler Schatten kroch dort im Licht herum, seltsam unbeholfen wie ein verkrüppelter Hund. Das Wesen robbte um die Tonne herum, wobei es, wie Jin erst jetzt bemerkte, leise Geräusche von sich gab, die wie das Brabbeln eines Kindes klangen. Dann, ganz plötzlich, schnellte aus dem vermeintlichen Kopf des Schattens eine Art Arm mit zwei Klauen vor, eine Fangmaske wie die einer räuberischen Insektenlarve, und harpunierte ein aufquietschendes Etwas, das noch kurz im Griff des Monsters zappelte und dann mit einem unappetitlichen saugenden Schlürfen verschlungen wurde.

Jin, so leidensfähig er auch war, fühlte einen Schauer über seinen Rücken kriechen. »War das etwa …« Die Worte fehlten ihm. »… ein …?«

»Jap.«

»Aber … Sie laufen mitten auf der Straße herum?«

»Früher seltener. In letzter Zeit werden sie immer vorwitziger.«

Obwohl Jin gewusst hatte, worauf Dante Jagd machte, verwirrte ihn jetzt dessen Gleichgültigkeit gegenüber dieser abstoßenden, nichtirdischen Kreatur, die dort unten durch den Schatten kroch und Ratten erbeutete. »Ich … ich habe so was noch nie gesehen.«

»Asien ist, was Dämonen betrifft, sehr sauber«, ließ Dante ihn wissen. »Die USA dagegen sind das reinste Drecksloch. Nirgends findet man so viel Höllenbrut wie hier. Wir haben die meisten Verbrechen, die meisten Waffen, die meisten Irren, die meisten Morde. Teufel finden das geil.« Wie um dieser Bemerkung mehr Ausdruck zu verleihen, biss er noch einmal von seinem Apfel ab und wischt sich mit dem Handrücken das Kinn ab. »Sie sind Kulturfolger. Tummeln sich da, wo es besonders viele schlechte Menschen gibt. Aber genauso lieben sie einsame, verlassene Orte, an denen mal schlechte Menschen gelebt haben. Deshalb sind es immer leere oder verwahrloste Gebäude, in denen es spukt.« Er machte eine Kopfbewegung nach unten. »Ah, da ist unser Freund wieder.«

Tatsächlich war die erbärmliche Gestalt des kleinen, vierbeinigen Teufels nun wieder zu sehen, wie sie die Mülltonne schnüffelnd und keckernd umrundete.

Dante nahm den halb aufgegessen Apfel in die rechte Hand, holte weit aus und warf die Frucht im langen Bogen hinunter nach dem Dämon. Dieser wurde mit einem schmatzenden Geräusch präzise im Genick getroffen. Der Apfel zerplatzte spritzend, der raue Aufschrei des Geschöpfs endete abrupt und wich dem wild strampelnden Geräusch seiner Krallen, die plötzlich keinen Halt mehr auf dem Boden zu finden schienen. Ein, zwei jämmerliche Hüpfer, dann brach der Dämon tot zusammen.

»Wow«, kommentierte Dante, sichtlich erstaunt über sich selbst. »Ich bin wohl der Einzige, der je einen Teufel mit einem Stück Obst erlegt hat.«

Unter ihnen auf der Straße löste sich der leblose Körper langsam in schwarze Asche auf. Ein dunkles, mit dem Wind davon fliegendes Häufchen, wo eben noch eine lebende Kreatur gewesen war. Jin betrachtete es leidenschaftslos.

Minutenlang saßen sie nebeneinander und starrten in die Leere der unbelebten Nacht. Jin ertappte sich dabei, wie er nach weiteren kriechenden Schatten Ausschau hielt, doch außer dem schwachen Luftzug, der über die Stadt hinweg wehte, tat sich nichts.

Schließlich begann Jin trotz seines Mantels zu frösteln. Sein Körper war erschöpft, hatte im Laufe dieses Abends zweifelsfrei die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht.

Zögernd fragte er: »Muss ich wirklich hier bleiben?«

»Ja«, antwortete Dante ohne Umschweife. »Auf die Leute hier lasse ich dich nicht los. Jedenfalls nicht so bald.«

Es hatte keinen Sinn zu widersprechen. Bereits jetzt konnte Jin den Ton, den Dante anschlug, sehr gut einschätzen. Aufzubegehren würde nicht helfen, kein Diskutieren, kein Zornausbruch, erst recht keine Gewalt. Dante war ihm überlegen, zumindest jetzt, da Jin verletzt und nicht sehr wehrhaft war. Doch dass er fliehen musste, stand außer Frage. Dante würde ihm nicht helfen. Er war kein bösartiger Mensch, doch womöglich lebte er tatsächlich in seiner eigenen Welt, einer Welt, in der er als dunkler Rächer unterwegs war und alles Dämonische abschlachtete. In Dantes Kopf schienen sich dunkle Räder zu drehen. Er war voller Gram, bis zum Hals erfüllt von einem Groll, den eine Art großspuriger Humor kaschieren sollte; jedoch konnten weder seine Arroganz noch seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit Jin darüber hinwegtäuschen, dass dieser Mann ganz und gar nicht emotionslos an die Teufelsjagd heranging. Ganz im Gegenteil: Er hasste die Ausgeburten der Hölle mit einer Leidenschaft, die ihn nicht nur völlig kaltblütig ihnen gegenüber machte, sondern ihm auch noch eine grimmige Freude daran bereitete, sie hinzumetzeln. Dante hatte Spaß am Töten.

Und das war es, was Jin ihn zutiefst verabscheuen ließ.
 

Kurze Zeit später stiegen sie wieder vom Dach herunter und kehrten in den Büroraum zurück. Mit dessen unordentlichem und uneinladendem Anblick hatte Jin sich noch kein Stück angefreundet. Auf den ersten Blick erschien der Raum wenigstens sauber – doch es war eine rein oberflächliche Sauberkeit, die ihn davon abhielt, allzu sehr in die Ecken zu schauen. Dantes Vorstellungen von Ordnung und Hygiene entsprachen offensichtlich denen eines frischgebackenen College-Studenten, der gerade von zu Hause ausgezogen ist und noch nicht begriffen hat, dass seine Mutter ihm nicht mehr hinterherräumt. Noch immer verspürte Jin wenig Lust, ihm von Devil und seiner Vorgeschichte zu erzählen.

Obwohl ihm vor Antritt der Reise klar gewesen war, dass er gezwungen sein würde, intime Details seiner Lebensgeschichte preiszugeben und darüber hinaus auch noch seine größten Ängste offenzulegen, so war es jetzt doch etwas ganz anderes; Jin scheute davor zurück, Dante gegenüber überhaupt das Wort Angst zu gebrauchen oder Gefühle im Allgemeinen zum Mittelpunkt eines Gesprächs zu machen. Aber dieses Ding in ihm, Devil, lebte nun einmal davon, dass Jin empfindsam war und mitunter zu emotionalen Reaktionen neigte, die von der japanischen Gesellschaft nicht toleriert wurden. Stets versuchte er deshalb, seine soziale Maske zu tragen, wie es von ihm erwartet wurde, doch Devil war nun einmal sein wunder Punkt. Und Dante – so viel war sicher – kannte so etwas wie emotionale Zurückhaltung nicht. Er zeigte und sagte das, was er dachte. Dieses Verhalten lief Jins Erziehung zuwider.

»Setz dich«, forderte Dante ihn auf.

Steif ließ Jin sich auf dem tannengrünen Sessel nieder, möglichst ohne etwas anzufassen. Dante hingegen warf sich lässig auf die Couch und streckte sich gemütlich darauf aus. Er behielt sogar die Stiefel an. Die Szene hatte etwas Bizarres: Jin fühlte sich wie bei seinem ersten und letzten Besuch bei einem Psychologen, im Begriff, sich auf ein analytisches Gespräch einzulassen – nur dass Dante derjenige war, der auf einem Sofa lag, und Jin, sein Patient, daneben saß.

»Fang noch mal von vorne an«, forderte Dante ihn auf. »Bin ganz Ohr.«

»Mein Vater ist Schuld an allem«, wiederholte Jin unwillig. »Es … passierte etwas mit ihm, als sein Vater …« Seufzend unterbrach er sich. Es war sachlich falsch, mit Kazuya anzufangen. Also setzte er noch einmal an: »Nein, es ist viel einfacher. Unsere Blutlinie … die der Mishimas … ist verflucht. Fast jeder von uns hat … offenbar … einen Teil nichtmenschliches Erbgut in sich. Ein Stück eines Dämons. Unsere Wissenschaftler nennen es Teufelsgen

»Wow«, kommentierte Dante. Immerhin lag er immer noch still und tat nichts Anderes nebenher, also schien seine Aufmerksamkeit tatsächlich Jin zu gelten – es sei denn, er würde einschlafen. Jin rechnete fast damit.

»In mir und meinem Vater lebt eine Art … dämonisches Alter Ego. Dieses Wesen nennen wir Devil.«

Dante sah ihn vom Sofa aus schief an. »Dein Ernst? Was anderes als Devil ist euch nicht eingefallen? Die Kreativsten seid ihr nicht, oder?«

»Lassen Sie mich ausreden«, verlangte Jin. »Er hat mir nicht gesagt, wie er heißt. Und ist es nicht ganz egal, wie ich ihn nenne?«

»Ja, am Ende schon. Sprich weiter.«

Mit dem mühsamen Versuch, die Überheblichkeit des Anderen zu ignorieren, fuhr Jin fort: »Früher hat mich Devil nie ganz überwältigt. Ihn konnte ihn kontrollieren, ihn … benutzen, wenn ich wütend war oder Angst hatte. Aber seit ich meinen Urgroßvater töten musste, der von einer Art … bösem Geist besessen war, spielt Devil verrückt. Er überwältigt mich im Schlaf oder wenn ich in Extremsituationen gerate, er zerstört und mordet mit meinem Körper … und wenn ich wieder zu mir komme, dann weiß ich nicht, was er für … Gräuel hinterlassen hat.« Sein Blick ruhte auf dem Ventilator, wanderte mit jeder Drehung im Uhrzeigersinn, Kreis um Kreis. »Ich will, dass das aufhört.«

»Soso.« Dante schaute nachdenklich ins Nirgendwo des Raumes. »Und weißt du, was er eigentlich will? Das Übliche? Weltherrschaft und so?«

»Wahrscheinlich, aber … Ich glaube, im Moment sucht er etwas.«

»Und was?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er meinen Körper dafür benutzt und jedes Mal … Schlimmes anrichtet.«

»Hmm. Also, was deinen letzten Amoklauf betrifft, kann ich dich beruhigen. Verletzt hast du keinen, unser Irrer scheint sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht zu haben. Du hast nur eine uralte, hässliche Kirche zerlegt.«

»Das ist immer noch zu viel.«

»Wie oft hast du die Anfälle? In etwa.«

»Es wechselt.« Jin verzog das Gesicht. Hatte Dante wirklich Anfälle gesagt? Kranke bekamen Anfälle. Devil war keine Krankheit. Er verübte Angriffe aufs Jins Körper und Geist – er war ein Folterer. »Dante, belügen Sie mich nicht. Ich muss es wissen. Verschwende ich hier nur meine Zeit, oder können Sie mir wirklich helfen?«

Die Beantwortung dieser Frage schien auch Dante nicht leicht zu fallen, denn zunächst war in seinen Zügen keinerlei Regung zu lesen. Schließlich antwortete er: »Ich bin nicht sicher. Aber versuchen kann ich es. Ich weiß nur noch nicht, wie. Was hast du dir vorgestellt?«

»Nun, dass wir … irgendwie … Devil von mir abspalten und ihn vernichten. Ich weiß, dass das möglich ist … Jedenfalls war er nicht immer da.«

»Interessant. Wann tauchte er auf?«

»Meine Mutter wollte verhindern, dass er von mir Besitz ergreift, und hat mich auf einer abgelegenen Insel mitten im Wald aufgezogen. Doch als sie ge…« Wie immer dauerte es einen Moment, bis er das Wort herausbekam. »…tötet wurde, konnte ich ihr nicht helfen …« Es war unerwartet schwer, darüber zu sprechen. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, hatte sich die Sätze zurechtgelegt, um sie abgeklärt herunterzuspulen, wie es immer von ihm erwartet worden war. Doch auch jetzt, nach so vielen Jahren, funktionierte es ebenso wenig wie früher, als die Wunde noch ganz frisch gewesen war. Tapfer sprach er weiter: »Ich ging zu meinem Großvater, wie sie mir aufgetragen hatte, denn ihm gehörte das Mishima-Imperium, er konnte mir jede Art von Perspektive bieten. Als ich … irgendwann erfuhr, dass ich nur sein Lockvogel für das Monster war, das meine Mutter getötet hatte … wollte er auch mich töten.«

Dante furchte die Stirn. »Der auch? War nicht eben noch dein Vater der Böse?«

»Beide sind böse«, knurrte Jin, obwohl es ihm lächerlich erschien, ein so simpel konnotiertes Wort wie böse zu gebrauchen, um jenen überpräsenten Wesenszug in Heihachis und Kazuyas Charakter zu benennen. »Jeder aus dieser Blutlinie ist böse.« Ich auch, fügte er in Gedanken hinzu. Und ich will nicht so werden wie sie.

»Also, als dein Opa dich töten wollte, bist du zum ersten Mal transformiert, sehe ich das richtig?«, hakte Dante nach, um die Erzählung wieder aufzunehmen.

»Ja.«

»Konntest du das Vieh da beherrschen?«

»Ja. Ich meine, ich … habe ständig seinen Hass gespürt und ihn nur schwer steuern können. Aber ich war bei Bewusstsein. Es war immer noch ich, der meinen Körper lenkte. Heute ist es, als ob Devil mich niederschlägt und dann das Steuer übernimmt.«

»Hm. Und wie holt man dich zurück, wenn das passiert?«

»Ich denke, ihn bewusstlos zu machen scheint die sicherste Methode zu sein.« Plötzlich kam Jin ein Gedanke. Er hatte eines vergessen. »Ich muss Ihnen etwas zeigen«, murmelte er und griff nach seinem linken Hemdsärmel. »Ich trage sein Zeichen.« Und er zog den Stoff über dem rabenschwarzen Brandmal beiseite, das nichts anderes war als die scharf abgesetzte Narbe von Devils Feuer, geformt wie zwei ineinander greifende, gespaltene Sensenklingen.

In Dantes Augen war nichts zu lesen, keine Überraschung, aber auch kein Wiedererkennen. Er packte Jins Arm und zog ihn näher zu sich, um das bizarre Zeichen mit zusammengezogenen Brauen zu betrachten. »Hmm … Ich hoffe, du gestattest mir die Bemerkung, dass das irgendwie cool aussieht. Nein, im Ernst … Wenn du dein eigenes Klamottenlabel hättest … Das könntest du als Logo benutzen.«

Unwillig entriss ihm Jin seinen Arm. Er hatte auf einen hilfreicheren Beitrag gehofft als eine Nutzungsempfehlung, aber offensichtlich musste Dante einfach alles ins Lächerliche ziehen, das er nicht erklären konnte.

»Ich glaube, wir haben uns für heute genug unterhalten«, sagte er kühl. Warum habe ich diesem Kerl überhaupt irgendwas anvertraut? Es fühlte sich an, als hätte er sich komplett entkleidet und wäre ausgelacht worden. Während er Dante auf dem Sofa den Rücken zudrehte, fühlte er seine Kiefer mahlen. Er sollte lieber überlegen, wie er hier wieder herauskam.

Dante sagte lediglich: »Wie du willst. Sicher bist du müde. Wenn du noch irgendwas brauchst, ruf mich einfach.«

Jin wollte soeben etwas unwirsch erwidern, dass er gar nichts bräuchte, als das schrille, scheppernde Klingeln des uralten Telefons auf dem Schreibtisch ihm zuvorkam. Das Geräusch war wirklich unangenehm, doch Dante drehte nur den Kopf nach der Herkunft des Lärms und betrachtete sein Telefon gelangweilt.

Nach dreimaligem Schrillen verstummte das Gerät, und erst jetzt stand Dante gemächlich auf. »Schon wieder die Cops, was haben die denn heute?« Er nahm den Hörer ab, wählte eine dreistellige Nummer ein und sagte: »Devil May Cry. Was ist denn noch?«

Die Antwort ertönte so laut, dass Jin sie durch den Hörer bis zur Sitzecke hören konnte; vermutlich war dies dem Alter des Apparats geschuldet. »Dante!«, bellte jemand am anderen Ende. »Kann es sein, dass du wieder mal nur die Hälfte von deinem Job gemacht hast und stattdessen schon wieder Pizza kaust und –«

»Ich brems dich mal, Fordham. Wo juckt’s dich wieder?«

»Bitte?! Du hast Ding aus der Kirche entkommen lassen!«

Dieser Vorwurf veranlasste Dante, einen Blick zu Jin hinüber zu werfen, als hätte er sich zwischenzeitlich aus dem Staub machen können. Jin sah stoisch beiseite.

»Das Ding aus der Kirche hockt auf meiner Couch und schmollt«, stellte Dante fest.

»Dann ist es nicht das richtige Ding!«

»Natürlich ist es das richtige Ding. Du warst doch dabei, als dein Sani es genäht hat.«

»Nennen Sie mich nicht Ding«, sagte Jin ruhig und drohend. Beherrschung war eine seiner Tugenden, doch sie hatte ihre Grenzen.

Zu seiner maßlosen Verblüffung hob Dante nur die Hand – eine Geste wie zu einem enervierenden Störenfried – und zischte: »Schhh, ich telefoniere. – Was war das gerade, Chief?«

»Ich sagte, komm wieder her und hol auch das andere Ding, wenn es denn ein anderes Ding ist, belferte es wieder aus dem Hörer, sodass Dante diesen am gestreckten Arm von seinem Ohr fernhielt und belustigt den Kopf schüttelte.

»Ja, ist notiert, Steingesicht. Bin auf dem Weg. Fangt nicht ohne mich an.« Er legte auf, und in diesem Moment verschwand sein Lächeln und seine Miene wurde so todernst, dass Jin sich fragte, was plötzlich passiert sein mochte. »So, du bist also nicht alleine«, stellte Dante in höchst unangenehmem Ton fest. »Bei so was verstehe ich keinen Spaß. Pack aus. Wie viele sind da noch?«
 

Jin gefiel es gar nicht, in einen falschen Verdacht geraten zu sein. Wer wusste schon, wozu Dante fähig war?

»Ich bin allein«, erklärte er sofort.

»Wenn du allein wärst, würden die nicht behaupten, du wärst wieder da. Wer ist der andere Kerl? Lügen bringt nichts.«

»Ich lüge nicht«, erwiderte Jin wahrheitsgemäß, sah Dante direkt in die Augen – obwohl das nicht angenehm war – und versuchte, seine Stimme fest und aufrichtig klingen zu lassen.

Dante sah beiseite; es war zu sehen, wie er über diese Aussage nachdachte. »Hast du dann vielleicht irgendwas angelockt? Was ist mit deinem komischen Vater?«

»Er kann es nicht sein. Er … hat sich längst ganz mit Devil vereint, er nutzt seine Kräfte, hört auf seine bösen Instinkte – er ist selbst zu Devil geworden. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seitdem, aber er … folgt mir nicht.« Davon war er fest überzeugt. »Mein Vater und mein Großvater haben mit sich selbst zu tun.«

Dante stieß ein ärgerliches Geräusch aus. »Dann werde ich das wohl umpusten müssen, was auch immer es ist.« Er griff nach seinem Mantel. »Du bleibst hier. Und gewisse Dinge solltest du nicht anfassen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Mit diesen Worten und einem Augenzwinkern nahm er das riesige Schwert von der Wand – das Schwert, das Jin für einen Dekorationsgegenstand gehalten hatte, untauglich für den tatsächlichen Kampf, allein für die Ästhetik geschmiedet … Diesen Totschläger gebrauchte der Dämonenjäger tatsächlich als Waffe? Jin fragte sich, was die Klinge wiegen mochte.

»Bis nachher«, verabschiedete Dante sich knapp, durchquerte das Zimmer und die portalartige Tür, die sich unerwartet leise hinter ihm schloss.

Jin hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte und abgezogen wurde.

Er hat mich eingesperrt, dachte er wütend. Er behandelt mich wie ein Kind.

Irgendwie musste er von diesem demütigenden Ort entkommen. Jetzt, wo Dante sein Refugium verlassen hatte, würde Jin schon einen Weg hinaus finden.

Grimmig machte er sich daran, die Wohnung zu inspizieren.

Akt I - Arrest: 3-2

3-2: DANTE
 

Schwierig war ein nettes Wort für den Fall, den er sich hier an Land gezogen hatte.

Jins Teufel hatte ihm in der Kirche gefallen – endlich mal wieder eine Herausforderung, ein starker Gegner, der Spaß machte –, doch seine anfängliche Begeisterung war inzwischen einer gewissen Ernüchterung gewichen. Er durfte Jins Teufel nicht töten, sich nicht an ihm austoben, denn er musste den menschlichen Teil von Jin wohl oder übel am Leben lassen, so verlangte es sein eigener Kodex. Zu dumm: Es fühlte sich an, als hätte er sich ein neues Spielzeug angeschafft, mit dem er eigentlich nicht spielen durfte. Hinzu kam, dass ihm bei seinem tatsächlichen Auftrag – nämlich Devil zu vernichten und Jin dabei am Leben zu lassen – seine überragenden Fähigkeiten im Kampf gegen Dämonen überhaupt nichts nützten. Seine unmenschliche Stärke, seine überlegenen Waffen, seine Expertise – alles nutzlos. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie er den Teufel von Jin trennen sollte. Was für einen Fisch hatte er sich da bloß geangelt?

Aber gut, er konnte sich später selbst bemitleiden für all den Mist, der im Moment passierte. Erst mal gab es einen brandneuen Auftrag.

Wieder musste er den langweiligen Weg bis zu der völlig demolierten Kapelle zu Fuß zurücklegen. Er hätte auch das Motorrad nehmen können, doch das wäre ungünstig für den Fall, dass es wieder jemanden – oder etwas – zu transportieren gäbe.

Jetzt, da Dante sicher wusste, dass Trishs Kidnapper sich irgendwo in der Gegend herumdrückte, wäre ihm jeder Vorwand recht gewesen, die Kirchenruine näher zu untersuchen. Er musste diesen armen Irren in die Finger kriegen. Verdammt, noch nie zuvor hatte sich jemand erdreistet, eine seiner Partnerinnen anzurühren. Es war wie ein … Einbruch in sein Heiligtum. Und Trish war nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft, sie war … Nun, er würde sie schon aufspüren und heldenhaft retten. Vielleicht also war es nicht so schlecht, dass sein Unwissen ihn davon abhielt, der Forderung dieses Bekloppten einfach Folge zu leisten.

Und jetzt hatte er auch noch diesen schrägen Japaner im Haus. Diesen Jin Kazama. Ganz unverkennbar ein reiches Gör, immerhin ziemlich gut erzogen, aber auch das nervte, denn der Grünschnabel schmiss die ganze Zeit mit Höflichkeit um sich, selbst dann, wenn er wütend war. Und Wut erkannte Dante sofort.

Lassen Sie mich ausreden! Ja, natürlich. Lassen SIE mich AUSREDEN. Fehlte nur noch ein Bitte, ordentlicher ging es nicht. Ich möchte kein Obst, danke. Ach, wie niedlich. Ich will gehen! Ach was? Ich glaube, wir haben uns für heute genug unterhalten. Oh, da war der Kleine schon wirklich angepisst gewesen. Wie lange es wohl noch dauerte, bis er ›Sie Arsch‹ sagte?

Bestimmt glaubt er, dass er furchtbar unhöflich war. Oh, und wahrscheinlich versucht er gerade auszubüxen.

Egal – Jin würde nicht weit kommen. Der einzige freie Weg nach draußen führte über das Dach. Wenn das Kerlchen sich also nicht verwandeln wollte, würde er auch nicht abhauen können.

Aber vielleicht ist der suizidal, dachte Dante und furchte die Stirn, während er dem Straßenpflaster folgte. Verzweifelt genug sieht er aus. Er wusste, dass es für die allermeisten Menschen das nackte Grauen bedeutete, ihren Körper mit einem Dämon zu teilen. Und Jin Kazama war ganz unübersehbar an einem Punkt angekommen, an dem er kapiert hatte, dass es nichts nützte, reich zu sein oder Macht zu haben; dass es egal war, welche körperlichen Kräfte er besaß oder wie gut er seinen Geist unter Kontrolle hatte. Gegen einen Teufel bedeutete all das nichts. Dieses Devil-Ding … Was sollte das sein? Dante war kein Fall bekannt, in dem ein Dämon mehrere fremde Körper gleichzeitig bewohnte. Dahinter musste irgendetwas anderes stecken. Nicht die Art von Besessenheit, mit der ihn sein Beruf gelegentlich – zum Glück nur selten – in Berührung brachte.

Devil. Viel einfallsloser geht’s echt nicht.

Er selbst hatte den zahllosen Monstern in seinem persönlichen Kompendium immerhin noch lustige oder stylishe Namen gegeben. Gut, zu Beginn seiner Karriere hatten sie auch nur die Namen der sieben Todsünden und so weiter gehabt, aber auch das war allemal kreativer als Devil. Als ob es nur einen einzigen Teufel auf der Welt gäbe. Hölle, es gab genug von ihnen. Da ist für jeden was dabei, ha.
 

Dante sah die ramponierte Kirche von weitem, und mit ihr die Blaulichter, die auf stehenden Streifenwagen hektisch um die Wetter blinkten. Diesmal waren es schon zwei. Tja, in dieser Stadt würden er und die Cops sich ständig begegnen, wenn es um dämonische Aktivitäten ging; er hatte eine Art … Vereinbarung mit ihnen. Schuld daran war ein Mann namens Captain Slate, den Dante schon kannte, seit er als junger Hüpfer in die Stadt gekommen war und begonnen hatte, seinem Geschäft nachzugehen. Slate, ein hartgesottener Kriegsveteran, war damals Chief gewesen und hatte wegen seiner Fairness und Gutwilligkeit großen Respekt genossen; auch Dantes, zugegebenermaßen. Eine Zeitlang hatten sie einander nur stillschweigend beäugt – Dante wusste noch nicht, inwieweit er der Polizei aus dem Weg gehen musste oder überhaupt konnte, während er sein kleines Unternehmen aufbaute. Denn Slate wusste immer und überall, was Sache war. Dante wollte keinen Ärger mit den Hütern des Gesetzes. Er nahm sie ernst, es sei denn, es handelte sich um Vollidioten. Das kam leider vor. Zum Glück gehörte Slate nicht zu ihnen, und nach einem guten halben Jahr ging er auf Dante zu und besuchte ihn unangemeldet im Devil May Cry – nicht, um sein Büro auf illegalen Besitz zu durchsuchen oder seine Methoden in Frage zu stellen, sondern um ihm etwas vorzuschlagen. Eigentlich, erklärte der Chief, fände er es gut, jemanden wie Dante in der Stadt zu haben, aber statt ihn ständig überwachen zu müssen, würde er Dantes Fähigkeiten lieber sinnvoll einsetzen. Heute wusste Dante sehr gut, warum. Als junger Mann war er nicht einfach gewesen, ziemlich ungestüm und allzu unbedarft. Slate wollte dieses Temperament in gerade Bahnen lenken. Und sein Anliegen war bei Dante durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen. Dante hatte nichts dagegen, hin und wieder mit der Polizei zusammenzuarbeiten, und er wusste, was er dafür haben wollte. Slate hatte sich offen und kooperativ gezeigt, und so waren sie schnell zu einer Einigung gekommen. Der Deal war: Dante durfte und musste alles tun, um die Stadt von Dämonen sauber zu halten (und Hallow Hills hatte in der Hinsicht echt ein Problem, was das Geschäft gut laufen ließ) – und wenn dabei etwas was zu Bruch ging, wurde er nicht dafür belangt. Bis heute war das ein verdammt wichtiger Deal, denn auf öffentlichem Gelände mit scharfen Waffen Teufel zu zerschnetzeln konnte einen vermutlich ruinieren. Diese Sorge war somit Geschichte. Slate behandelte ihn immer fair, und Dantes jugendlicher Heißsporn, seine Arroganz und überbordende Energie beeindruckten den Chief nicht übermäßig. Allerdings fingen die Cops, als sie merkten, dass Dante ihre Aufträge fraglos erledigte, an, ihn als eine Art Special Task Force in die Arbeit des Departments einzubinden. Das wiederum gefiel ihm gar nicht, also forderte er wieder ein Date mit dem Captain. Slate machte keinen Hehl daraus, dass er jemanden, der Monster umbrachte, gerne behalten würde, doch er respektierte Dantes eigene Vorstellungen und ließ ihn in Ruhe, in dem Wissen, dass er seine extremen Fähigkeiten im Kampf gegen übernatürliche Bedrohungen jederzeit anfordern konnte, wenn es wirklich nötig war. Slate war ein guter Kerl. Er hatte Dante nie das Gefühl gegeben, ihn als Eindringling in sein Revier zu sehen, als Bedrohung seiner Autorität. Mit dem aktuellen Chief, Fordham, lagen die Dinge leider etwas anders: Der Kerl versuchte seit seiner Ernennung, Dantes Kooperation auszunutzen. Dadurch kamen sie einander regelmäßig in die Quere. Dante musste zugeben, dass es ihm schwer fiel, Fordham zu respektieren. Slate war für ihn eine Person auf Augenhöhe geblieben, auch als sie beide älter wurden; Fordham jedoch musste ständig darauf hinweisen, dass er der Chef war, und das war kein gutes Zeichen.

Fordhams Jeep stand quer über dem Zugangsweg, flankiert von den beiden Streifenwagen.

»Da bist du ja«, seufzte der Chief und entfaltete seine Arme. Seine immer noch vertikal abwärts zeigenden Mundwinkel besserten Dantes Laune schlagartig.

»Zu deiner Info, Steingesicht«, begann er munter, »für den nächsten Notfall sollten wir mal über so einen Scheinwerfer reden, wie ihn Batman hat.«

»Ja, witzig«, ätzte Fordham. »Muss mich übrigens korrigieren: Das war nicht derselbe, den du vorhin hattest.«

»Wie, soll das etwa so eine Art Entschuldigung sein?« Schade. Doch leider kein Grund, Jin Kazama alias Million Dollar Baby irgendwo in der Wüste auszusetzen.

»Wir wollen mal nicht übertreiben«, knurrte der Chief und rückte seinen Hut gerade. »Schließlich weiß ich, dass es dir scheißegal ist, ob es mir leid tut. Hör zu: Der andere Kerl ist, wie ich gerade erfahren habe, ein … Mensch, den meine Leute heute Mittag hier hatten. Er scheint nicht ganz richtig im Kopf zu sein, wie sich bei dem Verhör rausgestellt hat. Er ist entwischt, ehe man ihn festsetzen konnte. Und dann hat er … nun ja, angeblich ein paar schwarze Flügel aufgespannt und …«

Dante unterbrach ihn knurrend: »Ein Mensch, der schwarze Flügel aufspannt, ist kein Mensch. Wo ist er hin? Hockt er auch da drinnen?« Er nickte in Richtung Kircheneingang.

»Nein, er ist auf dem Dach.«

»Nicht das schon wieder.«

»Aber«, wandte Fordham rasch ein, »er scheint gerade nicht … verwandelt zu sein. Als ich hier rein kam, um zu checken, ob er überhaupt noch hier ist, da ist er vor mir abgehauen und hochgeklettert, nicht geflogen oder so. Er ist gesprungen, ziemlich hoch, hat sich irgendwo festgehalten –«

»Erspar mir Details«, fiel ihm Dante zum zweiten Mal ins Wort. »Ist er irgendwie bewaffnet?«

»Nein. Er hatte so was wie Schlagringe bei sich, die sind im Department.«

»Na, immerhin. Dann hol ich ihn dir jetzt. Mal sehen, ob deine Leute Recht hatten oder einfach nur Gespenster gesehen haben.«

Insgeheim glaubte Dante genau das: dass Fordhams Leute wieder einmal zu viele beschlagnahmte Substanzen an sich selbst ausprobiert hatten. Natürlich um zu testen, ob sie echt waren. Denn, ernsthaft, welchen Sinn hatte es für einen Teufel, in seiner unterlegenen humanoiden Gestalt die Flucht zu ergreifen, anstatt einfach in seine dämonische Form zu wechseln und die Verfolger zu beseitigen? Denn so tickten Teufel. Etwas zu töten war ihnen allemal lieber als vor etwas davonzulaufen, selbst wenn dies die klügere Option sein sollte. Damit hatte Dante reichlich Erfahrung.

»Noch was, Fordham«, sagte er, während er das im Dunkeln liegende Dach der Kirche im Auge behielt. »Kamen die Hinweise, dass hier ein geflügeltes Monster rumspringt, eigentlich beide Male von derselben Person?«

»Interessant, dass du das fragst«, bemerkte der Chief. »Ja, war so. Hat aber seinen Namen nicht genannt, der Kerl. Anonymer Hinweis.«

»Klar«, murmelte Dante. Vom Erdboden aus konnte er diesmal nichts auf dem Dach erkennen, keine Bewegung, keine Silhouette. »Ich bin dann mal weg. Bis gleich.«
 

Das Dach zu erklimmen war, wie Dante vom verlassenen Inneren der Kirche aus herausfand, für einen geübten Kletterer nicht allzu schwierig. Als er sich mit Rebellions vertrautem Gewicht auf dem Rücken über den bröckelnden Rand zog, sah er tatsächlich einen jungen Mann am Dachrand sitzen, der einen Mantel von dunkler Farbe trug und ihm den Rücken kehrte. Er wirkte müde, seine Schultern waren schlaff und sein Kopf gesenkt, aber die Natur dieser und jener kleineren Bewegung, die er machte, ließ erkennen, dass er durchaus wach war und schlicht keine Notiz von dem Ankömmling nahm.

Gemächlich richtete Dante sich auf, streckte sich und strich weißen Staub von seiner Kleidung. Sollte das da wirklich ein Dämon sein?

»Hey. Was machst du hier?«, sprach er den vermeintlichen Unruhestifter an.

»Keine Ahnung. Was machst du hier?«, gab dieser zurück, ohne sich nach Dante umzuwenden. Sein Englisch war deutlich besser als Jin Kazamas, aber dennoch mit einer fremden Melodie. Er mochte ein, zwei Jahre älter sein als Dantes japanischer Gast. Und offenkundig war er längst nicht so abstoßend höflich.

»Ich suche einen geflügelten Dämon. Hast du den gesehen?«

»Nö. Sorry.«

»Dachte ich mir.«

»Willst du den erledigen?«

»Hm?« Dante hatte sich bereits wieder abgewandt, als diese Frage ihn dazu veranlasste, über die Schulter zu sehen. »Nein, ich will ihn nach dem Weg fragen.«

»Ah!« Der Fremde lachte auf. »Bist ja ’n ulkiger Typ. Hab gehört, der Dämon soll ganz schön Power haben.«

»Hast ihn wohl doch gesehen?« Hör mal besser schnell auf, mich zu verarschen, Freundchen.

»Yo, ein bisschen gesehen hab ich ihn.«

»Wie groß?«

»Hm, so vielleicht.« Noch immer ohne einen einzigen Blick nach rückwärts zu werfen, hob der komische Kerl die flache Hand an die Stirn.

»Was du nicht sagst.« Da hat wohl jemand eine Packung Scherzkekse aufgemacht, dachte Dante. Lautlos zückte er Ebony und richtete sie auf den unbehelligt dasitzenden und ihn rotzfrech ignorierenden Missetäter. »Los, steh auf.«

»Wieso?«

»Du bist eine Spur zu verdächtig.«

Der Rückenkehrer zog die Nase hoch. Irgendwie klang seine Stimme schleppend, als er entgegnete: »Ich geh sicher nicht zurück zur Polizeistation. Die helfen mir nicht.«

»Mir völlig egal, was die mit dir machen. Bist du ein Dämon oder nicht?« Wenn du wüsstest, was gut für dich ist, dann würdest du dich jetzt endlich mal zu mir umdrehen. Niemand hier ist unverschämter als ich.

Der Andere zuckte schlaff die Schultern. »Nicht direkt. Aber irgendwie schon. Erschieß mich doch.«

Dante erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde. Der Kerl wusste, dass er eine Pistole auf ihn richtete, obwohl er nicht hinter sich gesehen hatte.

»Du hast deine Knarre nicht entsichert.«

»Die ist halbautomatisch.«

»Ah. Was es in dieser Zeit nicht alles gibt … Na, dann mal los, immer drauf.«

»Keine Angst?«

»Nö.«

»Auch kugelsichere Teufel machen eher schlechte Erfahrungen mit Ebony und Ivory. Willst du dich nicht umdrehen?«

»Wozu?«, antwortete der Andere lahm. »Ich hab schon gesagt, ich lasse mich nicht einsperren. Ich habe nur um Hilfe gebeten. Aber so was scheint es in dieser Zeit ja nicht mehr zu geben.«

In dieser Zeit? Wunderliches Gefasel. Vielleicht war Dantes erste Vermutung ja doch richtig gewesen, und das hier war wirklich kein Dämon, sondern einfach nur ein armer Spinner. Wie Fordham schon gesagt hatte: nicht ganz richtig im Kopf.

Aufstöhnend steckte er Ebony zurück in den Holster. »Jetzt pass mal auf, Rotznase. Ich hab keine Lust, mir deine Geschichten über schlechte Erfahrungen mit den Cops anzuhören. Such dir dafür einen Therapeuten, okay? Mann, du bist schon der zweite, dem ich heute einen Therapeuten empfehle. Am Ende brauche ich noch selber einen. Wie auch immer, entweder bist du jetzt brav und kommst mit runter zu dem netten Mann mit dem albernen Hut, oder ich setze dich außer Gefecht und schleife dich da selber hin. Na?«

Wieder lachte der junge Mann nur. Es klang ein bisschen irre und überhaupt nicht nach Amüsement. »Komm, Alter, das will ich sehen. Schleif mich hin.«

»Bitte sehr.« Dante packte Rebellions Griff und schleuderte das Schwert beiseite, um den Spinner nicht damit zu verletzen, falls dieser so etwas wie Körpereinsatz zeigen sollte. Noch während die Klinge scheppernd auf den Stein prallte, ging er den störrischen Bengel von hinten an.

Dieser war, ehe Dante ihn erreichte, plötzlich geschmeidig auf die Füße gesprungen, fuhr herum und ließ am gestreckten Arm die rechte Faust vorschnellen. Sie ging ins Leere, weil Dante die Bewegung gerade noch rechtzeitig hatte kommen sehen – doch viel hatte nicht gefehlt. Unbeeindruckt durch den Fehlschlag drosch der Jüngere weiter in die Richtung seines Angreifers, mit der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der soeben aus einer Grube voller giftiger Schlangen entkommen war und sich auf keinen Fall wieder dort hineinwerfen lassen wollte. Dante hatte Mühe, den rohen Schlägen auszuweichen, die dort, wo sie an seiner Statt das Dach trafen, den Stein krachend zertrümmerten. Es war erstaunlich, was für eine verzweifelte Energie in dem Burschen steckte. Eine beinahe übermenschliche Kraft …

Ich muss ihn ausbremsen. Wenn der sich erst mal in einen Prügelrausch gesteigert hat, mäht der da unten gleich weiter, bevor ich ihn gepackt kriege.

Dante verharrte auf der Stelle, die Fäuste zur Abwehr erhoben, und als sein Kontrahent wieder auf ihn losstürmte, trat er ihm im allerletzten Moment aus dem Weg und ließ ihn voll ins Leere laufen. Mit einem grimmigen Aufschrei rannte der Ausgetrickste noch einige Schritte weiter und fing sich stolpernd. Jetzt erst bemerkte Dante das eigenartige Taumeln seines Ganges, das viel zu heftige Zittern der Gliedmaßen. Etwas stimmte mit dem Kerl nicht. War der auf Drogen?

Diese Frage wurde unwichtig in dem Moment, da sie sich endlich gegenüber standen und ihre Blicke sich trafen.

Und unfähig waren, sich voneinander zu lösen.
 

Irgendwo existiert eine Welt jenseits allen Lebens. Eine Sphäre, durchsetzt von uralten, lange toten Gedanken, angefüllt mit einem Grauen, das kein fühlendes Wesen beim Namen nennen kann. Der Spalt, durch den diese Welt sichtbar wird, ist wie ein verwesendes Auge, umschwirrt von bösartigen Ausstülpungen wie von Aasfliegen. Hinter dem trüben, wächsernen Schleier aus urtiefer Widerwärtigkeit schlummert die nackte Verdammnis, deren Anblick nicht zu ertragen ist; eine einzige Sichtberührung stürzt den Geist des Menschen in die Unendlichkeiten des Wahnsinns, in eine verzweifelte, unheilbare Schwärze, aus der er aus eigener Kraft niemals wieder empor zu klettern vermag.

Dante hatte durch diesen Spalt gesehen. Naturgemäß. Und er hatte geglaubt, dass niemand außer ihm das Wissen um das, was dort verborgen lag, aushalten könnte. Doch in den Augen des anderen Mannes sah er genau das. Denselben namenlosen Schrecken, den auch er gesehen hatte. Eingebrannt wie ein unsichtbares Siegel haftete es dem Blick an, der Aura, allem, was der Andere ausstrahlte.

Er war da, begriff Dante, wo keiner sein sollte.

Dieser Mensch hatte diese Welt, das alptraumhafte Jenseits, erblickt, und etwas in ihm war daran zerbrochen wie zartes Glas, das auf massiven Fels prallt. Er war als andere Person von dort zurückgekehrt.

Wie ich. Wie jeder.

Minutenlang starrte Dante sein Gegenüber stumm an. Er hatte mit allem gerechnet, nur damit nicht. Die schrecklichsten Tiefen der Hölle – sie hatten sie beide gesehen.

Schwer atmend erwiderte der hagere Kontrahent Dantes starren Blick. Seine Muskeln bebten wie im Fieber, und aus seinem leicht geöffneten Mund troff zäher Speichel. Es war allzu offensichtlich, warum er so unbeherrscht reagiert hatte, warum Dante so leicht seine finstere Persona aus seinen Augen hatte ablesen können.

»Du stehst wirklich unter Drogen«, stellte er fest.

Der Andere stöhnte leise. »Ich … kann nichts dafür.«

»Ich weiß, immer ist die Gesellschaft Schuld.«

»Ich … ich werde nicht mit dir mitkommen.«

»Wie gesagt. Ich schleife dich hin, wenn’s nötig ist.« Obgleich er das nicht wollte, nicht mehr. Im Moment musste er sich beherrschen, nicht seinem Mitleid nachzugeben. Der arme Kerl dort vor ihm auf dem Dach war völlig gestört – was nicht verwunderlich war, wenn man die Umstände bedachte. In ihm war die Hölle. Sie würde dort bis zum Ende seines Lebens auf ihn warten, bis er schließlich in seinen eigenen Alpträumen ertrank.

Dantes Gegner schüttelte langsam den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel seines Mantels über das feuchte Kinn. »Nein. Wirst du nicht.«

»Wetten?«

»Pah.«

Und dann schien es, als müsste der Kampf von vorne beginnen. Doch Dante wollte nicht zum Gegenangriff übergehen; das würde nicht nötig sein, ganz gleich, wie verzagt und angriffslustig der andere war. In wenigen Minuten würde dieses sinn- und ziellose Gerangel vorüber sein.

Sein Rivale sortierte die schlotternden Glieder, und als seine Faust ein neuerliches Mal an Dantes Ohr vorbeischoss, griff Dante mit der Rechten fest in den Haarschopf des Mannes und packte mit der Linken seine Schulter, um ihn schwungvoll herumzudrehen. Ehe der Andere merkte, wie ihm geschah, lag sein Hals genau in Dantes Ellenbeuge und Dantes Fußspitze veranlasste seine Kniekehlen unsanft zum Nachgeben.

So sackten sie beide zu Boden, nur noch halb aufrecht, und Dante hielt die Kehle des sich windenden Gegners in einem felsenfesten Headlock umschlungen.

»Aaaarghhhhh«, presste der vermeintliche Dämon hervor. »Boah … Scheiße …« Seine Hände griffen nutzlos hinter sich, erreichten Dante nicht, patschten haltsuchend auf dem Boden herum.

»Gleich gehst du schlafen, Kleiner.«

Hustend zog der andere Luft durch seine beengten Atemwege, und Dante spürte, wie der Brustkasten, über dem sein rechter Arm lag, sich weitete. »Bist du … so was wie … ein Dämonenkiller?«

»Gut erkannt.«

»Na toll … ich auch … irgendwie.«

»Klar, in deinen Träumen. Willst du immer noch nicht brav sein?«

»Nein.« Wieder kam ein sinnloser Versuch der Gegenwehr. »Lass mich los.«

»Nicht heute, fürchte ich. Ideen, wie wir das Problem lösen?«

»Du bist kein Problem«, röchelte Dantes Gefangener. »Ich hab ein ganz anderes.«

»Nämlich?«

»Ich hab mich verirrt … in der Zeit.«

Dante gluckste. Der will mich ablenken mit seinen Storys. Na, nur zu. Ich hab Zeit. »Du kommst also aus der Zukunft?«

»Aus der Vergangenheit.«

»Ah. Keine schöne Vergangenheit, so wie du aussiehst.«

Der junge Mann schüttelte sich in seinem Griff. Dante hörte das Klopfen seines Herzens, so schnell wie das eines ängstlichen Vogels. »Wieso«, ächzte der Andere, »sind in dieser Zeit alle so beschissen unhöflich?«

»Ich und unhöflich? Du hast mir den Rücken gekehrt«, belehrte ihn Dante, ohne auch nur minimal lockerer zu lassen.

»Argh … Hast du etwa ›Hallo‹ gesagt?«

»Ich hab ›Hey‹ gesagt.« Irgendwie war die Frage absurd. Dante runzelte die Stirn. »Wie auch immer, jedenfalls hab ich dich an der Gurgel und du solltest spuren, sonst sitzen wir nämlich morgen früh noch hier. Also?«

»Leck mich, Mann.«

Dante verdrehte die Augen. »Alles klar. Du hast drei Sekunden. Danach spanne ich diesen Arm an –« Er gab dem weichen Hals des Mannes eine Kostprobe, was diesen wieder zum Husten veranlasste. »– und dann dauert es genau acht Sekunden, bis zu bewusstlos bist. Und das weißt du, denn du hast ja gezeigt, dass du reichlich Erfahrung im Straßenkampf hast.«

Der junge Mann knurrte wie ein Welpe. Zweifellos war ihm klar, in was für einer Situation er sich befand. »Wieso hörst du nicht auf zu blubbern und … machst es endlich?«

»Soll ich?«

»Mach doch!«

Dante ließ ihn noch ein wenig mehr und ein wenig länger husten. Tüchtige Lungen hatte der Bursche jedenfalls. Jedoch merkte Dante bereits, dass er es nicht übertreiben durfte, denn dieser falsche Dämon war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Was auch immer er genommen hatte, es machte ihn wirr im Kopf und schien ihm auch Übelkeit zu bereiten, denn er speichelte wie ein tollwütiger Köter.

Unerfreut verzog Dante das Gesicht. »Du sabberst auf meinen Ärmel.«

»Sorry.«

»Ich will dir eigentlich nichts tun, weißt du.«

»Was anderes wird dir aber nicht übrig bleiben … Wenn du mich loslässt, bin ich weg.«

»Seltsam, dass du mir das alles so direkt vor die Füße schmeißt. Du versuchst gar nicht, mich zu verarschen.«

»Nein, weil … ich beschissen ehrlich bin.« Ungesundes Husten. »… Okay, meine Lügen sind gerade räudig, weil ich diese blöde Droge intus hab …«

Dante seufzte wieder. Wie in einem schlechten Film saßen sie hier gemeinsam auf dem Dach einer kaputten Kirche, in sehr engem, sehr unfreiwilligem Körperkontakt, während über ihnen die Sterne glommen und irgendwo da unten Chief Fordham sich die Beine in den Bauch stand.

»Nicht mal du kannst aus meinem Würgegriff entkommen, Kleiner.«

»Pah … Würgegriff! Du würgst nicht gerade wie ein Profi. Siehst du … ich kann immer noch reden«, behauptete der Kerl, während er mehr keuchte und schnaufte als alles andere. »Weißt wohl nicht, wo man die Luft abdrückt?«

»Pah, Luft abdrücken. Dauert viel zu lange, derweil könnte ich mir ’ne Pizza bestellen«, spottete Dante. »Nein, am besten klemmt man die Blutzufuhr zum Gehirn ab. Geht viel schneller. Acht Sekunden, dann sind bei dir die Lichter aus. Egal, was du eingeschmissen hast oder was für’n harter Kerl du bist.«

»Ahahaha … Das will ich sehen.« Der Andere hatte mittlerweile jede Gegenwehr aufgegeben und lag nur noch zitternd und sabbernd in Dantes schraubstockartigem Griff. Unglaublich, dass er immer noch so eine große Klappe hatte.

Schlimmer als ich in meinen besten Tagen, dachte Dante. Er konnte nicht leugnen, dass so viel Unerschrockenheit selbst ihm einen gewissen Respekt einflößte. Taffes Kerlchen. Muss man ihm lassen.

»Na dann, hier sind deine drei Sekunden«, seufzte er und hakte seinen linken Arm über den rechten, um durch die Hebelwirkung den Druck zu maximieren. »Eins … zwei …«

»He … ich denke, acht?«

»Nein, nein, nein. Acht dauert es, bis du weg bist.«

»Achso … Gut … weiter.«

»Drei

Dante rechnete fest damit, dass der Kerl ein Ass im Ärmel hatte. Er selbst kannte keine Möglichkeit, aus einem Headlock, wie er ihn hier angesetzt hatte, zu entkommen, doch die Großspurigkeit des Mannes ließ Dante mit allem rechnen.

Er zog an. »Eins … zwei …«

Jetzt zappelte der Kerl doch noch einmal. Seine Atemzüge waren hektisch, die Muskelspannung in seinem Körper ließ schon merklich nach.

»… drei … vier …«

Dante zählte ruhig und drückte unerbittlich zu. Er durfte keine Abwehrbewegungen zulassen. Ein menschlicher Hals war empfindlich. Eine falsche Bewegung, und er könnte dem Spinner das Zungenbein brechen oder den Kehlkopf eindrücken – beides war augenblicklich tödlich.

»… fünf … sechs …«

Ein erstickter Laut drang aus dem vorher noch so kessen Mundwerk nach draußen, begleitet von noch mehr Spucke. Der Körper war jetzt fast völlig erschlafft.

»… sieben … acht.«

Nun war keine Spannung mehr festzustellen.

Dante hielt den Griff noch zwei weitere stille Sekunden – um sicherzugehen –, dann musste er loslassen, wenn er Hirnschäden vermeiden wollte. Vorsichtig löste er seinen Arm vom Hals des Besiegten und stützte dessen Rücken. Der Typ kippte gegen ihn wie ein abgeknallter Hund. Von wegen Ass im Ärmel. Schlaff wie ein Gummihuhn war er – genau wie Dante es ihm prophezeit hatte.

»Du fällst also wirklich einfach um«, brummte er und legte den Mann vor sich auf den Rücken. »Kommt kein Teufel raus. Ich bin enttäuscht.« Er schob einen Arm unter den Nacken des Anderen und einen unter die Kniekehlen, dann stand er mit ihm vom Boden auf. Große Klappe und nichts dahinter. So liebe ich das.

Nachdem er auch Rebellion wieder eingesammelt hatte, trat er mitsamt seiner Bürde an den Dachrand und ließ sich hinunterfallen.
 

Fordham stand unverändert neben dem Eingang der Kirche und war, wie erwartet, aller übelster Laune.

»Das hat ja ewig gedauert!«, keifte er. »Habt ihr da oben noch schnell das Rad neu erfunden, oder was?« Er spuckte ins gelbliche Gras und stapfte zu seinem Jeep, um derbe die Tür zur Rückbank aufzureißen. »Da, bitte, wirf ihn rein!«

»Dem gefällt’s nicht bei euch«, entgegnete Dante, indem er der Anweisung, wenn auch widerwillig, Folge leistete. »Hat sich hartnäckig geweigert, freiwillig mitzukommen. Ich musste ihn kaltstellen.«

Der Chief betrachtete das bleiche Gesicht des Mannes und schnaubte. »Blutwürger?«

»Jap. Und jetzt mach ich Feierabend, wenn du gestattest.«

»Wie, du kommst nicht mit zum Department? Ist das etwa kein Dämon?« Fordham beäugte abwechselnd Dante und den Gefangenen.

»Oh bitte, Steingesicht. Guck dir den Typen an. Das ist ein Mensch. Ein wahnsinniger, vollgesabberter Mensch.«

»Hmmm.« Erstaunlicherweise wirkte der Chief beinahe zerknirscht. »War dann wohl ein falscher Alarm für dich. Aber Green, Smith und Lockwood haben allen Ernstes behauptet, der wäre aus’m Fenster gehüpft und losgeflogen.«

Diese Feststellung beließ Dante in weiser Voraussicht ohne Kommentar. Er wollte jetzt zurück nach Hause und seine Ruhe haben. Schließlich hatte er nun zwei Probleme zu lösen – Trish und Jin Kazama –, und dies war in seinen Augen mehr als genug. Wenn auch dieser andere Typ ihm leid tat, denn er hatte ganz offenkundig viel durchgemacht.

»Ich bin weg«, erklärte er, machte eine schlaffe Abschiedsgeste und kehrte der Kirche den Rücken.

Nach nur wenigen Schritten in Richtung Straße rief ihm Fordham hinterher: »Hey, Dante!«

Dante sah über die Schulter. »Was ist, kalte Füße?«

»Du hast den Anderen von vorhin doch mitgenommen.«

»Ja.«

»Auch ein Mensch?«

»Ja.« In etwa.

»Willst du den hier auch mitnehmen? Zur Aufsicht.«

Dante starrte Fordham an. Er fragte sich, ob seine Gesichtszüge gerade wirklich so sehr entgleist waren, wie sie sich anfühlten. »Dein Ernst?«

»Wenn der Kerl … wirklich ein Freak ist«, suchte Fordham nach Worten, »dann werden wir im Department echte Probleme mit ihm kriegen.«

»Und ich nicht, oder wie?«

»Er ist gewalttätig. Wir müssten ihn unter Drogen setzen.«

»Der ist doch eh schon voller Drogen. Guck dir die Augen an. Außerdem hätte der nach meinem Würger längst wieder zu sich kommen müssen, aber er liegt immer noch nutzlos rum.«

Fordham seufzte, ohne argumentative Grundlage für seine egoistische Forderung. »Du hast doch den Anderen schon zu Hause. Was macht da einer mehr von der Sorte?«

»Ganz einfach, mit dem Anderen kann man vernünftig reden«, erklärte Dante. »Der erzählt nichts von Zeitreisen. Nur von mordenden Opas.«

»Dante, dieser Typ wurde dabei gesehen, wie er so aussah wie der andere Typ, und den hab ich gesehen. Denkst du, ich will so was in meine Zelle sperren?«

Dante betrachtete den Bewusstlosen noch einmal. Zugegeben, er sah wie ein Freak aus. Aber Dante hielt sich für den Letzten, der über so etwas urteilen sollte. »Also, hör zu. Ich nehm ihn mit und beaufsichtige ihn bis morgen früh. Wenn er dann immer noch harmlos ist, nimmst du ihn.«

Fordham seufzte erleichtert. »Klingt nach ’nem Deal.« Er kehrte der Szene den Rücken, um zum Auto zu gehen, hielt aber noch einmal an, um über die Schulter zu spähen. »Nur aus Neugier: Was machst du mit diesen Typen? Sperrst sie in deinen Keller?«

»Ich hab keinen Keller«, antwortete Dante. Wenn er darüber nachdachte, wäre so ein geheimer Folterkeller schon eine feine Sache. Manchmal.

Chief Fordham vermied es, Dantes Blick zu begegnen, während dieser den jüngst überwältigten Übeltäter an den Armen wieder von der Rückbank zog und sich seinen reglosen Körper über die Schulter warf. Wozu vorsichtig sein? Der Typ war nicht aus Zucker und außerdem völlig unverletzt. Anders als der abgestochene Kazama-Typ, den der Sanitäter mit Samthandschuhen angefasst hatte, um ja nicht wieder das Monster in ihm zu wecken.

Devil. Blöder Name, blödes Ding, dachte Dante missmutig. Mal sehen, welches Loch ich zuerst gestopft kriege: Trish befreien, dem Irren in den Arsch treten oder Devil zum Weinen bringen. Ich bin gespannt.
 

In völliger Dunkelheit kehrte er zu seiner Behausung zurück. Sie war das einzige noch erleuchtete Gebäude. Schon aus der Ferne sah er die Neonschrift strahlen und das gelbe Licht in den Fenstern, die keinen Blick nach innen gestatteten.

Dantes neuester Schützling rührte sich noch immer nicht; er war konsequent bewusstlos und sabberte. Dante trug ihn bäuchlings, damit das Zeug abfließen und nicht in die Luftwege geraten konnte.

Mal sehen, was der kleine Kazama sagt. Hier, guck mal, dein Mithäftling.

Im Grunde wusste er nicht, warum er sich das hier überhaupt antat. Wieso fing er plötzlich an, Leute bei sich einzusperren? Er hatte geglaubt, dass er in dieser Stadt der Einzige war, der noch annähernd richtig tickte. Alle anderen, einschließlich der Polizei, konnte man hier schließlich unter Ulk verbuchen. Trotzdem hatte er im Laufe des Abends schon zwei komische Typen aufgelesen und sie einfach behalten wie zwei heimatlose Kätzchen. Wieso bloß?

Weil der Kazama-Knopf gefährlich ist. Der hier hingegen ist …

… berührt.

Der war kein Dämon, aber er schleppte die Dunkelheit mit sich rum. Dantes Sinne registrierten dies. Nein, kein Teufel – aber es war erklärbar, dass ihn selbst normale Menschen wie Fordhams Untergebene mit einem verwechselten.

Als er die Tür aufschloss und in die angenehme Wärme seiner heimischen vier Wände eintrat, sah er Jin Kazama auf dem Sofa sitzen. Dessen buschige schwarze Brauen hoben sich, als er sah, dass Dante nicht allein kam.

»Na, du bist ja noch hier. Schon festgestellt, dass du nicht durch das Badezimmerfenster passt?«

Jin sah Dante ruhig an, ohne etwas zu antworten, dann verließ er die Couch, die der Tür zugewandt war, und ließ sich stattdessen auf der anderen nieder.

Dante legte sein Mitbringsel seitlich auf das freigewordene Sofa. »Tja, ich hab noch einen Freak aufgesammelt. Habt ihr da draußen irgendwo ein Nest?«

Anscheinend wollte Jin darauf keine Antwort geben. Das musste bedeuten, dass er keinen Humor hatte.

Im Licht war das fahle Gesicht des ohnmächtigen Mannes viel besser zu erkennen. Schon möglich, dass an dem auch ein Japaner oder Chinese oder was auch immer vorbeigelaufen war.

»Ich kenne ihn nicht«, wiederholte Jin in seiner üblichen emotionslosen Sprechweise.

Dante knirschte mit den Zähnen. »Zwei von euch am selben Abend und ihr kennt euch nicht? Verstehe.«

»Sie haben wohl geglaubt, Sie wären der einzige Mensch, der anders ist«, mutmaßte Jin, und der spitzfindige Ton gefiel Dante nicht.

Eine schlagfertige Retour schuldig bleibend, beugte er sich stattdessen wieder über seinen frischesten Gast und gebrauchte als erstes dessen ohnehin durchgeweichtes rotes Oberteil, um ihm den Speichel vom Mund zu wischen. Nicht dass er noch dran erstickte. Der Kerl sah wirklich nicht gerade gesund aus: Sein Teint war fahl, seine Augen verschattet. Sein Haar bedeckte knapp die Ohren und war von stumpfem Braun wie das Fell einer Wühlmaus. Der Mantel – mitteldunkles Hirschleder, eigentlich ein gutes Material – war abgetragen und stellenweise zerschlissen, weil er nicht angemessen gepflegt worden war. Um die Hüften lagen gleich zwei Gürtel, beide zu groß, und die Ärmel des Mantels waren breit umgeschlagen, vielleicht, um geballte Fäuste größer aussehen zu lassen.

»Wir sollten nachsehen, ob er Papiere hat«, schlug Jin vor.

»Da werden keine sein. Die Cops hatten ihn schon im Verhör. Ich will lieber wissen, was den so wabbelig gemacht hat.«

Dante ergriff den linken Arm des Mannes – denn dieser war ebenfalls Rechtshänder, wie der Kampf gezeigt hatte –, und zog den Ärmel fast bis zur Schulter hoch, um die weiße Haut kritisch zu beäugen. Nein, da waren keine Einstichstellen, keine Hämatome. Nichts, das auf regelmäßigen Drogenkonsum hinwies.

»Hm. Ein Junkie ist er jedenfalls nicht. Aber wieso sieht er dann aus wie einer?« Plötzlich erinnerte er sich an den seltsamen Dialog, den sie geführt hatten. ›Meine Lügen sind gerade räudig, weil …‹

In unguter Vorahnung beugte er sich ganz tief über das Gesicht des Bewusstlosen und sog dann so scharf und kräftig die Luft ein, dass die Stirnhaare des Mannes flatterten. Oh ja – da war es, dieser widerliche, unverwechselbare Geruch. Dante wich zurück und verzog das Gesicht, ehe ihn ein krampfhaftes, trockenes Niesen schüttelte.

»Gesundheit«, sagte Jin wie ein Automat.

Dante schnaubte und rieb sich verdrießlich die juckende Nase. »Wahrheitsdrogen«, knurrte er. »Oder sagen wir, das, was man am ehesten so nennen könnte. Den Gestank werde ich nie vergessen.«

»Wahrheitsdrogen? Warum sollte die Polizei so was machen?«, fragte Jin.

Es war unbegreiflich für Dante, wie jemand so arglos sein konnte. Der Kerl tat ihm langsam leid.

»Weil Cops leider alles dürfen, solange keiner da oben davon Wind kriegt«, erläuterte er. »Ich wette, die haben es nicht mal dem Chief gesagt. Den kann ich zwar nicht leiden, aber so was ist nicht sein Sing.« Dante stellte fest, dass er noch immer schniefte. Ärgerlich rieb er sich über das Gesicht. »Gut, machen wir ihn mal sauber. Wenn die Wirkung der Droge abklingt, hört auch das Sabbern auf. Irgendwann redet er wieder mit uns.«

Gemeinsam schälten sie den besinnungslosen Mann vorsichtig aus seinem Mantel, der, soweit man es so bezeichnen konnte, sauber war. Sein Hals trug noch leichte Spuren des Würgegriffs, und um ihn lag ein dünnes Lederband, an dem eine Art Talisman befestigt war. Es war ein dumpf leuchtender, blutroter Stein, eingefasst ihn ein Stück roh behauenen Muttergesteins.

Jin betrachtete das schimmernde Kleinod skeptisch. »Was denken Sie, was das ist?«

»Keine Ahnung«, gestand Dante. »Wird was Persönliches sein.«

Unter Jins Zuarbeit fasste er das rote Shirt am unteren Ende, wo es noch nicht allzu versifft war von der Sabberei, und zog es über den Kopf und die Arme des Mannes, sodass dieser nun halb entblößt vor ihnen lag. Er hatte den typischen Bau eines Straßenkämpfers, etwas hager, aber kräftig, und sein Körper schien alle Energie in geschmeidige, harte Muskeln und feste Sehnen investiert zu haben, unter denen an einigen Körperstellen die Knochen leicht zu erfühlen waren.

»Scheint ansonsten okay zu sein«, stellte Dante nach einem oberflächlichen Betasten der Arme und Rippen fest. »Morgen früh wird er besser aussehen. Braucht nur ein bisschen Schlaf und was zu essen.«

»Warum haben Sie ihn hergebracht?«, wollte Jin wissen.

»Aus dem gleichen Grund wie dich.«

»Hat er auch ein …« Der Japaner zögerte. »… Dämonenproblem?«

»Ich weiß überhaupt nicht, was der für ein Problem hat. Nur dass er eins hat. Oder mehrere.« Dante ließ sich auf das freie Sofa sinken, und Jin setzte sich in sicherem Abstand neben ihn.

Dante richtete einen scharfen Blick auf ihn. »Ehrlich, hast du versucht abzuhauen?«

Jin schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Warum nicht?«

Jins Brauen senkten sich. »Ich hätte nicht gewusst, wo ich hingehen soll. Ich kann überall hingehen …« Sofort schien er es zu bereuen, auf seinen Wohlstand hingewiesen zu haben. »… aber ich denke, dass ich in Ihrem Zuhause weniger Grund habe, mich in Devil Jin zu verwandeln.«

»Ah, so nennst du also dein teuflisches Alter Ego. Was triggert die Verwandlung?«

»Negative Gefühle«, antwortete Jin nüchtern. »Schmerz. Wut. Albträume.«

»Kummer?«

Der Japaner wandte den Blick ab.

»Und du fühlst dich bei mir sicherer? Obwohl du dich ärgerst?«

»Glauben Sie mir, das ist nicht die Art von Ärger.«

Dante beobachtete die Unzufriedenheit in Jins weichen Zügen. Da war noch immer ein bisschen Angst, ein intuitives Zurückweichen; aber vor allem war da Antipathie. Wie Dante bereits festgestellt hatte, war Jin gut geschult darin, seine Gefühle zu verbergen – doch genau wie jeder andere halbwegs normale Mensch war er sichtlich verwirrt über die starke Abneigung, die er Dante instinktiv entgegenbrachte. Eigentlich war er kein ängstlicher Mensch, das war augenfällig. Das Einzige, wovor Jin Kazama deutlich Schiss hatte, war er selbst. Und genau deshalb saß er jetzt auf Dantes Sofa. Und war nicht vom Dach gesprungen.

Dante bedachte ihn mit einem halbseitigen Lächeln. »Ich werde leider nicht aufhören, dich zu ärgern. Bei einem Typen wie dir kann ich mir das einfach nicht verkneifen.«

Jins Blick blieb finster. »Sie sind der Experte«, erwiderte Jin schließlich, wobei eine Spur von Spott in seinem Tonfall mitschwang. »Sie wissen jetzt, was passiert, wenn Sie mich zu viel ärgern. Sie haben mich festgenommen, also müssen Sie auf mich aufpassen.«

»Klugscheißer«, sagte Dante müde. »Und hör endlich auf, Sie zu sagen.«

Jins Nicken war eine knappe, automatisierte Geste, wie viele seiner Bewegungen.

»Gut. Dann gehe ich jetzt ins Bett, und ihr zwei …« Dante wies lustlos auf die Sofas. »… arrangiert euch.«

»Dieser Mann und ich«, murmelte Jin verdrossen.

»Exakt. Wenn er aufspringt und weglaufen will, halt ihn auf.«

»Mit welchen Argumenten?«

»Ich glaub, deine Fäuste sind gute Argumente.« Dante mochte seinen Scherz, aber in Jins Gesicht regte sich nichts. »Spaß beiseite. Solange ich nicht weiß, was er ist, ein Dämon oder sonst irgendwas, will ich ihn genauso im Auge behalten wie dich, und das sollte auch in deinem Interesse sein. Er wird dir keine Probleme machen. Sieh ihn dir an. Der ist durch.«

Aus dem Schlafzimmer brachte er seinen Gästen noch warme Decken und etwas, das Kopfkissen immerhin ähnelte. Wenn irgendwas sein sollte, da war sicher, würde er schon wach werden.
 

Sobald er seine beiden Gefangenen mit allem versorgt hatte, das sie brauchen würden, um eine Nacht im wenig luxuriösen Devil May Cry zu überstehen, verzog er sich endlich in seine eigenen Räumlichkeiten. Dort war es kälter als im Büro. Seitdem Trish fehlte, vergaß er, das Zimmer zu heizen; wenn sie dort zu zweit waren, entfiel dieser Aufwand normalerweise. Jetzt aber fühlte sich selbst die Decke auf der Haut kalt an.

Als er sich hinlegte und es seinen Gedanken erlaubte, wieder zu Trish und ihrem Entführer zu wandern, wurde ihm klar, dass er noch lange grübelnd wach liegen würde.

Akt I - Arrest: 3-3

3-3: YURI
 

Ein Traum hatte ihn zurück zu Alice geführt.

Wie schon so oft seit ihrem unerwarteten Tod hatte er, in einer Sphäre aus Licht und Dunkelheit ziellos dahin wandernd, ihre Stimme gehört, die mit ihm sprach, als ginge sie direkt neben ihm und teilte ein fröhliches Ereignis mit ihm. Doch sie war nicht [style type=„italic“]da[/style], und er konnte sie nicht richtig verstehen; er wollte wissen, worüber sie so heiter redete, wollte den Ursprung ihrer Stimme herausfinden und sah sich verzweifelt nach ihr um – doch ringsumher zogen nur graue Schwaden vorüber, trübe, weißliche Fetzen wie Gaze unter der Oberfläche eines schmutzigen Teichs.

Er versuchte, ihren Namen zu rufen. Seine Kehle war ein kalter, unbeweglicher Klumpen, aus dem kein Ton hervordrang. Wohin er sich auch wandte, wie rasch er sich auch um sich selbst drehte, taumelnd, mit der verzweifelten Hoffnung, ihr weißes Antlitz irgendwo in diesem Nichts zu entdecken – nirgends war sie, nur ihre Stimme hallte fern und unwirklich in seinen Ohren wider wie der untote Schatten eines lange verklungenen Echos.

Und er begriff: Sie war nie dagewesen. Nur eine Halluzination. Sein eigenes Hirn spielte ihm einen bösen Streich, denselben wie immer seit zwei Jahren. Immer und immer wieder.

Das Bild wurde dunkel, und ein punktförmiges Licht tauchte in der Ferne auf. Das Schnauben und Stampfen schwerer Dampfmaschinen rollte langsam heran wie eine schwere Welle, legte sich erstickend über Alice’ Stimme, bis diese in der Schwärze verklang.

Yuri fühlte eine nagende Furcht sein Herz befallen. Er kannte diesen Zug. [style type=„italic“]Sie[/style] würde dort sein. Und er wusste, sobald das Rauch speiende Ungetüm vor ihm anhielt, würde er einsteigen, und augenblicklich würde der Transsibirische Express, in dem er ihr erstmals begegnet war, damals, vor so langer Zeit, sich in jenen verhängnisvollen Zug nach Zürich verwandeln.

Furchtsam trat er zurück. Immer schneller machte er einen Schritt nach dem anderen nach rückwärts. Der Zug durfte nicht neben ihm anhalten, er durfte nicht wie von Zauberhand durch die hydraulisch aufhebelnde Tür getragen werden, nicht in den Gang des Großraumwagens treten, der völlig menschenleer sein würde, wo allein [style type=„italic“]sie[/style] saß und aus dem Fenster in die Finsternis sah …

Bei dem Gefühl ihres kalten Gewichts an seiner Schulter packte ihn der Terror.

Er stürzte herum, rannte, stolperte, schüttelte den Kopf, schrie, ersehnte das Ende des stetig wiederkehrenden Traums …
 

… Und dann war er schlagartig wach.

Und die Kopfschmerzen [style type=„italic“]brachten ihn um[/style]. Scheiß-Droge!

Am ganzen Körper zitternd lag er seitlich unter einer dunklen Decke, die viel zu warm war für seinen fiebrig bebenden Körper. Er schüttelte sie von sich, obwohl er innerlich fror, und unter ihr war sein Oberkörper nackt und schweißbenetzt.

Es war Nacht, so viel war sicher. Wo auch immer er sich hier befand, es war dunkel und es war ruhig. Die Luft war von angenehmer Temperatur und roch warm nach altem Holz, Leder und auch dezent nach deren Pflegemitteln. Und das, worauf er lag – ein Sofa? – war halbwegs bequem.

Wenn das hier also ein Knast oder eine Anstalt war, dann hatte sich seit seiner Zeit viel getan. Mit Abscheu erinnerte Yuri sich an die feuchtkalten, lichtlosen Verliese mit rasselnden Ketten, harten Bettgestellen und klammen Decken.

Nicht mehr zur Ruhe fähig, ließ er sich vom Sofa gleiten und landete mit Knien und Händen auf einem leicht staubigen Holzboden. Die Dielen waren sicherlich älter an Jahren als er. Sobald er sich in eine aufrechte Position erhoben und festgestellt hatte, dass er völlig unverletzt war, griff er an seinen Hals, um dort erleichtert das Periapt vorzufinden, seinen teuersten Besitz. Gott sei Dank, das Amulett war da – den Rest seiner Habe, der noch verschollen war, würde er schon irgendwie zurückbekommen.

Allmählich waren in seiner näheren Umgebung Umrisse zu erkennen. Ein großer Raum mit verhältnismäßig hoher Decke, eingerichtet wie eine Mischung aus Freizeit- und Geschäftszimmer. Durch die unverhüllten Fenster fiel erstaunlich wenig Licht herein. Yuri schlich zwei Schritte in Richtung der Fenster, weil er dort auch die Tür vermutete, und streckte die Hände vor, um an der nahezu unsichtbaren Wand danach zu tasten.

Da sah er aus den Augenwinkeln, wie sich links hinter ihm – etwa dort, wo er zuvor gelegen hatte – eine dunkle Gestalt erhob, so lautlos wie ein Schatten.

Kampfbereit fuhr er herum, und da war der Fremde auch schon direkt vor ihm und wollte ihn an den Schultern ergreifen. Yuri wich aus, indem er die Knie einknickte und augenblicklich abtauchte. Viel brachte das allerdings nicht: Darauf, dass Yuri seine Hüfte packen und ihn umstoßen würde, war der Andere offenbar vorbereitet, denn sofort trat sein rechter Fuß einen großen Schritt zurück und verhinderte, dass er von Yuris Gewicht zu Boden gerungen wurde. Stattdessen packte eine kräftige Hand Yuris Arm und trachtete danach, ihm diesen grob auf den Rücken zu drehen. Yuri reagierte rasch und machte sich frei, um durch Ausschreiten nach rückwärts einen großen Abstand zwischen sich und der dunklen Gestalt zu schaffen.

Nun standen sie einander drohend gegenüber. Yuri erkannte augenblicklich, dass dieser Typ [style type=„italic“]nicht[/style] der Dämonenkiller im roten Mantel war, und ließ die Arme sinken. Nein, der Kerl da war keinen Fingerbreit größer als er selbst, außerdem ebenfalls von der Gürtellinie aufwärts unbekleidet, was erkennen ließ, dass um seine Hüfte ein etwas unprofessionell angelegter Verband lag. Über die obere Hälfte seines Gesichts, das nur schemenhaft zu erkennen war, fielen schwarze Strähnen.

»Ich werde dich nicht gehen lassen«, ließ ihn der Fremde mit ruhiger Stimme wissen. Er flüsterte nicht, dennoch sprach er so leise, dass Yuri ihn um ein Haar nicht verstanden hätte.

»Wo sind wir?« Das war wohl die die wichtigste Frage in diesem Moment. Von [style type=„italic“]wo[/style] sollte er nicht weggehen?

»Bei Dante«, war die wenig hilfreiche Antwort.

»Wer ist Dante?« Yuris verwirrtes Hirn schaltete. »Der Bekloppte mit dem Schwert?«

»Ja.«

»Was wollt ihr von mir?«

»Ich will gar nichts von dir.«

Yuri verlor die Geduld. Er fühlte sich einfach zu elend. »Hör mal. Ich bin eigentlich nett, aber jetzt wurde ich mit irgendwelchen Spritzen gepiekst und von einem Bekloppten verschleppt, ich hab Kopfschmerzen und wirklich, [style type=„italic“]wirklich[/style] schlechte Laune. Also entweder gehst du mir aus dem Weg oder du siehst gleich Sterne.«

»Versuch es«, antwortete der Andere mit grimmiger Miene. »Was auch immer du bist, wenn du mich ärgerst, werde ich etwas Schlimmeres.«

Yuri hätte beinahe aufgelacht. Na gut, was im spärlichen einfallenden Licht von dem anderen Mann zu sehen war, das war schon respekteinflößend – durchweg athletisch, nur Muskeln, sonst nichts –, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Typ konnte, was [style type=„italic“]er[/style] konnte. Egal wie schlecht Yuri sich gegenwärtig fühlte. Er hatte schon zu viel in dieser Nacht erlebt. Er würde jetzt abhauen.

»Schönes Leben noch«, brummte er und schleppte sich auf den Eingang zu. Sein Gang war unsicher, doch eine verschlossene Tür würde ihn nicht aufhalten.

Der Andere machte einen einzigen Satz und packte ihn am rechten Arm.

Das hatte Yuri geahnt. Er fuhr herum und schickte seine linke Faust in Richtung des Gegners, dessen Gesicht er natürlich [style type=„italic“]nicht[/style] erwischte, doch im Moment, als der Andere auswich, rammte Yuri ihm eine Ferse ins Schienbein, was den Anderen überrascht aufkeuchen und loslassen ließ. Yuri hopste auf dem anderen Fuß beiseite. Scheiße, wo waren eigentlich seine Schuhe? Dieser Kerl hatte Waden wie Eisenstangen, daran konnte man sich die Zehen brechen.

Nunmehr einen Meter näher an der Tür, startete Yuri einen neuen Fluchtversuch, doch seine Koordinationsprobleme ließen ihn nicht weit kommen. Der Wachhund von diesem Dante-Typen musste nichts weiter tun als zuzusehen, wie die plötzliche Anstrengung Yuri jeder Fähigkeit beraubte, geradeaus zu gehen. Fast lässig fasste ihn der andere Mann an der Schulter, und Yuri sackte hintenüber, sodass er ihn mühelos packen konnte.

»Im Moment kannst du nicht kämpfen.«

[style type=„italic“]Boah, wirklich.[/style] »Du nervst … Wie heißt du …?«

Der andere hielt ihn halb unter dem Arm wie einen Klappstuhl. »Jin Kazama«, sagte er, ohne den Griff zu lockern.

Yuris Ohren kribbelten beim Klang eines japanischen Namens. Ihn zu hören war wie eine vertraute Boje in einem Meer aus Unbekanntem, in dem er kaum den Kopf über Wasser halten konnte. Wo auch immer er hier war, es gab zumindest [style type=„italic“]etwas[/style], das nach Heimat klang.

»Ich bin Yuri«, murmelte Yuri, obwohl Jin nicht nach seinem Namen gefragt hatte. »Hyuga. Lässt du mich los?« Er wechselte ins Japanische. Vielleicht half das.

»Nein.« Schade. »Ich weiß immer noch nicht, was du bist.« Jin sprach einen weichen Regiolekt, den Yuri nicht verorten konnte. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, sich aus Jins Schraubstockgriff zu befreien, und scheiterte sofort – hier war kein Durchkommen.

Ein anderer verstörender Gedanke brach sich Bahn. »Sag mal … Dieser Dante, bei dem du anscheinend den Türsteher machst … ist der ein besessener Dämonenfan oder so?« Es wäre nicht das erste Mal, dass er Opfer von Perversitäten wurde. [style type=„italic“]Er hätte mich erschießen können, aber er hat mich nur K.O. gewürgt … Er will mich lebend …[/style]

»Ich denke nicht«, antwortete Jin diplomatisch. »Aber er hält dich für gefährlich.«

»Ach, na so was. Dann halten wir uns ja alle gegenseitig für gefährlich.«

»Ich glaube, er will dir nichts tun, aber wenn du wegläufst, wird er dich wieder einfangen.«

»Kann er gerne versuchen.« Yuri entspannte sich ein wenig und ließ seinen Blick über die hintere Wand gleiten, wo ein großes Stück der Verkleidung fehlte. Durch die hämmernden Kopfschmerzen hindurch hatte er immer wieder undeutliche Schemen im Inneren des Raumes erahnt, und nun, da seine Augen sich besser der Dunkelheit angepasst hatten, konnte er sehen, was diese umschatteten Konturen waren: Schädel von Monstern, mit allen möglichen Schwertern angepinnt. Oh, [style type=„italic“]Gott[/style]. Einen Wimpernschlag lang hoffte er, der Hangover würde seinen Verstand benebeln. Er war doch nicht wirklich im Kuriositätenkabinett eines geistesgestörten Dämonenjägers gelandet … [style type=„italic“]oder doch[/style] …

Ein Schaudern durchlief ihn, und seine Eingeweide krampften sich zusammen. Hier war er wirklich so was von falsch, halb ausgeknockt, wie er war. Da konnte Jin noch sehr Japaner sein oder ein Engel oder sonst was. Jetzt war Schluss.

Yuri ruckte hart an Jins Griff und kriegte einen Arm frei, den er ihm in die Flanke donnerte, Ellenbogen voran. Scheiß auf Stil und Technik, er musste hier raus.

Jin hatte seine plötzliche Anspannung zwar gespürt, das verriet seine sehr schnelle Reaktion, doch Yuris Schlag hatte ihn offenbar ziemlich empfindlich erwischt, denn er ließ los. Yuri machte einen Satz zur Tür (der fast im Umkippen endete), warf einen Blick über die Schulter und sah, wie der Verband über Jins Hüfte sich rot tränkte. Oh, [style type=„italic“]die[/style] Seite war das gewesen. Es tat ihm beinahe leid.

Seine Finger schlossen sich um die beiden Türgriffe, und im selben Moment füllte sich der schummrige Raum mit einem unangenehmen roten Licht.
 

Das nächste, was Yuri wusste, war, dass er strampelnd unter Jin lag, dessen schwere, klauenbewehrte Hand auf seine Kehle sank.

»Es tut mir leid«, sagte Jin mühsam, und seine Stimme färbte sich dunkel, »aber ich bin gefährlich.«

»Ich auch!«, blaffte ihm Yuri ins Gesicht und suchte in sich nach einem Monster. Hinter seiner Stirn drehte sich alles, sein Kopf drohte zu explodieren. »Du hast keine Ahnung, wie gefährlich [style type=„italic“]ich[/style] – !«

»… Und darum ist es umso besser, dass ihr bei mir seid.«

Eine Hand packte Jins nackte Schulter und riss ihn so mühelos von Yuri weg, dass es fast lächerlich wirkte. Jetzt sah Yuri, dass Jin dabei gewesen war, sich in irgendwas zu [style type=„italic“]verwandeln[/style], und ein fiebriger Gedanke nach dem anderen jagte durch sein malträtiertes Bewusstsein: [style type=„italic“]Was ist das, woher kommst du, was[/style] bist [style type=„italic“]du[/style] –

Dann beugte Dante sich über ihn, und der harte Blick seiner eisblauen Augen brachte Yuri sofort dazu, den Mund über den gefletschten Zähnen wieder zu schließen. »[style type=„italic“]Du[/style] bist dank der Drogen ungefähr so gefährlich wie ein Shadow in einem Sack voll Katzenminze, du Nervensäge. Ausgeschlafen?« Dante ignorierte Jin vollkommen, der hinter ihm gegen den Schreibtisch gelehnt saß und schwer atmete. Was auch immer mit dem Typen passiert war, es zog sich langsam wieder zurück.

Yuri nahm sich nur kurz Zeit, seine Lage zu überdenken. Er kam zu dem Schluss, dass er in seinem Zustand gegen die Übermacht aus einem Monster und einem Dämonenjäger keine guten Chancen hatte, jetzt die Biege zu machen. Er schluckte, einmal und noch mal, und sagte erschöpft: »Okay … Ich bin harmlos, weißt du … Ich hab nur keine Ahnung, wie ich in ein total fremdes Land komme.«

Dante musterte ihn prüfend. »Den Teil hatten wir schon, oder? Hab gehofft, wir könnten morgen darüber reden, wenn du wieder klarer im Kopf bist.«

»Sagt der Perversling, der mich entführt hat«, knurrte Yuri. Er mochte diesen herablassenden Ton überhaupt nicht.

Dante zuckte die Schultern. »Ich kann dich auch zurück zum Police Department bringen, wenn du dich da wohler fühlst.«

Yuri biss die Zähne zusammen. Offenbar wusste der Kerl, was die hiesige Polizei mit Leuten machte. Dies ließ seine Gefangenschaft hier plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Womöglich war er hier sogar sicherer als irgendwo anders – vor Spritzen und bohrenden Fragen … »Nein«, ächzte er, »nein.«

»Dann benimm dich.« Dante stand auf und ließ Yuri liegen, sodass er selbst auf die Füße krabbeln musste. Bei Jin allerdings blieb der Jäger stehen und fragte: »Geht’s?«

Jin nickte erschöpft.

Dante warf Yuri einen skeptischen Blick zu. »Du solltest einfach deinen Rausch ausschlafen. Hier passiert dir nichts. Klar?«

»Klar«, brummte Yuri, der jetzt, da sein Blutdruck wieder in den Keller fiel, bleierne Müdigkeit auf sich herabsinken spürte. Sein Herzschlag hämmerte immer noch unangenehm laut hinter seiner Schädeldecke. Vielleicht sollte er wirklich einfach schlafen. Und unweit neben ihm war ein Sofa …

Sich an der Wand abstützend sah er zu, wie auch Jin wieder auf die Beine kam und Dante sich ziemlich sorglos wieder zum Gehen wandte. Seine Gefangenen wirklich zu bewachen war ihm offenbar zu mühsam.

Yuri trottete zur Couch, gehorsamer als noch vor wenigen Minuten, und starrte auf das Polster. Wenn es ihm morgen besser ging, welche Optionen gab es dann? Sich Jin und Dante anzuvertrauen war Unsinn, denn sicherlich würden sie ihm genauso wenig wie die Polizisten glauben, dass er vor fast hundert Jahren in diese Zeit gereist war – von einem Ort aus, der sich [style type=„italic“]außerhalb[/style] von Raum und Zeit befand. Einem Ort, an dem Zeit keine Dimension war, sondern eine Dunstglocke, die alles in ihr von Leben und Tod trennte. Aber eins stimmte ohne Zweifel: Es war besser, die Nacht hier zu verbringen, als krank und halb betäubt nach draußen ins kalte Dunkel zu ziehen. Er hatte Geld, Ausrüstung und Papiere auf der Polizeistation zurücklassen müssen und hatte nun nichts außer seiner Kleidung bei sich. Nicht sehr aussichtsreich.

Er legte sich hin. Die Welt kippte einen Moment, als hätte man ein Aquarium auf die Seite gedreht, ehe sich die Wellen in seinem Hirn wieder glätteten. Hoffentlich war der Kater morgen vorbei.

Jin beobachtete ihn einen Moment lang, so als traute er der Sache nicht ganz; dann aber nahm auch er seinen Platz auf dem anderen Sofa wieder ein, Yuri weiter aus seinen kühlen dunklen Augen musternd. »Ich werde es hören, wenn du wieder aufstehst«, sagte er schlicht.

Daran zweifelte Yuri nicht. Er hörte, wie Dante wieder die Treppe hinauf trottete, als würde ihn das Chaos in seinem Wohnzimmer nicht länger interessieren. »Der Typ soll sich mal eins merken«, murrte Yuri, während er die Decke wieder über sich zog. »Keiner würgt mich K.O. und kommt damit davon. Dafür werde ich ihm noch mal in den Arsch treten, bevor ich gehe.«

Jin sagte nichts. Seine Silhouette war wieder gänzlich mit der der Couch verschmolzen.

Yuri hoffte, er würde das überstehen, was morgen auf ihn wartete.

Akt II - Das Leben danach: 4-1

4-1: JIN
 

Jin wurde wach, als die Spätwintersonne durch die gelben Fensterscheiben fiel und den ganzen Raum golden ausleuchtete. Noch im Liegen drehte er den Kopf und betrachtete das aufgeraute Glas; das außerordentliche Farbspiel war dem Winkel der einfallenden Lichtstrahlen zu verdanken und würde in wenigen Minuten vorüber sein.

Jin schaute wieder geradeaus und sah Yuri, blass und zerzaust auf dem Rücken liegend und nur noch halb zugedeckt. Allem Anschein nach schlief er noch tief und fest. Der rote Stein, sein Talisman, glühte gegen das gelbe Licht an.

Jin schlug seine Decke zurück und stand auf. Seine Stichwunde zwickte unter ihrem Verband, als er sich streckte, doch seine Gliedmaßen waren warm und geschmeidig. Dantes Couch war bequem genug, um erholsam darauf zu schlafen. Immerhin etwas.

Zwischen den wenigen Dingen, die er mit auf die Reise genommen hatte, fischte er frische Wäsche hervor und ließ dabei den schlafenden Yuri nicht aus den Augen. Jin fragte sich, was er durchgemacht hatte. Verhört von der Polizei? Hoffentlich war er nur ein Kleingangster und kein Mörder oder Ähnliches. Vielleicht würde Dante mehr Informationen aus ihm herausbekommen und ihn dann ausliefern, sodass sie beide – Jin und Dante – sich endlich wieder auf das konzentrieren konnten, was Priorität hatte. Und Jin hoffte, dass das Devil war.

Das Geräusch der Tür ließ ihn aufmerken.

Dante kam hereingetrottet. Er war angezogen, aber sein Haar war nass und hing in dunkelgrauen, tropfenden Strähnen herab.

»Morgen«, grüßte er lahm. »Duschen? Hab dir ein Handtuch hingelegt.« Er machte eine knappe Kopfbewegung hinter sich.

Jin nickte zustimmend. Waschen war nach den gestrigen Erlebnissen ganz in seinem Sinne.

»Du bist früh auf«, kommentierte er, während er mit seinen Sachen an Dante vorbei auf den Durchgang zum Rest der Wohnung zuhielt.

Dante zuckte die Schultern. »Ich schlafe im Moment nicht besonders gut.«

»Wegen deiner Partnerin.«

Dante ignorierte den Kommentar und drückte ihm stattdessen im Vorbeigehen etwas in die Hand. »Hier, die haben mir einen frischen Verband für dich mitgegeben.«

»Danke.«

Jin durchschritt die kleine Küche, von der er bereits wusste, dass sich an sie das noch kleinere Badezimmer anschloss. In diesem angekommen verschloss er die Tür hinter sich und schaute durch das angekippte Fenster auf einen leeren, lichtbeschienenen Hinterhof. Die Luft in dem Raum war noch warm und feucht. Wie versprochen lag ein großes Handtuch auf dem Toilettendeckel neben dem Waschbecken, das an mehreren Stellen gesprungen war und aussah, als würde es jeden Moment auseinanderfallen; sein Rand trug eine dünne Staubschicht. Auf der anderen Seite der Toilette stand ein abgenutzter Wäschekorb, auf dessen geschlossenem Deckel zwei Zeitschriften lagen: oben eine Guns & Ammo vom Dezember 2007, darunter versteckt eine fünf Monate alte Ausgabe der Penthouse mit einer lüstern dreinschauenden Brünetten auf dem Cover. Insgesamt könnte es schlimmer sein.

Als Jin den Verband vorsichtig abnahm, sah die Wunde, die darunter zum Vorschein kam, alles andere als ästhetisch aus. Die Wundauflage war vollgesogen mit Blut und Sekreten. Dass sie nicht längst verheilt war, blieb unerklärlich für ihn.

Während Jin sich vorsichtig wusch, dachte er an den Mann in der Kapelle zurück, der ihn erst so freundlich angesprochen hatte und kurz darauf mit Geißel und Klappmesser auf ihn losgegangen war. Es war also derselbe, der Dantes Partnerin entführt hatte. Wieso hatte er Jin sofort geglaubt, dass er besessen war, und gleich im nächsten Moment versucht, Devil aus ihm herauszupeitschen? Was für ein Mensch war das? Was wollte er?

Dante musste sich dazu äußern. Wenn er Jins Kooperation wollte, dann musste er alle Karten auf den Tisch legen.
 

Nach ausgiebigem Kontakt mit warmem Wasser fühlte Jin sich endlich besser. Mit der Sauberkeit kehrte auch so etwas wie Optimismus in seinen leidensmüden Geist zurück.

Wieder im Wohnzimmer mühte er sich mit dem frischen Verband ab, nur um festzustellen, dass er sich unmöglich genug verrenken konnte, um ihn fest und sicher anzulegen. Nach mehreren frustrierten Versuchen trat schließlich Dante neben ihn, nahm ihm wortlos die aufgerollte Mullbinde aus der Hand und bedeutete Jin, die Wundauflage festzuhalten, während er sie abwickelte.

Jin erduldete die unwillkommene Berührung einen Moment lang schweigend, dann sagte er: »Die Wunde … hätte heilen müssen, als Devil mich kontrolliert hat.« Sein Tonfall hatte beiläufig klingen sollen, doch er gab seine Verunsicherung preis.

»Hm, so kenn ich es von Dämonen«, erwiderte Dante. »Aber in dem Fall war die Waffe präpariert. So was gibt’s – gewöhn dich dran.«

Jin unterdrückte den Wunsch weiter zu fragen. Präpariert – womit? Bannzeichen? Vielleicht. Was verriet das über seinen Angreifer? Warum beschäftigte er sich mit solchen Dingen? Und woher hatte er gewusst … – »Wie sieht der Plan aus?«, fragte Jin.

Dante wirkte abgelenkt. »Welcher Plan?« Offenbar beanspruchte das Anlegen eines Verbandes seine ganze Aufmerksamkeit.

»Der Plan!«, erwiderte Jin ärgerlich. »Ich bin Ihr – dein Gefangener, und du willst mich wohl kaum für immer hier festhalten.«

»Oh, der Plan, klar.« Dante sicherte den Verband, indem er das Ende der Mullbinde einfach unter eine der engeren Schlingen stopfte. »Um ehrlich zu sein: Ich hab noch keinen.«

Jin wich einen großen Schritt vor ihm zurück und bückte sich mit zusammengepressten Lippen nach dem Hemd. So hatte er es sich nicht vorgestellt.

»Mein Problem und dein Problem«, brummte er, »lassen sich vielleicht beide lösen.«

»Wieso denkst du, dass ich ein Problem habe?«, erwiderte Dante ungerührt. »Wegen Trish? Die befreit sich schon.«

»Das glaubst du nicht wirklich. Abgesehen von deiner schlechten Laune geht von dir negative Energie aus.«

»Was?« Dante sah ihn, als hätte er einen schlechten Witz gehört. »Negative Energie? Oh nein. Komm mir jetzt nicht mit so was.« Doch dann entschied er offensichtlich, dass es nicht schaden würde, Jin einzuweihen, und erklärte nach einem langen Atemzug: »Ich hab schon länger Stress mit dem Typen, der dich abgestochen hat.«

»Er hat offenbar mit Dämonen zu tun.«

»Haha, kann man sagen. Er ist nur ein Mensch, aber er sucht einen Teufel, einen verdammt mächtigen. Aber damit er den erwecken kann, muss er Chaos stiften. Viel davon. Außerdem will er mich für irgendwas, und ich hab keine Ahnung, wofür. Normalerweise ist Trish unschlagbar darin, sich an solche Leute dranzuhängen und alles über sie rauszufinden. Sie hat eine Menge … Reize, wenn du verstehst. Aber diesmal … muss irgendwas schief gegangen sein.« Seine Miene war so bitter, dass sie seine aufgesetzte Gleichgültigkeit Lügen strafte. »Ich versteh’s nicht«, fuhr er leiser fort. »Die kann sich wehren. Und das meine ich so.«

»Du glaubst zu wissen, wo sie ist«, mutmaßte Jin.

»Pah, nicht wirklich. In gewisser Weise hat der Kerl mir mitgeteilt, wo sein Versteck ist, aber ich … hab nicht aufgepasst.«

Das ergab Sinn. Dante war also nicht nur wütend auf Jin oder diesen Yuri oder sonst jemanden, sondern vordergründig auf sich selbst, weil er darin versagt hatte, jemanden zu beschützen. Mit diesem Gefühl war Jin bestens vertraut. Er empfand ein kurzes Aufflackern von Sympathie für Dante.

»Was könnte er ihr tun?«, fragte er behutsam.

»Nichts.« Dante schnaubte. »Denke ich. Er weiß genau, dass ich dann meine Contenance verliere und ihn kalt mache.«

Als Dante ›kalt machen‹ sagte, konnte Jin den Groll, der von diesem rein äußerlich völlig entspannten Mann ausging, deutlich spüren. »Nun, wenn du mir mit Devil hilfst«, eröffnete er ihm und sah ihn fest an, »dann helfe ich dir, sie zu befreien. Egal wie. Was auch immer du brauchst, ich kann es beschaffen, auch wenn es sich nur um Informationen handelt. Sag mir einfach, was du brauchst.«

»Soso.« Dantes Blick war kritisch. Er stützte das stoppelige Kinn auf die Faust. »Ich nehme an, für einen reichen Schnösel wie dich sind keine Türen verschlossen.«

»So sieht es aus«, bestätigte Jin.

»Na dann. Klingt nach ’nem Deal.« Dante schlenderte zurück zur Couch, ohne sich daran zu stören, dass auf der anderen immer noch Yuri lag und friedlich schlummerte.
 

»Also gut. Reden wir über Devil. Du hast gesagt, dass du früher so was wie einen … guten Draht zu ihm hattest.«

Jin seufzte und ließ sich neben Dante nieder, seine Bettdecke beiseite schiebend. »Ich denke, dass es sich dabei eher um eine unvollständige Verwandlung handelte.« Jin versuchte, diese Erfahrung in angemessene Worte zu kleiden, doch schon in seiner Muttersprache wäre ihm dies schwer gefallen. »Ich hatte seine Kraft und seine Flügel, ich konnte davon Gebrauch machen. Ich konnte seinen Hass spüren, aber ich hatte ihn unter Kontrolle, konnte ihn steuern. Meistens.« Er dachte schaudernd an jenen Moment, in dem nur der Gedanke an seine Mutter ihn davor bewahrt hatte, seinem Großvater das Genick zu brechen. »Seit er vollends erwacht ist, ist alles anders. Er hat sich weiterentwickelt. Die … Hörner, und das … Auge …« Nur aus Berichten Vertrauter wusste er, wie Devil Jin wirklich aussah. Er malte es sich abscheulich aus.

»Was genau hat die erste Verwandlung ausgelöst?«, bohrte Dante weiter. »Dein Opa wollte dich töten. Wie?«

»Er hat auf mich geschossen, und seine Leute auch. Er hat mich genau zwischen die Augen getroffen.«

Dante hob die Brauen. »Oh, ein Kopfschuss. Nicht angenehm.«

»Nein.«

»Also, ich gebe zu, ich kenne keinen Teufel, der aussieht wie deiner, oder der macht, was deiner macht. Das könnte aber daran liegen, dass hier in den USA ganz andere Exemplare unterwegs sind als bei euch in Asien. Ist bei deinem Vater alles ganz genauso?«

»Bei meinem Vater? Nein.« Jin knirschte mit den Zähnen beim Gedanken an Kazuya Mishima. »Er kann ihn kontrollieren. Und bei ihm sieht Devil ganz anders aus.«

Dante zog, wie schon am Vortag, aus dem Papierstapel eine saubere Seite hervor. »Hier, mach mir eine Skizze.«

»Ich kann nicht gut zeichnen.« Widerstrebend nahm Jin Stift und Zettel entgegen.

»Ist mir egal. Kritzel irgendwas hin.«

Etwas ungeschickt begann Jin seine Arbeit. Seine Finger zitterten leicht, und er hasste es.

Dante betrachtete das Figürchen mit den fledermausartigen Flügeln und dem peitschenden Schwanz und kratzte sich dabei das Kinn. »Hmmm … komisch«, kommentierte er schließlich. »Bei deinem Vater sieht Devil verdammt europäisch aus. In mittelalterlichen Aufzeichnungen taucht genau die Sorte in krasser Überzahl auf.«

»Ich weiß«, erwiderte Jin, »aber trotzdem habe ich Devil, was auch immer es ist, Vater geerbt. Mein Teufel und seiner sind Teile etwas Ganzem. Sie … ziehen sich an, spüren die Nähe des anderen und reagieren darauf.«

»Teile vom gleichen.« Dante starrte grübelnd ins Leere und nickte langsam. »Ja, vielleicht sind sie irgendwie eins. Splitter von was Größerem. Das, was ihr Devil nennt, ist was Anderes als die jähzornigen Dinger, mit denen ihr euch die Körper teilt. Scheint ein eigenes Bewusstsein zu sein, eine Art Kollektiv. Und ihr seid damit infiziert, wie mit einem Virus.«

»Ein Parasit«, murmelte Jin. Er rieb sich die Stirn und dachte darüber nach. »Gibt es das oft … dass Teufel ihre Gestalt von … Faktoren abhängig machen?«

»Ja, kommt vor. Devils Anpassungsfähigkeit scheint Mimikry zu sein. Wenn er eine wahre Gestalt hat, dann kennt die offenbar keiner.«

Die Erkenntnis, dass Devil besonders gut darin war, sich in seinem Wirtskörper festzuklammern, brachte Jin kein Stück weiter. »Ich will nichts mehr, als dieses widerwärtige Monster loszuwerden«, hörte er sich leise knurren. »Ich würde alles dafür tun. Alles

»Was ist, wenn wir ihn nicht von dir trennen können?« Dantes Stimme klang nun beinahe sanft. »Wenn er ein Teil von dir ist … und du ohne ihn nicht überleben kannst?«

»Dann werde ich sterben, wenn es nötig ist«, sagte Jin ruhig. All die Gedanken über das verhasste Monster in seinem Inneren ließen seinen Zorn hochkochen, doch nichts davon drang nach außen – nicht jetzt.

Dante bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, einer Mischung aus Sorge und Skepsis. »Du würdest dich wirklich umbringen, wenn es nicht anders ginge?«

»Ich sagte doch, ich will es töten!«

»Okay, das sehe ich«, sagte Dante ruhig.

»Was würdest du tun?«, hörte Jin sich plötzlich bissig fragen. »Du bist Teufelsjäger. Was würdest du machen, wenn du eines Tages feststellst, dass du zur Hälfte ein Teufel bist?« Mühsam beherrscht stierte er in das viel zu gelassene Gesicht seines Gegenübers. Nein, der Kerl hatte keine Ahnung, was das bedeutete.

Dante schien ernsthaft darüber nachzudenken. Schließlich sagte er: »Wahrscheinlich wäre ich pissig.« Er rieb sich den Nacken, eine etwas ratlose Geste. »Tja, bevor dein Tod als Ultima ratio die Lösung wird, finden wir vielleicht was Angenehmeres. Ich mag’s nämlich nicht, Menschen umzuballern.«

»Umballern«, wiederholte Jin grimmig. »Das bringt auch nichts. Mich als Devil Jin zu töten ist fast unmöglich. Wie gesagt habe ich durch die Verwandlung schon etliche Schüsse überlebt.«

Dante lachte freudlos. »Wenn du behauptest, dass man Teufel nicht erschießen kann, wären Ebony und Ivory jetzt ziemlich beleidigt. Alles eine Frage der richtigen Waffe.«

Jin bezweifelte, dass es so einfach war. Er hatte vieles unternommen, um Devil loszuwerfen, ihn wenigstens zu unterdrücken und kontrollierbar zu machen, doch das Monster hatte sich als äußerst widerstandsfähig erwiesen. Devil war einfach zu mächtig für Jin. Wenn es also damit enden sollte, dass er sein eigenes Leben opfern musste – und er hatte diese Möglichkeit durchaus schon in Erwägung gezogen und fürchtete sich nicht davor –, so hielt er Dante inzwischen immerhin für fähig, sicher zu stellen, dass Devil sein Ableben auch wirklich nicht überlebte.

Nur die richtige Waffe …

Jin fragte sich, wie viele solcher richtigen Waffen Dante allein in diesem Raum aufbewahrte.

»Damit eins klar ist: Ich werde mich erst deines gehörnten Kumpels annehmen, wenn Trish wieder hier ist.«

»Einverstanden.« Er war bereit, diese Verzögerung hinzunehmen. »Dann bist du jetzt dran mit Reden. Erzähl mir von dem Verrückten, der Trish … gefangen hat.« Er stolperte über den Namen; Konsonantencluster waren auch nach vielen Jahren Englisch noch herausfordernd.

Dante gluckste amüsiert. »Sprich noch einmal ihren Namen falsch aus und ich nenne dich Jane

In diesem Moment regte sich etwas auf dem Sofa, dessen Lehne ihnen und dem Schreibtisch zugekehrt war. Beide wandten sich danach um. Zuerst erschienen auf der Lehne zwei bleiche Hände, dann Yuris zerzauster Kopf. Er sah sie schief an.

»Da bei eurem Gekabbel sowieso niemand pennen kann … Wollt ihr mir mal kurz erklären, worum’s hier eigentlich geht?«

Akt II - Das Leben danach: 4-2

4-2: YURI
 

Das Schlaflager auf der weichen Couch war zu Yuris vollster Zufriedenheit gewesen. Erholt, munter und ohne den erwarteten Hangover war er aus den Tiefen eines bleischwarzen Schlafs zurückgekehrt, wo Alice’ Gesicht ihn nicht hatte verfolgen können. Statt des Kummers, der ihn an den allermeisten Tagen zurück ins Bewusstsein riss, waren es die Stimmen der beiden Männer gewesen, die den Raum mit ihrer Präsenz füllten: die sonore, unerwartet tiefe Stimme von Jin Kazama, geprägt von einer angenehm heimeligen Melodie, und das hingekaute, breite Amerikanisch des Schwertschwingers, dessen Ton meistens gleichmütig und selten teilnahmsvoll klang.

Jetzt war es an der Zeit, die Beiden auf sich aufmerksam zu machen. Herausfordernd sah Yuri über die Sofalehne hinweg in die wenig begeisterten Gesichter.

»So, und wer magst du wohl sein, Möchtegern-Dämon?«, erkundigte sich der grobschlächtige Kerl (wie hieß er gleich? Dante?) und musterte Yuri prüfend.

Der Blick gefiel Yuri nicht. Er war irgendwie unangenehm. »Hast mich ja doch nicht umgelegt«, gab er statt einer Antwort zurück. »Weich geworden?« Seit Alice’ Tod hatte seine Neigung zu patzigen Antworten deutlich nachgelassen, doch dieser herablassende Blick provozierte seinen Trotz. Er hatte absolut keine Lust, zu dem Typen nett zu sein, der ihn ohnmächtig gewürgt hatte.

»Du sabberst gar nicht mehr«, stellte Dante lächelnd fest.

Diese Antwort machte es nicht besser. »Warum bin ich nicht eingesperrt?«

»Du bist eingesperrt. Jin hier und ich haben dir dein versifftes Shirt ausgezogen, also sei ein bisschen dankbar.« Dante zeigte auf Yuris nackte Brust.

»Ach? Und wo ist es jetzt?«

»Dürfte noch nass sein, so ausgiebig, wie du das vollgerotzt hast.«

Der Versuch, bei ihm so etwas wie Verlegenheit hervorzurufen, beeindruckte Yuri nicht. »Du hast ja keine Ahnung, vor was für Leuten ich schon ganz nackt war«, sagte er lapidar. »Übrigens bleibe ich nur zum Frühstück, wenn’s genehm ist. Jin hat mir schon erzählt, dass ihr sowieso genug Probleme habt.«

»Kann man so sagen.« Mit einer Lässigkeit, die vermutlich cool wirken sollte, schwang Dante sich von seinem Schreibtischstuhl und pflückte ein Stück festgenageltes Papier von der Wand. »Hier, schreib deinen Namen dazu. Danach reden wir darüber, wie lange du bleibst.«

Yuri nahm den Zettel und parodierte genüsslich die übertrieben nonchalante Haltung des anderen, inklusive des selbstbewussten Lächelns, als er das Blatt zurückgab. Warum sah Jin eigentlich so unglücklich aus?

»Du schreibst wie ein Mädchen«, kommentierte Dante die Handschrift. »Und ihr schreibt wohl alle nur in Blockschrift. Yuri?« Er schaute argwöhnisch drein. »Russe? Du hast gar keinen russischen Akzent.«

»Nur Halbrusse. Kann kein Russisch.«

»Und die andere Hälfte?«

»Japaner.«

»Ah, dann habt ihr ja was gemeinsam. Hat Jin dir auch gesagt, dass er der Typ ist, der die Kirche verwüstet hat?«

In Jins teilnahmsloser Miene flackerte jäh Schuldbewusstsein auf. Yuri wurde klar, dass Dante keinen Witz gemacht hatte: Der so beherrscht aussehende, aber innerlich verbitterte junge Mann war offenbar wirklich so gefährlich, wie er in der vergangenen Nacht behauptet hatte.

»Hat er nicht, aber ich nehm’s ihm ab. Dämonenkiller, du kannst übel zudrücken. Und ich dachte, die Polizei hier wäre brutal.« Yuri rieb sich demonstrativ den Hals.

»Mit hier meinst du was genau – das Land oder die Zeit?«, hakte Dante spitzfindig nach.

Yuri seufzte. Auch das noch. »Das mit der Zeitreisesache glaubt ihr mir bestimmt genauso wenig wie die Polizei.«

»Wir müssen darüber reden«, ließ sich unerwartet Jin vernehmen.

»Du meinst darüber, dass er aussieht wie ein Psychofreak?« Dante machte eine lahme Geste zu Yuri.»Nicht dass mich das stören würde.«

Yuri ächzte im Geiste. »So wie ich jetzt aussehe, war ich ein Psychofreak.« Warum musste er immer an Klugscheißer geraten? Müde bot er an: »Ich erzähle euch, was ihr wissen wollt, okay? Aber … Könnten wir dabei irgendwas futtern?«
 

Er fand die Frage absolut berechtigt. Nach einem extremen Energieverlust wieder Hunger zu bekommen fühlte sich beinahe an wie ein Fausthieb in den Magen – vor allem nach der zermürbenden Übelkeit vom Vorabend, bedingt durch den Hangover.

»Dann will ich mal kein schlechter Gastgeber sein«, stimmte Dante zu und warf einen Seitenblick zu Jin, der ganz sicher an diesem Morgen noch keinen einzigen Gedanken an Essen verschwendet hatte. Dann schlenderte er lustlos Richtung Küche. »Auswahl wird nicht so üppig sein.«

Was es zu essen gab, war Yuri ziemlich egal. Wer während eines Krieges durch Asien und Europa reiste, durfte keinen empfindlichen Magen haben. Seine Laune besserte sich, als Dante Butter und ein angeschnittenes Brot mit Kräutern zum Tisch brachte. Es sah nicht mehr ganz frisch aus, offenbar ein bisschen hart, aber einerlei.

»Prima Idee, die Scheiben zu rösten«, fand er. »Erzähl das mal den Franzosen.« Er strich die Butter auf das Toast und beobachtete fasziniert, wie sie darauf vor sich hin schmolz. Es erinnerte ihn an sein erstes und letztes Frühstück in Florenz: Büffelmozzarella, ein Haufen knallroter Tomaten und dieses exzellente Gewürzbrot aus Ligurien.

»Dann pack mal aus«, forderte ihn Dante auf, während sie aßen. »Wo kommst du her? Wo warst du, bevor du hier gelandet bist?«

Yuri unterbrach das Kauen, um seine Erinnerungen zu sortieren. Seine Reise, mit und ohne Alice, hatte ihn bereits in die verschiedensten Winkel der Welt geführt. »Ich war in Anatolien, China, Japan, Frankreich, Deutschland, Italien, Wales, England, in der Schweiz, in Böhmen, Russland, Rumänien … und vielleicht hab ich noch was vergessen.« Er zuckte die Schultern und griff nach der nächsten Brotscheibe. »Bevor ich hier war, war ich in Japan. Glaub ich.«

»Und aus welcher Zeit kommst du?«, fragte Jin behutsam. Anders als Dante stellte er seine Skepsis nicht offen zur Schau.

Darauf eine Antwort zu geben war nicht ganz einfach; Yuri versuchte es trotzdem: »Ich war zuletzt im Jahr 1915 unterwegs«, antwortete er wahrheitsgemäß, auch auf die Gefahr hin, Dante niemals überzeugen zu können. »Mein Körper …« Er sah an sich hinab, seine blasshäutige, sehnige Gestalt, die schwarze Hose, die nackten Füße. »… äh, der … ist von 1913. Ich kann’s echt nicht erklären, aber ich war fast sechsundzwanzig Jahre alt, als ich … verschwunden bin. Jetzt bin ich wieder vierundzwanzig.«

»Und das erkennst du an deinen Klamotten?«, vergewisserte sich Dante.

»Ja.« Yuri dachte gar nicht daran, Dante zu sagen, dass er den hellbraunen Mantel, der da hinter ihm über der Sofalehne lag, zusammen mit seiner Freundin in Zürich begraben hatte.

»Und wie bist du ohne Zeitmaschine hergekommen?«

»Nennen wir’s einen üblen Hirnfick.« Eine freundlichere Umschreibung dafür hatte nicht parat. Er sah, wie Jin angesichts der obszönen Ausdrucksweise missbilligend wegschaute.

»Soso. Und plötzlich warst du einfach hier in der Stadt, umringt von Cops …«

»Nein, ich habe versucht, Hilfe zu finden«, korrigierte Yuri und erinnerte sich an das unangenehme Verhör auf der Polizeistation. Der kalte, verglaste Raum ihm Abscheu eingeflößt, fast im gleichen Maße wie die Nervenheilanstalt in London. »Ich war nett zu denen, bis sie angefangen haben, mir Spritzen zu geben.«

»Sehe ich ein«, nickte Dante. »Aber die große Frage ist: Wie bist du aus dem Department entkommen? Ich weiß, wie’s da drinnen aussieht. Einfach zur Tür rausmarschieren ist nicht.«

»Ich bin …« Yuri stockte. Die Wahrheit war gefährlich. Er konnte diesen beiden seltsamen Fremden gegenüber nicht enthüllen, wer er wirklich war und was er tun konnte. Nicht jetzt. Nicht heute. »… aus dem Fenster gesprungen«, endete er und erwiderte die scharfen Blicke unverwandt. »Ich weiß, klingt abgedreht, aber ich kann ziemlich gut klettern. Du hast ja gesehen, dass ich auch ohne Hilfe aufs Dach gekommen bin.« Yuri starrte Dante an, so überzeugend wie möglich. Was Jin dachte, war egal, aber Dante musste die Story kaufen, sonst würde Yuri noch heute wieder auf diesem ätzenden Stuhl landen, die Handgelenke in neuzeitlichen, unauslotbaren Metallfesseln.

Nach einer gefühlten Ewigkeit befand Dante: »Hört sich für mich wie die traurige Wahrheit an.« Seelenruhig tupfte er den Rest seines Brotstücks in die Butter. »Trotzdem wär ich dankbar für irgendeine Art von … Beweis, wenn du verstehst.«

»Beweis?« Yuri witterte eine Chance. »Klar. Geh zu deinen Polizeifreunden. Die haben nämlich noch meinen Pass. Und meine Waffen

Durch Dantes stahlblaue Augen huschte ein Funkeln. Das interessierte ihn offenbar.

Da schaltete sich Jin ein – es kam wie gerufen – und fragte den Jäger skeptisch: »Würden die dir seine Sachen einfach geben, wenn du es verlangst?«

Dante schnaubte. »Na sicher. Ich hab einen Deal mit denen. Um Dämonen kümmere ich mich, und sie haben dich mir aufgedrückt.« Dann änderte sich seine Miene, und er fügte listig hinzu: »Heißt nicht, dass ich sofort losrenne. Gut gepokert, Hyuga, aber nein, ich lasse euch nicht hier alleine.«

Yuri unterdrückte mühsam einen Laut der Enttäuschung. Leider war Dante wirklich nicht blöd, auch wenn seine Überheblichkeit frustrierend war. Auf Jin, das wusste er, brauchte er auch nicht zu setzen, denn der war ein Gefangener wie er.

Dante begann damit, das, was von ihrem Frühstück übrig war, wieder auf das hölzerne Teetablett zu stapeln, und räumte dabei wohlwollend ein: »Ein bisschen wie ein Zeitreisender siehst du schon aus. Deine Klamotten sind … originell.«

»Das sagt ja der Richtige. Halt, warte!«, fügte Yuri hinzu, denn in diesem Moment kam ihm ein Gedanke. Hastig griff nach seinem Mantel, der hinter ihm über der Lehne hing. Irgendwo war doch sicherlich noch … Er stopfte die Hand in die rechte, dann in die linke Tasche. Aber hätten die Polizisten nicht bemerkt, wenn da noch …? Nein, da auch nicht … Dann entsann er sich, warf den Mantel beiseite und langte stattdessen in die linke Tasche seiner Hose. Und da war es, das runde, metallene Gewicht, angewärmt durch die Körperwärme. »Da! Bitte!« Triumphierend hielt er die Taschenuhr hoch wie einen wiedergefundenen Schatz.

Ehe er reagieren konnte, hatte Dante seine Hand gepackt und ihm die Uhr abgenommen. Skeptisch betrachtete er sie, drehte sie in den Fingern, sodass das Licht über die feinen Ziselierungen des Messings floss.

»Okay, die ist … wirklich … alt.«

Yuri grinste selbstzufrieden. »Sie gehörte einem britischen Magier, der mit Zeit experimentiert hat. Ich hab sie durch Zufall in die Hände bekommen.«

»Schöne Antiquität«, gab Dante zu. »Sie muss älter als hundert Jahre sein, es ist kein Logo der Manufaktur eingraviert. Schade, dass sie nicht läuft.«

»Wie, sie läuft nicht?« Yuri beugte sich vor. Tatsächlich: Die beiden schlanken Zeiger standen still. Und zwar auf genau halb sechs. »Komisch, bisher lief sie immer. Und zwar perfekt. Hat sie die Zeitverwirrungen, in die ich geraten bin, wohl nicht überstanden.«

»Soll ich sie aufziehen?«, bot Dante an.

»Aber vorsichtig, die Aufzugskrone ist locker.« Am liebsten hätte Yuri ihm die Uhr wieder weggenommen. Das fehlte ihm noch, dass dieser Idiot sie kaputt machte. Lauernd sah er zu, wie Dante vorsichtig die Krone zwischen den Fingerspitzen drehte, um die Feder zu spannen. Doch keine drei Umdrehungen später sprangen plötzlich die Zeiger an und rasten los.

»Nanu …« Dante legte die Uhr auf den Tisch, und sie beugten sich über sie.

Sobald die Zeiger genau zwölf Uhr anzeigten, begann die Taschenuhr munter zu ticken, völlig normal, als sei nichts gewesen.

Yuri ließ den angehaltenen Atem entweichen. »Ich geb zu, manchmal ist mir das Ding unheimlich.«

»Jedenfalls ist es nicht zwölf.« Dante griff erneut nach der Uhr und drehte an der Stellkrone. Erfolglos. Die Zeiger reagierten nicht. Unbehelligt tickte die Taschenuhr weiter; dabei sah es aus, als bewegte sich alles auf dem Ziffernblatt viel zu langsam. Die Sekunden waren eindeutig länger, als sie sein sollten …

»Du hast sie doch kaputt gekriegt«, murrte Yuri. »Hätte ich ja ahnen können. Du kannst alles nur grob anpacken, wie? Leute und ihre Sachen!« Unsanft entriss er Dante seine Uhr und schob sie wieder in die Hosentasche. »Und was jetzt? Ich sag die Wahrheit. Kann ich jetzt gehen?«

Dante kreuzte die Arme vor der breiten Brust. »Und wie, wenn ich fragen darf, kommst du zurück in deine Zeit? Ein Raumschiff? Eine Wand zum Durchgehen?«

»Lass das mal meine Sorge sein!«, gab Yuri bissig zurück. Er hatte jetzt wirklich die Nase voll.

»Ich kann dich nicht draußen rumhopsen lassen. Genauso wenig wie den.« Dante nickte zu Jin. Der konnte einem richtig leid tun, so einsam und verbittert, wie er aussah.

Yuri wollte etwas zu Jin sagen, doch auf einmal klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch, und das scheppernde Geräusch ließ alle Drei erstarren.

Das Klingeln war genauso schrecklich wie in seiner eigenen Zeit, fand Yuri. In Sachen Kommunikationstechnik hatte sich anscheinend nicht viel verändert. »Wieso gehst du nicht ran?«, fragte er Dante.

»Weil die beiden letzten Male die Polizei dran war. Ich will nicht noch jemanden einsammeln müssen.«

Doch als das Telefon zum vierten Mal klingelte, biss Dante die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefermuskeln hervortraten, und war in zwei großen Sätzen bei seinem Schreibtisch, um den Hörer abzunehmen.

Akt II - Das Leben danach: 4-3

4-3: DANTE
 

Er wusste, wessen Stimme er hören würde, noch ehe er den Hörer abnahm.

»Devil May Cry.«

»Dante.«

Er war es. Natürlich. Dante spürte, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Ein widerliches Gefühl, das er nicht oft ertragen musste.

»Was willst du?«

Seufzen. »Na, was wohl. Wo bleibst du? Es führt kein Weg dran vorbei.«

Dante wusste, dass die beiden Anderen ihn beobachteten. »Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, werfe ich alle Prinzipien über Bord. Das weißt du hoffentlich.«

»Ich weiß«, war die gleichgültige Reaktion. »Ich krümme gar nichts an ihr. Aber sie bleibt hier, bis du und ich uns persönlich gesprochen haben.«

»Wir sprechen uns doch gerade persönlich.« Im Hintergrund hörte er Trish giften wie eine bissige Stute. Wie üblich war sie nicht kleinzukriegen.

Wieder ein Seufzen. »Sei doch bitte kein Klugscheißer. Was ich von dir will, wird dir nicht weh tun, dir nicht – also warum, bei allen guten Geistern, wehrst du dich so dagegen? Hab ich dir nicht genug Gründe genannt, warum wir es tun sollten? Wovor hast du bloß solche Angst?«

»Angst?«, wiederholte Dante unüblich leise, und das Bild vom tobenden Devil Jin drängte sich ihm auf, warum auch immer. »Du denkst, ich hab Angst?« Angst war ein Zustand geistiger Selbstentfremdung, den er hasste und der in seinem Leben keinen Platz hatte.

Der Impuls kam, bevor er über ihn reflektieren konnte, und er knallte den Hörer wieder auf die Gabel, so dass er beinahe in der Mitte durchbrach. »Hört mal zu«, sagte er zu Jin und Yuri, mühsam beherrscht. »Ich sag euch jetzt, was Sache ist.«
 

Die beiden jüngeren Männer musterten ihn stumm. Jin sah ohnehin die meiste Zeit aus, als fühlte er sich unwohl und wollte er mit seiner Umgebung so wenig wie möglich in Berührung kommen; Yuri hing mehr, als dass er saß, lümmelnd alle Viere von sich gestreckt, seinen Mantel über den nackten Schultern. Wie für Asiaten typisch waren seine Augen braun, doch hinter ihnen glomm ein dämmriges Rot, klar und dunkel wie ein kräftiger Wein. Beide, Jin und Yuri, steckten bis zum Hals in irgendeinem Elend, das Dante am liebsten nicht weiter ausgegraben hätte – doch eine Hand wusch die andere, wenn es um solche Dinge ging, und wenn er sie für sich einspannen wollte, musste er ihnen ebenfalls helfen, wie anstrengend und nutzlos auch immer es sein würde.

Im Augenblick zählten erst mal nur Trish und seine verdammte Würde.

Er ging zum Schreibtisch und hob den unförmigen Papierstapel, der dort lag, mit beiden Armen an. Mindestens die Hälfte der losen Zettel war nur Tarnung, eine chaotische, wahllos angehäufte Barrikade gegen neugierige Blicke. Unter ihr kam ein aufgeschlagener Foliant zum Vorschein: dunkel vergilbte Seiten mit schwarzen, wie verbrannt aussehenden Rändern, in engen Reihen beschrieben mit einer fremdartigen Schrift, die sich nur schwer von der schlammigen Farbe des rauen Pergaments abhob.

Jin und Yuri beugten sich vor, und letzterer wollte wissen: »Und was für ein Buch ist das?«

»Eins, das ich von einer Insel namens Mallet Island mitgebracht habe. Da gab’s eine verlassene Festung, und die Bibliothek war voll mit uralten Büchern über Mythen, Religion, Hexerei und solches Zeug.«

»Nett, aber das beantwortet meine Frage nicht. Das Ding sieht nicht nach Gute-Nacht-Geschichten aus.«

Dante hob das Buch hoch und trug es zum Couchtisch. Der Deckel aus hartem Leder lag schwer in seinen Armen, und wie immer hatte er das Gefühl, den Buchrücken besonders stützen zu müssen, damit er nicht mitsamt den Seiten aus seinem bröseligen Leim fiel. »Wenn ich richtig liege«, erklärte er, sobald der Kodex sicher abgelegt war, »ist es was Besonderes, nämlich eine Abschrift des Buchs Henoch, das in Qumran aufgesammelt wurde, einer halbzerfallenen Siedlung am Toten Meer. Wenn es so ist, dann weiß jedenfalls niemand, dass ich es habe. Der Rest der Welt glaubt, es wäre bei irgendeinem Privatsammler. Wenn also die Cops rauskriegen, dass es hier liegt … tja, dann hatte ich es die längste Zeit, würde ich sagen.«

Yuri musterte das schwere Buch mit sichtlichem Widerwillen, als würden alte Bücher grundsätzlich seine Abneigung erregen.

Jin sah leidenschaftslos zu. »Also kannst du es lesen?«, fragte er schließlich.

»Das ist Aramäisch.« Dante schnitt eine missgestimmte Grimasse. »Ich bin Dämonenjäger, kein Dämonologe. Ich lese in meiner Freizeit eher selten apokalyptische Bücher. Zwar hab ich eine Art Glossar –« Er nickte zu seinem Schreibtisch, wo, wie er wusste, zwischen dem losen Papier auch brauchbare Dinge lagen. »– für einzelne Wörter und eine Kurzgrammatik, eine Übersetzungshilfe sozusagen. Hilft mir aber nicht viel dabei, Sinn in die Sätze zu kriegen.« Was er eigentlich brauchte, war die hundertste Auflage von Aramäisch für Idioten.

Jin sah ihn an; klar, der roch den Braten schon. »Wozu das Ganze? Hat es mit ihm zu tun … dem Entführer deiner Freundin?«

»Entführer? Freundin?«, echote Yuri argwöhnisch, doch Dante beachtete ihn nicht.

»Richtig«, beantwortete er die Frage, und auf seiner Zunge war derselbe fade Geschmack wie an dem Abend, als jener Mann ihn zum ersten Mal in seinem Büro aufgesucht hatte. »Mein irgendwie größenwahnsinniger Widersacher versucht, einen Dämon namens Azazel zu erwecken. Und falls er damit Erfolg hat, wüsste ich über diesen Dämon gerne Bescheid. Der scheint kein entspannter Typ zu sein.« Er tippte auf den Buchdeckel. »Das Buch Henoch ist eine der wenigen Quellen, in der es Informationen zu Azazel gibt. Er taucht hier in zwei Abschnitten auf: The Book of the Watchers und The Book of Dream Visions. So viel zur Rezeption. Die genauen Inhalte sind anscheinend geheim. Ich hab versucht, eine Übersetzung oder wenigstens eine aufbereitete Edition zu kriegen, aber nichts zu machen.«

»Hast du denn bisher schon irgendwas übersetzt?«, hakte Yuri nach, den die Chose offenbar interessierte. »Eine Zeile? Ein paar Wörter?«

»Nicht der Rede wert, fürchte ich. Irgendwo hier heißt es, Azazels Geschenke an die Menschen hätten die ganze Welt verdorben, und er wäre der Ursprung aller Sünde. Oder so.« Dante tippte auf die Stelle auf der offenen Seite. Die mittelaramäische Sprache war in einer Schrift niedergeschrieben, die mit der lateinischen keine sichtbaren Ähnlichkeiten aufwies. Die Linien, Schnörkel und Haken, hier und da versehen mit kratzspurenartigen Diakritika, sahen aus, als stammten sie von einem fremden Planeten. Dante fühlte sich unwohl, wenn er die Symbole untersuchte, was sein Vorankommen mit der Übersetzung massiv behinderte. Der Text auf diesem Pergament war ihm aus irgendeinem Grund zuwider, er weckte seine Abscheu, ohne dass Dante seinen Inhalt überhaupt kannte. Wann immer er mit der Abfassung arbeitete, hatte er das Gefühl, in eine dunkle Ecke zu starren, in der ein unförmiger Schatten hockte.

Ein Rascheln ließ sie beide aufhorchen. Yuri hatte sich unter das Sofa gebeugt und von dort eine halbleere Tüte Popcorn zutage gefördert. Eben richtete er sich wieder auf und beschnupperte den Inhalt neugierig. »Was ist das?«, fragte er, als er die Blicke bemerkte.

Dante seufzte. »Finde es raus.«
 

»Warum will er Azazel beschwören?«, fragte Jin. Immerhin einer, den die Sache wirklich interessierte – aber gut, er war diesbezüglich ja auch einen Deal eingegangen.

»Wie ich schon sagte, er hat was verloren.« Dante wusste selbst, dass diese Erklärung völlig unbrauchbar war. »Und er hat von mir verlangt, dass ich es ihm zurückbringe.« Nicht zu sehr ins Detail gehen, ermahnte er sich. Als er dieses Gesuch abgelehnt hatte, hatte er nicht wissen können, welchen Erdrutsch er damit lostreten würde. »Ich weiß nicht, was Azazel stattdessen für ihn tun kann. Dieses Teil des Puzzels fehlt mir. Jedenfalls, um Azazel in unsere Welt zu rufen, muss er Chaos schaffen. Das bedeutet, er versucht Dinge aufzulösen, die Ordnung haben. Er löst Unruhen aus. Er hat rausgefunden, wie man mit simplen Ritualen kleinere Teufel ruft. Leider ist das gewissermaßen sein Fachgebiet«, fügte er düster hinzu.

Jin schien klar zu sein, welche Art von Problematik dies bedeutete. »Dann kann er also Chaos schaffen.«

»Wenn er’s drauf anlegt. Aber wie viel davon braucht er? Was weiß ich. Deshalb klebe ich an diesem Text.«

Yuri kaute knirschend ein weiteres Popcorn und merkte an: »Er ist also ein typischer Bösewicht, wie die Geschichte ihn immer wieder ausspuckt, wie? Verliert was Geliebtes – einen Menschen bestimmt –, dreht durch, will einen Dämon beschwören …« Er schüttelte den Kopf und griff erneut in die Tüte. »Mann, das nervt.«

Dante sagte nichts dazu. Teilweise entsprach Yuris Analyse der Wahrheit, aber teilweise auch nicht. Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte er den Blick Jin Kazamas, dem offenbar klar wurde, dass er hier mit Männern zusammen saß, denen es zur Gewohnheit geworden war, Schurken, die Teufel beschworen, das Handwerk zu legen.

»Diese Typen sterben einfach nicht aus.« Mürrisch wühlte Yuri durch die trockene Knabberei.

»Du sagst es.«

»Wir bremsen wir den Furzer?«

»Ach, dabei willst du helfen?«

»Ich kenn mich aus.«

Dante musterte ihn herablassend. »Na, dann sag mir, was er braucht, um Azazel zu beschwören. Wenn du’s weißt, bist du im Team.«

Yuri grinste, den Mund voll Popcorn, sein Blick mindestens genauso überheblich wie Dantes eigener. »Er braucht natürlich irgendein altes, verbotenes Manuskript.«

Volltreffer. Dante streckte sich und seufzte langgezogen. »Na schön … Willkommen im Club.« Heißt aber nicht, dass ich dich ab jetzt ernst nehme, dachte er.

Jin deutete auf die Kopie des Äthiopischen Henochbuches. »Ist es das?«

»Nah, das sind nur Beschreibungen«, winkte Dante ab. »Um einen Teufel aus der Unterwelt einzuschleusen, muss man ein Oneirisches Tor öffnen. Das verlangt Vorbereitung. Und je nach Art des Teufels existieren verschiedene Invokationstexte. Hab schon viele gesehen, es gibt etliche.«

»Sag schon«, drängte Yuri. »Ich kenn die meisten. Kann sogar sein, dass ich das Buch selber versteckt habe und dir sagen kann, wo es ist.«

»Ah, dann bitte: Er braucht die letzte komplette Abschrift der Tafel von Dschaizan.«

Einen Augenblick lang brüteten Yuri und Jin gleichermaßen über diesem Begriff. Dann gestand Yuri: »Okay, die kenne ich nicht. Muss neu entdeckt sein.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Jin und hob seine markanten Brauen. »Eine Tafel mit einem Text, den niemand lesen kann. Die Symbole sind gänzlich unbekannt. Es gibt zwei Abschriften.«

»Richtig.« Dante nickte. »Ich hab’s recherchiert … gründlich, für meine Verhältnisse. Von wegen neu: Die Tafel wurde 1827 in Dschaizan entdeckt und von einem britischen Typen namens George P. Thalford auf Papier übertragen. Von der Abschrift gab’s zwei Kopien. Eine war ein ganz kleiner Druck, kleiner als meine Hand …« Er hielt sie hoch und zeigte mit der anderen die imaginäre Oberkante des Buches an. »… und ist zusammen mit einem Okkultisten namens Harley Warren irgendwohin verschwunden – in sein Grab, in die Unterwelt, wohin auch immer, beide sind einfach weg. Die andere Abschrift liegt in Yale und ist ein Facsimile, also ein Abdruck der Original-Handschrift von diesem Thalford. Leider fehlt da der gesamte Mittelteil, keiner weiß warum. Ist also unvollständig.«

»Wo ist das Original?«, fragte Jin. »Die direkte Abschrift des Forschers von der Tafel?«

»Gute Frage. Die lag zusammen mit der Tafel weggeschlossen in der Universität von Kairo. Jetzt ratet mal, was passiert ist?«

»Gestohlen.«

»Na klar.«

»Seit wann?«

»1836.«

»Und du glaubst«, folgerte Yuri, »dass dein Irrer sie irgendwo aufgetrieben hat und damit seinen Dämon beschwören will.«

»Er behauptet zumindest, er hätte sie. Gesehen hab ich sie nicht. Außerdem ist völlig unbekannt, wozu der Text gut ist, da die Zeichen ja keiner lesen kann.« Dante hob die Schultern.

»Wie beim Voynich-Manuskript«, sagte Jin.

»Ja, aber die Symbole ähneln sich nicht.«

»Wie hätte er etwas so lange Verschwundenes aufspüren können?«

Wieder zuckte Dante die Schultern. Was sollte er auch sonst tun? »Kann sein, dass er Connections zu einer Verbindung wie Skull & Bones hat, schließlich wird denen reichlich okkulter Quatsch vorgeworfen. Keine Ahnung.«

»Mal zurück zu deinem Irren«, nahm Yuri den Faden wieder auf. »Kennst du seinen Namen?«

»Sicher. Sein Name ist Aidan Sarris. Er stammt nicht von hier.«

»Wie hat er dein Mädchen geschnappt?« Yuri hatte das Popcorn abgestellt, sich bequem auf der Couch zurückgelehnt und seine nackten Füße halb über dem niedrigen Tisch ausgestreckt.

»Was weiß ich«, erwiderte Dante missmutig. »Oh, und ja, fühl dich wie zu Hause.« Ihm entging nicht Jins leicht missbilligender Ausdruck, bei dem auch jene gewisse Augenbraue wieder einmal mit beansprucht wurde. »Sie kam einfach von einem Einsatz nicht zurück. Klar, manchmal stürzt sie in einer Boutique ab, wie Frauen das so machen, aber –«

»Sie ist einfach weg und du gehst sie nicht retten, Mann?«, unterbrach Yuri ihn entgeistert.

Dante schnaubte. »Lass es mich so sagen: Trish ist eigentlich nicht die Art Frau, die man retten muss.« Vielleicht stellte Yuri sich jedes Mädchen wie eine Jungfrau in Nöten vor, doch nichts und niemand konnte sich Trish auch nur unbemerkt nähern.

Als wäre Yuris Frage nicht unpassend genug gewesen, stellte Jin diese gleich darauf in den Schatten: »Warum tötest du diesen Mann nicht?«

Dante betrachtete ihn verblüfft. Seltsam, diese Japaner. »Weil Mord in meinem Leistungskatalog nicht gelistet ist.«

»Angenommen, du findest sein Versteck. Was wirst du tun – ihn Ärzten übergeben? Wenn er verrückt ist?«

»Er ist … nicht verrückt. Das ist ja das Problem. Er ist nicht verrückt, nicht größenwahnsinnig, nicht böse. Er ist verzweifelt.«

»Und du weißt also wirklich nicht, was es ist, das er verloren hat?«, fragte Yuri spöttisch. »Ich glaub dir kein Wort.«

Dante konnte sich nicht helfen; er traute diesem Junkie-Gesicht nicht über den Weg.

»Aber egal, ist ja dein Problem. Was ist, werden wir gegen ihn kämpfen?«

»Pah, und das von dir, den ich hertragen musste wie einen Sack Kartoffeln. Kannst du überhaupt kämpfen?«

»He, ich hab die Welt gerettet. Zweimal.« Yuri hielt zwei Finger hoch, als machte dies die Behauptung glaubwürdiger. »Ich kann kämpfen. Aber natürlich nur, wenn du meine Waffen holst.«

»Eins nach dem anderen, Rotzlöffel. Vorher muss ich rausfinden, wo er ist. Er geht davon aus, dass ich es weiß.«

»Aber du hast keine Ahnung. Das ist natürlich ’ne tolle Ausgangslage. Hast du keine anderen Freunde, die dir helfen können?«

»Sind im Augenblick alle nicht da.« Das Thema behagte Dante nicht sonderlich. Dass er aufgrund seines Berufes auf Fremde bedrohlich wirken konnte, machte das Leben für einen Teufelsjäger nicht gerade einfacher. Wer die Mühe auf sich nahm, ihn kennen zu lernen, machte in aller Regel keine schlechten Erfahrungen; dennoch gab es genügend Orte in der Stadt, an denen er sich nicht willkommen fühlte. »Ich hab ein paar, aber die sind viel unterwegs. Meine frühere Partnerin zum Beispiel arbeitet gerade in Fort Detrick mit irgendwelchen Wissenschaftlern.« Die bittere Wahrheit war: Im Moment war er allein.

»Was ist mit dem Polizeichef?«, fragte Jin.

»Fordham? Bah, den will ich da nicht drin haben. Klar wissen die Cops, dass hinter vielen kleineren Verbrechen Sarris stecken muss, aber ohne Beweise können die nichts machen. Wahrscheinlich sind Cops deswegen immer schlecht gelaunt.« Fordham war das beste Beispiel dafür. »Was dich betrifft, Kazama.« Er tippte Jin gegen die Brust, was diesen zurückweichen ließ. Berührungen waren wirklich nicht sein Ding. »Kannst du mit irgendeiner Art von Waffe umgehen?«

»Ich brauche keine«, entgegnete Jin ruhig.

»Ich meinte nicht Devil, sondern dich. Dass der deine Muskeln benutzen kann, weiß ich.«

»Ich kann es auch.« Jin erwiderte Dantes Blick so unbeeindruckt wie immer. »Ich will nicht großspurig sein, aber ich bin nur deshalb der Inhaber der Mishima Zaibatsu, weil ich als Bester aus dem größten Mixed-Martial-Arts-Turnier der Welt hervorgegangen bin.« Ein Schatten huschte über sein jugendliches Gesicht. Fast sah es aus, als bereite die Aussprache dieser Tatsache ihm körperliche Schmerzen. Dante begriff: Jin war nicht gerne reich, und er war auch nicht gerne ein Anführer. Er akzeptierte diese Rolle nur aus einer Art Ehrgefühl heraus.

»Du bist ausgewiesener König aller Kämpfer?«, fragte Yuri entzückt.

»Sozusagen.« Jin wich seinem Blick aus.

Dante ließ seine schwere Hand auf die Tischplatte fallen. »Zurück zum Thema. Wir brauchen einen Plan. Letzter Punkt auf der Tagesordnung: Ich hab ein Gerät, das alle Telefongespräche aufzeichnet, und während ich weg war, hat unser Freund was drauf gesprochen. Interessiert, was er gesagt hat? Ich zeig’s euch.«
 

Zäh wie dunkler Sirup ertönte Sarris’ freundliche Stimme: »He, Dante. Ich glaube, du vermisst etwas. Oder?«

»Er ist es wirklich«, murmelte Jin. »Der Mann aus der Kirche.«

Unerfreut nahm Dante seinen Finger von der Stopp-Taste. Gleich würde er Trish hören, wie sie stolz verkündete, dass sie bis zum Abend wieder bei ihm zu Hause wäre.

Jin und Yuri lauschten aufmerksam. Keiner von beiden bewegte einen Muskel, bis das geseufzte »Bis dann« inmitten von Störgeräuschen verklungen war.

»Es klingt irgendwie … hohl«, diagnostizierte Jin schließlich, den Kopf leicht schräg gelegt, als könnte er in dieser Haltung besser horchen. »Können wir Trish noch mal hören?«

»Wenn’s sein muss.« Dante drückte zwei Tasten, um die Wiedergabe zu wiederholen.

Erneut lauschten sie.

»Großer Raum, hohe Decke?«, fragte Yuri.

»Ja, so weit war ich auch schon.«

»Da ist eine Art Summen«, sagte Jin mit abwesendem Blick. »Als ob große Maschinen arbeiten.«

»Hmmm.« Dante konzentrierte sich auf das, was er für einen Störton gehalten hatte, ein leises Brummen von äußerst niedriger Frequenz. Es wurde in regelmäßigen Abständen unterbrochen von einem ganz kleinen, mechanischen Geräusch, das wie blip klang. Dieser Ton, und dazu der blecherne Hall, als Trish dazwischen rief … »Ich kenne es. Aber ich weiß nicht, woher.« Jäh stieg eine ungeduldige Wut in ihm hoch. »Wo auch immer das ist, ich war schon mal da.« Es musste vor Jahren gewesen sein. »Ich muss nachdenken«, brummte er. Etwas Anregendes würde seiner Erinnerung vielleicht auf die Sprünge helfen. »Will sonst noch jemand was zu trinken? Ich meine was Richtiges.«

Akt III - Der Schacht: 5-1

5-1: YURI
 

Während Jin und Dante sich ergebnislos über die Hintergrundgeräusche der Tonaufnahme zankten, ertappte Yuri sich dabei, wie er auf das gleichmäßige Ticken seiner Taschenuhr lauschte. Es drang leise wie ein vertrautes Flüstern aus seiner Hosentasche, als wäre das Geräusch nur für ihn bestimmt, als hätten er und ihr früherer Besitzer eine stille Übereinkunft. Natürlich, McNab hatte mit der Zeit experimentiert. Aber selbst Yuri war klar, dass Zeitreisen in die Vergangenheit nicht möglich waren; es würde die Umkehr des Prinzips von Ursache und Wirkung bedeuten. Der Beweis dafür war das Periapt, das unangetastet an seinem Hals lag. Es war blau gewesen, nachdem Alice sich für ihn geopfert hatte, blau, und es hätte nie wieder eine andere Farbe annehmen dürfen. Doch nun war es rot – rot wie Blut, als wäre es wieder angefüllt mit dem Bösen, das ihn verfolgte. So war es, seit ihn der Mistelfluch getroffen hatte. Er war also noch immer verflucht, egal in welche Vergangenheit sich sein Körper verirrt hatte, um in der Zukunft zu stranden.

Wie hatte er auch nur eine Sekunde lang glauben können, irgendjemand in dieser Welt könnte ihn problemlos zurück ins Jahr 1915 befördern? Außerdem hatte er immer noch nicht seine verlorenen Habseligkeiten zurück. Und das nahm er Dante ziemlich übel. Den interessierte gegenwärtig nichts außer seiner vermissten Freundin. Er hatte Yuri und Jin in seinem Büro eingelocht und sich seither nicht sonderlich um die Verantwortung geschert, die er damit übernommen hatte. Der Sack war gar nicht in der Lage, sich um irgendetwas zu kümmern. Nicht einmal ein Kaktus würde in diesem Loch überleben.

Wie hält seine Freundin überhaupt dieses Chaos aus? Schon nach dem ersten Rundumblick bei Tageslicht hätte Yuri schwören können, dass es keine Frau in Dantes Leben gab.

Nun gut, eins war er bereit einzusehen: Wäre Alice in der Gewalt eines Feindes, hätte auch er mit Sicherheit keine Aufmerksamkeit an andere Leute verschwendet, die ihm mit irgendwelchen kleinlichen Problemen auf die Eier gingen.

Aber, ergänzte er sofort in Gedanken, ich würde auch nicht zwei Leute von der Straße aufsammeln und sie bei mir zu Hause einsperren, einfach, weil ich’s kann.
 

»Was ist?«, wiederholte Dante seine letzte Frage, weil weder Yuri noch Jin darauf reagiert hatte.

»Ich sehe nicht, wie Alkohol uns hier weiterhelfen soll«, entgegnete Jin.

»Das ist kein Alkohol«, korrigierte Dante, »das ist Scotch.« Er hielt eine schlanke Flasche hoch (wo auch immer die eben noch gewesen war) und rieb mit einem Ärmel über das schlichte Etikett. »Talisker, einer der sechs berühmten Classic Malts. Sherry Finish. Bringt die Gedanken in Bewegung. Wollt ihr?«

»Nein«, brummte Jin.

»Ja, bitte, sofort«, verlangte Yuri. »Mach hin. Der hilft.« Mit einem spöttischen Lächeln betrachtete er die leeren Flaschen, die in ihrer Ecke bei der Tür vor sich hin staubten. Man sieht ja, wie der hilft.

»Verstehst du was von Scotch, Hyuga? Seit ich meinen Horizont erweitert habe und nicht mehr nur Bourbon trinke, funktioniert mein Hirn besser. Sachen wie Jack Daniel’s sind dann gut, wenn man den Nebel im Kopf dichter machen will, aber ein guter Malt macht klar. Und man braucht nicht so viel davon.«

Wovon wieviel, war für Yuri ziemlich egal. Er kannte sich vor allem mit schlechtem Wodka aus. »Also weil deine Freundin nicht da ist, betrinken wir uns jetzt? Richtig?«, hakte er nach.

Dante sah fast beleidigt aus. »Scotch ist viel zu teuer, um sich damit zu betrinken, Kleiner. Was wir machen, ist … Wir kommen zur Ruhe. Klar?«

Er stellte zwei Gläser auf den Tisch, die entfernt an Weingläser erinnerten, aber in der Mitte des Kelches leicht tailliert waren, und füllte sie nur etwa zweieinhalb Fingerbreit hoch mit der goldfarbenen Flüssigkeit. Yuri roch die starke Spirituose bis zu seinem Platz auf dem Sofa. Das Aroma passte sich gut dem bereits vorherrschenden Gemisch aus Holz, Lederpflege und … Gammeligkeit an.

Dante nippte an seinem Whisky, lehnte den Kopf zurück und drehte gedankenverloren das Glas, sodass der Inhalt ölig im Kreis schwappte.

»Kein Eis?«, fragte Yuri.

»Wo bitte hast du trinken gelernt?«, erwiderte Dante, aber er sagte es teilnahmslos in Richtung Wand, so als wäre er bereits ins Grübeln versunken. »Genieße und schweig.«

Yuri schnupperte an seinem Glas und sah zu Jin. Dieser hatte sich halb von ihnen abgekehrt, eine typische Leckt-mich-doch-alle-am-Arsch-Haltung, die Yuri sehr sympathisch fand. Seine Augen unter dem rabenschwarzen Schopf waren noch immer voller grimmiger Traurigkeit, von der seine starre Miene indes nichts erahnen ließ. Anderen Menschen die eigenen Emotionen aufzudrängen gehörte sich nicht und zeugte von schlechter Disziplin, daran hatte sich anscheinend bis heute nichts geändert.

Yuri schüttete sich den Whisky in die Kehle, statt ihn manierlich zu nippen. Er genoss noch immer den brennenden Abgang, als sein Augenwinkel die abrupte Bewegung einfing, mit der Dante aus seinem Sessel aufsprang.

Polternd stellte der Teufelsjäger das leere Whiskyglas auf den Tisch und packte gleichzeitig mit der anderen Hand seinen Mantel, der so schwer aussah, als könnte man einen Dämon schon dadurch töten, dass man ihm das Ding ins Gesicht schlug. »Okay, ich muss ins Police Department. Weiß jetzt wieder, woher ich die Maschinengeräusche kenne.«

»Ach ja?«

»Den Ort gibt’s nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr da, wo er mal war. Muss rausfinden, wo er jetzt ist.«

Diese Erklärung war kryptisch, aber egal – Yuri witterte eine ganz andere Chance: »Wenn du da bist, bring mein Zeug mit!«

»Ich überleg’s mir«, gab Dante kurz angebunden zurück, zog die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel im Schloss, wie das nachfolgende Geräusch unschwer erkennen ließ.

Was folgte, war Stille.

»Er hat uns schon wieder eingesperrt«, murrte Yuri. »Ich sag dir, ich wär schon abgehauen, wenn er nicht der Einzige wäre, der mir meine Sachen holen kann!« Dantes Ignoranz würde ihn schon bald dazu bringen, etwas äußerst Dummes zu tun. Aber das war dann nicht seine Schuld.

»Ich freue mich auch nicht darüber«, räumte Jin mit seiner kühlen, dunklen Stimme ein, »aber ich brauche seine Hilfe. Zu jemandem wie ihm zu gehen war nicht meine erste Wahl. Doch … ich muss anerkennen, dass er mich am Leben gelassen hat, nachdem ich in der Kirche … gewesen bin«, führte er den Satz behutsam zu Ende.

Yuri schüttelte den Kopf. »Wenn du ein stinknormaler Besessener wärst, hätte der Dämon so viel Macht über dich, dass du nicht mal pinkeln gehen könntest, ohne mit ihm kämpfen zu müssen. Du hast dich gut im Griff. Und man kann was gegen Dämonen machen.« Ungeniert griff er nach der Whiskyflasche und schenkte sich nach. »Du willst sicher nicht?«

»Nein.«

»Okay. Wie ist das passiert, dass er dich besetzt hat?« Yuri exte das zweite Glas.

»Er hat mich nicht besetzt«, korrigierte Jin, »nicht richtig. Die … Veranlagung habe ich geerbt. Mein Blut ist verflucht.«

Meins auch, hör auf zu jammern, dachte Yuri und unterdrückte den Wunsch, es laut zu sagen. Schnell schenkte er sich Whisky nach.

In Jins Augen flackerte es. »Ich war dumm zu glauben, ich könnte ihn beherrschen«, sagte er, und hinter seiner Maske sickerte der unterschwellige Zorn hervor, dunkel und zäh. »Damals dachte ich noch, es wäre … etwas Gutes. Ich dachte, ich … wäre so etwas wie …« Seine Stimme brach ab.

»Ein Auserwählter«, beendete Yuri den Satz für ihn. »Superkräfte, huh? Wolltest ein Held sein?«

»Ja«, antwortete Jin ernsthaft. »Ich wollte Schwachen helfen. Seine … meine Flügel … sind nicht wie bei meinem Vater, sondern aus Federn. Ich hab nicht an ein Monster gedacht, als sie gewachsen sind. Nicht an einen Dämon.«

»Verstehe. Du dachtest –«

»Ich dachte, ich hätte das von ihr

Yuri horchte auf. »Deiner Mama? Jetzt sag nicht, sie ist für dich …«

»Ja. Gestorben, weil sie mich beschützte.«

»Oh. Meine auch.« Sackgassenthema. Totales Sackgassenthema. Er wollte nicht darüber reden, wollte nicht daran zurückdenken, wie sich alles in ihm verfinsterte – in dieser einen Nacht, die er an den erkaltenden Leichnam seiner Mutter geschmiegt inmitten der Trümmer ihres Hauses zugebracht hatte. Die längste Nacht seines Lebens. Und die letzte, die er als Kind verbrachte. »’Tschuldigung«, sagte Yuri und lachte nervös. Es ärgerte ihn, dass er immer noch geneigt war zu lachen, wenn er sich unwohl fühlte.

Doch Jin weilte geistig gerade woanders. »Ich habe immer wieder versucht, meine Blutlinie, die Mishimas, auszurotten. Nur die Erinnerung an meine Mutter hat mich davon abgehalten, meinen Großvater zu töten, als ich es noch konnte. Ich hätte es tun sollen.«

»So schlimm sind die?« Der blanke Hass in Jins Stimme beunruhigte ihn. Hass, das wusste niemand besser als er, konnte bei Menschen die Entschlossenheit zu allerschlimmsten Gräueln nähren. Hass war das, was Menschen in Monster verwandelte, und nicht Dämonen.

»Im Moment können sie niemandem schaden«, fuhr Jin fort und sah Yuri in die Augen. »Alle Macht meines Großvaters ist auf mich übergegangen. Und jetzt weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll.«

»Mit Macht und Geld kann man viel Gutes tun.« Welch geistreiche Feststellung, wahrscheinlich hatte schon jeder das zu Jin gesagt.

»Vermutlich. Aber erst muss ich das Teufelsblut loswerden.«

»Gibt’s jemanden, den du liebst?« Yuri stutzte selbst darüber, dass die Frage so unbehelligt über seine Zunge hinausspaziert war.

Jin sah ihn fragend an. Yuri rechnete damit, dass er diese intime Frage brüsk zurückweisen würde, doch Jin war einfach nur verwirrt. »Warum?«

»Es kann helfen, auf … dem richtigen Weg zu bleiben.« Nicht zu hassen und so was.

Jin schüttelte langsam den Kopf.

»Freunde? Andere Verwandte?«

»Eher nicht.«

»Was denn – keiner, der dir was bedeutet? Komm schon!«

»Wenn ich Andere an mich herangelassen hätte«, erklärte Jin spürbar ungeduldig, »wären sie wohl längst tot. Weil sie zu Ködern für mich geworden wären … oder einfach, um mich zu zerstören. Ich habe dir gesagt, meine Verwandten sind so schlimm.«

»Okay, ich … glaub dir.« Yuri betrachtete die Gänsehaut, die über seine nackten Arme huschte. Huuu! Was für eine Sippschaft, damit wollte er nicht tauschen.

»Was ist mit dir«, fragte Jin unverändert teilnahmslos, »hast du jemanden?«

»Oh, ja…aaeeein.« Alles war schick, bis meine Freundin sich für mich geopfert hat, weißt du. Seitdem renne ich rum und erzähle allen, ich wär drüber weg.

Unter Jins fragendem Blick, der etwa die Temperatur eines Gebirgsbachs hatte, griff Yuri wieder nach der Whiskyflasche. »Ich, äh, gönn mir noch einen … Sicher, dass du nicht willst?«

»Ganz sicher.«

»Oh, gut. Ich glaub, ich mach die alle.«

Akt III - Der Schacht: 5-2

5-2: DANTE
 

Über der Stadt stieg zäher Nebel auf, der die waldbedeckten Spitzen der Hügel, die im Osten hinter den Hochhäusern aufragten, in Watte hüllte. Der Himmel darüber war deckweiß, undurchbrochen von Lichtstrahlen wie eine Glocke aus Milchglas.

Gegen die unerwartet beißende Kälte – im Februar kam einem der Winter immer besonders zäh vor – schlug Dante das Revers seines Mantels höher und betrachtete halbherzig seinen Atem, der in Wolken wie der Hauch eines Drachen aus seinen Lungen zurückkehrte. Er erinnerte sich jetzt sehr genau, woher er die unheimliche, monotone Geräuschkulisse auf dem Tonband kannte. Damals hatte ihn einer seiner Einsätze in den Schacht geführt, hinunter in die Eingeweide einer riesigen Förder- und Verarbeitungsanlage, die um ihn herum zu atmen schien und nicht nur von stetigem Klicken, Summen und Wispern, sondern auch von Schatten erfüllt gewesen war, die in den Ecken starrten und einem listig nachglotzten. Zwischen blinkenden Lichtern, ratternden Fließbändern und feinen Gaswölkchen waren Arbeiter herumgerannt, mit geweiteten Augen und schweißglänzender Haut; ihre Hände hatten gezittert, während sie ihr ödes Handwerk verrichteten, ständig hatten sie sich umgesehen, jeden Winkel scharf beobachtet, hastige Schritte von einer Seite ihres Arbeitsraumes zur anderen. Wir können so nicht arbeiten!, hatte einer von ihnen sich beklagt, als Chief Fordham mit einigen seiner Männer angerückt war. Es spukt! Ich kann’s nicht erklären. Hier zu arbeiten ist die Hölle, glauben Sie mir. Die Leute sind kurz vorm Durchdrehen! Dante, noch ziemlich jung damals, hatte sich fast geschämt für seine freudige Erregung, aber nur fast. Hier, im Inneren dieses riesigen, zitternden Ungetüms aus Metall und Kunststoff, witterte er so viel dämonische Präsenz, dass seine Fingerspitzen kribbelten und seine Zunge trocken war, und es erfüllte ihn mit fast sadistischer Vorfreude auf das Gemetzel, das er hier anrichten würde, sobald die gesamte Förderungsanlage geräumt und er auf die lauernden Teufel losgelassen worden war. Als dieser Moment dann irgendwann kam, spazierte er allein durch die verlassenen Gänge, die Pistolen erhoben, bereit, auf alles zu feuern, was ihm in den Weg sprang. Die Berichte der verängstigten Arbeiter waren noch lebendig in seinem Gedächtnis; hier am Zerteiler hatte irgendein Typ vier seiner Finger verloren, als die Trennmesser über einem eigentlich vom Strom entkoppelten Förderband auf seiner Hand niedergegangen waren; hinten war so eine alte Dame – Mrs. Pickley? – von einem Schlagbolzen, der sich nicht hätte bewegen sollen, an der Schläfe getroffen worden, was ihr glatt den Schädel gespalten hatte. Hier unten verdiente jemand eine Tracht Prügel. Neben Rückständen von Öl, Reinigungsmitteln und ihm unbekannten Chemikalien klebte auf den Arbeitsflächen immer wieder Blut, schwarz und verkrustet. Verspritzt bei einem Unfall, der nicht hätte möglich sein dürfen. Was auch immer das formlose Böse war, das in den Schatten Geräte und Hebel bewegte und Menschen zu Tode brachte, es war weder zu sehen noch zu hören, zu fühlen, und auch Dante fühlte es, als er durch die tickenden Tunnel streifte, die Ohren erfüllt vom Hall seiner Schritte, dem Rauschen seines Blutes und dem Zischen seines beschleunigten Atems. Etwas war hier. Sein innerer Sensor spielte verrückt, wann immer es eine unsichtbare Klaue nach ihm ausstreckte, und veranlasste ihn sogar, ziellose Schüsse abzugeben, die Wände durchlöcherten, Ketten zersprengten und Funken aufspringen ließen, ohne dem namenlosen Ungeheuer etwas anzuhaben. Nach mehreren Stunden aussichtsloser Jagd war Dante mit seinen Möglichkeiten am Ende. Was hier spukte – welcher Herkunft auch immer es war –, konnte er nicht verletzen. Hinter seinem Rücken gerieten Dinge in Bewegung, begannen Geräte zu summen und Räder sich zu drehen, doch sobald er sich umwandte, hörte alles wieder auf und lag in dumpfer Stille an seinem Platz wie zuvor. Schließlich hatte er aufgeben müssen. Mental erschöpft und ernstlich frustriert war er aus dem Labyrinth aus Widernatürlichkeit zurückgekehrt, weg von einem Ort, der das Echo seiner Tritte sowieso bald vergaß.

Jetzt musste er herausfinden, was aus der Anlage geworden war. Fordham hatte ihm mitgeteilt, sie wäre irgendwo am Stadtrand, weit abseits menschlicher Behausungen, in der lehmigen, schwarzen Erde, auf der spießdünne Koniferen wuchsen, versenkt worden. Begraben in einer Tiefe, die kein Sarg auf dem Friedhof je gesehen hatte. Geschah dem -Ding nur recht.

Und doch … Genau dort musste er jetzt hin.
 

Auf der Polizeistation warf man Dante lediglich desinteressierte Blicke zu; die meisten hatten ihn hier schon gesehen, seit der Kooperationsvertrag bestand, und wussten, dass sein Weg direkt zur verschlossenen Bürotür des Chiefs führte.

Lustlos hieb Dante seine Fingerknöchel gegen das hell lackierte Eichenholz und wartete auf eine Antwort. Vermutlich lag Fordham in seinem Sessel und hielt ein Nickerchen, nachdem er die frischen Fälle begutachtet hatte. Dafür konnte Dante reichlich Verständnis aufbringen, doch zu warten hatte er jetzt keine Lust, schließlich war es riskant genug, seine eigenen beiden Problemfälle allein in der Wohnung zu lassen.

»Kann gerade nicht«, drang Fordhams Brummen aus dem Inneren.

»Doch doch, du kannst.«

»Dante? Ach, verflucht.« Es war zu hören, wie der Chief in seinem Bürostuhl zur Tür rollte, um den Schlüssel zu drehen. »Ist offen.«

Dante trat ein und schloss die Tür hinter sich. Von Fordhams Vorliebe für kubanische Zigarren rührte ein penetranter Tabakgeruch her, der sich mit dem moschusartigen Aroma von Polizistenschweiß vermischte. Das weiß gestrichene Büro war eng und mit Aktenordnern vollgestopft. Die Unordnung auf dem Schreibtisch ließ Dante völlig kalt; seine Abneigung gegen das Aufräumen war einer der wenigen Wesenszüge, die er mit dem Chief teilte.

Fordham, tief in seinen Stuhl gesunken, bot seinem Besucher mit einer Geste an, Platz zu nehmen, aber Dante lehnte mit einem Kopfschütteln ab.

»Na, dann nicht. Was kann ich für dich tun?« Fordham war brummig wie immer, umso mehr, da er in seiner Pause gestört worden war.

»Ich brauche Informationen.«

»Na so was.« Der Chief musterte ihn in einer Mischung aus Verstimmung und Langeweile, dann beugte er sich vor, schnupperte und schaute finster. »Du fängst also jetzt schon morgens mit dem Saufen an, was? Riecht ja wie Benzin.«

»Ein guter Tropfen, den du dir bei deiner Bezahlung niemals gönnen würdest. Du weißt, dass ich mich nicht betrinke, egal ob morgens oder abends. Als ob’s dich interessiert.«

Fordham schnaubte. »Ich hab keine Lust, mich mit dir zu streiten. Was willst du?«

»Ich brauche einen Plan vom Schacht. Oh, und die genauen Koordinaten, wo ich das Teil finde.«

Fordham hob eine Braue. »Von welchem Schacht

»Von dem Schacht«, erklärte Dante ungeduldig. »Du weißt, was ich meine. Keiner kann sich merken, wie das Ding richtig heißt.«

Fordhams Brauen zogen sich finster zusammen. »Das Ding heißt GRITT-D674, die meisten wissen das noch sehr genau.« Er machte ein Gesicht, als hätte man ihm etwas Stacheliges in den Hintern gesteckt. »Muss dich enttäuschen. Ich weiß nicht, wo das verbuddelt ist. Wieso fragst du danach, Mann? Wollten wir diese Scheiße nicht alle vergessen?«

»Schon«, gab Dante bereitwillig zu, »aber ich hab Grund zur Annahme, dass dort … er hockt.«

»Er? Du meinst Sarris? Jagst du den etwa immer noch? Dante …« Der Chief beugte sich vor wie ein Großvater, der seinem Enkel einen weisen Rat mit auf den Weg gibt. »… hör mal zu. Ich weiß, die Nummer mit dem toten Mädchen hat sogar dich als harten Kerl, naja, umgeholzt. Du kannst trotzdem nicht einfach mit Selbstjustiz anfangen. Könnte dich nämlich wirklich hinter Gitter bringen.«

Dante fragte sich etwas angewidert, was das sollte. Fordham hatte sich von Anfang an geweigert, ihn zu unterstützen. Er riss sich zusammen und fragte ruhig: »Dass du einen Plan vom Schacht hast, weiß ich genau. Rückst du den wenigstens raus?«

»Wenn’s sein muss. Der wird dir aber nichts nützen. Die Stelle, wo das Ding beerdigt liegt, ist geheim. Nicht mal ich hab Zugang zu der Info. Nachher kommen noch irgendwelche blödärschigen Abenteurer und verschwinden für immer da drinnen.« Schwerfällig erhob er sich aus dem Bürostuhl. »Ich hol ihn dir aus dem Polizeiarchiv, und dann ziehst du Leine, alles klar?« Obwohl er das Gebäude gar nicht verlassen würde, patschte er den albernen Rangerhut auf seinen halbkahlen Schädel.

»Wenn du schon dabei bist«, gab Dante ihm mit auf den Weg, »ich will das Zeug, das ihr dem komischen Typen gestern abgenommen habt. Seine Papiere und die Waffen.«

»Pah! Vergiss es. Die Papiere kannst du haben, aber die Waffen bleiben hier. Mann, hast du diese Dinger gesehen? Das sind Schlagringe mit scharfen Messern dran, damit kann man jemandem den Kopf abschneiden!«

»Du weißt, auf so was kann ich aufpassen.«

»Auf keinen Fall. Das sind gefährliche Dinger, die sind beschlagnahmt.«

»Er hat nichts angestellt damit. Rück sie raus.«

»Sonst was?«, fragte der Chief ungehalten.

Dante zuckte die Schultern und tat so, als würde er scharf nachdenken. »Hmm. Könnte sein, dass sonst die Typen vom NYPD erfahren, dass deine Leute einen Verdächtigen im Verhör mit Thiopenthal gequält haben. Hast dich wohl nicht gefragt, wieso der gesabbert hat wie ein Bernhardiner?«

Fordham drehte sich zu ihm um, und seine Augen quollen fast aus ihren Höhlen. »Verdammte Scheiße.«

»Bestimmt steht ›Verdacht auf Drogen‹ sogar im Fallbericht deiner Sanis, also …«

»Ist ja gut!«, schnaufte der Chief. »Du kriegst das Zeug! Bah, dass ich mich echt immer wieder von einem unter Druck setzen lassen muss, der sich schon morgens Whisky reinkippt! Dreck, verdammter!« Er stolperte durch die Bürotür und schlug sie hinter sich zu, seinen Gast zurücklassend.

Dante horchte noch einen Moment lang zufrieden in den leeren Raum; dann, als die Schritte verklungen waren, schlenderte er gemächlich zu Fordhams Schreibtisch, ließ sich in den Bürostuhl sinken und legte entspannt beide Füße auf die Arbeitsfläche. Nun brauchte er nur noch zu warten, dass man ihm das brachte, was er haben wollte.
 

Der Gebäudeplan von GRITT-D674 war derselbe, den Dante vor fast zehn Jahren schon in Händen gehalten hatte. Der linke Rand war ausgefranst, wo einer von Fordhams Leuten mit einer hektischen Bewegung einem der dreckstarrenden Messer in der Zerlegungshalle zu nahe gekommen war; in der Mitte, wo alle Knickfalten zusammenliefen, prangte ein Loch und machte den Namen einer eingezeichneten Sektion unleserlich; in der linken oberen Ecke verdunkelte ein Fleck von Getriebeöl einen kreisrunden Bereich, nach der langen Zeit immer noch schmierig glänzend. Damals hatte Dante genau darauf geachtet, bei seiner Inspektion keinen der Gänge auszulassen, und hatte dennoch nichts gefunden, das die unheimlichen Vorfälle erklären konnte. Er hasste es, einen Fall nicht lösen zu können. Einer Herausforderung nicht gewachsen zu sein. Dieses Stück Papier in seinen behandschuhten Fingern war für ihn das Symbol einer Niederlage, die er wirklich nur allzu gerne vergessen hätte.

Möglich, dass Sarris das wusste. Er wusste ohnehin viel zu viel.

»Hier, Pappnase, das andere Zeug, das du wolltest. Und jetzt runter von meinem Stuhl!«

Dante erhob sich wie ein Zeitlupe, noch immer auf den speckigen Plan starrend, und ließ stoisch zu, dass Fordham ihn beiseite schob. Wo in diesem Labyrinth mochte Sarris mit Trish hocken?

»He!«

Dante sah hoch.

Fordham schob ihm über die zerkratzte Schreibtischfläche diverse Dinge zu, und zwar einen kleinen, fadenscheinigen Baumwollbeutel, ein paar ausländisch aussehende Münzen, ein Ledermäppchen, das genauso mitgenommen aussah wie Yuris Mantel, und außerdem, gehüllt in einen durchsichtigen Plastikbeutel wie kontaminierte Gefahrensubstanz, ein Paar klingenbewehrter Schlagringe.

Letztere erregten blitzartig Dantes Aufmerksamkeit. Seine Sinne reagierten auf das stahlblaue, bösartige Schimmern des Metalls und das unheimliche Lied, das es ihm vorsang. Er wusste augenblicklich, worum es sich bei dieser Waffe handelte, und kämpfte den wilden Drang nieder, sie breit anzugrinsen.

»Nett von dir«, sagte er knapp, legte seine Hand auf die furchtbaren Waffen – vielleicht eine Spur zu schnell, als dass es nicht auffällig gewesen wäre –, und zog sie zusammen mit dem ganzen kleinen Haufen an Gegenständen zu sich heran.

Fordham murrte etwas, dem er keine Beachtung schenkte.

»Ich bin dann weg«, ließ er den Chief wissen und kehrte dessen Büro erleichtert den Rücken. Den Plastikbeutel hielt er fester mit der Faust umfasst, als es nötig gewesen wäre.

Sich entfernend hörte er noch, wie Fordham von innen wieder den Riegel vorschob, um sich vermutlich einem weiteren Nickerchen hinzugeben.
 

Sobald Dante das Police Department verlassen hatte und wieder auf dem mit gelblich-welkem Laub bedeckten Asphalt des Fußweges stand, griff er in den Plastikbeutel und zog einen der Schlagringe heraus. Die blanken Oberflächen der Zwillingsklingen, die zwischen den Einbuchtungen für die Finger herausragten, spiegelten das neblige Licht gespenstisch wider.

Dante lächelte, von einem Gefühl der Befriedigung erfüllt, als seine Fingerspitzen über das Metall glitten. Diese Waffe sang zu ihm, wie Rebellion zu ihm sang, und seine sensiblen Sinne empfingen die betörende Weise weit besser, als Yuris es jemals könnten. Gut möglich, dass der Kerl völlig ahnungslos war, was er da besaß und benutzte wie eine gewöhnliche Waffe. Aber irgendwie glaubte Dante nicht daran.

Geschmeidig ließ er die Finger seiner rechten Hand in die Löcher gleiten. Sofort wurde das Lied lauter, schwoll ein Choral aus Stimmen in seinem Kopf an, erfüllte ihn von der Sohle bis zum Scheitel mit seinem mächtigen Gesang. Dante schauderte freudig unter der Gewalt und Macht, die seine Hand in der Waffe zum Leben erweckt hatte, doch sollte er sich der Euphorie hier draußen besser nicht allzu sehr hingeben. Unauffällig ging er ein paar Schritte weiter, ehe er die Faust ballte und einmal kräftig in die kalte, leere Luft schlug. Der blaue Schweif, den die blitzenden Klingen ausspien, leuchtete so kraftvoll, dass Dante hastig die bewaffnete Hand unter den Mantel schlug und sich nach allen Seiten umsah. Niemand da, der das Spektakel beobachten konnte. Gut so. Er war grimmig erfreut, wie brutal und schön diese Waffe auf ihn reagierte, wie sie einen Impuls ihrer entsetzlichen Energie durch seinen Arm feuerte, als er ein zweites Mal ins Nichts hieb. Er stieß einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

Es war unmöglich, dass ein gewöhnlicher Mensch dieses Ungeheuer beherrschte. Yuri konnte sie nicht wirklich als Waffe verwendet haben, das war ausgeschlossen. Es sei denn …

Nein. Sicher nicht. Nicht wirklich.

Ich hätte was gemerkt. Es wär mir nicht durch die Lappen gegangen, wenn er …

Dante hob die Brauen und rieb sich mit der freien Hand die Stirn, wo vom Wind umher gezauste Haarsträhnen ihn kitzelten.

Zumindest eins war sicher: Nicht nur Jin war seltsam. Auch mit Yuri stimmte etwas nicht. Dante würde dieser Sache auf den Grund gehen müssen.

Akt III - Der Schacht: 5-3

5-3: JIN
 

Yuris Frage hatte Jin verunsichert. Hier, in der fragwürdigen Sicherheit von Dantes Zuhause, fühlte sich mit einem Mal noch verletzlicher als in den verschneiten Wäldern von Yakushima, wo die Welt ihre bleichen Knochen offenbarte.

Weil das helfen kann, hatte Yuri gesagt, jener angebliche Zeitreisende, der ihn jetzt vorsichtig im Auge behielt, als befürchtete er, Jin könnte nachträglich in die Luft gehen. Helfen? Wie konnte es helfen, einen unschuldigen Menschen mit hinein zu ziehen in diesen Terror, der Jins Leben darstellte? Es würde vielmehr grauenhaft sein – nicht mehr allein für ihn, sondern auch für eine weitere geliebte Person, die er für sich selbst durch die Hölle schicken musste – und wofür? Nur für sein Ego? Um seinen Rachefeldzug mehr genießen zu können? Es wäre selbstsüchtig, weiter nichts.

Er wollte darüber keine Diskussion mit Yuri beginnen, doch ihn anzuschweigen erschien ihm auch nicht richtig. Während er noch überlegte, was er sagen sollte, und Yuri sich gemütlich am Whisky gütlich tat, kehrte Dante plötzlich zurück und ließ die Haustür krachend hinter sich ins Schloss fallen.

»So! Bin wieder da. Nehmt die Hände aus der Hose.« Er warf Yuri eine Reihe Gegenstände auf den Schoß, die immerhin so schwer waren, dass der Getroffene ein überraschtes »Autsch!« hervorstieß. »Hier, ich hoffe, du hast jetzt alles, was du haben wolltest, Nervensäge.«

»Hast du ’ne Laune, Mann!«, beklagte sich Yuri und rieb sich den Oberschenkel, auf dem unter anderem ein paar Schlagringe aus blau glänzendem Metall gelandet waren. »Aber trotzdem: Danke.«

Dante stapfte zweimal in seinem Wohnzimmer von einer Seite zur anderen wie ein nervöser Rockstar vor dem Auftritt. Gerade schien es in seinem Inneren zu brodeln wie im Sudkessel einer Brauerei. Jin, sensibilisiert durch die sorgfältige Ausbildung, die seine Mutter ihm hatte zuteil werden lassen, spürte den Fluss dunkler Energie, den der Teufelsjäger verströmte. Auch Yuri starrte Dante an, als rechnete er damit, dass dieser gleich auf sie beide losging.

»Ich weiß einfach nicht, wo er sie hingeschleppt hat«, ächzte Dante schließlich. »Ich wünschte, das würde mich nicht so krank machen!« Ein Faustschlag gegen die Holzwand ließ das Gemäuer des Hauses bis zum Grund erbeben. Dann kam Dante abrupt wieder zur Ruhe. Seine Schultern sackten herab und er schüttelte den Kopf. »Ach, vergesst es. Ich hasse mich im Moment selber. Hatte mich nicht so schlecht im Griff, nicht, seit – … ach, vergesst es einfach.« Mit einer unruhigen Geste fuhr er sich durch den wilden silberweißen Haarschopf und zog dann langsam den Mantel aus.

Jin ließ ihn nicht aus den Augen. »Du weißt immer noch nicht, wo es ist.« Es war eine Feststellung, die keiner Bestätigung bedurfte; Dantes Verhalten war leicht zu lesen.

Dante wiederholte nur matt das Kopfschütteln. »Ich hab einen Plan von dem Ding, aber nicht die Koordinaten.«

Jin schwieg einen Moment. Er wusste, dass er jetzt seine Hilfe anbieten musste und würde; Dante wartete darauf, war aber zu stolz, darum zu bitten. »Sag mir, was es überhaupt ist«, bat er in einem Ton, von dem er hoffte, dass er teilnahmsvoll und nicht so emotionslos klang wie in seinen eigenen Ohren.

Prompt förderte Dante einen zerknitterten Faltplan zutage und warf ihn Jin auf den Schoß, wo er leise raschelnd landete. »Hier. Ich wär dir dankbar, wenn du was darüber rausfinden könntest.«

Jin entfaltete das Papier behutsam. Es war abgenutzt, drohte im Griff seiner Finger Risse zu bekommen. GRITT-D674, las er und stutzte. Der Name. Dieser Name …

Sein Blick trübte sich. Eine Erinnerung regte sich in ihm, der knappe Wortlaut einer Diskussion mit seinem Großvater Heihachi drang in sein Bewusstsein: Aber wenn die Leute Angst haben, da zu arbeiten, warum zwingst du sie dann dazu? Vielleicht sind dort wirklich … Monster. Seine eigene Stimme war damals noch so kindlich gewesen, ihr Klang so naiv, so dumm. Sein Blick glitt in die rechte untere Ecke des Plans. Dort stand es, winzig klein.

Shardworks Corp. & Mishima Industries 2001.

Als er den Kopf hob, begegnete er Dantes durchdringendem Blick.

»Na, Kazama? Kannst du da mit deinen Connections was machen?« Es war offensichtlich, dass er versuchte, nicht ungeduldig zu wirken, doch Jin fühlte unverändert das Schwelen unter Dantes Fassade der Ruhe.

Er nickte knapp. »Ja. Ich muss telefonieren. Es dauert nicht lange.«
 

Ninas Nummer war die einzige, die der Speicher seines Handys enthielt. Alle anderen, die dort einmal gewesen waren – zu Zeiten seines High-School-Besuches oder seines Trainingsaufenthaltes in Australien –, hatte er gelöscht, da ihre Besitzer ihm nichts mehr bedeuteten.

Rasch hatte er die Kurzwahl eingetippt und wartete auf das Freizeichen in der Leitung, während er mit halbem Ohr zuhörte, wie Yuri und Dante ein paar Worte über die wenigen Besitztümer austauschten, die die Polizei Yuri abgenommen und einbehalten hatte. Dante schien irgendein tiefes Misstrauen gegen die Schlagringe zu hegen und betrachtete sie mit einem seltsamen Glanz in den Augen, was Yuri veranlasste, die Waffen zusammen mit allen anderen Habseligkeiten in seinen Mantel zu schlagen und diesen an sich zu drücken. Sie waren eigenartig, diese Männer, die seine, Jins, unfreiwillige Gesellschaft geworden waren.

Er wandte den Blick ab, als sich, nach unerwartet kurzer Wartezeit, Ninas kühle Stimme meldete.

»Was kann ich für dich tun, Jin?«

»Nina.« Er sprach ihren Namen ohne Zuneigung aus. »Ich brauche Informationen über GRITT-D674. Ein Projekt von MI und einem Kooperationspartner, das 2001 in Betrieb gegangen ist und kurz danach stillgelegt wurde.«

»Ja, das sagt mir was«, ließ sie ihn ohne Umschweife wissen. Nina war ein Profi; niemals würde sie sentimental werden und etwa auf die Idee kommen, ihn nach seinem Befinden zu fragen. Gefühlsbekundungen unter ihnen waren trotz ihrer langjährigen Vertrautheit äußerst rar. »Die Daten liegen im Zentralspeicher. Ich übermittle sie dir, sobald ich dort bin.«

»Ich brauche nichts Technisches. Ich will nur wissen, wo es jetzt ist.«

»Wie du möchtest. Gib mir eine halbe Stunde.«

»In Ordnung. Danke.«

»Stets zu Diensten.«

Sie beendeten das Gespräch. Jin ließ das Mobiltelefon in seine Hosentasche gleiten und wandte sich den beiden anderen zu, deren Ton merklich lauter und schärfer geworden war.

»Das mit dem Mond kaufe ich nicht!«, versetzte Dante gerade mit düster zusammengezogenen Brauen, und Yuri blaffte zurück: »Alter, denkst du, ich kaufe das? Ich weiß nicht, wo er sie wirklich her hat!«

»Darf ich euch unterbrechen?« Jin hatte leise und ruhig gesprochen, doch augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit beider Männer.

»Und?«, bohrte Dante.

»Meine Stellvertreterin kümmert sich darum. In einer halben Stunde können wir Trish suchen.« Er hatte sich bemüht, den Namen der Frau richtig auszusprechen, und erntete für diesen Erfolg nun ein halbgares Lächeln von Dantes Seite.

»Na super. Ich schätze, das halte ich aus, ohne durchzudrehen.« Dante stand auf und sah zu Yuri herab. »Du brauchst noch ein Shirt, hm? Warte.«

Jin sah zu, wie er in sein Schlafzimmer ging, und tauschte einen Blick mit Yuri.

»Der Alte hat zumindest ein bisschen bessere Laune, was meinst du?«, grinste letzterer. »Ich glaube, ›In einer halben Stunde können wir Trish suchen‹ hat ihn wieder runtergeholt. Der spinnt echt. Der spinnt einfach komplett.«

Jin nickte zu den Waffen in Yuris Schoß. »Was ist mit deinen Schlagringen?«, fragte er ohne großes Interesse. »Was gefällt ihm nicht an denen?«

»Ach, oh … keine Ahnung«, wich Yuri aus, und Jin sah deutlich, dass er die Frage nicht mochte. »Er glaubt mir immer noch das Zeug mit der Zeitreise nicht.«

Dante kehrte mit einem schwarzen Sweatshirt zurück. »Dein rotes hab ich in Seifenwasser geworfen, das war auch trocken noch eklig. Versuch mal das. Ist dir vielleicht ein Stück zu groß. Stammt noch aus meiner High-School-Zeit.«

Sehr wahrscheinlich hatte das Kleidungsstück schon bessere Zeiten gesehen. Manche Nahtstellen waren ziemlich aufgeraut.

Yuri fing das Shirt auf, zog es über und sah gleichmütig an sich herab. Es reichte ihm bis zum Schritt. »Ist okay, hab schon schlimmere Sachen angehabt.«

»Soll ich Tee machen?«, fragte Dante großmütig, als wäre er bemüht, seine Rolle als guter Gastgeber weiter auszuspielen. Offensichtlich bekam er allmählich ein schlechtes Gewissen, weil er seine Gäste einsperrte. Jin begrüßte Dantes eigene Zweifel an dieser radikalen Maßnahme. Es würde nicht mehr lange dauern.

»Ich hab besseren Tee als du«, behauptete Yuri und förderte den kleinen Baumwollbeutel zutage, den Dante ihm zurückgegeben hatte. Daraus fischte er einen noch kleineren hervor, der leise raschelte, als enthielte er trockene Pflanzenteile.

Dante nahm das weiche Säckchen entgegen, schnupperte daran und befand: »Riecht wie Heu.«

»Heu!« Yuri war entrüstet. »Das ist feinster Grüntee aus Dalian.«

»Von mir aus. Ich setz ihn auf.«

»Kannst du das denn?«, fragte Yuri skeptisch.

»Was gibt’s da nicht zu können?«

Jin ahnte, was passieren würde. Bei seinem Großvater hatte Jin grünen Tee als Matcha kennen gelernt – ein giftgrünes Pulver, das sich in kochendem Wasser auflöste, herb schmeckte und dabei half, den Geist zu fokussieren. Doch empfindliche, grüne Teeblätter durften auf keinen Fall in kochendes Wasser. Als Mensch der westlichen Hemisphäre war Dante naturgemäß ein Banause in Sachen Tee, und natürlich bewies er es.

»Das kommt nicht hin mit den zwei Minuten«, sagte Yuri und tippte auf das Deckglas seiner unablässig tickenden, unheimlichen Taschenuhr, als Dante mit der Stahlkanne zurückkam.

»Du kannst deinen Heuaufguss trinken oder es lassen«, gab Dante ungerührt zurück.

Yuri seufzte, goss Tee in eine der Tassen und betrachtete verstimmt die Dampfschwaden, die davon aufstiegen. »Klar hast du meinen Qualitätstee mit viel zu heißem Wasser vergewaltigt. Hätte ich wissen müssen. Was kannst du eigentlich?«

Sein Groll beeindruckte Dante nicht im Mindesten. »Ich finde ihn ganz in Ordnung. Schmeckt ein bisschen wie Ziegenstall ganz unten.«

Während sie auf der Couch saßen und an bitterem überzogenem Tee nippten, dachte Jin weiter darüber nach, wie er vorgehen sollte. Er hatte keine Lust, hier in der seltsamsten Teegesellschaft seit Lewis Carrol weiter seine Zeit zu verschwenden, und er wusste nicht, ob er wirklich warten wollte, bis Dante die Füße hochlegte und ihn und Yuri freiwillig gehen ließ, weil er den Spaß an ihnen verloren hatte. Im schlimmsten Fall konnte er Nina darum bitten, ihn zu befreien. Einen Ansturm der Tekken Force hielt ein morscher Schuppen wie das Devil May Cry nicht aus.

Als er neben sich zu Yuri sah, der so missgelaunt dreinschaute wie noch nie, verwarf er den Gedanken an einen Befreiungsschlag. Er brauchte Nina nicht. Das Problem würde sich von selbst lösen – weil Yuri genauso unbedingt seine Freiheit wiederhaben wollte wie er.

Beruhigt trank er den schrecklichen Tee aus und wartete.
 

»Du hast es wirklich verkackt!«, stellte Yuri schließlich kopfschüttelnd fest. Eine ganze Weile war es still zwischen ihnen gewesen, doch jetzt schien, wie Jin gehofft hatte, bei seinem Leidensgenossen wieder die Erkenntnis einzurasten, in was für einer absurden Situation sie sich befanden. »Du hast Aufputschmittel draus gemacht, Alter. Glückwunsch.« Yuri schob seine Teetasse so unsanft über den Tisch, dass sie klapperte. »Ich geh jetzt raus, mich bewegen.«

Endlich, dachte Jin und hob den Kopf, als Yuri aufstand.

»Du gehst nirgends hin«, erklärte Dante.

»Halt mich auf.« Yuri ging zur Tür.

Dante versuchte es noch einmal halbherzig: »Ich hab abgeschlossen.«

»So?« Yuri unterzog diese Behauptung keinerlei Prüfung, sondern stellte sich einfach vor die Tür und hob den rechten Fuß, um dem Holz einen derben Tritt zu versetzen, der die Tür aus den Angeln schlug und sie krachend auf den Bürgersteig beförderte.

»Heeey!«, rief Dante, doch zu Jins Erstaunen lachte er dabei laut, auch dann noch, als ein eiskalter Luftstrom hereinwehte. »Meine Tür mache nur ich kaputt!« Sein amüsierter Blick löste sich von Yuri und richtete sich auf Jin. »Willst du auch spielen gehen, Kazama? Na los.«

Jin schaute zurück. Nun war sehr plötzlich das eingetreten, was er herbeigesehnt hatte. Und nun tat er etwas sehr Irrationales: Er griff in die Hosentasche und legte sein Mobiltelefon vor Dante auf den Tisch. »Es ist zugriffsgesichert, aber du kannst Anrufe annehmen.«

Dante erkannte das Pfand als das, was es war. »Gut, ich sage deiner Freundin, dass es später wird.«
 

»Sparring?«

Yuri rief ihm dieses Wort schon entgegen, als im grauen Hinterhof abseits der Straße noch einige Meter zwischen ihnen lagen. Begrenzt wurde die asphaltierte Fläche von den zu jeder Seite dunkel aufragenden Häuserfassaden. Es war ein gänzlich leerer, schmuckloser Platz.

»Willst du das wirklich?«, gab Jin zurück und ging weiter auf Yuri zu. Sein Herz schlug schnell und hart wie nach schwerer Arbeit; Dante hatte ihnen allen eine Überdosis Koffein verpasst.

»Hast du ’ne bessere Idee? Hier ist nicht viel Platz zum Bewegen. Wollen wir lieber schreiend im Kreis rennen?«

Das wäre der Situation angemessener, dachte Jin düster. Aber vielleicht war es wirklich besser, die Energie in geordneten Bahnen herauszulassen, anstatt sie – in seinem Fall – als Futter für Devil anzustauen.

»Von mir aus. Sparring.«

»Na los, fangt an!«, hallte prompt eine belustigte Stimme über den Hof. Dante hatte sich aus seinem Badezimmerfenster gelehnt, die muskulösen Arme über dem Sims gekreuzt. »Tobt euch aus, bevor ihr mein Büro zerlegt und behauptet, mein Tee wäre schuld. Soll ich richten?«

»Halt die Klappe!«, schleuderte Yuri über die Schulter in seine Richtung. Dann positionierte er sich lässig und hob die Fäuste.

Jin tat es ihm gleich. Er beobachtete Yuri; seine Haltung verriet bereits jetzt viel darüber, wie er einen Gegner angehen würde.

Dante machte sich einen Spaß daraus, ihre Konzentration zu stören: »Ein Übungskampf ohne alles? Passt auf, dass ihr euch nicht wehtut. Kazama, deine Wundnaht hat nicht gerade ein Profi gemacht.«

»Der labert echt zu viel«, brummte Yuri mit einem genervten Ausdruck, der die Schatten um seine Augen noch zu verstärken schien.

»Ich bin vorsichtig«, erwiderte Jin ruhig. Er war es gewohnt, abgelenkt zu werden, das hatte durchaus zu seinem Training gehört. Inzwischen hatte er Yuris Lauerstellung entziffert und wusste, was er zu erwarten hatte: reinen Straßenkampf, keinen klaren Stil, eine Vielzahl von Elementen unterschiedlicher Kampfsportarten. Mixed martial arts. »Komm«, forderte er ihn auf.

Auf diese Aufforderung hin ging Yuri ihn energisch an. Er überbrückte den großen Abstand zwischen ihnen mit zwei, drei Schritten, die eher wie flache Sätze aussahen, und sandte den ersten, geraden Hieb frontal geradeaus. Es war natürlich ein stark gebremster Schlag, doch als Jin Yuris Faust locker ablenkte, spürte er dennoch die rohe Gewalt, die dahinter steckte, nur im Zaum gehalten von eiserner Beherrschung. Mit jedem Angriff, den er abwehrte, zweifelte Jin weniger daran, dass Yuri mühelos Schädel und Knochen bis zur Unkenntlichkeit zerschmettern konnte. Hatte er nicht gesagt, er wäre auch so etwas wie ein Dämonenjäger? Ganz gleich, wie übertrieben das war: Mit den klingenbewehrten Schlagringen würde er ein sehr unangenehmer Gegner sein, nicht nur für Menschen.

Und es war auch nicht so, als ließe Yuri sich schnell demoralisieren. Obgleich er nur die leere Luft traf und Jin ihn unausgesetzt parierte, indem er seine Fäuste sanft abfing, gab Yuri nicht nach, sondern ließ nur hin und wieder mit einem dreckigen Lachen beide Zahnreihen aufblitzen, ehe er sich wieder in einer anderen Strategie Jins unüberwindbarer Deckung entgegen warf.

Schließlich gingen sie mit einer gewissen Befriedigung auseinander. Es war warm geworden unter dem Mantel, und Jin widerstand der Versuchung, ihn auszuziehen; hier draußen in winterlicher Kälte wäre das keine gute Idee, zumal er seine frische Verletzung nicht strapazieren wollte. Schlimm genug, dass er sich in dieser Verfassung überhaupt einer Art von Training widmete, nur um einer unangenehmen Situation zu entgehen.

»Du bist ungeheuer stark«, sagte er zu Yuri, und es meinte es völlig ernst.

»Und du bist mir technisch um Welten überlegen.« Yuri klang zwar ernüchtert, aber nicht enttäuscht.

»Hattest du einen Meister?«

»Meinen Vater, als ich klein war. Danach nicht mehr wirklich. Nur Grubenkämpfe.«

Jin furchte die Stirn. »Kämpfe in Gruben?«

»Ja. Nachts in Gruben. Man schlägt sich mit Monstern. Ich hab eine Weile davon gelebt.«

Diese weitere unglaubliche Geschichte erklärte Yuris ungeschliffene Manöver, die raue, wild entschlossene Energie.

»Ich glaube, du könntest sehr gut sein, wenn du einen Trainer hättest.«

»Gib mir mal eine Kostprobe«, forderte Yuri.

Jin rieb sich die bloßen Fingerknöchel. Sie waren warm, aber dennoch weiß von der umgebenden Kälte. Ihm gegenüber hielt Yuri die Fäuste zur Deckung erhoben und musterte ihn konzentriert.

»Du gehörst jedenfalls nicht zu denen, die dauernd um ihren Gegner rumhopsen. Bist du ein Karateka?«

»Ja.«

Bis jetzt hatte Jin ganz fest gestanden, doch nun löste er die Stellung auf. Er war kein Kämpfer, der durch Geschwindigkeit punkten konnte; lieber platzierte er seine Treffer wohlkoordiniert und wirksam. Diese Präzision versetzte Yuri augenblicklich in eine nachteilige Position, zwang ihn zur Rückwärtsbewegung. Er parierte, aber minimal verzögert, und seine versuchten eigenen Attacken wurden zu mühsamem Konter. Noch ließ Jin zu, dass Yuri seine Fäuste wegschob, drängte ihn dabei jedoch weiter und weiter auf die Häuserwand zu, bis Yuri schließlich mit dem Rücken dagegen stieß und sich, als er keinen Ausweg mehr sah, blitzschnell unter einem von Jins Hieben hinwegduckte. Taumelnd fing er sich und betrachtete seinen Sparringpartner keuchend und hingerissen zugleich.

»Scheiße, ich hatte keine Ahnung, dass du so gut bist.«

Dante, der aus seinem Fenster alles aufmerksam beobachtet hatte, rief hinunter: »Jin hat angeblich Fäuste aus Eisen. Mit Nachweis!«

»Stimmt das?« Yuri legte den Kopf schief.

»Ja«, bestätigte Jin bereitwillig. »Ich habe … ein Turnier gewonnen.« DAS Turnier, hätte es heißen müssen. Er erzählte kurz davon – sehr kurz –, und Yuri hörte es sich an, ohne auch nur zu blinzeln.

»Und ich hab mich schon gefragt, wie du so gut sein kannst, obwohl nicht dein Überleben von deinen Fähigkeiten abhängt.«

»Du hast keine Ahnung«, schnaubte Jin. »Es hängt alles davon ab.«

Sie betrachteten einander kurz unschlüssig, dann sah Jin zum Fenster. Dante war von seinem Aussichtsplatz verschwunden, doch das Fenster stand weiterhin offen.

»Wollen wir wieder reingehen?«, fragte Yuri. »Mir wird kalt.«

In dem Moment kehrte Dante ans Fenster zurück und beugte sich über das Sims. »Hey, Kazama, komm mal rein! Die Dame redet nicht mit mir. Will dich persönlich sprechen.«

Yuri kommentierte das mit einem amüsierten Blick. »Also kann uns deine Assistentin weiterhelfen?«

Abwarten, dachte Jin, ohne etwas zu erwidern. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass die Sache einfach werden würde. Nina konnte ihnen die Koordinaten nennen – aber gleichfalls nicht voraussehen, wer oder was sich ihnen dort in den Weg stellen würde.
 

Ninas Stimme hatte die übliche Distanz und Unberührtheit inne, als sie ihm Breiten- und Längengrad jenes abgelegenen Ortes nannte, an dem GRITT-D674 buchstäblich zu Grabe getragen worden war. Riesige Kräne hätten das Erdreich tief aufgerissen, schilderte sie teilnahmslos, Bäume oder Sträucher gäbe es im Umkreis vieler Kilometer nicht mehr.

»Komme ich auf öffentlichen Straßen dahin?«, erkundigte Jin sich knapp.

»Weitgehend. Ich habe alles verschlüsselt an dein Handy geschickt, du kannst dir von deinem jetzigen Standpunkt aus eine Anfahrtsroute berechnen lassen.«

»Danke.«

»Jin …« Sie zögerte. Er hörte sie ausatmen. »… Es ist doch alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, natürlich.« Falls sie erwartete, dass er ihr jetzt erzählte, warum er all diese Informationen von ihr angefordert hatte, so würde er sie enttäuschen. Er wollte dies hier immer noch allein hinter sich bringen. Wobei, nein, allein vielleicht nicht, aber eigenverantwortlich.

»Na dann«, gab Nina zurück und klang nun wieder ganz unbeteiligt. »Lass es mich wissen, wenn du noch was brauchst.«

»Sicher.« Jin beendete die Verbindung und wandte sich den erwartungsvollen Gesichtern seiner neuen Verbündeten zu. »Es kann nur noch wenige Minuten dauern, bis –«, setzte er an, doch sein Handy unterbrach ihn mit einem affirmativen Signal, das ihm bedeutete, dass ein Satz Dateien eingegangen war. »Moment.« Geübt tippte er das zwanzigstellige Mishima-Kennwort ein, um die Daten entschlüsseln zu lassen; dann ließ er das eingebaute Navigationssystem eine Route berechnen. »Hier.« Er hielt das Telefon hoch, damit Dante und Yuri die Landkarte mit dem hervorgehobenen Anfahrtsweg sehen konnten.

Prompt streckte Dante die Hand nach dem Handy aus, aber Jin entzog es geschickt seiner Reichweite.

»Ich führe uns hin«, erklärte er.

Dante nickte unwillig. »Von mir aus. Na los, hoch mit euren Hintern.« Schon war er dabei, seinen Mantel wieder anzuziehen.

Bereit, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, wollte Jin ihn soeben fragen, auf welche Art und Weise sie denn ans Ziel zu gelangen dächten, da durchbrach ein Geräusch die Stille, das sie an diesem Vormittag schon allzu oft vernommen hatten.

Dantes Telefon.

Sein Besitzer stieß ein obszönes Wort aus, das in den USA ebenso beliebt wie geächtet war und mit F begann, und ging zurück zu dem Gerät, um es sehr unsanft von der Gabel zu reißen. Sicher glaubte er, es wäre Trishs Entführer, und hatte nur deshalb abgenommen; doch seine Miene drückte augenblicklich Enttäuschung aus. »Nein!«, sagte er.

Das »Doch!« vom anderen Ende der Leitung war bis in die andere Ecke des Raums zu hören. »Es sind Kinder im Spiel, Mann!«

Dante gab ein ennerviertes Geräusch von sich, das darauf schließen ließ, wie mühsam er seinen Grimm hinunterschluckte. Seine freie Hand ballte sich gefährlich. Dann sagte er so beherrscht wie möglich: »Nicht jetzt, Fordham. Ich melde mich, sobald ich Zeit dafür habe.«

Sein Gesprächspartner redete sofort weiter auf ihn ein. Nur Sekunden später, in denen er widerwillig zugehört hatte, klärte sich Dantes verbissene Miene überraschend schnell und wich einem Ausdruck ungläubiger Betroffenheit. »Dein Ernst?«, fragte er. »Ich warne dich. Wenn das nur eine Masche ist, um mich wieder mal dazu zu bringen, eure Drecksarbeit zu machen, dann beenden wir die ganze Geschichte.« Er ließ den Hörer wieder auf das Telefon fallen und sah seine Gäste finster an. »Die Rettungsaktion verzögert sich … mal wieder.«

»Kinder?«, fragte Yuri.

»Leider.«

»Wo?«

»In einem U-Bahnschacht.«

Jin schüttelte im Geiste den Kopf. Wie kamen Kinder und Dämonen gleichzeitig in einen U-Bahnschacht? War er hier der Einzige, der sich das fragte?

»Ich hoffe, du hast nicht nur eine große Klappe gehabt«, sagte Dante zu Yuri.

»Ich werd’s dir zeigen, du arroganter alter Sack.«

Seufzend nahm Jin wieder sein Handy in die Hand und klappte es auf. »Sag mir die Stelle, dann suche ich uns den kürzesten Weg«, bot er an und hielt, den Daumen über dem Touch-Display, geradewegs auf die Tür zu, bis Dante ihn jäh an der Schulter packte und zum Halten zwang.

»Mal langsam, Prügelprinz. Dein Engagement in allen Ehren, aber du wirst uns leider nicht begleiten.«

»Was?« Jin glaubte, er habe sich verhört. »Ich soll – …«

»Da werden Dämonen sein. Du und dein gehörnter Kumpel werdet schön hier bleiben. Ich kann nicht auf dich aufpassen, wenn Gören und Teufel meine Aufmerksamkeit verlangen.« Schon ließ er Jin stehen, um sich Yuri zuzuwenden. »Kommst du jetzt endlich?« Im Vorbeigehen nahm er noch die Pistolenholster auf und das Schwert von der Wand.

Jin stand wie angewurzelt. Er sollte also nicht mitkommen? Er war nicht Teil dieser großen gemeinsamen Aktion, die sie geplant hatten? War er überhaupt Teil von irgendetwas – hatte dieses ganze Gerede darüber, dass sie einander helfen würden, ihre Probleme zu lösen, überhaupt nichts zu bedeuten? »Das ist nicht richtig«, hörte er sich sagen und spürte Ärger in sich aufwallen.

»Nicht fair, aber vernünftig«, gab Dante lakonisch zurück und bugsierte Yuri, der immer noch an einem seiner beiden Gürtel nestelte, durch die wieder eingehängte Haustür. »Hier hast du eine bessere Aufgabe.«

»Und welche soll das bitte sein?«, fragte Jin grimmig. Es ärgerte ihn, dass seine Erziehung ihn selbst dann noch zu Höflichkeit verdammte, wenn es in ihm siedete.

Dantes Antwort gab der kleinen, zischenden Flamme neuen Zunder. »Na, du bewachst das Telefon. Damit es nicht wegläuft.«

»Was?« Jin war zu perplex zum Protestieren. Ein Schlag in die Magengrube hätte ihn nicht besser aus der Fassung bringen können. »Auf welche Art«, knurrte er leise, »gebe ich dir Grund dazu, dich ständig über mich lustig zu machen?«

Tatsächlich wirkte Dante etwas verblüfft über den Vorwurf. Seine herablassende Miene wurde etwas weicher. »Pass auf«, erklärte er. »Ich mache das weder, weil ich dich ärgern will, noch weil ich einen Kontrollzwang habe oder mich für den Allergrößten halte. Ich mache das, weil ich sehe, dass du Mist bauen wirst.« Er deutete vielsagend auf seine Augen und dann auf Jin. »Ich weiß, ich bin kauzig, aber blöd bin ich nicht. Sei vernünftig.«

Jin fühlte sich damit nicht versöhnt. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den Zorn zu schlucken und einsichtig zu sein. »Ohne mich wüsstest du immer noch nicht, wo dein Feind sich versteckt!«, insistierte er. Er konnte sich nicht helfen; er fühlte sich zurückgewiesen wie ein lästiges Kind. Dante respektierte ihn noch immer nicht, das war nun klar.

Diese Vermutung bestätigte der Teufelsjäger gleich darauf ein weiteres Mal, indem er Jin einen tadelnden Schulterblick zuwarf. »Diskutier nicht, Kazama. Wir beeilen uns.« Damit wandte er sich ab und ging weiter.

Im selben Moment wurde Jin bewusst, wie sehr er es hasste, so behandelt zu werden. Als wäre er ein dummes Kind, das sich ständig in die Angelegenheiten Erwachsener einmischte. Oh, er hasste es. Das hier ging ihn sehr wohl etwas an! Warum behandelte Dante ihn nicht wie einen Gleichgestellten? Was hatte dieser zwielichtige Yuri ihm voraus? Jin fühlte seine Wut über diese Ungerechtigkeit wachsen, spürte seinen Puls immer schneller hämmern. Man durfte ihn nicht ärgern. Niemand durfte das. Gerade jetzt war keine Vernunft in ihm, kein Einsehen, er wollte nicht gefügig sein. Dante nahm sich eindeutig zu viel heraus.

Als er knurrte, war es tief und kehlig. Seine Fäuste waren so verkrampft, dass seine Fingernägel sich in die Handballen gruben. Der Schmerz erreichte ihn schon nicht mehr.

Undeutlich sah er vor sich, wie Dante, schon halb aus der Tür heraus, auf das Geräusch reagierte.

Eine einzige, flüssige Bewegung, ein Ruck und ein dumpfer Aufprall.

Jins Rücken lag an der Wand. Dantes Hand war auf seinen Halsansatz gepresst. Devil bäumte sich auf, wollte ihm seinen Hass entgegen brüllen –

– und erbebte, als er geradewegs in Dantes Augen sah. Eiskalte Augen, unverwandt auf ihn gerichtet. Bodenlose Abgründe.

Und dann sah Devil noch etwas anderes.

Oder besser, jemand anderen.

Jin keuchte auf. Schüttelte sich in Dantes Griff. Kalter Schweiß brach ihm aus. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, starrte er Dante an, der jetzt wieder nur Dante war und nichts weiter. Er begegnete einem kühlen, herablassenden und ziemlich genervten Blick. Mehr nicht. Trotzdem hatte Devil sich so tief geduckt wie selten zuvor. Aller dämonische Zorn war schlagartig verraucht. Der mächtige Teufel, der in Jin lebte, hatte sich in den Staub geworfen.

Wovor?

Jin schluckte trocken. »Ich …«

»Hast du dich wieder eingekriegt?« Dante ließ ihn los, als hätte er ihm nur ein Staubkorn vom Mantelaufschlag gewischt. »Reiß dich zusammen und stell nichts an. Ich weiß schon, warum ich dich hierlasse.« Und mit einem letzten warnenden Blick und einer unmissverständlichen Geste kehrte er Jin wieder den Rücken, um nun endgültig die ächzende Tür hinter sich zufallen zu lassen.

Intermezzo I: 6-1

6-1: YURI
 

»Was war denn das gerade für ’ne Freakshow?« Yuri bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu klingen, während er locker neben Dante her schlenderte. Der Typ brauchte nicht zu wissen, dass der Moment, als die Tür zugefallen war, ihm eine Gänsehaut beschert hatte. Jin war ganz kurz davor gewesen, von seinem teuflischen Parasiten übermannt zu werden, ganz absolut sicher – und dann hatte ein Blick genügt, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen? Wow.

»Was meinst du?«, fragte Dante, ohne ihn anzusehen. Er machte einen Schritt, wenn Yuri zwei machte.

»Du weißt genau, was ich meine. Du hast ihn nieder gestarrt. Ich meine nicht Jin, sondern das Ding in ihm.«

»So würde ich das nicht nennen. Der Kleine ist ein bisschen wie ein … Angstbeißer, denke ich. Manchmal genügt es, denen tief in die Augen zu sehen.«

Diese lauwarme Erklärung stellte Yuri nicht zufrieden, aber es hatte wohl keinen Sinn, Dante weiter zu bearbeiten. Zumal dieser kurze Moment ihm neuen Respekt eingeflößt hatte. Er war drauf und dran gewesen, für Jin Partei zu ergreifen, als Dante ihn aufs Abstellgleis geschoben hatte wie einen rostigen Güterwaggon, doch im nächsten Moment war ihm klar gewesen, dass er nicht so angesehen werden wollte. Er fand Jin durchaus sympathisch und hätte sich gern dafür eingesetzt, ihn mit auf die Teufelsjagd zu nehmen – schließlich war Jin erwachsen und ganz sicher kein Blödspaten –, doch mit Dante musste er wirklich vorsichtig sein. Es war nicht angezeigt, sich gegen seine Führung aufzulehnen, jedenfalls noch nicht. Momentan versuchte Yuri einfach, das Beste aus der Situation zu machen. Er wollte sich nicht noch tiefer in die Scheiße reiten. Eine falsche Zeit und ein falscher Ort waren wahrlich genug der Missstände.

»Und du nimmst mich einfach mit zum Dämonen Jagen?«, hakte er unschuldig nach. Mist, es klang unsicherer als beabsichtigt.

Dante, der ihn eine schäbige schmale Straße entlang führte, lächelte gönnerhaft. »Wieso nicht? Wenn du die Wahrheit sagst, hast du schon Dämonen gejagt, bevor meine Mutter geboren war. Du wirst schon wissen, was du drauf hast.«

»Ich hab nur in Asien und Europa Dämonen gejagt«, gab Yuri zu. »Ich hab keine Ahnung, wie die hier sind.«

»Auch nicht anders. Sehen nur anders aus.« Dante stieß eine Lunge voll Luft durch die Zähne aus und fragte unvermittelt: »Sag mal, wieso vertraut er mir nicht? Verstehst du das?«

Yuri begegnete seinem anklagenden Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. Unnötig, ihm zu sagen, um wen es ging. »Naja, Vertrauen muss auf Gegenseitigkeit beruhen«, erwiderte er und fand, dass es ziemlich klug klang. »Vertraust du ihm? Jedenfalls behandelst du ihn nicht so.«

»Tsss. Der hat eine ganze Kirche zerlegt, und da erwartet ihr, dass ich ihn mit auf eine nervenaufreibende Jagd nehme? Mit Kindern? Das ist ja wohl ein selten dämlicher Plan!«

Nun, da hatte er einen Punkt, wie Yuri zugeben musste. »Mag sein. Ist ja nun auch gegessen, die Sache. Erzähl mir lieber, was für ein Ort das ist, an dem dein Feind hockt. Du und Jin, ihr tut da ja ziemlich geheimnisvoll. Spukt’s da?«

»Treffer«, sagte Dante mit einem Schmunzeln, den Themenwechsel dankbar annehmend. »Da spukt’s. Und wie

»So was mag ich nicht. Was ist das und wo ist das?«

»Weit draußen, wie’s scheint. Früher war es woanders. Die Polizei hat es immer nur ›den Schacht‹ genannt und nie wieder einen Fuß da rein gesetzt, damals. Tatsächlich ist – war – dieses Tunnelsystem nichts anderes als eine riesige Hochleistungsförderanlage.«

»Eine Förderanlage mit Tunneln drin?«

»Ja, mit Verarbeitungsbereichen. Tagebau, und so. Sie ist riesig, stellenweise fast eine Meile breit.«

»Was ist nicht alles gibt.« Yuri hatte nie zuvor von so etwas gehört. »Das heißt, ihr habt Bodenschätze hier in der Nähe der Stadt? Gold und so?«

»Nah, kein Gold. Aber andere wirtschaftlich wichtige Metalle. Lithium und so.«

»Und dieses Ding sollte das ganze Zeug rausholen.«

»Und gleich reinigen, lagerfähig machen oder schon weiterverarbeiten. Dafür sind normalerweise mehrere Verarbeitungsstätten nötig. Der Schacht war ein Prototyp«, erklärte Dante bereitwillig, »in Capulet gefertigt, mit einem Haufen Spezialteile aus Japan. Lief reibungslos, aber die Arbeiten wurden nur ein paar Wochen nach der Aufnahme wieder eingestellt, weil die Angestellten Angst bekamen … Naja, sie hatten das Gefühl, dass das Ding sie nicht leiden kann. Es sind Unfälle passiert, für die’s keine Erklärung gab, und die Leute sind eben abergläubisch. Als sich keiner mehr reingetraut hat, fiel den Betreibern nichts Besseres ein, als den ganzen Kasten einzugraben. Verschrotten wäre zu teuer gewesen.«

Yuri verstand. »Deshalb Schacht. Man kann nur noch von außen rein.«

»Jap. Ich wette, Dämonen lieben es.« Dantes Ton war unwirsch. Zweifellos hatte er nicht alles gesagt, was er über diesen Schacht wusste. Er schien irgendwelche schlechten Erfahrungen mit diesem Ort zu verbinden, und Yuri besaß genug Weitsicht, nicht weiter nachzubohren.
 

Wenig später bekam er erstmals die belebtere Innenstadt des Ortes zu sehen. Über ihnen hatte sich die gräuliche Wolkendecke geteilt und entließ blasse Lichtstrahlen auf die Straße, unter denen es Yuri in seinem Mantel so warm wurde, dass er ihn über der Brust öffnete und Dantes Shirt an die frische Luft ließ. Die Wintersonne verhielt sich hier ganz anders als dort, wo er herkam. Auch die Kälte hatte eine andere Qualität; sie war trockener und deshalb viel besser zu ertragen. Außerdem roch es hier anders. Wo immer seine Reise ihn hingeführt hatte, immer hatte ein bestimmter Geruch den Ort geprägt: Ob nun der stark würzige Duft der Küste Kleinasiens seine Nase gekitzelt hatte, die aromatische Brise in den sonnigen Straßen Florenz’ oder der etwas aufdringliche Fischdunst in Le Havre, alles hatte sich unauslöschbar eingeprägt und rief sofort schlafende Bilder in seinem Geist wach, wann immer er eine Nuance dieser Aromen auf der Straße auffing. Hier jedoch fragte er sich, ob er sich an irgendetwas erinnern würde. Die Luft war nahezu geruchlos, bestenfalls hing ein grauer, künstlich riechender Schleier über den Straßen, von dem Yuri glaubte, dass er von den Abgasen der Automobile herrühren musste. Von diesen Gefährten gab es hier eindeutig zu viele.

»Hier gibt’s also auch eine Untergrundbahn? Bestimmt in allen Städten, oder?«

»Nein, es gab eine Untergrundbahn«, korrigierte Dante, »bis sich die Verkehrsbehörde in den Kopf gesetzt hat, alles, was in den Provinznestern Geld schluckt, lahmzulegen. Seitdem rotten die Tunnel vor sich hin.« Er musterte Yuri prüfend. »Woher weißt du eigentlich, was eine Untergrundbahn ist? Wo gab’s die vor dem Ersten Weltkrieg?«

»In Paris. Die Métro.« Yuri dachte an die polternden, ächzenden Waggons, die in den eleganten kleinen Bahnhof einfuhren und automatisch ihre Türen öffneten, um gleich darauf wieder mit ihrer menschlichen Fracht geräuschvoll in die Finsternis einzutauchen.

Dante nickte. »Klar, Paris.« Wahrscheinlich hatte er keinen Schimmer. Er machte eine Kopfbewegung geradeaus, wo sich ein mit kältetrockenen Pflanzen eingefasster Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte auftat. Beides wirkte trostlos. Der Brunnen war stumm und trocken, an seiner Seite wies eine verwitternde Gravur auf irgendein historisches Ereignis hin. Eine Wolke erschreckter Tauben stob flatternd auf, als die beiden Männer die vereinsamte Fläche betraten. »Wo hast du Teufel gejagt?«, fragte Dante weiter, wie um die Konversation am Leben zu halten. »Leere Häuser? Spukschlösser? Löcher im Boden? Wälder?«

»Alles.« Yuri schob die Hände tiefer in die Taschen, als eine kräftige Brise über den leeren Platz fegte und an ihren Mänteln riss. »Auch Tunnel, ja. Kannst mich mit nichts erschrecken.«

»Ah, gut. Aber mal ernsthaft …« Dante lenkte ihn von dem Platz weg und auf eine schmale Promenade zu. »… deine Schlagringe … Die sind doch nur Deko, oder? Komm, gib’s zu, du kannst keine Teufelswaffen benutzen.«

Yuri war schlagartig ganz Ohr. »Teufelswaffen? Was heißt das?«

»Das heißt«, sagte Dante widerstrebend, »dass du die Waffe eines Dämons führst. Oder das zumindest behauptest.«

»Ah. Ja, ich behaupte das. Warum soll ich das nicht können?«

»Weil das nur … wenige können.«

»Ach! So wie du, huh?« Er beschleunigte seinen Schritt. Dante hinterher rennen zu müssen war nicht gerade ein Spaziergang.

»Ich bin bisher niemandem begegnet außer mir und – … außer mir, der es kann«, erwiderte Dante.

»Dann wirst du gleich eine Überraschung erleben.«

»Also keine Deko.«

»Nö.«

»Na, ich bin gespannt.«
 

Am Ende der Promenade führte, direkt neben dem Gehweg, eine Treppe in die Tiefe. Von den Geländern zu beiden Seiten blätterten Überreste einer dunkelgrünen Farbbeschichtung, der dachartige Vorsprung über dem Eingang schien vor Urzeiten ein Namensschild getragen zu haben.

»Auf ins Vergnügen«, sagte Dante und hatte, noch ehe sie in die Dunkelheit tauchten, plötzlich seine beiden Pistolen in den Händen.

Yuri folgte ihm und atmete den muffigen, feuchten Geruch ein, der ihnen aus dem Loch entgegenschlug. Nicht nur Teufel und Ratten schienen den Schutz der aufgegebenen Station zu schätzen; schon mischte sich in den modrigen Mief die beißende Note von Ammoniak. Ohne Zweifel hatten hier schon Millionen besoffener Penner in die Ecken geschifft.

»Wohnlich hier unten, was meinst du?«

»Geht so.« Yuri blinzelte, um seine Augen an das spärliche Licht zu gewöhnen. Früher hatte er solche Katakomben nicht ohne Öllaterne betreten. Ihre Schritte klangen dumpf, als gingen sie über Holz und nicht über Stein. Vor ihm strahlte ein Licht auf; Dante hielt eine kleine, aber sehr helle Lampe in der Hand, deren blendend weißer Schein über feuchte Kacheln und schimmelige Holzverkleidungen floss.

»Hörst du irgendwelche Kindergeräusche?«

»Nö. Wieso auch? Was bitte macht ihr heutzutage mit euren Kindern?«

»Also doch zu den Gleisen und in die Eingeweide von Hallow Hills rein. Geht wohl nicht anders.« Dante änderte die Richtung; das Licht wurde kleiner und tanzte an den Wänden, als er über die Bahnsteigkante auf die Schienen sprang. »Oh, und wenn du deine fiesen Fingerklingen noch nicht angezogen hast: Jetzt wäre es Zeit dafür.«

»Okay.« Yuris Sohlen landeten knirschend auf dem Gleisbett, und inmitten dieser Bewegung ließ er routiniert die Schlagringe über seine Handknöchel gleiten. Sofort pulsierte ihre Wärme in seine Fingerspitzen hinein, verband ihn mit jener Sphäre, die er zu hassen und zu fürchten gelernt hatte. Die Haare in seinem Nacken richteten sich auf wie elektrisiert. Seine Sinne schärften sich. Die geballten Fäuste abwehrbereit vor den Körper haltend folgte er Dantes hochgewachsener Silhouette in den beengenden Tunnel hinein.

»Pass auf, wo du hintrittst.«

»Argh, ich will gar nicht wissen, wo ich hier drauftrete. Trauen die Obdachlosen sich so weit hier rein?«

»Nicht nur die.« Dante hielt den Lichtstrahl kurz auf die Wände; nutzlose Kabel liefen dort in weißen Bündeln entlang, ein zerbeultes ›DANGER‹-Schild hing auf halb acht, aber inmitten all dieser Hinweise auf die Abwesenheit jeglichen menschlichen Lebens hatte ein Sprayer mit knallrotem Graffiti das Wort ›FUCK‹ quer über die Fläche gesprüht.

Dante blieb stehen. Und stand völlig starr.

Yuri wollte ihn gerade fragen, was ihn aufhielt – da hörte er es auch.
 

»Hyuga!«

»Hä – ?« Yuri fragte sich, warum er nichts sehen konnte.

Dann traf ihn Dantes flache Hand mit einiger Wucht an der Schläfe. Durch den Handschuh tat es nicht sehr weh, doch der unerwartete Schlag ließ Yuri reflexiv die Augen aufreißen. Seine Knie knickten ein. Dante packte ihn an den Schultern und stellte ihn wieder auf die Füße.

»Ich sehe, das kanntest du noch nicht.«

»Was zum Teufel war das?« Yuri, die tauben Gliedmaßen schüttelnd, blinzelte verständnislos in den Tunnel und auf die scharf umrissenen Schatten, die Dantes Lampe warf. »Wieso war ich weg?«

»Weil du ihren Schrei gehört hast.«

»Hä? Wessen Schrei?«

»Ich nenne sie Marionetten, war nicht mein kreativster Moment. Das sind eingewanderte niedere Teufel, machen sich in letzter Zeit überall breit.« Dante umfasste Yuris Arm und zog ihn hinter sich her. »Bleib in Bewegung, dann können sich dich nicht lähmen. Wenn du rumstehst, verursacht ihr Kreischen eine Art … Kurzschluss im Hirn. Man wird wehrlos, bis sie einen schon halb zerhackt haben.«

»Oh, das … ist fies.«

»Sie lassen sich handhaben. Hier können nur eine oder zwei sein. Holen wir sie uns.« Dante griff über die Schulter nach seinem im diffusen Licht glänzenden Monsterschwert, zog es frei und streckte die andere Hand nach dem Klingenblatt aus.

Yuri riss die Augen auf. »Hey, was machst du da?«

»Ich locke sie an.« Ein paar große, dunkle Tropfen fielen auf den Kies. »Blut finden die unwiderstehlich. Die sind wie Haie. Halt dich bereit.«

Noch ehe Yuri die Anweisung mit einem Nicken bestätigen konnte, näherte sich aus der undurchdringlichen Dunkelheit, die vor ihnen im Schacht waberte, ein hölzernes Staksen und Klicken. In abgehackten, ruckartigen Intervallen rückten die Laute näher, und kurz darauf schälten sich Gestalten aus der Schwärze und hinkten klappernd ins Licht. Bunte Stofffetzen bedeckten knochendürre, faulende Körper, die sich zielstrebig auf Dantes blutende Hand zubewegten – tatsächlich wie Marionetten, die eine schaurige Hand über ihren Köpfen an durchsichtigen Fäden dirigierte.

»Wow!«, rief Yuri fasziniert aus. »Die sind ja widerlich! Ich liebe sie!« Begeistert duckte er sich, als ein geschwungenes Messer über seinen Scheitel hinweg sauste.

»Oh, ich hab vergessen zu erwähnen, dass die gerne primitive Waffen aufsammeln und damit rumschmeißen. Bitteschön, alles deine.«

»Was, meine?«

»Ja ja, deine. Mach Papa stolz.«

»Tsss, wie du willst.« Yuri achtete darauf, nicht stehen zu bleiben, während er die sich nähernde Horde im Auge behielt. Immer mehr von ihnen kamen hervor und erfüllten die dicke Luft mit ihrem Klicken und Klacken. Aus zwei wurden vier, aus vieren sechs, und noch immer waren weitere Bewegungen in den Schatten sichtbar.

»Hab mich wohl verschätzt«, stellte Dante ohne Aufregung fest. »Sag bescheid, wenn du Hilfe brauchst.« Er schüttelte seine Hand, die zu tropfen aufgehört hatte, zog den Handschuh wieder darüber und trat zurück, den Weg für Yuri frei machend.

Yuri beobachtete die wimmelnden, schwankenden Kreaturen. Sie waren wirklich primitiv, vermutlich keine große Herausforderung. Eine Art kollektives Bewusstsein steuerte sie auf das Blut zu, doch auf der engen Fläche verhakten sich ihre Gliedmaßen ineinander wie Kleiderbügel auf der Stange, und so kollerten sie als unkoordinierter Haufen vorwärts.

Yuri trat mit einem großen Schritt vor sie hin, und da bemerkten sie ihn; in ihrer Mitte entstand Aufregung, als sie auf ihn zustrebten, doch die Enge des Tunnels ließ sie sich hoffnungslos verkeilen und aneinander zerren. Schon stießen die ersten ihren lähmenden Schrei aus. Yuri spürte ihn als kalten Schauder, sah, wie die Wände des Tunnels sich zu verzerren schienen, als sei der gespenstische Ruf etwas Greifbares, das hallend den Stein hinaufrollte. Diesmal blieben seine Glieder warm und sein Geist klar. Er ballte beide Fäuste, sodass die Klingen senkrecht zu den Knöcheln aufragten, und stürzte sich mitten in das klappernde Gewühl.

Magere Knochen splitterten wie morsches Holz. Triefende Augäpfel sprangen aus den Höhlen fahler Schädel; hässliche, heisere Schreie lösten sich aus brechenden Hälsen, und das Teufelsblut spritzte so hoch an die Tunnelwände, dass man glauben könnte, der Schacht wäre jüngst frisch gestrichen worden. Yuri pflügte sich durch die Meute wie ein Kampfhund durch einen Hühnerstall. Leichtfüßig wich er Hieben mit spitzen Dingen aus, die auf seine Flanken und sein Gesicht zielten, atmete den fauligen Dunst ein, den die Teufel in ihrer Wut verströmten, zerschlug die nach ihm häkelnden Finger und zertrat dürre Stelzenbeine. Schimmelnde Kleiderreste zerfaserten widerstandslos. Hartnäckig kämpften die widerwärtigen Angreifer, doch auf so knappem Raum waren sie ohne Chance. Yuri zerstörte ihre seelenlosen Gefäße eines nach dem anderen.

Er war in seinem Element.

Er genoss es.

Warm pulsierte das Blut in seinen Schläfen, als er den letzten von ihnen zu sich heran riss und die Faust um seinen Schädel schloss. Auf Armeslänge hielt er das strampelnde Ding von sich, um dann – er konnte ruhig für Dante etwas Eindruck schinden – einfach den Kopf der Kreatur krachend zu zerquetschen. Blut spritzte in alle Richtungen zu den Wänden und rollte von dort in zähen Rinnsalen zu Boden.

Yuri drehte sich zu Dante um und grinste.

Der Dämonenjäger stand entspannt an die Wand gelehnt und nickte träge. Zwei, drei rote Spritzer zierten seinen Mantel, doch er kümmerte sich nicht darum. Wahrscheinlich trug er deshalb Rot.

»Zufrieden?«

»Naja.« Dante kreuzte die Arme vor der Brust und gab sich herablassend. »Ich hab da ein bisschen die Eleganz vermisst. Hast dich durchs Buffet gefressen wie ein Verhungernder. Aber saubere Arbeit«, fügte er großmütig an. »Einhundert Prozent Quote bei relativ geringem Zeitaufwand. Ich verleihe dir Teufelsjägerrang B für die Aktion.«

Yuri schüttelte die Fäuste. Tropfen sprühten von den leuchtenden Klingen seiner Schlagringe. »Ränge für die Kämpfe? Ulkig. Bist du so ein Spielkind?«

»Manchmal.« Dante löste sich von der Wand. »Gehen wir?«

Er übernahm die Führung und Yuri folgte ihm über das Gleisbett. Über die schwarzen, stinkenden Haufen, die von den getöteten Dämonen zeugten, machten sie große Schritte.

»Mit Rang B bin ich wohl gar nicht so schlecht, huh? Was gibt es noch?«

»Es gibt D wie durchwachsen, C wie christlich, B wie brauchbar, A wie abgebrüht und S wie spitze. Und dann noch SS.«

»Wie ssensationell?«

»Wie supersexy.«

»Ah. Und E wie erbärmlich?«

»Nein, nach D kommt nur noch T wie tot.«
 

Sie erreichten den nächsten Tunnelaufgang etwa zwanzig Minuten später. Das Tageslicht flutete schon von weitem eine brüchige Treppe hinunter, und alles, was es berührte, war mit Moos und Flechten bewachsen.

»Ich glaube, ich weiß, wo wir rauskommen«, sagte Dante.

»War das etwa schon alles?«

»Ich finde, wir haben genug Zeit verloren.« Er beschleunigte auf die Stufen zu und nahm mühelos immer drei auf einmal.

Yuri hechtete ihm nach und fand sich, blinzelnd ob der Helligkeit, genau zwischen zwei Straßen auf einer Mittelinsel wider. Er beschattete die Augen und sah eine kleine Menschengruppe, die aus einem gut gekleideten älteren Herren und mindestens acht Kindern bestand, alle höchstens neun oder zehn Jahre alt. Alle drängten sich verschüchtert aneinander und sahen zu den Ankömmlingen auf wie eine Schar in die Enge getriebener Rehe.

»Wurde ja Zeit, dass Sie kommen«, sagte der Mann leise und versuchte einen finsteren Blick, der nicht ganz gelingen wollte. »Ist die Reinigung vorbei?«

Dante nickte knapp. »Alle okay?«

»Ja. Tut mir Leid, dass Sie kommen mussten. Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht da reinlaufen sollen, aber … Sie wissen ja, wie Jungs so sind.« Die Situation schien ihm unangenehm zu sein, wie jedem Lehrer, der seine Schüler nicht unter Kontrolle hat.

»Man muss eben erst die heiße Herdplatte anpacken, bevor man’s kapiert«, sagte Yuri versöhnlich. Sein Blick glitt über die kindlichen Gesichter, die fragend zu ihnen aufsahen.

Ein blondes Mädchen plapperte zu ihrer Nachbarin: »Mein Papa sagt, die vom Devil May Cry haben nicht alle Tassen im Schrank.« Die Freundin kicherte, und verlegen warf ihnen der Lehrer einen warnenden Blick zu.

Dante sah lustlos auf die Gören hinab. »Ich hab dich gerade gerettet, du kleine Diva«, sagte er müde. »Und das mach ich heute sicher nicht noch mal.«

»Haben Sie einen neuen Kollegen?« Der Lehrer nickte zu Yuri.

»Das ist nur mein Praktikant«, erwiderte Dante, und Yuri stöhnte innerlich auf.

»Ah ja … Na gut, wir wollen Sie nicht aufhalten. Danke, dass Sie so schnell hier waren.«

»Passen Sie auf die Band auf. Man sieht sich.«

Die Parteien kehrten sich voneinander ab, und wieder ergriff Dantes große Hand nachdrücklich Yuris Arm, um ihn herumzudrehen.

»Nicht trödeln, Hyuga. Du weißt, dass wir noch was zu tun haben.«

»Kann man ja schlecht vergessen, so eilig, wie du’s hast.«

Sie gingen zügig eine ruhige Straße hinunter; an einer Hauswand konnte Yuri ein Schild mit der Prägung ›Dane Street‹ erkennen.

»Kanntest du die Leute eben?«

»Den Lehrer ein bisschen, mit dem kann man gut einen trinken gehen. Unterrichtet Erdkunde, glaub ich.«

»Warst wohl nicht besonders gut in dem Fach, wenn du China nicht von Japan unterscheiden kannst«, stichelte Yuri.

»Hey.« Dante schnalzte mit der Zunge. »Du nimmst mir den Würger immer noch übel, oder?«

»Worauf du dich verlassen kannst. Diese Rechnung begleichen wir noch.« Doch entgegen dieser Ankündigung war Yuri den ganzen Rückweg über vor allem stolz, dass er sich vor Dante bewiesen hatte.

Intermezzo I: 6-2

6-2: JIN
 

Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, war Jin mit langsamen Schritten zum Sofa zurückgekehrt und hatte sich schwerfällig darauf fallen lassen.

Minutenlang saß er dort und starrte auf die holzvertäfelte Wand. Seine Finger waren eiskalt geworden, so lange hatte er sie nicht bewegt.

Warum hatte Devil Angst vor Dante? Devil hatte vor nichts Angst. Und im direkten Kampf, den sie in der Kirche ausgetragen hatten, war der Dämon voll in seinem Element gewesen.

Jin starrte auf seine Fingerknöchel; um ihn verschwammen die Konturen des Raumes. Devil hatte also nur Angst vor Dante, solange er Jins Körper nicht voll übernommen hatte, und auch nur dann, wenn Dante ihm direkt in die Augen sah. Auf diese Art hatte Dante es bereits zweimal geschafft, Devil an einem Übergriff zu hindern – etwas, das zuvor einzig die warme Erinnerung ans Jins Mutter hatte bewirken können. Auffälligerweise war es auf eine völlig andere Art geschehen, eine Art, die Jin früher nie für möglich gehalten hätte: Devil respektierte Dante als überlegen. Aber nur dann, wenn … er einen bestimmten Teil von ihm sehen konnte.

Ein kurzes Schaudern ließ Jins Schultern erbeben, als er sich an den Moment erinnerte, in dem Dante ihn mit dem Rücken gegen die Wand gedrückt und Devil nieder gestarrt hatte. Er selbst hatte nur Dante gesehen … Aber Devil hatte etwas anderes gesehen.
 

Nach langen Minuten der Starre erhob er sich abrupt. Sein träges Blut sackte nach unten, und er griff fahrig nach der Wand. Neben seiner Halt suchenden Hand hing, auf einen langen Nagel gespießt, der Zettel, den Jin und Yuri mit ihren Namen beschriftet hatten. Erst jetzt sah Jin das Loch genauer; keine krümelige, herausbröckelnde Bausubstanz umgab es, kein Staub, die Ränder waren ganz glatt. Die Wand war massiv, vielleicht Beton oder sogar Stein. Dante hätte einen Schlagbohrer gebraucht, um den Nagel hineinzutreiben. Doch er hatte ihn mit der Faust eingeschlagen. Wie in Styropor.

Die Wände sind hier aus Papier, weißt du.

Lüge. Dante war nicht, was er zu sein vorgab, und Jin hatte es viel zu lange übersehen. Er fragte sich, ob Yuri Verdacht geschöpft hatte – wohl kaum, der hatte ganz andere Probleme. Was auch immer ihm widerfahren war, er konnte ganz offensichtlich nirgendwo hingehen, und die greifbare Sicherheit von Dantes Behausung war ihm mehr wert als alle Zugeständnisse, die Jin ihm anbieten könnte. Nein, Yuri war in einer Situation, in der er sich nicht gegen Dante, ihren Entführer, auflehnen würde.

Rastlos durchquerte Jin zweimal den Raum wie ein Tiger im Käfig. Oh, er war in einem Käfig, und er konnte nicht länger hierzubleiben. Alles in ihm sträubte sich dagegen, einfach zu gehorchen, und das war nicht nur sein teuflisches Alter Ego. Lieber hätte er gerade dieses elendig beengende Büro verwüstet. Ein Gutteil davon hatte Dante zwar schon selbst erledigt – jedenfalls lag ein nicht unwesentlicher Teil des Hausrats sowieso auf dem Boden verteilt –, doch Devils Zerstörungskraft hätte das Refugium des Dämonenjägers ebenso mühelos und schnell dem Erdboden gleichgemacht wie die kleine, windschiefe Kirche.

Jin hielt an dem mit leicht zerkratzten Glastüren versperrten Bücherschrank an und riss ihn auf. Wer war Dante und was war er? Irgendetwas musste ihn doch verraten, musste Auskunft über ihn geben. Seine Bücher waren zum Großteil alt und abgegriffen. Nicht alle Rücken, in Leder oder Leinen gebunden und häufig ausgefranst, waren überhaupt beschriftet oder geprägt. Offenbar fand Dante alte Bücher einfach dekorativ, denn die meisten von ihnen konnte er wohl kaum gelesen haben: Jin erblickte eine zweisprachige Ausgabe von Beowulf in Original und Übersetzung, und auch ein Werk über mittelalterliche Waffenkünste befand sich unter den Folianten, Fior Di Battaglia von Fiore Die Liberi, auf Italienisch. Zwischen diesem und Shakespeares Hamlet klaffte eine auffällige Lücke. Etwas fehlte dort.

Jin drehte den Kopf; sein Blick wanderte zu dem aufgeschlagenen Henochkodex auf Dantes Schreibtisch. Zu groß für das Regal. Ein uralter Druck, vielleicht achtzehntes Jahrhundert. Jin trat näher heran und beäugte die sonderbaren Glyphen, in denen der Text abgefasst war. Auf einen Zettel, der quer über dem Buch lag, hatte Dante seine Übersetzungen gekritzelt, unzusammenhängende Textfetzen; einige Wörter waren durchgestrichen.
 

Oben links:

Die ganze Erde wurde durch die Arbeit Werke und der die Lehren Azazels zerstört verdorben. Schreibt/weist ihm alle Sünden/Verfehlungen/… zu.

Blablabla
 

Jin furchte die Stirn. Wenn Dante etwas über Azazel herausfinden wollte, indem er dieses Buch durcharbeitete, so würde das eine Aufgabe für Jahrzehnte werden. Mochte er sich auch mutig an das Aramäische herangewagt haben, das war keine Sprache für zwischendurch.

Aber für ihn war das nicht mehr wichtig. Dante löste seinen Teil des Deals nicht ein, also würde Jin ihm nicht länger gefügig zur Seite stehen.

Er griff nach seinem Mantel und wandte sich brüsk nach der Tür um. Sie aus den Angeln zu befördern würde auch für ihn eine der leichtesten Übung ein.

Doch kaum hatte er die Tür ins Visier genommen, meldete sich – wie um ihn aufzuhalten – das Telefon.

Jin schnaubte. Ich soll also das Telefon bewachen? Bitte, ich bewache dein Telefon. Weshalb musste ausgerechnet Dante die einzige Möglichkeit sein, Devil unter Kontrolle zu halten?

Lustlos nahm er ab. Es war mindestens ein Jahrzehnt her, dass er einen Hörer mit Kabel in der Hand gehalten hatte. »Devil May Cry«, sagte er. Zum Teufel mit seiner schlechten Aussprache, Dantes Kunden waren ihm ziemlich egal.

»Guten Tag, Jin Kazama.«

Jin erstarrte. Wie in einem schlechten Horrorfilm hallte sein eigener Name in seinem Gehörgang nach. Ungelenk trat er rückwärts zu Dantes Bürostuhl und ließ sich darauf sinken. »Sie sind es«, stellte er tonlos fest.

»Ja, ich bin es. Du erinnerst dich an unsere Begegnung in der Kirche.«

Und wie. Augenblicklich hatte Jin das hohe Pfeifen der Peitsche im Ohr, die über ihm durch die Luft pflügte, spürte den beißenden Schmerz in der Seite, den er für einen Faustschlag gehalten und der sich als Messerstich entpuppt hatte. Die alte Wunde zwickte unter ihrem Verband. Devil grollte in seinem Inneren.

»Ich sollte nicht mit Ihnen reden.«

»Doch, solltest du. Hat sich das, was ich über Dante gesagt habe, denn nicht bestätigt?«

»Es hat sich vor allem bestätigt, was er über Sie gesagt hat. Ich könnte tot sein.«

»Nein«, sagte Sarris milde, »ein so lausiger Kämpfer bin ich nicht. Dich töten wollte ich nie, das musst du mir glauben. Es war unbedingt nötig, dass ich deinen Dämon sehe, und du hättest ihn mir nie aus freien Stücken gezeigt.« Seine Stimme klang nun wieder so weich und versöhnlich wie bei ihrer ersten Begegnung, die Stimme eines besorgten, väterlichen Freundes. »Wenn du mir sonst nichts glaubst, dann wenigstens das. Ich wollte dir helfen. Ich will es immer noch.«

Jin atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Es war schwierig, zu Dante zu halten, seit er keinerlei Sympathie mehr für ihn empfand. Dennoch setzten sich die Teile des Puzzles langsam zusammen. »Sie wussten, dass ich hier sein würde. Sie haben Dante weggelockt.«

»Ja, allerdings«, bestätigte der Andere ohne zu zögern. »Keine Sorge, es ist nichts, womit er nicht spielend fertig wird. Ich wollte, dass du siehst, dass ich Recht habe.« Er machte eine Pause; Jin hörte ihn ruhig atmen. »Mir war klar, dass Dante dich nicht mitnehmen würde. Er nimmt dich nicht für voll. Du bist es, mit dem ich reden will. Ich schulde dir eine Erklärung. Ich habe in diesem Moment keinen anderen Weg gesehen. Auch ich habe … Probleme, falls Dante dir das gesagt hat.«

»Das hat er.« Jin drehte die Worte des anderen Mannes im Kopf hin und her. Die Frustration angesichts des Zwangs, sich für eine Seite entscheiden zu müssen und beide zu verabscheuen, nagte an ihm. »Ich sollte nicht mit Ihnen sprechen«, sagte er und horchte darauf, ob Sarris wieder ebenso schnell die Beherrschung verlieren würde wie in der Kapelle.

»Du hättest aber Grund dazu.« Er klang entspannt. Nicht wie jemand, der unter Druck stand.

»Sie tun Dinge, die ich niemals gutheißen kann.«

»Hat Dante dir gesagt, warum ich diese Dinge tue?«

»Er sagte, Sie hätten etwas verloren, das Ihnen wichtig war«, antwortete Jin gemäß der Wahrheit.

»Etwas?« Nun schnaubte Sarris laut in den Hörer, seine Verärgerung war spürbar. »Dieses Etwas war Selina, meine fünfjährige Tochter! Er hat aus ihr ein Etwas gemacht?«

Jin war innerlich zusammengezuckt. »Ich glaube, er wollte mir nur nicht alles sagen.«

»Und das Gefühl kennst du, oder nicht? Du bist seit dem Tod deiner Mutter nur belogen worden.«

Jäh von Wut ergriffen packte Jin einen der Zettel und knüllte ihn in der Faust zusammen. »Schluss jetzt! Was wissen Sie sonst noch über mich?«

»Bitte, beruhige dich«, sagte Sarris sanft. »Ich gebe es zu, ich weiß einiges über dich. Ich habe nachgeforscht, seit wir uns in der Paulus-Kapelle begegnet sind.«

»Warum?« Jin wusste selbst, dass er empfindlich darauf reagierte, ausspioniert zu werden. Von Fremden damit überrascht zu werden, dass sie mehr über ihn wussten als er über sie, hasste er ganz besonders, seit sein Großvater ihn schamlos ausgenutzt und als Lockvogel für etwas missbraucht hatte, das Jin beinahe umgebracht hätte.

»Weil wir einander brauchen.« Der besänftigende Ton strich mit zarten Fingern über seinen Missmut.

»Woher haben Sie die Informationen? Von einer geheimen Verbindung?«

Er ahnte das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes, das in seiner Stimme mitschwang. »Hm. Ich merke, auch Dante war nicht untätig, hat seine Nase in gewisse Dinge gesteckt. Ganz egal bin ich ihm wohl doch nicht. Ich hoffe, der Verlust seiner Freundin bereitet ihm ordentlich Kopfschmerzen.«

Jin hatte beinahe vergessen, dass Trish sich in der Gewalt dieses Mannes befand. Heftig fuhr er auf: »Was haben Sie ihr getan? Sie hat nichts mit Ihrer Feindschaft zu tun.«

Sarris rechtfertigte sich sofort. »Ich weiß, dass es nicht mein fairster Zug war, aber es war nötig. Dante hat sich mir keinen Zoll entgegen bewegt. Ich habe Trish kein Haar gekrümmt, das schwöre ich.« Eindringlich fuhr er fort: »Verstehst du denn nicht, Jin? Dante hat dir so vieles nicht gesagt, weil er wusste, dass es dich zum Nachdenken bringen würde – und dazu, sein Verhalten zu hinterfragen. Selina war alles, was ich hatte, alles! Dante war meine einzige Hoffnung, sie zu zurückzuholen … Aber er ließ sie im Stich. Weil er mich für wahnsinnig hält.« Ein ätzendes Gemisch aus Verachtung und tiefer Enttäuschung ließ die Stimme des Mannes beben. »Deshalb habe ich Trish entführt. Um ihn umzustimmen. Damit er hierher kommt. Ich würde ihr nie etwas antun, schließlich weiß ich, wie es sich anfühlt, etwas Geliebtes zu verlieren. Ich wünsche Dante nicht, dass er diese Erfahrung jemals wieder machen muss. Aber eins wollte ich von ihm: dass er zu mir kommt.«

Jin blickte auf das aufgeschlagene Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Er denkt nicht mal daran.« Vielleicht war es ein schwacher Rest von Loyalität, der ihn zu dieser Lüge veranlasste.

»Ich weiß«, sagte Sarris. »Und deshalb spreche ich jetzt mit dir. Weil ich wusste, dass er das, was ich vorhabe, in einem völlig falschen Licht darstellen würde.«

»Sie sagen, er lügt?«

Sarris lachte unglücklich. »Nein, das liegt ihm nicht. Es ist seine Wahrnehmung der Dinge. Jemand wie er sagt, was er denkt, und das deckt sich nun einmal nicht immer mit der Realität.«

»Sie müssen zugeben, es fällt nicht leicht, jemandem zu vertrauen, der einen aus dem Nichts heraus mit einer Waffe angreift«, sagte Jin spröde.

»Ich sagte dir schon, warum das nötig war und dass es mir leid tut. Dank dir habe ich nun die Hoffnung, dass ich Dante gar nicht brauche und ihn und Trish in Ruhe lassen kann. Jin?«

»Was?« Jin fühlte ein unheilvolles Ziehen in der Magengegend.

»Ich bitte dich, zu mir zu kommen. Du bist derjenige, den ich brauche. Wir können uns gegenseitig helfen.«

Genau das hatte er befürchtet. »Wie?«

»Es ist Azazel, der dein Blut verflucht hat. Ich habe es gesehen, als du dich verwandelt hast. Die Hörner, die Augen … Der Dämon in dir ist … seine Saat.«

Was? Jins Mund wurde trocken wie Sandpapier.

»Azazel ist derjenige, dem alle Sünden aufgebürdet werden. Er hat die Fähigkeit, das Böse hinweg zu nehmen – und zu vergeben.«

»Das … würde also bedeuten, er könnte …«

»Ja!«, rief Sarris triumphierend. »Er kann den Teufel von dir nehmen, so wie er ihn dir auch gegeben hat. Das ist alles, was ich möchte. Azazel ist ein Teil des ultimativen Bösen, das die Menschheit bedroht. Mit seiner Hilfe hole ich Selina zurück. Sie hat es nicht verdient, tot zu sein, Jin. Wenn du sie kennen würdest, wüsstest du das.« Schmerz hallte in seiner Stimme nach wie ein dumpfes Echo; ein Nachhall, das Jin selbst nur zu gut kannte. »Und dann, wenn es getan ist, vernichten wir Azazel, du und ich. Denn nur jemand, dem seine Saat aufgebürdet wurde, kann ihn töten. Nicht Dante, der sich für den größten Jäger aller Zeiten hält, sondern du.«

»Ich.« Jin merkte, dass er Zunge zwischen die Zähne geklemmt hatte. Es tat weh, als er die scharfen Kanten aus dem Fleisch löste. »Wenn ich das tun würde«, stellte er fest, »dann würden Sie aufhören, Dante nachzustellen.«

»Sicher. Wir brauchen diesen Dickkopf nicht.«

»Und Sie lassen Trish frei«, sagte er nachdrücklich.

»Aber ja. Deine Fähigkeiten sind mir nützlicher. Und für dich wird Azazel das, was er deinen Ahnen angetan hat, rückgängig machen und deinen Körper von allem Teuflischen reinigen. Dante kann das nicht. Er kann dir nicht helfen, das weiß er, aber er hat nicht die Courage, es dir zu sagen. Azazel ist der Einzige, der dich befreien und Selina zurückbringen kann.«

Es musste die Wahrheit sein. Jin spürte in Sarris’ Schilderungen dieselbe intrinsische Folgerichtigkeit wie in einer der langen Gleichungen, die er in der Schule im Akkord hatte lösen müssen. Eins führte zum anderen wie die tiefsten Grundsätze des Universums.

»Wie komme ich zum Schacht?« Er meinte nicht das Wie, denn den Weg kannte er. Er meinte das Womit.

»Es gibt einen kürzeren Weg als deinen«, erklärte Sarris bereitwillig, »und er ist sicherer. Wenn du bereit bist, dann hör mir jetzt gut zu.«
 

Als Jin, nachdem er die Tür etwas behutsamer geöffnet hatte als Yuri, auf die kalte Straße trat, mischten sich in ihm Sorge, Hoffnung und Schuldgefühle. Alle anderen Emotionen fühlten sich an wie eine schlammige Pfütze, zu unattraktiv, um tiefer darin zu wühlen.

Er versuchte, seinen Verrat nicht als das zu sehen, was er war. Er schuldete keinem von ihnen etwas – nicht Dante, nicht Yuri, nicht einmal Aidan Sarris. Keiner dieser Leute hatte bisher etwas Gutes für ihn getan.

Außer, sagte eine leise Stimme in ihm, dass Sarris dich verwundet und Dante dich gepflegt hat.

Aber Dante hat mich eingesperrt, grollte er seine innere Stimme an. Ich werde dafür sorgen, dass Trish freikommt, aber was ansonsten mit ihm passiert, ist unwichtig. Ich habe zu viele eigene Probleme, um mich auch noch um andere zu kümmern, und ich werde niemanden mehr in die Sache hineinziehen.

Das gleiche hatte wahrscheinlich auch Dante gedacht, als Jin zu ihm gekommen war, um ihm Devil als neues Problem aufzubürden.

Er seufzte und ging los. Seine Finger in den Manteltaschen wurden bereits klamm.
 

Das Display seines Handys warf dünnes, bläuliches Licht ins Dunkel des Tunnels. Ein kleiner roter Pfeil blinkte, während das Gerät unnötigerweise die Route neu berechnete.

»Folge dem Gang bis ganz zum Ende«, wies ihn Sarris’ Stimme aus dem Handy an. »Keine Angst, Dante wird dir nicht begegnen, ich habe ihn in die andere Richtung gelockt. Geh bis zu der mechanischen Tür. Dahinter ist ein Förderband. Die Anlage kennst du. Mishima Corp. hat daran mitgebaut. Vor Gerüchten über Spuk fürchtest du dich doch nicht, oder?«

Noch konnte Jin nicht hinaussehen über die weißliche Korona, die ihn und sein Telefon umgab. Ein stetes Tropfen erfüllte die Dunkelheit, sonst war alles still. Reglos wie in einem nassen Grab.

Am Ende des feuchten Ganges tauchte sie schließlich auf, die Automatiktür; sie stand einen Spaltbreit offen stand wie ein vertikales Maul. Ein Tier aus Metall, das verendet auf der Seite lag. Dahinter erstreckte sich eine lange, dämmrig beleuchtete Halle, durchzogen von stillstehenden Fließbändern. Diese durchliefen in enger Reihe verschiedene Stationen, die das geförderte Gestein allen möglichen Zersetzungs- und Bearbeitungsprozessen zuführen sollten, ehe sie das Resultat weitertransportierten. Natürlich rührte sich jetzt nichts, alles war still.

Jin betrachtete die Fertigungsstraße mit Unbehagen. Was hatte Sarris an einem Ort wie diesem mit ihm vor?

»Ich hatte genug Zeit, hier technische Anpassungen vorzunehmen. Es geht ganz einfach weiter: Steig auf das Band links von dir, dann gelangst du schnell und bequem zu uns.«

Jin zögerte einen Moment, doch dann gehorchte er. Er war nicht überrascht, als das schwarze, staubbedeckte Förderband sich unter seinem Gewicht ruckelnd in Bewegung setzte. Vor Anspannung kräftig ausatmend sank er in die Knie, starrte zu den engen Wänden, auf denen jahrzehntealter Dreck und Rost an ihm vorüber zogen. Fast geräuschlos trugen die Rollkörper unter dem Laufband ihn voran.

Um ihn herum wurde es wärmer und stickiger. Es fühlte sich an, als reiste er in einen verfaulenden Kadaver hinein, aufgeheizt vom Sonnenschein, der die Zersetzungsprozesse in seinem Inneren zum Gären brachte. Staub flirrte in der Luft. Das Licht des Handys wurde von so vielen winzigen Flocken zurückgeworfen, dass alles in Jins Nähe undurchsichtig wirkte, als hätte er sich in einem Vorhang verfangen. Das Atmen fühlte sich unangenehm an, wie das Aufsaugen und Ausstoßen eines zähen, feuchten Tuches. Dennoch verlor er nicht die Nerven; was auch immer jetzt kam, er musste es hinter sich bringen. Es gab keinen anderen Weg mehr.

Das Fließband nahm eine Kurve und überschnitt sich in naher Ferne mit einem zweiten, das von rechts kam und nach links verschwand.

»Nimm die Abzweigung.« Jin zuckte kaum merklich zusammen, als die sonore Stimme des Mannes hoch über ihm durch den Tunnel hallte. Das Echo schluckte den Lautsprecher seines Telefons, und er schaltete es aus. Da Sarris offenbar ein in die Anlage integriertes Kommunikationssystem nutzte, brauchte er kein anderes Hilfsmittel mehr.

Mit einem weichen Satz wechselte er an der Kreuzung auf das abführende Band. Die rötliche Beleuchtung wurde noch schlechter, aber die Luft kühler und frischer. Ein würziger Geruch, den er nicht klar einordnen konnte, stach seine Nase. Auch die gespenstische Stille war gewichen: Dieses zweite Fließband knirschte hörbar, als seien mit der Zeit Sand und Staub in die Rollwerke geraten, und dieses lebendige Geräusch war sonderbar beruhigend. Jin war achtsam und gefasst, als ihn das Band in einen Abschnitt völliger Finsternis trug. Er hörte das Quietschen einer aufschwingenden Metallklappe, dann wurde es kurzzeitig trocken und warm wie in einem Ofen – ein Gebläse, vermutete er, das bei der Förderung ehemals irgendeine Reinigungsaufgabe übernommen hatte –, und dem folgte ein Aufblitzen blendender Helligkeit, das ihn die Augen zukneifen ließ, ehe unter ihm die Anlage ratternd zum Stillstand kam.

»Willkommen in meinem Reich.«

Jin schlug die Augen auf.

Er kauerte vor dem Ende des Förderbandes, das einen halben Meter über rohem Betonboden in der Luft hing. Blinzelnd vertrieb er die flackernden Lichtfunken und klärte seinen Blick. Vor ihm stand Aidan Sarris – derselbe Mann, dieselbe Erscheinung bietend wie zuvor in der Kapelle. Sein Gesicht war rosig und voller Aufmerksamkeit.

»Sieht aus, als hättest du die Reise gut überstanden. Willkommen.« Er machte eine Geste über den ganzen Raum, der groß und hoch war, vermutlich eine alte Lagerhalle. Das Licht war blass und seltsam dünn, sodass sein Schein nicht in alle Winkel drang; die Wände waren hellgrauer Rohbeton und starrten von den Spuren langjähriger Desolation. Die Halle war völlig leer bis auf zwei breite wie hohe Metallregale zur linken Wand. Eine Tür befand sich genau gegenüber, klein und unscheinbar aussehend im schummrigen Halbdunkel.

Vorsichtig erhob Jin sich aus der Hocke und trat von dem Fließband auf den sandigen, unversiegelten Fußboden. »Wo ist Trish?«, verlangte er zu wissen. So tief seine Sehnsucht nach Freiheit von Devil auch saß, er war nicht ohne eine Mission hierher gekommen.

Sarris war nicht überrascht. Er nickte in Richtung der kleinen Tür. »Komm und überzeug dich. Wir wollen keine Zeit verlieren.«
 

Der angrenzende Raum war viel kleiner und lag in rötlichem Schein. Jin erkannte ihn ob des ständigen leisen Summens arbeitender Technik und der Tatsache, dass er mit Apparaturen vollgestopft war, als Kontrollraum. Geräte, deren Namen er nicht kannte, drängten sich an die Wände, metallene Tische und Sideboards waren bestellt mit Kisten, geöffnet oder noch versiegelt, die wohl Warengut welcher Art auch immer enthielten.

»Was für Maschinen sind das?«, fragte Jin. Ihm war inzwischen unangenehm warm geworden unter seinem Mantel.

»Im Moment nur die Luftaufbereiter«, erwiderte sein seltsamer Gastgeber und wies zur kurzen Wand zwischen den Tischreihen, die ein weitläufiges Schaltpanel mit Hebeln und Knöpfen aufwies. »Die funktionieren noch, und nur deshalb können wir hier sein, so tief unter der Erde. Würde ich sie abstellen, wären wir innerhalb einer Stunde tot.«

»Erzählst du ihm das, damit er doch noch rechtzeitig wegläuft?«

Jin fuhr herum. Die spöttische Frauenstimme war von rechts neben ihm gekommen. Auf einem der Tische erhob sich ein ausladender Sortierer, und unmittelbar dahinter war die Wand frei von Stapelgut. In sie eingelassen waren mehrere gusseiserne Ringe, durch die vermutlich Zugschnüre laufen sollten, doch Sarris hatte eine Kette durch sie gezogen. Aus welchem Material sie war, konnte Jin nicht sagen – Holz, möglicherweise. Die einzelnen Glieder sahen aus, als wären sie voller Kerben – oder Runen. Sie führten straff zu den Hand- und Fußgelenken einer Frau. Jin starrte sie sekundenlang an: Ihre Haut war makellos wie Porzellan, das Haar hüftlang und weizenblond; Augen von stechendem Blau durchbohrten die staubige Luft zwischen ihnen, ungehalten und provokant.

»Ich sehe, du hast nichts Brauchbares beizusteuern, Trish«, verwies Sarris sie seufzend.

Jin sah Trish weiterhin an wie ein kleiner Junge den gähnenden Eingang einer finsteren Höhle. Sie war von überirdischer Schönheit, dämonisch und gefährlich, doch das, was er von ihrer Aura empfing, war ein einziger Strudel widersprüchlicher Gefühle, die an ihm sogen und ihn gleichfalls abstießen. Sie war wie ein gefangenes Wildtier, und ihre sprühenden Augen kaschierten die Besorgnis und Konfusion in ihrem wild klopfenden Herzen.

Jin wandte sich an Sarris »Lass sie gehen. So war der Deal.«

»Was für ein Deal?«, verlangte Trish sofort zu wissen. »Hey, hast du wirklich aus Verzweiflung den Sohn von irgend so einem Bonzen entführt, um Dante unter Druck zu setzen?«

»Ach, Unsinn. Keine Entführung setzt Dante so sehr unter Druck wie deine, und das genügt ja auch nicht.« Sarris hob ratlos die Schultern und wandte sich Jin zu. »Ich halte meine Versprechen, keine Sorge. Trish kann hier rausspazieren, sobald wir alles vorbereitet haben, einverstanden?«

»Sie trauen mir nicht«, stellte Jin fest. Es überraschte ihn nicht wirklich.

Sarris blickte verlegen drein. »Ich kann nicht aus meiner Haut. Vergib einem Mann, den die Erfahrung nur Misstrauen gelehrt hat.« Mit traurigem Lächeln nickte er wieder zu Trish, deren Flanken sich unter dem knappen schwarzen Ledertop vor unterdrücktem Zorn heftig hoben und senkten. Sie war schon seit Tagen hier, wie Jin sich erinnerte, und konnte ihre Chancen auf eine Fluchtgelegenheit vermutlich realistisch einschätzen. Dieser Angelegenheit hier traute sie ebenfalls kein Stück. Nur Jin wusste, dass Dante, sobald er seiner Verpflichtungen ledig wurde, sofort hierherkommen und sich einen Weg ins Innere schlagen würde, ungeachtet Sarris’ besorgniserregender Fähigkeit, ihm niedere Dämonen in den Weg zu werfen.

»Ich habe alles hier, was ich für die Invocatio von Azazel brauche.« Sarris sah Jin fest an, abwartend. Es war spürbar, dass er nicht mehr warten wollte.

Jin spürte den ersten Stachel der Angst. Das Blut pulste hoch in seinen Hals. Mit trockenem Mund sagte er: »Sie müssen … mich anketten.«

Sarris nickte. »Sicher, ich weiß.«
 

Die Stressreaktion kam wie erwartet. Sie begann mit immer schnellerem Herzklopfen und dem Ausbruch von kaltem Schweiß. Jin versuchte seine Angst zu unterdrücken, wie er es gelernt hatte; doch diese Angst war nicht rational, doch sehr begründet. Wann immer Heihachi oder Kazuya Devil aus Jin herausgequält hatten, um sich vergeblich an der Unterwerfung des Monsters zu versuchen, war Jins eigene Sicherheit dabei nicht von Interesse gewesen. Fixiert an sämtlichen Gliedmaßen und mit starken Drogen fast besinnungslos gemacht, hatte er die Tortur ein ums andere Mal ertragen, während sein Körper sich in den schweren Ketten aufbäumte und sich in seinem Toben beinahe die Gelenke ausrenkte.

Es war das erste Mal, dass er sich freiwillig in diese alptraumhaften Situation begab. Sich seiner größten Verletzlichkeit auslieferte. Unter kaum beherrschbarem Zittern zog er den Mantel und das Hemd aus und stellte sich an die Wand, ließ zu, dass kaltes Metall sich ihm um Schultern, Brust und Bauch legte. Er wusste, wie nötig diese Ketten waren. Er kannte seine eigene Kraft, und er kannte Devil.

Seine geistige Abwehr gegen die Hilflosigkeit, in die er sich begab, steigerte sich fast zu einer Panikattacke. Er bekämpfte sie; kontrollierte seinen Atem und die Spannung seiner Muskeln mit aller Macht, bis er langsam die Beherrschung zurückgewann. Das war etwas, das er inzwischen konnte: sich selbst besiegen. Binnen Minuten hatte er erreicht, dass sein Körper nach außen hin wieder ruhig und kontrolliert wirkte. Der Orkan im Inneren schlug gegen die Wände, drang aber nicht hinaus.

Trish, wenige Meter neben Jin an der Wand, beäugte ihn mit einem Ausdruck ungläubiger Verachtung, aber auch Mitleid. »Warum hörst du bloß auf ihn?«, zischte sie ihm zu. »Er benutzt dich!«

»Daran bin ich gewöhnt.« Jin sah zu, wie Sarris seine Utensilien heranschaffte, deren Anblick ihm größtes Unbehagen bereitete. Eine schwarze Kerze, ein silberner Kelch und eine alt aussehende Flasche roten Weins machten den Anfang, dann zog der Mann eine staubige Decke beiseite, unter welcher ein glänzender Dolch und ein blicklos starrender Ziegenschädel zum Vorschein kamen.

Es wird nichts passieren, sagte Jin sich eindringlich. Bald ist es vorüber. Ich werde das hier überstehen, und alles wird wie früher.

Sein Herz schlug wie ein Presslufthammer. Es half nichts, sich mit lächerlichen Mantras zu beruhigen. Er war hilflos, wie schon so viele Male zuvor. Wenn sein Vertrauen ein weiteres Mal missbraucht wurde, dann – das wusste er – würde er es nie, nie wieder jemandem schenken können.

»Jin, sieh mich an«, verlangte Sarris, der seine Furcht dankenswerter Weise nicht ignorierte. »Alles wird gutgehen. Vertrau mir. Ich werde Azazels Saat in dir wecken, und du wirst sein Medium sein. Er wird erscheinen und dich reinigen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, um mit der Beschwörung zu beginnen.

Schon zischte eine Flamme, und aus der Schale in seiner Hand begann Rauch zu steigen. Der Geruch brennender Kräuter stach Jin in die Nase. Sarris hielt ihm das Gemisch unter das Gesicht, fächelte die schwarzen Rauchfäden mit beinahe liebevollen Handbewegungen in Jins Atemwege. Jin spürte, wie Trägheit in seine Glieder kroch, als wären es die beißenden Dämpfe selbst, die seine Adern erfüllten. Langsam verschwammen die Konturen der Umgebung, wurden seine Lider seltsam schwer und sein Kopf leicht; die Angst strömte aus ihm heraus, und er konnte seinen quälend langsamen Atem in der Luft sehen – erst selbst Rauch, dann Feuersäulen, sprühendes Licht, das den hageren Mann, der da vor ihm stand, immer wieder einhüllte und ihn doch nicht verschlang. Schleppend sank Jin nieder, seiner Kräfte beraubt, so allmählich, dass er es kaum bemerkte. Nur die Ketten hielten ihn noch aufrecht, während in seinem Geist ein tiefer werdendes, dumpfes Nichts sich wabernd ausbreitete und ihn langsam ganz und gar zu erfüllen begann.

Kaum noch bei Bewusstsein sah er durch fast geschlossene Augen, wie Sarris mit dem Dolch seinen linken Zeigefinger ritzte und das Blut auf die Stirnfläche des Ziegenschädels strich. Seine Stimme erhob sich in steil anschwellendem, tragendem Singsang: »Ich rufe nach dem Meister und erwecke die Kraft, die in der Dunkelheit schlummert …«

Neues Licht drang in Jins Sichtfeld. Unscharf sah er die blakende Kerze zwischen den Ziegenhörnern schwanken. Ihre Flamme bewegte sich langsam wie durch Sirup, verzerrt durch seine eigene gedämpfte Wahrnehmung. Er selbst fühlte nichts mehr. Sein Körper war woanders. Es war so schnell gegangen … Er hatte nicht gekämpft, dieses Mal nicht. So schnell …

»Stolzer Wächter, der du die heilige Blutlinie bewachst, segne diesen Mann mit deiner Präsenz und lass ihn teilhaben an deinem Licht der alles verschlingenden Finsternis!«

Flüssigkeit schwappte in ein Gefäß. In Jins benebeltem Verstand hallte das Geräusch so laut wie ein Wasserfall und verebbte schleppend. Er wollte die Hände auf die Ohren pressen, doch sie waren fixiert. Jeder fallende Tropfen drohte ihm das Trommelfell zu zertrümmern. Er stöhnte in den Ketten und knirschte mit den Zähnen.

»Azazel, segne ihn mit deiner Präsenz, lass deinen Funken seinen Pfad erleuchten und hilf ihm, sein dämonisches Selbst aus dem trügerischen Schlaf des Ichs zu erwecken!«

Etwas Kaltes berührte Jins Lippen. Er zuckte zusammen, konnte aber den Kopf nicht wegdrehen. In ihm war keine Kraft, seine Glieder waren taub; kein Körper mehr. Auf seiner Zunge war plötzlich ein durchdringender Geschmack, wie kaltes Eisen. Scharf. Süß. Wein, der wie Blut schmeckte. Er gab einer plötzlich aufkochenden Gier nach und trank. Schluckte die Flüssigkeit ohne Atempause, bis der Kelch leer war. Danach schloss sich wieder der Mantel der Dunkelheit um ihn.

Sarris’ undeutliche Silhouette sank vor ihm auf die Knie. Seine linke Hand klopfte auf den Boden. Rhythmisch. Immer wieder. Unausgesetzt. Ein sich ständig wiederholender Vers schälte sich aus dem Rauschen und Zischen, das in Jins Kopf nachhallte.

»Ich verbeuge mich vor dem Schatten deiner Hörner und preise dich, der durch den Pakt des Blutes unsere inneren Tore zu den Dunklen Göttern eröffnet hat … Ich verbeuge mich vor dem Schatten deiner Hörner und preise dich, der durch den Pakt des Blutes unsere inneren Tore zu den Dunklen Göttern eröffnet hat … Ich verbeuge mich vor dem Schatten deiner Hörner und preise dich, der durch den Pakt des Blutes unsere inneren Tore zu den Dunklen Göttern eröffnet hat … Ich verbeuge mich vor dem Schatten deiner Hörner und preise dich, der durch den Pakt des Blutes unsere inneren Tore zu den Dunklen Göttern eröffnet hat …«

Der Brei aus Worten verlor jegliche Bedeutung. Noch immer schwappte die Schärfe des Tranks durch Jins ganzen Körper. Er zuckte nicht einmal mehr, als ein warmer, feuchter Finger seine Stirn berührte. Die Luft war zum Schneiden dick, erfüllt vom Geruch nach brennendem Kraut und frischem Blut.

»Ich habe es gewusst.« Sarris’ freudiges Flüstern sickerte durch Jins Bewusstsein. »Du bist ein weit besserer Spender, als Dante es je sein könnte. Du bekämpfst deine teuflischen Kräfte, anstatt sie als Teil von dir zu nutzen. Jin, dein Blut ist nicht verseucht! Es ist heilig!«

Trish neben ihm zerrte an ihren Ketten. Sie schepperten und lärmten wie einstürzende Gebäude, ein schreckliches Getöse rund um Jin her, sodass er nur noch wünschte, es möge enden. Selbst die Geräusche seines eigenen Körpers waren nun zu laut; das Blut rauschte wie ein reißender Fluss, sein Herzschlag erschütterte den ganzen Raum.

Devil hasste es. Er knurrte und griff nach der Macht. Glitt an die Oberfläche, plötzlich, mühelos wie eine Schneide durch warme Butter. Warf Jin unter sich zu Boden, als hätte der menschliche Teil von ihm niemals etwas entgegenzusetzen gehabt. Das Feuer seiner Wut brach über Jin zusammen. Hilflos musste er ihm sein Fleisch überlassen.

Intermezzo I: 6-3

6-3: DANTE
 

»Warum starrst du mich eigentlich so blöd von der Seite an, seit wir auf dem Rückweg sind?«, fragte Yuri.

Dante zuckte die Schultern und betrachtete den anderen Mann, der lässig neben ihm her schlenderte und wie eine Wühlmaus aussah. »Ich komm nicht drauf raus«, gab er zu, während sie gemächlich die Straße zum Devil May Cry hinunter trotteten, »dass du mit Teufelswaffen umgehen kannst. Ehrlich, du solltest das nicht können.«

Wie erwartet setzte Yuri sein übliches Grinsen auf, das eine Mischung aus Arroganz, Verschlagenheit und gewöhnlichem Irrsinn spiegelte. »Lässt dir keine Ruhe, huh? Theorien?«

»Du könntest ein gut getarnter Zauberer sein. Ziemlich gut getarnt.«

»Falsch. Bin total unbegabt.«

»Oder ein Dämon.«

»Ach komm, das hatten wir doch schon.«

Dante zuckte wieder die Schultern. »Mehr hab ich nicht.«

»Und du willst ein Experte sein?«, frotzelte Yuri.

»Muss irgendwas ganz Seltenes sein, das mir noch nie begegnet ist.« Dante mochte es nicht, wenn man seine Professionalität anzweifelte.

»Selten, ja, das stimmt sogar.«

»Ich krieg’s schon noch raus.«

»Viel Spaß beim Suchen.«
 

Sie erreichten das Büro. Dicht beim Eingang stand im Nieselregen Dantes Motorrad, das Yuri bei ihrem Aufbruch mit neugieriger Scheu beäugt hatte. Sicher hatte er noch nie ein motorisiertes Zweirad gesehen.

Geistesabwesend hielt Dante dem Anderen die Tür auf. Sollte Yuri doch zuerst in Jins Klauen rennen. Ob der Kerl immer noch sauer war? Nett war es nicht gerade gewesen, ihn hierzulassen. Ursprünglich hatte Dante vorgehabt, Jin alle Freiheiten einzuräumen, wie es der Deal gebot, doch Yuri dabei zu haben war wichtiger gewesen. Erstens wollte Dante ihn noch weniger aus den Augen lassen als Jin, weil der Typ einerseits nicht ganz dicht war und sich andererseits nicht zurecht fand, zweitens kannte Yuri sich mit der Bekämpfung von Teufeln aus, woher auch immer, war bewaffnet und konnte sich verteidigen und barg auch nicht das Risiko, sich plötzlich Hörner und Schwingen wachsen zu lassen und das nächste Gebäude dem Erdboden gleichzumachen.

Yuri war im Türrahmen stehen geblieben und sah sich ratlos im Büro um. »Jin?«, rief er versuchsweise.

Dante schob ihn nach drinnen. »Mach dir nicht ins Hemd.«

»Ich glaub, der ist weg.«

»Wie, weg?« Automatisch hob Dante auf der Türschwelle den Kopf und sah über die Neonschrift hinweg zum Dach hinauf. Im Vordergrund des bewölkten Himmels hätte Jins Gestalt sich sichtbar abzeichnen müssen. Wenn sie da gewesen wäre.

»Abgehauen, wie?«

»Deine Tür hält eben nichts aus.«

Es war müßig, das Devil May Cry auf den Kopf zu stellen. Nicht nur Jin war weg, sondern auch alles, was er bei sich gehabt hatte.

»So eine Kacke. Hab gerade angefangen, ihn zu mögen«, ließ Yuri mürrisch verlauten und warf eins der Sofakissen gegen die Wand.

Dante musste sich eingestehen, dass er etwas perplex war. Natürlich war ihm klar gewesen, dass eine abgeschlossene Tür Jin, wenn er wirklich gehen wollte, genauso wenig davon abhalten konnte wie ihn selbst oder Yuri; gleichwohl hatte er fest an Jins Vernunft geglaubt und nicht wirklich damit gerechnet, die Wohnung leer vorzufinden. Schließlich hatte er sich um Jin gekümmert, ihm seine Hilfe zugesichert. Nun war er ratlos.

»Hey, Dante.« Yuri stach ihm einen Finger in die Seite.

»Was?«

»Der Kasten an deinem Telefon. Das rote Licht blinkt.«

Natürlich, er hatte das Aufzeichnungsgerät ständig in Betrieb, um sämtliche Drohanrufe aufzubewahren – gegebenenfalls für die Cops, sollten sie doch noch jemals ihre Ärsche hochkriegen. »Dann hören wir uns doch mal an, was Herr Kronprinz zuletzt für Gespräche geführt hat.«

Yuri sah ihm fasziniert zu, wie er die Kiste zu sich heranzog. »Das ist also auch auf dem Band?«

»Eigentlich sollen Leute, die mich anrufen, wenn ich nicht da bin, einfach sagen, was sie wollen. Aber seit Trish weg ist, zeichne ich alle Anrufe auf, weil – … du weißt schon, falls später irgendwas davon nützlich wird.« Dante drückte die REWARDS-Taste und sah zu, wie das Band auf den Spulen zurücklief.

»Wenn du nicht rangehst, wissen die Leute also trotzdem, dass sie was sagen sollen?«

»Man kann selber eine Nachricht aufnehmen, die den Leuten das sagt. Ich hab aber keine. Nur einen Signalton.« Er hatte keine Lust gehabt, eine Bandansage aufzunehmen. Trish mit ihrer sexy Stimme wäre eindeutig besser dafür geeignet. Hier Devil May Cry, wir sind gerade nicht zu Hause, weil wir ein paar Dämonen in den Arsch treten. Sie können uns aber eine Nachricht hinterlassen, dann rufen wir Sie zurück. Oder auch nicht. Nun, vielleicht ließ Trish sich noch dazu herab, wenn das hier vorbei war.

Das spulende Band stoppte und sprang auf START.
 

›Ernüchternd‹ wäre ein Euphemismus gewesen für das, was sie von dem Band zu hören bekamen. Es war schlicht unbeschreiblich.

Auch Yuri sah beeindruckt aus. Er hockte auf dem Sofa, einen Arm um die angezogenen Knie geschlungen und die Augen voll düsterer Erkenntnis. Keinen einzigen Kommentar hatte er abgegeben, während sie mitangehört hatten, wie Aidan Sarris Jin zu der größten Dummheit anstiftete, die ihm überhaupt zuzutrauen war.

»Dieser Vollidiot«, murmelte Dante. »Wie kann man bloß so naiv sein?« Doch am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Das hier war seine eigene Schuld; Jin war wie ein gefährliches Stück Warengut, auf das er hatte aufpassen sollen. Es zu verlieren geschah ihm recht. »Armer Trottel. Der ist einfach zu behütet aufgewachsen.«

»Im Wald eben.« Yuris Ton war ätzend. »So oft ausgenutzt und weiß es immer noch nicht besser!«

»Wieso vertraut er dem –« Dante wies anklagend auf das Telefon. »– und mir nicht? Womit hab ich sein Misstrauen verdient?«

»Du bist gemein zu ihm?«, schlug Yuri vor.

»Hab ich ihm ein Messer in die Seite gerammt?« Dante schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Jin kennt Schurken besser, als ihm lieb ist, aber er kann nicht denken wie einer.«

»Jedenfalls war das ziemlich daneben von ihm«, befand Yuri mit funkelndem Blick. »Los, holen wir ihn uns. Und Trish. Komm, Alter, keine Aufschübe mehr. Jetzt wird der Laden aufgemischt!«

»Tja, aber wo?« Dante kreuzte die Arme vor der Brust und versuchte sich an die Route zu erinnern, die das Display von Jins Handy ihnen gezeigt hatte. Er hatte eine vage Ahnung, wo es war, mehr nicht. Der lange Highway, der nach Norden aus dem Ort herausführte … Jedenfalls wohnte dort mit Sicherheit niemand. Ein guter Platz für einen geheimen Schrottfriedhof wäre es also schon …

»Also schön«, seufzte er. »Auf zum nächsten Rettungsmanöver.« Wo auch immer Jin war, Trish würde dort auch sein. »Zieh dich warm an, Rotznase. Wir nehmen das Motorrad.«
 

Wie um die düstere Stimmung zu unterstreichen, sanken vereinzelte, unförmige Eisflocken aus dem grauen Himmel und starben auf dem Straßenpflaster langsam dahin. Der scharfe, nach Frost riechende Wind, der zusammen mit der Dämmerung aufgekommen war, gefiel Dante nicht besonders. Gut, dass er sich und Yuri mit einer zusätzlichen Schicht wärmender Kleidung ausgestattet hatte. Neben der schützenden Weste, die er ohnehin bei Außeneinsätzen unter dem Mantel zu tragen pflegte, trug er zum zweiten oder dritten Mal in seinem Leben seinen ledernen Nierengurt. Yuri, der missmutig die Nase hinter der schwarzen Wolle irgendeiner schottischen Schafrasse verschwinden ließ, war bereits mit dem Anblick des Motorrads überfordert.

»Muss ich da wirklich mit rauf?«

»Bessere Idee?«

»Kann ich nicht nebenher laufen?«

»Keine Ahnung, wie schnell Motorräder in deiner Zeit sind, aber um die zweihundert Sachen müsstest du schaffen, wenn ich den Highway nehme.«

Yuri seufzte und hob mit wenig Eleganz das rechte Bein über den Sattel, um sich hinter Dante zu setzen. Unschlüssig nahm er die Füße vom Boden hoch.

»Halt dich fest.«

»Wo denn?«

»An mir.« Dante setzte den Fuß auf den Kickstarter, bereit, ihn kräftig zu treten. So antik wie seine Einrichtung war auch sein motorisierter Untersatz, wenngleich Teile davon, besonders die Außenverkleidung, inzwischen durch modernere ersetzt worden waren. Er wartete, bis Yuri vorsichtig wie ein Koala beide Arme um ihn gelegt hatte, dann brachte er durch zwei starke Tritte den Motor auf die richtige Drehzahl und ließ ihn an.

Bim ersten Aufheulen und Erzittern des Gefährts wurde Yuris Griff augenblicklich fester. Als sie auf dem Highway Gas gaben, war er fest wie der einer Würgeschlange.
 

Das alte Motorrad machte einen Höllenlärm. Lady hatte Dante mehrmals dazu ermuntert (was ein Euphemismus für die Art und Weise war, wie Lady Leute zu etwas ermunterte), sich ein fitteres Gefährt zuzulegen, doch Dante wehrte sich dickfellig, nicht nur des Aufwands und der Kosten wegen. Irgendwie mochte er dieses alte Biest, das eine halbe Tonne wog und röhrte wie ein wunder Hirsch.

Dante verließ den Highway in Richtung Eastport City auf eine weniger befestigte Überlandstraße, um schließlich irgendwo im Nirgendwo in den Wald einzubiegen. Der Schneeflockentanz hatte aufgehört, doch der Himmel verdunkelte sich stetig weiter wie ein frischer Bluterguss. Zu beiden Seiten reihten sich dicht bewaldete Hügelketten aneinander, schwarz und trist vor der grauen Kulisse. Vereinzelt zeigten sich am Waldrand im felsigen Untergrund treppenartige Ausformungen, halb unter verwesendem braunem Laub erstickend. Er musste vom Gas gehen; die Reifen des Motorrads griffen tief in den schlammigen Boden, dem erst der Asphalt und schließlich auch der Kies gewichen waren. Weit würden sie mit der Maschine nicht mehr kommen: Der lehmige Boden konnte sich bei dieser Witterung allzu schnell in schwarzen Morast verwandeln.

Dante hielt den Blick auf sein imaginäres Ziel gerichtet. Kurz über dem Horizont brach noch einmal die blasse, sinkende Sonne durch und spiegelte sich für wenige Minuten auf dem dichten Blattteppich. Dann sank der Vorhang. Sie waren etwa eine Stunde lang unterwegs, als der letzte helle Streifen am Himmel verblich. Mit der Dunkelheit kam der Bodennebel; geisterhaft erhob er sich aus dem Unterholz und kroch zäh über den Waldgrund. Mittlerweile waren sie eng umringt von Bäumen, deren dicht stehende Silhouetten nur noch der starke Scheinwerfer des Motorrads durchbrach.

»Und du weißt echt, wohin wir fahren?«, nuschelte Yuri, die Wange an seinem Rücken. Seine Stimme klang angestrengt.

»Ungefähr«, antwortete Dante optimistisch. Er war sich inzwischen ziemlich sicher, dass es keinen anderen Weg gab.

»Wie soll Jin das gefunden haben?«

»Der ist auf direktem Wege seinem Handy nachgewandert, garantiert durch irgendwelche Gässchen und Schächte gekrochen. Wir sind um die Stadt rumgefahren. Aber ich kenne keinen anderen Weg zu der Stelle, von der ich denke, dass sie’s ist.«

»Der Irre schon, sonst hätte er nicht problemlos die U-Bahn-Tunnel mit Monstern geflutet, oder?«, stöhnte Yuri, gab aber sofort Ruhe, als der Motor heiser aufröhrte und noch einmal beschleunigte.

Nur wenige Meter später geschah das, was Dante die ganze Zeit befürchtet hatte: Die Maschine wurde langsamer, obwohl er nicht bremste, schlingerte und schleuderte hoch den Schlamm auf, ehe sie rutschend zum Stehen kam. Beide Räder hatten sich bis fast zur Nabe in den zähen Lehm gegraben.

Dante seufzte. »Okay, Hyuga, runter mit dir. Wir müssen die Kiste stehen lassen.«

»Ah. Gut.«

»Du kannst mich jetzt loslassen.«

»Oh … Okay.«

Yuri klebte an ihm wie ein Seestern. Er schaffte es kaum, die eiserne Umklammerung seiner Arme zu lösen, doch schließlich krabbelte er vorsichtig von dem Motorrad herunter und stand schlotternd im Dunkeln. Dante stellte fest, wie angenehm es doch war, wieder frei atmen zu können.

»Die Art zu reisen nicht so meins, glaub ich.«

»Was du nicht sagst.« Unschlüssig sah Dante sich in der raschelnden Finsternis um, die dort herrschte, wo das grelle Licht nicht hinreichte. Ja, sie waren goldrichtig hier. Die Spuren des Bösen waren nicht zu übersehen. Dämonische Aktivität hatte den Waldboden mit ihren Absonderungen durchtränkt: Abnorm aussehende, rotschleimige Pilzhüte duckten sich in langen Bahnen durch das blasse Gras, das wie das aufgeriebene Fell eines räudigen Tiers aussah; die schwarze Erde, die unter ihnen Tritten leise blubbernd nachgab, verströmte einen süßlich-fauligen Gestank; Nester von weißem Schimmel überwucherten das modernde Laub.

Yuri wirkte nicht im Mindesten überrascht. Er kannte diese Anzeichen. »Was ist das da?«, fragte er und deutete auf eine konturlose schwarze Fläche zwischen den dicht stehenden Bäumen. »Ist das ein See?«

Dante packte den Lenker, um den Scheinwerfer zu drehen. »Du wirst in einem Wald mit Sandgrund niemals einen S–… oh.« Eine spiegelnde Oberfläche warf das Licht zurück. Einzelne Blätter schwammen darauf, und kahle Äste ragten daraus hervor wie die Körperteile Ertrunkener. »… Seltsam.«

Vorsichtig machten sie ein paar Schritte auf das stumme Gewässer zu. Regenwasser hatte sich in einer mit Laub gefüllten Mulde gesammelt, ein fast ovales Becken, etwa fünf Schritt im Durchmesser. Ein kleiner, unförmiger Kadaver trieb in der Brühe; vielleicht ein Eichhörnchen. »Scheint, als wäre da was Festes drunter.«

»Du bist so klug, Alter«, spöttelte Yuri.

Dante ließ sich auf ein Knie sinken. Schwarz lag der unnatürliche Weiher vor ihm, Beweis genug, dass unter der Erde etwas Großes und Schlafendes lag. War das vielleicht … Konnte das sein …?

Yuri zog eine Fingerspitze aus dem Wasser und betrachtete sie. »Es ist schwarz.«

»Rußpartikel. Wir sind da.« Wir haben dich, alter Freund. Gleich klopfen wir bei dir an. Dante sprang auf die Füße. »Los, wir müssen den Eingang finden.«

Ein schwacher Wind kam auf und zauste ihnen Haare und Mäntel. In den Baumkronen begann das kalte, tote Restlaub zu rascheln und zu flüstern. Nebelwolken rollten über den nahen Pfad wie der aufgewirbelte Staub einer Armee, die sich unsichtbar und geräuschlos näherte.

Während Dante noch mit all seinen Sinnen auf das Gefühl drohender Gefahr konzentriert war, erklang Yuris Stimme dumpf aus einer unerwarteten Richtung.

»He, hier drüben! Komm schnell, ich hab den Eingang!«

Intermezzo II: 7-1

7-1: YURI
 

Sein rechter Fuß war schon bis über den Knöchel im Laub versunken, ehe er das Gleichgewicht wiederfand. Vor seinen Knien ragte ein loses Scharnier aus dem Untergrund, das er nun umklammerte, um sich umständlich hochzustemmen und sein Bein aus der schleimigen Erde zu ziehen.

»Sieht nicht aus, als müssten wir da viel freischaufeln«, kommentierte Dante, der nicht auf die Idee kam, Yuri eine Hand zu reichen. »Vielleicht reicht’s, wenn wir einfach nach unten durchschieben.«

Auch auf die Gefahr hin, den unterirdischen Hohlraum zu verschütten, schoben sie mit den Fäusten Blätter, Reisig und Sand geradewegs in die gut versteckte Luke, bis deren Begrenzung in der Dunkelheit sichtbar wurde. Zu erkennen war lediglich, dass sie aus schwerem Metall bestand, frei von Rost, jedoch mit abblätternden Farbresten verunziert, die einst orange oder rot gewesen sein mochten.

Schließlich stieß Yuri seine Faust durch den Wall aus Dreck und fühlte dahinter leere Luft. Dante kniete sich neben ihn und stieß seinen schweren Stiefel durch die Luke; prompt vergrößerte sich das Loch um das Dreifache.

»Ich gehe vor.«

»Mach doch.« Yuri sah zu, wie Dante aus dem Halbdunkel in absolute Finsternis verschwand, zuletzt sein heller Haarschopf, der blass das Mondlicht zurückwarf. Von unten ertönte dumpf das Aufsetzen seiner Füße, und es folgten mehrere stille, ereignislose Minuten, in denen Yuri angestrengt die Luke hinunterstarrte. Bis jäh Dantes Faust aus dem Loch nach ihm griff, seinen Kragen packte und ihn mit einem »Komm schon, Kleiner« zu sich hinunter zog.
 

Unten war die Luft klamm und feucht. Yuri fror augenblicklich. Hier roch es noch unerwartet sauber, nur nach Erde und Metall, nicht nach Moder, Pilzen oder den Kadavern verirrter Wildtiere, die in der Finsternis verrotteten. Dies hatte er eigentlich erwartet.

Sie standen inmitten eines Laubhaufens, und der Rest davon folgte ihnen von oben durch das Loch; einige modrige Blätter schwebten auf sie herab. Es gab keine tastbaren Wände in der Nähe.

»Hast du diesmal an eine Lampe gedacht?«, fragte Yuri hoffnungsvoll. »Du hattest doch dieses kleine Licht, als wir im U-Bahn-Schacht waren.«

»Ich hab’s in der Hand. Funktioniert hier nicht, warum auch immer.«

»Aha. Und wo bitte ist eure Zeit meiner irgendwie voraus?«

»Meinst du nicht, du solltest die Klappe halten, wenn du nichts Hilfreiches beitragen kannst?« Wo Dante stand, raschelte das Laub. »Wir suchen uns erst mal eine Wand. Und dann – … ooh!«

Yuri kniff die Augen zusammen, als schlagartig eine gleißende Helligkeit ausbrach. Alles erstrahlte in flirrendem Weiß, so grell, dass er sekundenlang die Lider nicht öffnen konnte. Blinzelnd versuchte er, seine Sehnerven mit dem unerwarteten Licht vertraut zu machen, und sah plötzlich verschwommen das Innere des niedrigen Raumes, in dem sie standen. Es war eher ein Korridor, mit Wänden aus rohem Beton und zahlreichen einzelnen Lampen an der mit Stockflecken übersäten Decke. Der Boden war mit schmutzigen Matten ausgelegt, Blätter und Flechten bedeckten ihn vor allem dort, wo er und Dante standen.

»Scheint, als wüsste er jetzt, dass wir da sind«, kommentierte der Dämonenjäger.

Über ihren Köpfen ertönte ein blechernes Räuspern. »Ja, das weiß er, und er freut sich nicht über euren späten Besuch.«

»Wo ist Jin?«, fragte Yuri die Decke und reckte das Kinn. Er hatte keine Ahnung, wohin er sehen sollte; Stimmen aus dem Nichts gehörten nicht in seine Zeit, und er fragte sich, ob Sarris sie beobachten konnte.

»Und Trish?«, fügte Dante angriffslustig hinzu. Auch er schien nicht mit diesem Empfang gerechnet zu haben.

»Trish ist unversehrt und darf gehen«, antwortete Sarris ernsthaft. »Das habe ich mit dem jungen Kazama ausgehandelt. Er dagegen ist freiwillig hier. Es gibt keinen Grund, uns Schwierigkeiten zu machen.«

Dante warf Yuri einen Blick zu und machte eine Kopfbewegung in die eine Richtung des Korridors. Wohl eine willkürliche Wahl. Yuri schloss zu ihm auf, und während er Dantes großen Schritten folgte, beobachtete er die grauen Wände und sah dünne Kabel an ihnen entlang laufen. »Warum hier lang?«, raunte er.

»In die Richtung wird’s wärmer«, gab Dante leise zurück, »und ich ahne, dass das irgendwie nicht gut für uns ist. Übrigens …« Seine rechte Hand glitt an seine Seite, eine der Pistolen aus ihrem Holster ziehend. »… hörst du das Kratzen hinter den Wänden?«

»Kakerlaken?« Auch Yuri tastete nach seinen Waffen.

»Etwas größer vielleicht.«

»Bin bereit.«

»Gut. Denk dran, dass wir wieder auf engem Raum sind. Was auch immer du machst …« Dante entsicherte auch die zweite Pistole mit einem Klicken. »… Lass dich nicht in eine Ecke drängen.«
 

Gemäß ihren Erwartungen wurden sie im Halbdunkel des Korridors aus dem Hinterhalt attackiert. Es waren die gleichen brettbeinigen Viecher wie im Metrotunnel, doch es folgten noch zahlreiche andere, und der Kampf wurde sehr schnell sehr dreckig. Yuri hatte jetzt schon keine Lust mehr.

»Wollte der Sack nicht die ganze Zeit, dass du kommst?«

»Sicher«, murrte Dante und warf sein leeres Magazin über die Schulter, um blitzschnell ein neues einzulegen; im nächsten Augenblick feuerte er schon wieder mit beiden Pistolen mitten ins Dunkel, das bei jedem Schuss von Feuerschein durchschnitten wurde. »Aber jetzt hat er Jin. Und Jin hat das, was Sarris von mir wollte. Weißt du, wie mir das vorkommt?«

»Nö.« Yuri wusste, dass Dante trotz aller Ablenkung vor allem ihn beobachtete – ihn und die Nachtvogelklaue, die feinen Klingen zwischen seinen Fingerknöcheln, die mit wildem, bläulichem Feuer durch Fleisch, Holz, Kabel und Metall schlitzten, während Yuri sie um sich schwang wie ein Berserker. Bestimmt fragte Dante sich noch immer, was die Polizisten in der Kirche an seiner Statt gesehen hatten. Yuri wollte es ihm nicht zeigen; noch nicht.

Schon nach kurzer Zeit im Gefecht bemühten sie sich um eine Art Aufgabenverteilung. Sie hatten keine Routine darin, Seite an Seite kämpfen, deshalb funktionierte es auch nicht besonders gut. Einige wenige Manöver gelangen: Entweder versetzte Yuri den Angreifern so harte Schläge, dass sie benommen zu Boden gingen und Dantes Schwert mit einem glatten Streich den Rest erledigte, oder Dante hielt die Monster aus der Distanz unter Schuss, sodass Yuri Gelegenheit für den vernichtenden Hieb bekam. Abgesehen davon jedoch waren sie einander im Weg. Ständig. Doch da keiner von ihnen ohne den Anderen ernsthaft in Gefahr war, hakte Yuri die Sache gedanklich ab. Er hatte schließlich nicht vor, dauerhaft Dantes Teampartner zu werden.

Zuletzt fand er sich Rücken an Rücken mit dem Teufelsjäger wieder, der ohne jede Ermüdung innerhalb der engen Wände eine Kreatur durchsiebte, die aussah, als bestünde sie aus gefrorenem Blut. Unter dem Bleihagel erstarrte ihr Körper mit einem hohen Kreischen zu schwarzem Stein, der, als Dante blitzschnell die Pistolen mit dem Schwertgriff austauschte, beim Hieb der Klinge klirrend zersprang wie Obsidian.

Yuris Blick zuckte routiniert von einer Ecke zur anderen. Die Flut an Dämonen schien verebbt; kein neuerliches Glühen in der Ferne und kein undefinierbares Geräusch, das auf irgendeine Bewegung außer ihren eigenen hindeutete. Seine hart gespannten Muskeln lockerten sich automatisch, sodass die klamme Luft leichter seine Lungen fluten konnte. Hinter sich hörte er auch Dante tief durchatmen und dann seine Waffen sichern. Ein Zeichen dafür, dass die Bedrohung für den Moment vorbei war. Yuri verstaute seine Schlagringe, bereit, sie jederzeit wieder in Gebrauch zu nehmen.

»Der weitere Plan?«, fragte er.

»Ich hab kein gutes Gefühl.« Dante schnaubte. »Es hat zu plötzlich aufgehört. Sarris hofft wohl, er hätte uns lange genug aufgehalten.«

»Du meinst, in der Zwischenzeit hat er sich von Jin geholt, was er will?«

»Ich fürchte ja. Los, weiter. Links.«

»Wieso da?«

»Das ist die Tür, die sie wie verrückt bewacht haben.«

Yuri hatte auf andere Dinge geachtet als darauf, doch er vertraute Dantes Expertise und schlug bereitwillig den Weg in einen besonders schleimig aussehenden Tunnel ein. In diesem Gang war es so still, dass Yuri nicht länger an Dantes Urteil zweifelte. Der Irre schien es nicht mehr für nötig zu befinden, sie aufzuhalten. Kein organisches oder mechanisches Geräusch war mehr zu hören, ausgenommen ein stetiges Tropfen, dessen Ursache sie bald entdeckten: ein Leck über ihren Köpfen, durch das scharf riechende Flüssigkeit eindrang und auf dem Boden ein Rinnsal bildete, das bereits eine tiefe Furche in den Metallboden gefressen hatte.

»Batteriesäure«, erklärte Dante. »Pass auf, das Zeug gräbt sich durch Leder.«

Yuri duckte sich unter dem Leck hindurch.

Sie passierten mehrere Verarbeitungsräume, durchlaufen von ruhenden, pilzüberwucherten Fließbändern, und schmale Tunnel, in denen über ihren Köpfen schwere Greifhaken in der Dunkelheit hingen, schwach pendelnd in einem Luftzug, der nicht fühlbar war. Yuri wusste nicht, ob er es sich einbildete, aber hin und wieder glaubte er … es musste einfach so sein … dass sich hinter ihren Rücken Geräteteile kurzzeitig wie von selbst bewegten. Immer wieder blieb er wie angewurzelt stehen, eine Gänsehaut auf den Armen. Dante nahm keine Notiz davon, und wann immer Yuri herumfuhr, war tatsächlich nichts zu sehen. Nichts. Machte er sich schon selbst verrückt? Schließlich konnte er Spuk auf den Tod nicht ausstehen.
 

Endlich. Der schmale Gang, den sie in ganzer Länge durchschritten und in dessen Seiten etliche Luftschlitze angebracht waren, in denen schwarze Schimmelnester saßen, endete. Yuri konnte hinten bereits eine schwere und große Eisentür erkennen, einen hermetischen Durchgang wie zu einem Luftschutzbunker.

»Frag mich, was dahinter ist.«

»Ein Kontrollraum vielleicht«, mutmaßte Dante.

Plötzlich war der Boden nass. Abstoßende Geräusche begleiteten jeden Schritt.

»Es wird immer besser«, murrte Yuri. Was er meinte, war: Ich will nach Hause ins Bett.

»Ich bin gespannt, ob wir ihn überraschen. Dass er uns nichts mehr in den Weg wirft, ist entweder ein verdammt gutes oder ein verdammt schlechtes Zeichen.«

Vor der schweren Tür hielten sie an. Yuri legte den Kopf in den Nacken; die Tür war doppelt so hoch wie er selbst. »Kriegen wir die kaputt?«, fragte er ohne große Hoffnung.

»Nie«, war Dantes ernüchternde Antwort. »Aber …« Seine Hand griff nach etwas, das Yuri nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Metall knirschte. »… vielleicht macht ja dieser Hebel hier noch seinen Job …« Augenblicklich wurde, ohne großen Widerstand, der vertikale Spalt vor ihnen breiter. So? Versperrt oder gesichert war hier offenbar gar nichts. Ein wenig Gewalt genügte, um die beiden Teile der Tür weit genug auseinander zu drücken.

Von drinnen drang jäh Lärm auf sie ein. Maschinen stampften, Ventile zischten. Und jemand schrie Worte heraus. Es war die Stimme des Bekloppten, doch was sie da brüllte, war unverständlich und verzerrt vom hundertfachen Nachhall. Die Luft war dick und nass wie ein alter Schwamm und roch auch so. Nie zuvor hätte das ausgereicht, Yuri Übelkeit zu bereiten, doch schon beim ersten Atemzug von dieser geballten Mischung verkrampfte sich abrupt alles in ihm zu einem sinnlosen Würgen. Schaudernd taumelte er einen Schritt von der Öffnung weg. Was für eine Scheiße war das denn bitte? Was passierte da unten?

Während er nach seinen Waffen griff, spürte er Dante an sich vorbei treten.

»Ich gehe vor. Du gestattest?«

Yuri erhob keine Einwände. Er sah das rote Flackern an den Wänden, fühlte das rhythmische Beben wie den Puls eines Lebewesens, in das sie eingedrungen waren.

Ein Teil von ihm wollte Jin sehen, sich vergewissern, dass er noch lebte; ein anderer fürchtete sich vor dem, was er sehen würde.

Intermezzo II: 7-2

7-2: DANTE
 

Dante erkannte sofort, dass das, was Sarris vorhatte, nicht funktionierte. Vermutlich hatte der Kerl gedacht, er bräuchte ihn und Yuri nicht so lange zu beschäftigen, weil er mit dem, was er da tat, längst fertig sein wollte. Fertig mit Jin. Und Devil. Und Azazel.

Dante hielt den Blick mehrere Sekunden lang unverwandt auf Jin gerichtet – auf diesen mit Schweiß und Blut überströmten, von Devil vereinnahmten Körper, die Hörner, die Klauen, die wild und sinnlos peitschenden Flügel, den glühenden, Fleisch versengenden Blick. Das Ding war frei und wütend, wie erwartet.

»Dante!«

Trish!

Schlagartig löste sich sein Blick von Devil Jin und blieb an ihr hängen, an Trish, die unweit von Jin ebenfalls angekettet war. Ihr ganzer Körper war gespannt wie der eines sich duckenden Panthers, obgleich sie nirgendwo hin springen konnte, und sie ließ das Monster neben ihr nicht aus den Augen, weil sie instinktiv wusste, wie verflucht mächtig diese Bestie war.

Immerhin schien auch Sarris das zu wissen. Er kniete am Boden vor einem gehörnten Schädel und flackernden Kerzen, die Finger mit dunklem Blut beschmiert und das Gesicht eine Maske erstarrter Angst. Seine mit dünnen weißen Handschuhen bezogenen Hände lagen unruhig auf dem Buch, das er gestohlen hatte und dessen Seiten vor ihm auf dem Kopf standen. Etwas war nicht so verlaufen, wie er geplant hatte. Wie auch immer er Azazel zu beschwören versuchte, es war schief gegangen. Die beiden Eindringlinge hatte er noch gar nicht bemerkt, zu sehr bannte das misslingende Ritual seine Aufmerksamkeit.

Dante sah rechts an der Wand eine Werkbank mit allerlei Gerätschaften, einige davon in Betrieb. Der Raum musste tatsächlich eine Art Kontrollzentrum sein. Er wagte es, über die Schulter zu schauen, und sah, dass auch Yuri an ihm vorbei auf die hässliche Szenerie starrte. Als er Dantes Blick bemerkte, öffnete er doch noch den Mund. »Ach du Scheiße, Mann! Was ist das denn?« Vielleicht meinte er das tobende Ungetüm, oder die ganze blutige Szene, oder beides.

Dante stieß ein freudloses Lachen aus. »Darf ich vorstellen? Devil Jin.«

»Der sieht wirklich nicht gerade zum Liebhaben aus!«

»Ist er auch nicht. Sarris hat keine Ahnung, was er da in seinen Warenkorb gelegt hat.«

»Genauso wenig wie alle anderen, die glauben, Dämonen beschwören zu müssen. Er hat das Dschaizan-Buch, siehst du? Das da, das ist es doch.« Yuri zeigte geradeaus in Sarris’ Richtung, wo sich zwischen dem Mann und dem Schädel im zuckenden Schatten ein großformatiges, weit aufgeklapptes Buch abzeichnete.

Dante nickte stumm. Das war zweifellos die gefährliche Abschrift des noch gefährlicheren Tafeltextes; er wusste das, ohne die Zeichen je aus der Nähe gesehen zu haben.

»Und das ist dann wohl Trish?«, hakte Yuri nach, obwohl die Frage sich eigentlich erübrigte. »Die da in den Ketten?«

»Wer soll das sonst sein? Seine Tante?«

»Hui, was für ein Weib!«

»Bist du startklar? Worauf auch immer Sarris da wartet, wir sollten nicht drauf warten.« Dante hatte beide Hände um die Pistolengriffe gelegt, obwohl er noch nicht wusste, was er hier mit ihnen anfangen sollte.

Yuri, der sich von seinem anfänglichen Schrecken offenbar voll erholt hatte, trat mit einem fast gierigen Ausdruck neben ihn. »Okay, treten wir ihm in den Arsch. Let’s rock!« Doch in dem Moment, als er vorpreschen wollte, hatte Dante ihn hart am Kragen gepackt.

»Das«, sagte er scharf, »ist mein Spruch.«

Ohne Mühe machte Yuri sich von ihm los. »Wohl gar nicht. Ich hab vor dir gelebt.«

»Du bist ein wandelnder Anachronismus, du Nervensäge.«

»Ich frag dich später, was das ist.«

Gemeinsam sprangen sie mitten zwischen die Versammelten.
 

Sarris fuhr herum, noch bevor irgendjemand bei ihm war. Mit einer Hand packte er das Manuskript, auf das Dante sich hatte stürzen wollen, und warf sich beiseite, das Buch fest an die Brust drückend. Sein Gesicht flammte. Mitten durch diese sekundenlang verwirrte Grimasse brach plötzlich ein helles, hysterisches Auflachen heraus.

»Dante! Du zweifelst nicht mehr an der Echtheit der Kopie, wie ich sehe!«

Trish, die in ihren Ketten über Sarris Kopf thronte wie ein Todesengel, schmähte mit ihrer durchdringenden Stimme auf ihn herunter: »Es wird nie funktionieren, solange du nicht alle Seiten hast! Sieh doch nach, schlag sie auf, Seite sechs bis neun, du Schwachkopf!«

Dante furchte die Stirn; jetzt war er es, der sich wie im falschen Film fühlte. Seiten? Was für Seiten? Er versuchte, nicht wie ein Idiot auszusehen. Hatte er wirklich etwas so Elementares nicht beachtet?

Dante nicht aus den Augen lassend, ließ Sarris das Buch in seine rechte Hand gleiten, wo es sich raschelnd öffnete. Endlich zwang er sich, nach unten zu sehen. Dante nutzte diesen Moment nicht aus, sondern blieb abwartend stehen. Wenn Trish Recht hatte, dann hatte sich der arme Irre ohnehin in eine Sackgasse gespielt.

»Und, was siehst du? Richtig, nichts!«, höhnte sie von oben. Dieser triumphale Ton war etwas ganz und gar Ungewohntes in ihrer sonst so kontrollierten Stimme; sogar Dante spürte bei diesem dämonischen Unterton ein Frösteln. Trotzdem hatten sie gewonnen: Aus den Augenwinkeln verfolgte er, wie Yuri in zügelloser – oder vielleicht auch wohlkoordinierter, wer wusste das schon – Wut den Ziegenschädel gegen die Wand schmetterte, was diesen in hell scheppernde Einzelteile zerbrechen ließ. Yuri und Devil Jin sahen einander in die Augen, beide bebend und schwer atmend, doch keiner von beiden wusste, was er mit seiner Kraft anfangen sollte.

Langsam wandte sich Dante wieder dem geduckt vor ihm stehenden Sarris zu und betrachtete ihn ruhig.

Schließlich ließ sein früherer Bekannter den Blick sinken. »Na gut, Dante. Ihr habt hierher gefunden. Es ist nicht so, dass ich nicht mit dir gerechnet habe …« Kurz warf er einen Seitenblick auf Yuri, der ihn aber nicht beachtete, sondern weiter Jin anstarrte. »… denn anders als du war der junge Kazama vernünftig und kooperativ. Ich hätte Trish ohne Frage gehen lassen, es gab keinen Grund für dich, hier rein zu platzen.«

»Tut mir Leid, alter Freund. Was du mit deinem Leben machst, geht mich nichts an, aber was du mit dem Rest der Welt machst, das schon. Gib mir das Buch.« Er streckte Sarris die Hand hin.

Dieser schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Das Thema haben wir doch schon durch.«

»Hast du Trish nicht zugehört? Dir fehlen die wichtigsten Seiten für die Beschwörung!« Er wusste, dass das keiner ihrer Bluffs war.

»Die finde ich schon«, beharrte Sarris. »Du kannst alles andere haben. Bitteschön.«

Dantes Geduld endete. Er hob die Hand und strich mit den Fingerspitzen über Rebellions schimmernden Griff, der über seiner Schulter aufragte. »Du denkst wohl, du bist in allem, was du tust, rechtschaffen und fair, was? Das denken leider alle.«

Sarris’ Hand bewegte sich ebenfalls, wanderte an seinen Gürtel und löste von dort etwas, das sich aus einem festen Knäuel in die sieben Strippen der über sechs Fuß lange Lederpeitsche entrollte, deren Dornfortsätze im Kerzenlicht blinkten.

Dante musterte die bereits vertraute Waffe. »Was soll die gegen mich ausrichten?«

»Finde es raus.«

Lächerlich. Dante spannte sich; er musste sich das Buch holen, ohne Sarris etwas anzutun. Vorsichtig …

Sarris tat ihm den Gefallen und griff zuerst an. Als seine Hand mit der Peitsche hoch über seinen Kopf fuhr, reagierte auch Dante, riss die Klinge über seine Schulter und entfesselte zugleich ihre Macht in seinem Blut, ließ den heißen, scharfen Schmerz dämonischer Energie in seine Muskeln strömen. Seine Herzfrequenz erhöhte sich schlagartig auf das Doppelte. Innerhalb eines Sekundenbruchteils überbrückte er den Abstand zu seinem Gegner, der sich für seine beschleunigten Sinne kaum schneller als in Zeitlupe bewegte. Es war nicht nötig, ihn wirklich zu verletzen – Dante war bis in die Haarspitzen von dämonischer Energie erfüllt, und er streckte die linke Hand aus, um die endlos langsam vorüberschwebende Knute zu packen und diese Energie durch ihre ganze Länge in Sarris’ Körper zu jagen. Ein kleiner Schock, weiter nichts. Er würde jeden seiner Muskeln verkrampfen und ihn umfallen lassen wie einen morschen Pfosten.

Die Lederschnur prallte auf den harten Muskel in Dantes ausgestrecktem Unterarm. Selbst das Krachen des Aufschlags klang gezerrt und verlangsamt, und die Peitsche wickelte sich wie eine Schlange um den Arm, während Dante seine Energie sammelte und dosierte, um Sarris kräftig zu lähmen, aber nicht zu töten.

Game over für heute.

Er schickte den Schlag voraus.

Und war überrascht, als die Attacke im Nichts verpuffte.
 

Dante keuchte überrascht auf, sah das schwarze Licht aus seiner Hand, die die Peitsche berührte, einfach zerstauben und fühlte gleichzeitig den Einbruch von Schwäche, als seine Teufelskräfte ihn blitzartig verließen. Aus Reflex ließ er los, befreite sich von der Umschlingung, das Schwert in automatisierter Abwehr vor die Brust haltend.

Sarris, unter der Wucht seines eigenen Hiebes in die Knie gegangen, das blonde Haar wild zerzaust, lächelte schwach.

»Da staunst du, alter Haudegen. Du weißt doch, wie ich den alten Kräften dieser Welt verbunden bin. Man kann sie auf vielen Wegen nutzen.«

Ohne schlagfertige Erwiderung hielt Dante seine Position. Ausknocken konnte er Sarris also nicht, dumm gelaufen. Die Peitsche hatte seine Kräfte einfach neutralisiert. Er hätte es ahnen können; es war nicht das erste Mal, dass Dante mit dieser Art von okkulter Dämonenabwehr in Berührung kam.

Yuri hatte es auch gesehen, doch er konnte nicht kapiert haben, was sich da eben abgespielt hatte, schließlich kannte er Dantes Kräfte nicht und auch nicht die von Teufelswaffen. Außerdem galt seine Aufmerksamkeit immer noch Devil Jin, der ihn mit gefletschten, spitzen Zähnen anbrüllte, dass die Wände zitterten, und nicht vorzuhaben schien, sich in naher Zukunft zurückzuverwandeln. Nichts mehr Menschliches war an diesem Ding, das da an seinen Ketten riss, es war nur noch eine Bestie, und Yuri konnte ihn so nicht freilassen, was ihn dazu verdammte, bei dieser Auseinandersetzung dumm rumzustehen – jedenfalls so lange, wie Sarris ihn nicht für einen würdigen Mitspieler hielt.

Letzterer stabilisierte seinen Stand allmählich. Die Peitsche umklammerte er wie den heiligen Gral, während er angestrengt sagte: »Meine kleine Privatarmee hat euch wohl nicht deutlich genug erklärt, dass ihr hier nicht willkommen seid.«

»Soll das ein Witz sein? Du hast an die hundert Versuche gemacht, mich zu einem Besuch zu überreden. So beharrlich hat mich noch nie jemand eingeladen.« Dante hielt ihn mit dem Schwert auf Distanz. Er erkannte Sarris’ Bemühen, ihn durch das Schwenken der Peitsche in eine Kreisbewegung zu dirigieren, um wieder in Reichweite von Trish zu gelangen. Vergiss es, dachte er. Ihn beunruhigte, dass seine Partnerin noch immer so artig den Mund hielt. »Abgesehen davon, dass ich Trish –« Er machte eine Kopfbewegung nach oben. »– gerne zurück hätte, hast du auch noch Jin Kazama, und verantwortungsvoller Weise bin ich gekommen, um die Zwei wieder einzusammeln.«

»Du weißt«, erwiderte Sarris in beinahe vernünftigem Ton, »dass Jin aus freiem Willen hergekommen ist.«

»Ja, weiß ich. Ist mir völlig egal. Er ist aktuell mein Schützling.«

»Wenn er das ist, dann ohne sein Einverständnis. Dante, wie gehst du eigentlich mit Menschen um? Er hat dich um deine Hilfe gebeten, nicht um deine Vormundschaft. Wieso sperrst du ihn ein wie einen Hund?«

Dante zögerte und merkte dann, dass Sarris wieder einen Ausfall versuchte. Energisch schlug er Rebellions Spitze zwischen sie beide auf den Steinboden, was einen gelben Funkenschauer hochschießen ließ.

»Trish kannst du mitnehmen«, erklärte Sarris. »Jin Kazama bleibt hier, solange er will.«

Dante schüttelte den Kopf. »Noch mal zum Mitschreiben: Jin Kazama steht unter meinem Schutz. Und er kommt mit. Ob mit Hörnern oder ohne.«

»So? Na, dann los. Hol ihn dir.« Einladend wies Sarris auf den kehlig knurrenden Devil Jin. »Ihr werdet ihn nicht losketten, weil ihr genau wisst, dass du seinen Zorn nicht bändigen kannst, ohne ihn zu verletzen.«

Das stimmte. Die Lage war mies. Dante konnte Sarris nicht aus den Augen lassen, um Trish zu befreien, also konnte er sich nicht von der Stelle bewegen. Mit seiner absorbierenden Geißel würde der Kerl jede Lücke in Dantes aufmerksamer Verteidigung sofort ausnutzen. Dante dachte über einen Ausweg nach. Sarris zu töten würde ihn keine Mühe kosten, doch dazu war er noch immer nicht bereit; einen Menschen zu töten war die Ultima Ratio, von der er nur Gebrauch machte, wenn alle anderen Türen zugefallen waren. Nein, sein letztes Ass war Yuri. Sarris wusste nicht, wie kampfstark der Rotzlöffel war, er würde ihn für einen Handlanger halten, vielleicht jemanden, der Dante den Weg in den Schacht gezeigt hatte und der sonst zu nichts nutze war. Schließlich sah Yuri nur aus wie irgendein drogenabhängiger Köter. Das konnte ein alles entscheidender Punkt sein – allerdings stand Yuri einen Steinwurf weit entfernt, und zwischen ihm und Trish waren Dante und Sarris in ihr verzwicktes Lauerspiel vertieft.

Sie brauchten eine Ablenkung. Etwas Unerwartetes.

Das dachte offenbar auch Trish, denn nun, endlich, steuerte sie ihren Teil bei: Sie schloss die Fäuste um die seltsame Kette, mit der sie gefesselt war – woraus bestand die eigentlich, Kork? – und zog sich mit einem Sprung so weit daran hoch, bis ihr Scheitel einen der gusseisernen Ringe erreichte, die die Kette straff hielten. Ganz offenbar leitete das Material der Fesseln keinen Strom, Eisen jedoch …

Sarris fuhr zusammen, als es über ihnen krachte, ein Funkenregen von den Ringen niederging und gleichzeitig das Licht an der hohen Decke zu flackern begann.

»Nicht, Trish!«, rief er aus. »Du wirst uns alle umbringen!«

Das hatte Trish wohl kaum im Sinn. Dante mochte das Manöver: Ein paar Aussetzer der Stromversorgung genügten, um Sarris in helle Aufregung zu versetzen, und mehr konnte er sich nicht wünschen.

Und Yuri hatte nicht gepennt. Sofort war er da. Kein Wimpernschlag verging, bis er Sarris erreicht hatte. Er sprang dem armen Spinner einfach von hinten gegen die Schulter und warf ihn bäuchlings vor sich zu Boden; dann, auf ihm stehend, entwand er dessen vom Schreck erschlafften Fingern den Peitschengriff ohne Mühe.

In der Sekunde, in der Sarris sich entwaffnet sah, kam wieder Leben in ihn. Er zuckte hoch, ein Messer in der Hand – sicherlich dasselbe, das auch Jin zwischen den Rippen gesteckt hatte – und stach damit wild nach dem anderen Mann, der ihn am Boden hielt. Yuri reagierte ebenso lässig, wie Dante es von sich selbst erwartet hätte: Er hob den Fuß, erwischte damit die fuchtelnde Messerhand und stieß sie mit der Ferse grob zu Boden, sie mit seinem Gewicht festnagelnd.

»Du weißt echt nicht, wann Schluss ist, wie, du alter Fusselkopf?«

Sarris stöhnte. Seine Finger zuckten. »Wer … wer bist du?« Mühsam drehte er den Kopf nach hinten, um in Yuris dunkel umschattete Augen zu sehen. »Du … du bist der Kerl aus der Kirche. Der vom Dach …«

»Und du bist der komische Typ, der in Ruinen rumhängt. Dachte mir gleich, dass mit dir was nicht stimmt.«

Sarris erschlaffte. Jetzt, da er geschlagen war, erstickte seinen Größenwahn in der Wurzel und machte nüchterner Furcht Platz. Seine Augen, nach hinten zurückgerollt, um Yuri nicht aus dem Fokus zu verlieren, zeigten leuchtend ihr rotgeädertes Weiß. Ergeben und mit einem deutlichen Beben in der Stimme fragte er: »Was wollt ihr?«

»Habe ich das nicht schon gesagt?« Dante kam näher und ließ sich neben Sarris’ Kopf auf ein Knie nieder, ungeachtet des jahrzehntealten Schmutzes auf dem Boden. Vorsichtig zog er das Buch aus den Armen des Mannes. »Du weißt auch, was ich nicht will. Also zwing mich nicht, es zu tun.«

»Was hältst du von … Verhandeln?«

»Ich fürchte, dazu bist du nicht in der richtigen Position.«

Wieder seufzte Sarris. »Gut. Ich sehe es ein. Siehst du das Schaltpult an der Wand? Der linke Hebel löst Trishs Fesseln.«

»Das stimmt«, bestätigte Trish die Information.

Dante nickte und hob den Blick. »Hyuga?«

»Hab den Schwätzer.« Yuri stieg von Sarris Rücken und ergriff noch währenddessen seinen Arm, um ihn unsanft auf die Füße zu reißen.

Postwendend ging Dante zu der klapprigen Werkbank an der Wand, auf dem Sarris seine Konstruktion aus Schaltknüppeln und Druckknöpfen aufgehäuft hatte, um jeden Winkel der groß angelegten Förderanlage von dort aus kontrollieren zu können. Dort stand auch der Sprachaufnehmer, ein Gerät aus den Neunzigern, der seine Stimme in die Tunnel geschickt hatte.

Als die Eisenringe um Trishs Handgelenke aufschnappten und sie leichtfüßig zu Boden sprang, durchflutete Dante eine beinahe körperliche Erleichterung. Er widerstand dem starken Drang, zu ihr zu laufen und sie an sich zu drücken. Unangemessen Für Gefühlsausbrüche war es wahrhaftig nicht der richtige Augenblick.

Stattdessen überging er die Situation mit der gewohnt frivolen Lässigkeit. »Sehr gut, da haben wir Nummer eins. Wenn du jetzt noch so freundlich wärst, mir mein Buch zurückzugeben. Du weißt ja, welches.«

Jäh brach Sarris in Yuris Griff in kurzen, sinnlosen Widerstand aus, und seine Brauen zogen sich zusammen. »Lass mir wenigstens das Inferno! Es vervollständigt meine Sammlung mittelalterlicher Höllenvorstellungen, und außerdem –«

»Außerdem was?«

Der andere schwieg, presste nur wütend die Lippen zu einer fadendünnen Linie zusammen.

»Du kannst gar kein Italienisch«, erinnerte Dante ihn, »was also willst du damit?«

»Es ist eine sehr alte Ausgabe mit besonders kunstvollen Illustrationen von Dalí, falls es dir Kunstbanause nicht aufgefallen ist!« Sarris stöhnte auf, als Yuri ihm den linken Arm stärker auf den Rücken bog.

Dante verspürte kein Mitleid. »Dann bestell dir deine eigene bei Barnes & Noble. Das Erbstück meiner Mutter rückst du auf der Stelle raus, oder der Typ hinter dir macht ungemütliche Sachen.«

Wie erwartet verstärkte Yuri erbarmungslos seinen Druck auf den Unterarm des Gefangenen. Die Frage war nur, welcher Knochen zuerst brechen würde, Elle oder Speiche.

Sarris schrie auf: »Unten! Unter dem – aaargh! Zieh die Schublade auf!«

Dante griff unter die Werkbank und zog die oberste und einzige Lade auf, in der er zu oberst einen Lageplan der Anlage – welch lohnender Griff! – und darunter tatsächlich den vertrauten ledernen Einband von La Divina Commedia entdeckte. Mit einiger Genugtuung nahm er beides heraus. So, wie sich die Dinge gerade entwickelten, war er höchst zufrieden mit der Lage. Nur ein Problem hatten sie noch zu lösen … Er sah zu Devil Jin, der immer noch vor Energie und Überlegenheit strotzte, auch wenn er sich im Augenblick ruhig verhielt.

»Jemand anders nimmt die Dschaizan-Abschrift, ich hab nur Platz für ein Buch.« Dante warf den uralten, halb zerfledderten Kodex in Yuris Richtung auf den Boden, inmitten von Blutflecken, flackernd sterbenden Kerzen und Knochensplittern des Ziegenschädels. Während Trish die Seiten auflas und zwischen die beiden losen Deckel stopften, überlegte er, wie sie alle heil aus GRITT-D674 herauskommen könnten, Jin inklusive. Dem Jungen eins überzubraten reichte vielleicht diesmal nicht, um Devil zu vertreiben; aber ihn so schwer zu verwunden, wie Sarris es mit seinem Klappmesser getan hatte, war ebenfalls keine Option.

Indes schien Sarris trotz Yuris unnachgiebigem Griff zu seinem alten, ungesunden Mut zurückzufinden. »Dante«, sagte er mit fast feierlicher Stimme, »wie lange willst du deinen beiden neuen Mitstreitern eigentlich noch verheimlichen, wer du wirklich bist?«

Dante drehte langsam den Kopf, um zu überspielen, dass er innerlich zusammengezuckt war. »Hm?«, machte er lahm.

»Meinst du nicht«, fuhr Sarris vor und befeuchtete sich die Lippen, »dass der Zeitpunkt perfekt wäre, diese Karte umzudrehen? Oder willst du nicht nur den armen Jin Kazama dumm und gutgläubig halten, wie du es die ganze Zeit schon tust, sondern auch deinen anderen Gefährten hier?«

Dante vermied es, Yuri anzusehen, dessen Blick er fragend auf sich ruhen fühlte, und blickte stattdessen zu Trish. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Schließlich erwiderte Dante offen und mit Ruhe: »Bisher hat sich keine gute Gelegenheit geboten. Wird nachgeholt.«

»Ah.« Mit leisem Lächeln wandte Sarris sich nach Yuri um, der zwar etwas verunsichert aussah, aber keinerlei Anstalten machte, seinen Griff zu lockern. »Und was ist mit dir?«

»Was?«, kam es von diesem genauso schlecht verstellt wie von Dante zuvor. »Mit mir? Wieso mit mir?«

»Ihr spielt beide mit verdeckten Karten, nicht wahr? Dabei habt ihr so gut zusammengearbeitet, um hierher zu kommen.«

»Keine Ahnung, wovon du redest«, gab Yuri unbehaglich zurück. »Vielleicht solltest du einfach die Fresse halten.«

»Nein, er sollte uns etwas ganz Anderes sagen«, mischte sich Trish ein, wie um ihrem Feind keinen Raum zum Aussäen weiterer Zweifel zu lassen, »nämlich wie wir Jin von dem Dämon befreien können. Er scheint wirklich zu wissen, wie es geht, aber wir dürfen nicht zulassen, dass er es tut.«

Das klang gut und vernünftig, und Dante wies Yuri mit einem Blick, seine Macht weiter auszuspielen. Nur zu bereitwillig packte der andere wieder fester zu. »Du hast die Dame gehört. Irgendwelche Tipps?«

Sarris wand sich ächzend; seine Knie drohten immer weiter nachzugeben. Doch dann lachte er mit schmerzverzerrter Miene: »Glaubt ihr wirklich, ihr könntet das? Ich bitte euch! Azazel in diese Sphäre zu holen mag mir noch nicht gelungen sein, aber den Ruf hat er sehr wohl gehört! Aber ihr wisst es gar nicht, oder? Ihr hattet keine Ahnung, dass Azazel und Jins Peiniger ein und dasselbe sind. So eine Ironie! Jetzt habt ihr mich in eurer Gewalt, und es nützt euch gar nichts. Devil und Azazel haben einander gespürt – und der eine wird den anderen rufen! Es gibt nichts, das ihr dagegen tun könnt! Es ist sinnlos! Au –!«

Yuri hatte den lachenden Blonden mit einem Rippenstoß zu Boden befördert. »Halt endlich das Maul, verdammt!«

Sarris, auf allen Vieren hockend und sein Gelächter mühsam unter Kontrolle bringend, drehte sich schließlich nach Yuri um, während er seinen gepeinigten Arm massierte. »Du«, sagte er beherrscht, und dabei wich seine Belustigung rasch einer Ehrfurcht, die Dante bisher nur einmal an ihm gesehen hatte. »Du … du glaubst genauso, du könntest vor mir verbergen, dass du anders bist. Aber das kannst du nicht. Dante konnte es nicht und Jin konnte es nicht. Und zwar … deswegen.« Mit der Linken ergriff er den weichen weißen Handschuh, der seine rechte Hand mehr zierte als schützte, und zog ihn herunter. Dante kniff die Brauen zusammen, als er im schummrigen Licht feine, komplexe Muster aus schwarzen Linien auf der Haut der Finger zu sehen meinte, kleine Gebilde, in langwieriger Mühsal hineintätowiert. Symbole. Schriftzeichen. Er hatte sie schon einmal gesehen.

Und Yuri offensichtlich auch. »Ach was. Hab schon gedacht, in dieser Zeit gäb’s keine Schwarzmagie mehr.«

»Unsinn. Sie ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie gerät in Vergessenheit, doch irgendwo überlebt sie immer. Es wird sie geben, solange die Welt der Menschen und die der Dämonen aufeinander prallen«, erklärte Sarris. Noch immer hockte er im Dreck, seine tätowierte Hand mit gespreizten Fingern empor haltend. Die Geste hatte etwas Verzweifeltes und Abstoßendes, vor allem gepaart mit dem säuselnden, nur scheinbar vernünftigen Tonfall. »Als du mich festgehalten hast, konnte ich deine Andersartigkeit spüren. Du bewegst dich auch auf der Grenze zwischen diesen Welten, genau wie Dante. Genau wie Jin. Dein Blut … ist auch verflucht.«

Yuri stand ihm gegenüber, wie zur Abwehr positioniert, obwohl kein Angriff kommen konnte. »Kann man sagen, ja«, knirschte er unwillig.

»Und? Was ist es? Ein Dämon?« Sarris zog die Beine an und erhob sich taumelnd in den Stand. »Was würde passieren, wenn ich dich mit meiner Waffe kitzelte?«

Yuri antwortete nicht. Er fuhr fort, sein Gegenüber kalt und verächtlich anzustarren, und Dante glaubte in diesem Moment wieder ein Aufflackern jenes Grauens zu erkennen, das er selbst erblickt hatte, als er und Yuri sich auf dem Dach der Kirche gegenüber gestanden hatten.

Sarris schauderte. »Nein, es ist kein Dämon. Es ist … etwas Schlimmeres. Etwas … Qualvolles.« Er beugte sich vor. In seinen Augen leuchtete das Weiß wie helle Flecken durch das Dunkel. »Was ist es?«

Yuri erwiderte seinen eindringlichen Blick noch einen Moment lang, dann ließ er die gespannten Fäuste sinken und sagte ruhig: »Na schön. Ich bin Harmonixer.«

Daraufhin schwieg ihr Gegner. Ein paar lange Minuten starrte er einfach nur, als suche er in Yuris Gesicht die Spuren dessen, was dieser soeben zugegeben hatte, zu ergründen.

Harmonixer. Dante hatte dieses Wort noch nie gehört. Was ist ein Harmonixer? Er suchte in Trishs Gesicht nach der gleichen Verwirrung, fand dort aber nur gut beherrschtes Entsetzen.

Schließlich nickte Sarris beinahe feierlich. »Ich muss dir meinen tiefen Respekt bekunden. Wenn man den Quellen glauben kann, dann ist Leben wie eine ewige Nacht, die keinen Morgen kennt. Sicher hast du deine Gabe oft verflucht.«

»Ähm.« Yuri schlug die Augen nieder. Er sah unangenehm berührt aus. »Wir sind nicht hier, um über mich zu reden.«

»Ich werde euch gehen lassen.«

Das kam unvermittelt. Dantes Blick zuckte von Yuri zurück zu ihrem gemeinsamen Widersacher, forschte in dessen nun unbewegten Zügen nach Hinweisen auf eine List. »Du wirst uns gehen lassen? Das klingt ja, als könnten wir nicht jederzeit gehen.« Dante hatte noch immer die Werkbank mit dem Schaltpult im Rücken, das Sarris’ Hauptkontrollzentrum darstellte, und würde alles tun, den Irren nicht in dessen Nähe zu lassen. Auch wenn Sarris gerade ein zeitweiliges Stadium der Zurechnungsfähigkeit erreicht hatte, konnte man nie wissen, was er als nächstes tat.

»Ich mag unlautere Wege gehen, um das Richtige zu tun«, gab Sarris stolz zurück, »aber ich bin weder unreell noch ein schlechter Verlierer. Die Invocatio ist gescheitert, was hätte ich davon, unser aller Zeit weiter zu verschwenden? Ich habe euch gesagt, was ihr wissen müsst: Azazel und Jin reagieren aufeinander. Und ihr könnt mitnichten jederzeit gehen, wie du behauptest, denn ich weiß, dass du ihn nicht zurücklassen würdest.« Er nickte sacht in Jins Richtung. »Du bist starrsinnig und unhöflich, aber ein anständiger Kerl, Dante.«

Dante hatte die Phase, in der er sich von Sarris’ unerwarteten Komplimenten verwirren ließ, längst hinter sich. »Wenn du uns gehen lassen willst«, knurrte er, »dann mach, dass er sich zurückverwandelt. Damit sollte es doch gehen, hm?« Er wies auf die Peitsche, die einsam nahe der Wand lag, wo Yuri sie außer Reichweite geworfen hatte, um ihren Besitzer mit beiden Händen festhalten zu können.

»Der Bannspruch hemmt Teufelskräfte, wie du gesehen hast. Versuch es nur«, ermutigte Sarris ihn.

Dante hob die Peitsche auf. Er hatte einen Plan – einen ziemlich konkreten für jemanden, der gewöhnlich nie einen Plan hatte. Er würde Jin zurück transformieren und dann würden sie von hier verschwinden und Sarris mitnehmen, damit sie von ihm erfahren konnten, wie er Jin von Devil zu befreien gedachte. Womöglich war seine Methode wirksam, vielleicht war es sogar der einzige existente Weg. Oder es war ein riesiger Bluff. So oder so, sie mussten es wissen.
 

Die sieben beschwerten Lederstreifen schleiften durch den Staub, als Dante mit der Geißel an Devil Jin herantrat. Die Berührung mit dem Material, egal welcher Art sie war, würde hoffentlich die Wirkung auslösen, die auch Dantes eigenem Wesen Gewalt angetan hatte. Er holte kaum merklich aus und ließ die Enden sanft gegen Jins bloße Haut schwingen. Gerade fest genug, um den Kontakt herzustellen.

Unerwarteterweise folgte dieser Geste kein Effekt. Kein Aufheulen des Teufels, kein sich Winden, Brüllen und Verschwinden, nicht mal ein winziges Zusammenzucken. Stattdessen senkte Devil Jin langsam seinen gehörnten Kopf, fixierte Dante mit wie Kohlen glimmenden Augen und rollte drohend die Lippen zurück, um seine ekelhaft spitzen Zähne zu entblößen.

»Glaubst du wirklich, ich wäre so schwach, Mensch? Diese kleinen gemalten Zeichen sollen mir meine Macht nehmen?«

»Nicht, wie?« Dante zuckte die Schultern und warf die Peitsche beiseite. Wäre ja auch zu schön gewesen. »Du lässt dich also wieder herab, mit uns zu sprechen. Dachte schon, dein Hirn hätte gelitten, als ich dir eins draufgegeben hab, und du wärst jetzt schlicht zu dämlich zum Reden.«

Devil Jin lachte kehlig. »Ihr habt keine Macht mehr über mich. In diesem Raum ist so viel Abscheu versammelt, dass es mich ein Jahrzehnt lang nähren wird. Dies hier war erst der Anfang.« Und dann wandte er endlich seinen glühenden Blick ab und richtete ihn stattdessen nach links auf den starken Eisenring, der sein Handgelenk umschlossen hielt.

Zuerst fragte sich Dante, was das sollte. Dann, nach ein paar gedehnten Augenblicken, wurde es ihm klar. Unter Devil Jins zähnefletschendem Starren begann das Metall zu knirschen – erst ein kleines bisschen, dann ruckelte es, als würde sich jemand mit Gewalt daran zu schaffen machen, und schließlich –

»Nein!«, rief Trish, und Yuri rief »Scheiße!«, und der Eisenring machte Krrrrzwing! Und schnappte zurück.

Entsetzt griff Dante über die Schulter nach Rebellion, obgleich er wusste, dass auch ein Schwerthieb Devil nicht verjagen würde, doch er musste etwas tun, ehe –

Doch für den zweiten Ring brauchte der Teufel nur Sekunden, und der Rest ging noch viel schneller. Geradezu abartig schnell. Die schwere Kette, die ihn kurz zuvor noch gebändigt hatte, fest in den Pranken sprang Devil Jin zu Boden und entfaltete mit einem mächtigen Luftstoß seine riesigen Flügel.

Sofort spürte Dante die Nähe von Trish und Yuri, die Hals über Kopf zu ihm gerannt waren und ihn nun zu beiden Seiten kampfbereit flankierten. Doch ein dumpfes Geräusch von hinten ließ sie alle herumfahren: Sarris war geflohen – soeben war eine schwere kreisrunde Luke in der Wand hinter ihm zugefallen. Im Geiste zuckte Dante die Achseln; dass Sarris nach dieser verlorenen Partie sein Heil in der Flucht suchte, war alles andere als überraschend, und gerade auch viel weniger wichtig als diese verfluchte Bestie, die sich vor ihnen zum Durchstarten anschickte.

Yuri war drauf und dran, Devil Jin anzuspringen, das verriet seine angespannte Haltung, aber ehe einer von beiden den ersten Zug machen konnte, rief Trish plötzlich scharf: »Warte!«

Ganz egal, wen sie damit meinte, plötzlich hatte sie etwas Faustgroßes, Glänzendes in der Hand und holte damit aus, auf den Dämon zielend.

Devil Jin sah es, ließ eine Millisekunde der Unschlüssigkeit verstreichen und drückte dann blitzartig die Knie durch. Die Bewegung katapultierte ihn aus dem Stand hoch in die Luft. Yuri sprang ebenfalls. Er bekam nur noch das rechte Bein zu fassen und wurde gleichfalls mit nach oben gerissen.

Doch Trish hatte getroffen. Das hauchdünne Glas zerbarst an Devil Jins gespanntem Bauch, nur etwas niedriger als ursprünglich anvisiert. Das präparierte Wasser spritzte in alle Richtungen und perlte Yuri ins wühlmausbraune Haar, sodass er erschrocken losließ, nicht wissend, was ihn da durchnässt hatte. Das alles geschah nahezu gleichzeitig – sie fielen beide wieder zu Boden, Devil Jin kreischend und spuckend, Yuri landete auf Händen und Füßen und hechtete in Sicherheit. Das heiße Zischen, das ertönte, als die in der Flüssigkeit gelöste Chemikalie in die Gasphase überging, verebbte unter dem gequälten Stöhnen des Monsters, das jetzt zuckend am Boden lag. Langsam bildeten sich die scharf begrenzten schwarzen Male auf Jins Körper zurück, Hörner und Flügel wurden immer kleiner. Nach wenigen Herzschlägen war nur noch der schweißbedeckte halbnackte Körper des erbarmungswürdigen jungen Mannes zurückgeblieben, der Jin Kazama war. Schwer atmend blieb er hingestreckt auf dem kalten Boden liegen, bleich und zitternd vor Erschöpfung.

Dante ließ das Schwert sinken und sah neben sich. Sein Blick traf den von Trish. »Weihwasser?«

»Das eine war noch da. Ich hätte früher daran denken sollen.«

Sich von seiner Bauchlandung berappelnd sprang Yuri wieder auf die Füße, schüttelte sich wie ein Hund und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Mann! Eine Warnung wär schön gewesen! Was war das?« Er schien zu erwarten, dass die klare Flüssigkeit, von der ihm noch immer Tropfen über das Gesicht liefen, seine Haut in Flammen aufgehen ließ.

»Ein Stoff, der dämonische Körpersubstanz zersetzt«, erklärte Dante. »Also nicht deine, entspann dich. Man löst das leicht flüchtige Zeug in Wasser, füllt es in Kugeln und wir zerschmeißen die, wenn wir alles Teuflische im Umkreis leiden sehen wollen. Oh, und wir nennen es Weihwasser

»Ach.« Yuri sah immer noch angepisst aus, und seine offensichtliche Angepisstheit wandte sich nun Jin zu, der elend auf dem Boden lag. »Und was jetzt? Der Irre ist weg.«

»Egal. Wir haben, was wir wollten.«

In diesem Moment richtete Jin mühsam seinen Oberkörper auf, das Gewicht auf seine zitternden Arme verlagert, und sagte schwach: »Ihr … hättet etwas früher kommen können.«

Das gab Yuri offenbar den Rest. Dante fühlte geradezu, wie den Anderen eine Welle des Zorns überrollte. Ehe er den Arm ausstrecken und zupacken konnte, hatte Yuri die Distanz zu Jin überbrückt, holte noch im Rennen aus und schlug ihm ins Gesicht.

Die Wucht des Schlags ließ Jin, in dem ohnehin keine Kraft mehr war, rückwärts überkippen, wo er liegen blieb, zu schwach für jede Art der Gegenwehr. Dante reagierte zu lahm, aber glücklicherweise setzte Yuri seine Attacke nicht fort; bebend und mit wildem Blick blieb er stehen, die Faust immer noch erhoben.

Jin rieb sich mühsam die Schläfe. »Bist du verrückt geworden?«, brachte er undeutlich hervor.

»Das hat meine Faust dich auch gerade gefragt!«, fauchte Yuri zurück. »Was sollte das bitte werden? Wir versuchen, dir zu helfen, und du hast nichts Besseres zu tun, als hinter unseren Rücken dem Feind in die Arme zu rennen!« Seine Stimme überschlug sich fast vor ohnmächtiger Wut.

Jin holte angestrengt Atem, das Kinn störrisch hochgereckt. »Ich bin ihm nicht in die Arme gerannt.«

»Ach nein? Wie bitte würdest du das sonst nennen?«

Dante sah die Zeit gekommen, schlichtend einzuschreiten. Für so einen Kindergarten-Mist hatten sie jetzt keine Zeit. Kompromisslos packte er Yuri am Kragen und zerrte ihn grob beiseite. »Heb dir das auf, bis er wieder bei Kräften ist, klar? Dann könnt ihr euch gerne prügeln.«

Yuri knurrte etwas Unartikuliertes und gehorchte. Mit Dante würde er sich nicht anlegen, das wusste dieser genau; er brauchte niemals laut zu werden, um sich Respekt zu verschaffen. Dieser Freak würde jetzt brav sein, oder er würde sich diesmal mehr einfangen als nur einen K.O.-Würger. Dante war gut darin, es zu verbergen, doch seine Nerven waren nicht minder strapaziert als die der Anderen. Er bückte sich nach Jin, um ihn an der Schulter hochzuziehen, doch halb aufrecht entwand Jin sich seinem Griff und wich mit einem matten Stöhnen vor ihm zurück. Er verkrampfte sich und spuckte eine dunkle Flüssigkeit aus – erst einen Mundvoll, sodass Dante sie für Blut hielt, aber dann kam noch mehr davon hoch, schaumig und dünn und dunkelrot schimmernd, bis Jin schließlich Luft holte und mit einem jämmerlichen Keuchen noch weiter nach rückwärts kroch, um dort ohnmächtig zusammenzubrechen.

Dante musterte das Erbrochene skeptisch. »Rotwein?«

»War wohl nicht der beste Jahrgang«, kommentierte Yuri bissig.
 

Sie verloren keine Zeit.

Trish fand sofort jenen Platz in der benachbarten Lagerhalle, an dem Sarris ihre und Jins Sachen aufbewahrte, und als Dante ihr den Lageplan gab, orientierte sie sich in aller Schnelligkeit, als könnte all der Stress ihr nichts anhaben, sondern hätte ihre Konzentration nur noch geschärft. Gute alte Trish.

»Das hier ist der Weg. Vielleicht ist es nicht der kürzeste, aber es dürfte der sicherste sein.« Sie warf sich ihren taillierten hellgrauen Mantel über, dessen Kragen und Ärmelumschläge mit schwarzem Besatz versehen waren, und bewaffnete sich zügig mit ihren beiden großkalibrigen Pistolen. »Wir müssen uns beeilen. Er hat die Luftaufbereiter abgestellt.«

Dante war verwirrt und zeigte es ihr, indem er die Augenbrauen hob.

Sie erklärte: »Ich hab gehört, wie er es zu Jin gesagt hat: Würde ich sie abstellen, wären wir innerhalb einer Stunde tot. Hörst du noch irgendwas? Ich nicht.« Geschäftig machte sie sich daran, Jins Mantel über dessen reglosem Besitzer auszubreiten.

Dante horchte in die Stille hinein. Ihm war bei all der Action gar nicht aufgefallen, dass das gleichmäßige Dröhnen der Maschinen verstummt war. Dieses riesige Tier, in dessen Eingeweiden sie hier festsaßen, schlummerte nun. »Okay, dann ist jetzt besser Schluss mit Trödeleien.« Er sah sich nach Yuri um. Der Idiot stand immer noch untätig in der Gegend und stierte die Wand an. »Hyuga? Bist du fertig mit Glotzen?«

Griesgrämig löste Yuri den Blick von der Wand und richtete ihn stattdessen auf Jins schlaffe Gestalt, die Dante sich gerade über die Schulter warf. Dante kümmerte sich nicht um das feindselige – oder war es eher nachdenklich? – Starren des Anderen. Er hielt Jin mit einer Hand und vergewisserte sich, dass er mit der anderen jederzeit nach Ebony greifen konnte – falls sie wieder Besuch bekamen. »Trish geht vor, ich und Jin kommen nach, du deckst uns den Rücken«, erklärte er. »Abmarsch.«
 

Er wusste, warum er Trish vorne haben wollte. In der Zusammenarbeit mit ihr hatte er nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass ihre Sinne seinen überlegen waren. Dante rechnete fest damit, dass Sarris weitere Zeit und Mühe darauf verwendet hatte, aus den Höllenschlünden die eine oder andere Überraschung für eventuelle Eindringlinge heraufzubeschwören.

Trish bahnte sich ihren Weg durch die sterbende Maschine, der nun allmählich der Saft ausging: Das Licht wurde immer spärlicher, flackerte letztlich nur noch. Schwitzwasser rann an den rostigen Wänden der dunklen, hohl hallenden Tunnel herab. Dante war sich sicher, dass dies nicht der Weg war, den er und Yuri hinein genommen hatten, doch er mutmaßte, dass Sarris Trish auf dieser Route verschleppt hatte. Wie, das wusste er noch immer nicht, und bei diesem Gedanken kochte wieder die schwer zu verdauende Mischung aus Zorn und Unverständnis in ihm hoch. Wie Sarris sie überwältigt hatte, war ein klaffendes Loch in seinem Wissen, das er unbedingt füllen musste.

In einer Fertigungshalle, die mit Reihen von riesigen metallenen Gefäßen bestückt war, die an Sudpfannen erinnerten und zu deren Zweck Dante nicht die leiseste Idee hatte, wurde Trish langsamer und hielt an. Die Beleuchtung lief auf Notstrom; flackerndes Dämmerlicht sickerte aus der Decke auf die Spalier stehenden rostigen Kessel, zwischen denen schwarze Schlagschatten kauerten.

»Sag bitte nicht, dass du den Weg vergessen hast«, raunte Dante seiner Partnerin zu. Das Echo gefiel ihm nicht.

Trish sah sich langsam um, dann sagte sie: »Du kennst das hier, oder? Du warst hier schon mal.«

»Ja«, antwortete er vage. »Warum?«

»Was lebt hier?«

Er zögerte. Verschob ein wenig Jins Gewicht über seiner Schulter. »Keine Ahnung. Ich konnte es damals nicht finden. Hier sind Leute gestorben.«

Yuri hinter ihm stöhnte: »Keine Geister, bitte keine Geister! Ich hasse Geister.«

Trish starrte weiter die von Grünspan gescheckten Wände an. »Du hast also nach etwas gesucht, das hier Menschen umgebracht hat?«, folgerte sie.

»Sagen wir, es ist recht unwahrscheinlich, dass sich so gut ausgebildetes Personal wie das von Shardworks durch reine Dummheit die Hände abgehackt und die Köpfe zermörsert hat.«

»Verstehe.«

Er sah zu, wie sie zu einem der ausladenden Kessel ging, mit den Fingerknöcheln über die dicke Kupferwand strich – und dann, nach kurzem Ausholen, ihre stahlbeschlagene Ferse dagegen rammte.

Donggggggggg.

Das Echo war dumpf und dröhnend und irgendwie bedrohlich. Dante spitzte die Ohren.

Einen Moment lang war die wiedergekehrte Stille perfekt. Dann – ohne jede Vorankündigung – fiel etwas von der Decke. Es stürzte schnell und landete hart, dann verteilte es klappernd seine Einzelteile in alle Richtungen.

Es war ein menschliches Skelett, dem ein Bleigewicht am Knöchel hing. Trish blieb stehen, als wären es nicht abgenagte Knochen, die ihr gegen die Waden purzelten, sondern angenehm kühle Meeresgischt. Aufmerksam sah Dante zu, wie die bleichen Bruchstücke zum Liegen kamen. Yuri hinter ihm hatte aufgekeucht und war zurückgewichen. Wirklich ein bisschen schreckhaft, der Kerl, aber jetzt hatte er sich wieder im Griff.

Trish verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hatte lediglich einen Schritt beiseite gemacht, damit das Bleigewicht ihr nicht den Schädel einschlug. »Ist das die Art, auf die man hier früher zu Tode gekommen ist?«

»Kann ich dir nicht sagen. Vielleicht?«

Sie legte den Kopf in den Nacken und suchte mit scharfen Augen die Decke ab. »Ah. Hab ihn.«

»Wen?«, fragte Yuri.

Auch Dante folgte ihrem Blick. Im spärlichen Licht sah er die üblichen Rohrleitungen und Verstrebungen, sonst nichts.

Trish hob beide Hände und ballte die Fäuste. Gelbe Funken begannen ihre Fingerknöchel zu umschwirren. »Geht beiseite, Jungs.«

Jin festhaltend, gehorchte Dante und vergrößerte den Abstand zu Trish. Yuri schob er dabei ebenfalls nach rückwärts, dessen schwachen Protest ignorierend. Was auch immer das für ein Dämon war, Trish sah ihn, und wenn sie angriff, sollte man ihr besser nicht im Weg sein.

Trish sammelte sich noch zwei, drei weitere Sekunden lang, bis feine Blitze an ihren Knöcheln hinaufzuklettern begannen und die Geröllsplitter auf dem Boden sich auf sie zu bewegten, als wäre sie ein Magnet. Dann, mit einem wenig damenhaften Knurren, warf sie beide Arme nach oben, Handflächen zur Decke. Ein mächtiger, grellgelber Blitz sprang mit ohrenbetäubendem Krachen aus ihr hervor und entlud sich nach oben, strömte hinein in etwas, das dort unsichtbar klebte wie ein …

Dante verengte die Augen. Der plötzliche Lichtschwall hatte ihn geblendet, doch er sah, wie die Elektrizität rasendschnell einen Umriss auszufüllen begann. Erst war es ein unförmiges, weich aussehendes Knäuel, wie ein matschiger Kaugummi, doch das gelbe Licht kroch weiter, verjüngte sich zu allen Seiten in eine Art Geflecht, das sich fein zwischen den tropfenden Röhren verästelte. Das Ding hatte sich über die ganze Decke und einen Teil der Wand ausgebreitet, wie ein … Schleimpilz, dachte Dante. Er wusste nicht viel über diese Wesen, nur dass es lichtscheue, wabernde Riesenzellen waren. Terrestrische Amöben. Was Trish dort oben mit ihrer Energie durchflutet hatte, schien das dämonische Gegenstück zu sein – ein unterweltlicher Riesenschleimpilz, der unsichtbar den ganzen Schacht durchwanderte.

Das Licht durchraste die letzten Ausläufer des Knäuels und verschwand. Doch ehe das zähe Halbdunkel zurückkehren konnte, schickte Trish einen weiteren zerstörerischen Stromschlag hinterdrein. Jetzt hörte Dante auch, dass das Ding schrie. Es war eine so hohe Frequenz, dass sie nur am Rand seiner Wahrnehmung kratzte. Die tentakelartigen Verzweigungen zuckten vor; das Wesen waberte an der Wand herab, auf den ersten Kessel zu. Der Hebel, der den runden Deckel anhob, schlug um, und graue Flüssigkeit, die einen stechenden chemischen Geruch verbreitete, schäumte über den Rand der Pfanne. Dante begriff, dass hier ehemals eine Art Säure gekocht hatte, die aus dem Gestein bestimmte Bestandteile herauslösen sollte. Nun, gesundheitsförderlich waren das Zeug und seine Dämpfe sicherlich nicht.

Die Riesenzelle kroch zielstrebig weiter zum nächsten Kessel.

»Dante, ich brauche mehr Power!«, rief Trish über die Schulter.

Ein weiterer Hebel schlug um. Über ihnen in den Röhren rasselte etwas, dann begann aus mehreren kleinen Löchern weißer Dampf zu strömen.

Oh ja, Schleimi war sauer. Die Frage, wer oder was damals all die brutalen, teils tödlichen Unfälle innerhalb des Betriebs verursacht hatte, war nach über einem Jahrzehnt endlich gelöst.

Dante zog Ebony und gab zwei Schüsse ab. Gerade schwappte die letzte Welle von Trishs Energiestoß durch die Kreatur, und schon verblasste sie, drohte wieder unsichtbar zu werden. Die Kugeln schlugen ein, und Dante sah, wie sich etwas in dem Schleimkloß aufbäumte – kurz schälte sich so etwas wie ein verzerrtes Gesicht mit zum Schrei geöffnetem Mund aus dem zerfließenden Körper. Dann war das Licht fort.

Trish knurrte zwischen den Zähnen und raffte ihre Energie für einen weiteren Blitz zusammen.

Dante, der mit einer Hand noch immer Jins schlaffe Gestalt an sich drückte, schob sich Ebony zwischen die Zähne, um nach Ivory zu greifen und die Pistole hinter sich zu halten. Nichts passierte. »Mach dich nützlich!«, wollte er Yuri zurufen, ihm die Waffe hinstreckend (war das wirklich eine gute Idee?), doch heraus kam nur ein befehlendes »Hng!«, da sich jemand, der auf einen Pistolenlauf beißt, schlecht artikulieren kann. Yuri wich mit finsterem Blick zurück. Er sah tatsächlich aus, als würde er gerne irgendetwas tun – sein Körper war gespannt, der Blick wild –, doch er hielt seine Fäuste sinnlos vor der Brust erhoben. Er konnte dieses Ding nicht anfassen. Dante schnaubte ärgerlich. Kapierte Yuri denn nicht, wie verdammt selten und einzigartig es war, dass Dante jemand anderem seine Waffe anbot? Konnte er sich bitte geehrt fühlen und zupacken? Einen Abzug zu drücken war schließlich keine hohe Mathematik!

Mit schwerem Klonk schlug der nächste Pfannendeckel auf. Ganz in der Nähe. Dante kehrte das Gesicht ab, die Absonderungen reizten seine Augen und Atemwege.

Das Wesen blieb unsichtbar. Über ihnen erlosch flackernd eine Lampe nach der anderen. Trish hatte keinen weiteren Blitz gesandt, sondern stand nur da, ihre Kräfte sammelnd.

Dante feuerte mit Ebony auf die Stelle, an der das Pilzding eben noch entlang gewabert war, doch er sah nicht, ob es etwas bewirkte. Langsam wurde es in der Halle wirklich ungemütlich. Zwischen den umherwirbelnden Dampfschwaden konnte er die Tür am anderen Ende des langen Raumes noch sehen, doch der Amöbendämon befand sich irgendwo zwischen ihnen und hatte sicher nicht vor, sie vorbeizulassen. Er versuchte zu erkennen, wohin Trish blickte; immerhin konnte sie den unsichtbaren Kollegen wahrnehmen. Ehe er sie genauer beobachten konnte, fuhr sie herum.

»Ich gebe euch eine Vorlage!«, zischte sie. »Sobald ihr den Kern seht, hämmert alles drauf, was ihr habt!«

Kern? Kern. Dante nickte und verzichtete darauf, über die Schulter zu sehen und Yuris OK abzuwarten. »Leg los.«

Trish hatte ihre Energie zu einem bestimmten Zweck zusammengezogen. Jetzt sah er, wofür: Sie flitzte davon. Schnell wie der Blitz. Oh, diese Fähigkeit liebte er an ihr, einfach herrlich anzusehen. Als gelber Schemen umrundete sie einen weiten Bereich im Gang zwischen den Reihen – dort hockte der Schleimpilz also, aha – und stieß von allen Seiten kleine Blitze wie Nadeln in den formlosen Körper. Dante sah, wie die zuckenden Ausläufer aufleuchteten, während sie der Angreiferin zu folgen versuchten. Sie krochen zielstrebig hierhin, dann dorthin – und erwischten Trish nicht einmal annähernd. Immer verzweifelter streckten sich die gelben Fühler nach ihr aus, doch Trish war jedes Mal rechtzeitig verschwunden, um der unangenehmen Berührung zu entgehen. Kleinigkeit für sie.

Dante zog mit der freien Hand Rebellion und wartete auf seinen Einsatz. Allmählich erkannte er, was Trishs Anweisung bedeutete: Das Wesen rotierte zunehmend um seine eigene Achse in seinem Bestreben, sie zu erhaschen. Immer weiter schwappten die suchenden Arme von der festklebenden Mitte weg und ließen sie ungeschützt. Dort blitzte immer wieder etwas auf, eine Art Herzstück, das nicht unsichtbar war: eine pulsierende rote Blase, glänzend wie unter einem Film aus Öl. Mit jedem von Trishs Angriffen lag dieser Kern einen Sekundenbruchteil länger frei.

Dante griff an. Keinen Wimpernschlag zu früh: Timing war etwas, das er perfektioniert hatte.

Zu seiner Überraschung war Yuri neben ihm wie ein Spiegelbild – er hatte ganz genauso den richtigen Moment zum Zuschlagen erkannt. Zusammen stießen sie vor wie zwei Kobras, rammten ihre Klingen – Dante die Längsseite von Rebellion, Yuri die handlangen Messer, die zwischen seinen Knöcheln herausragten – in das widerwärtige blutgefüllte Hohlorgan, das unter der zähflüssigen Substanz hervorschimmerte.

Es explodierte unter den gleichzeitigen Treffern und bespritzte die Männer mit der nach Verwesung und Fäulnis stinkenden Flüssigkeit. Der Geruch nach Leichensekret setzte Dante kurzzeitig schwer zu, und er hörte Yuri trocken würgen, ehe der Saft, der in breiter Pfütze über den Beton floss, sich endlich aufzulösen begann und inmitten der weißen Nebel, die den Raum immer mehr ausfüllten, zerstob.

»Schnell!«, rief Trish mit hörbar angegriffener Stimme. »Nichts wie raus hier!«

Dante stürzte zurück zu der Stelle, wo er Jin liegen gelassen hatte, und wieder war Yuri wie ein Schatten bei ihm. Simultan ergriffen sie den bewusstlosen jungen Mann und folgten Trish durch die sich zuziehenden beißenden Schwaden zu der mit Eisen verkleideten Tür am anderen Ende.

Sie war nicht abgeschlossen.
 

Gott, was für ein Tag, dachte Dante, während er dankbar die zwar nicht gerade frische, aber immerhin ihn nicht töten wollende Luft einatmete.

Scherereien ohne Ende … Aber Trish war wieder da, sie alle waren da, und sie würden hier rauskommen, weil der Irre eben doch nicht gewonnen hatte. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie würden nach seinem Abgang auf der verzweifelten Jagd nach Devil Jin allmählich krepieren, während der geflügelte Dämon durch irgendeine Luftschleuse nach oben entkam oder sonst was.

Schlechter Plan. Gar nicht cool.

Du hast einen Bock geschossen, du Komiker.

Nach einem zügigen und gefährlich langen Lauf standen sie plötzlich doch in einer Sackgasse; über ihnen befand sich eine verschlossene Eisenluke. Trish zögerte nicht, sondern sprang und warf sich mit der Schulter dagegen – der Riegel brach und das ganze Ding flog nach draußen in den Dreck und die Dunkelheit.

Dreck! Dunkelheit! Hell yeah, sie waren raus aus dem Schacht!

Es fühlte sich an wie das Erwachen aus einem Albtraum. Fast wie eine Wiedergeburt.

Sie stürzten hinaus in die schwarze Wildheit der Nacht. Kräftige Sturmböen fuhren durch die nahezu kahlen Baumkronen, Herbstblätter schlugen Dante ins Gesicht, als er endlich die klare, kalte Luft auf den Wangen spürte. Es war das Ende der schwitzigen Wärme und der geisterhaften Stille, und nun dröhnten die Winde und peitschten auf die Vier ein. Dante spürte, wie sein Schweiß gefror, und unterdrückte ein fiebriges Zittern. Automatisch drückte er den in seinen Mantel gehüllten Jin fester an sich.

»Trish.« Sie drehte sich nach ihm um. »Das Motorrad liegt hier in der Nähe. Hat sich festgefahren, zieh es wieder auf halbwegs festen Boden und die Reise kann losgehen.« Sie nickte. Sicher ahnte sie, warum er ihr das sagte. »Ich, hm, nehme den kurzen Dienstweg.«

Ein Nicken zeigte ihre Zustimmung an. »Ich passe derweil auf den Kleinen auf.« Damit ging sie zu Yuri und packte ihn am Ärmel. »Wir sehen uns zu Hause.«

Damit glitten die beiden ins Dunkel. Dante hörte Yuri noch schwach protestieren: »Muss ich wirklich wieder auf dieses Höllending?« Erst, als jedes ihrer Geräusche vom Heulen der Winde völlig verschluckt war, hob Dante den Kopf und sah zum Himmel. Nur Schwärze war dort zu sehen, kein Mond, keine Sterne, alles erstickte unter dem Leichentuch aus nassgrauen Wolken, das zu dieser Jahreszeit alltäglich das Tal bedeckte.

Dante würde Jin auf dem gefährlichsten, aber schnellsten Weg zum Devil May Cry bringen. Yuri würde sich fragen, wie er vor ihm und Trish dort angekommen sein konnte, und eine befriedigende Antwort würde Dante ihm schuldig bleiben. Vorerst. Niemand war glücklich mit der Situation, so viel stand fest. Aber das war jetzt egal – Trish war wieder da. Lebendig und heil. Das verfluchte Sorgenmachen hatte ein Ende. Weder Yuri noch Jin würden es schaffen, Dante die Laune zu verderben, egal was sie anstellten. Sarris war weg, seine Peitsche mit ihm – egal. Das würde er auch noch hinbiegen. Trish war wieder da. Das war jetzt alles, was zählte.

Dante sammelte seine Kräfte, bündelte sie und ließ sie frei.

Intermezzo II: 7-3

7-3: JIN
 

Als sie das erste Mal zu ihm kam, war es Rettung in letzter Sekunde.

Denn er war am Ende.

Das Gelächter und die Stöße hatten ihn zermürbt. Immer und immer wieder, über Stunden hinweg, endlos, unaufhörlich stießen die Stöcke nach ihm, mal von dieser Seite und mal von der anderen. Es war ganz gleich, woher genau, denn er konnte die Angriffe unmöglich vorhersehen, sie kamen aus allen Richtungen gleichzeitig, von hier, von da, von hinten, von vorn, während er wild in seinem Käfig herumfuhr, immer wieder sinnlos vor den Schlägen davonsprang und ihnen doch nicht entkommen konnte, weil die lachenden Gesichter der Männer vor den Gittern sich schneller bewegten, als er folgen konnte, sie glitten einfach davon, um blitzschnell von einer anderen, unmöglich vorauszuahnenden Position wieder mit den Stöcken zuzustechen und dabei lauthals zu lachen, ewig zu lachen über sein Leid, seinen Schmerz und seine hilflose Wut.

Immer röter wurden der Zorn und die Verzweiflung, die ihn überflutete. Die Gesichter quälten ihn. Sie waren überall. Sie hörten nicht auf. Wieder und wieder schmetterte er seinen Körper gegen die Gitter, die unter der Wucht in ihren eisernen Fassungen dröhnten. Fletschte die Zähne nach ihnen. Raste in seinem Gefängnis. Sinnlos. All seine Kraft, ohne Nutzen, ohne Ventil. Sie zerfraß ihn von innen, während seine Erschöpfung wuchs, verwandelte sich in einen schwarzen Klumpen tief in seinem Innern, der dort pulsierte wie ein böses Geschwür – ein Geschwür, das seine Tapferkeit und seinen Wunsch, dies hier zu überstehen, in brennende, blinde Raserei umkippen ließ, aus der es kein Entkommen gab. Sein Widerstand war gebrochen. Zerknickt wie eine Fischgräte zwischen den Zähnen. Es ging nicht mehr weiter. Der schwarze Strudel, der an ihm zerrte, wurde unnachgiebig stärker.

Doch dann war sie plötzlich bei ihm.

Er hörte ihre Stimme, sanft flüsternd, auf eine Art, die ihm unbekannt schien. Nein, merkte er dann, nicht unbekannt – nur lange vergessen. Dies war die Art, wie sie mit ihm als Säugling gesprochen hatte. Aus dem warmen und lindernden Wispern drang Trost in sein Herz, Trost und neuer Wille, ihr Wille, der unbeugsame Wunsch, ihn niemals dem zu überlassen, was da an ihm sog, ihn zu schützen, was auch immer passierte, seine kleine Seele mit nichts als Liebe zu füllen, um dem Grauen da draußen keinen Raum zu lassen. Ihre Arme lagen um seinen winzigen Leib und schirmten ihn ab von der Kälte. Sicher und tröstend pochte ihr Herzschlag an seinem Ohr. Ihre Stimme erfüllte seinen noch zaghaften Geist.

Und dann entfernte er sich von den Gittern und den Stöcken und den lachenden Männern. Er sah, wie sie unter ihm davon schwebten, als bemerkten sie gar nicht, dass er fortging. Jin sah auf den Käfig hinab und erblickte sich selbst darin.

Er sah ein wimmerndes, gepeinigtes Tier.
 

Den nächsten Kampf verkraftete er leidlich besser.

Seine Entschlossenheit war zu einem Gutteil wiederhergestellt, als sich erneut erste klare Gedanken aus der ihn umwabernden Dunkelheit schälten. Er wusste, dass er noch immer träumte; es fühlte sich an wie selbstverständlich, er war darüber weder überrascht noch entsetzt oder kam auf den Gedanken, diese Erkenntnis zu hinterfragen. Dieses Wissen war einfach in ihm, ein natürlicher Teil von ihm, den es nicht aufregte, berührt zu werden. Es war alles richtig so.

Vor ihm lag eine dunkle Ebene. Sie erstreckte sich von seinem Standpunkt aus bis zum Horizont und darüber hinaus, verlief sich gleichförmig und eintönig in alle Winde. Ein Meer aus langen grauschwarzen Halmen wogte in einem Wind, der nicht wehte, und am Himmel stand tief eine große, blutrote Sonne, deren Strahlen blass und kalt die lichtlose Gegend streiften, ohne sie tatsächlich zu berühren. Jin spürte weder Wärme noch Luftzüge auf der Haut. Er wusste, dass dies hier die Einsamkeit war, die ihn ausfüllte; jene Einsamkeit, in die er sich zurückgezogen hatte, sobald er Devil und sein zerstörerisches Wesen in sich entdeckt hatte. Er war von Furcht überrollt gewesen, von Entsetzen und Abscheu über sich selbst, und erschrocken hatte er alle Kontakte aus seinem früheren Leben abgerissen, hatte die Brücken gesprengt und die Anker gekappt, hatte fortan nur noch sie gesucht, diese schreckliche, leere Stille, die sich nun vor ihm ausbreitete. Hier gab es nur ihn und das Monster, hier konnte er niemanden verletzen. Er hatte die ersten neunzehn Jahre seines Lebens, die von Frieden, Geborgenheit, auch Schmerz, aber ebenso von Ehrgeiz und neuer Zuversicht geprägt gewesen waren, zurückgelassen wie ein leeres Haus, in das er nicht zurückkehren konnte. Ob gute Freunde, nette Bekanntschaften oder flüchtige Kontakte – keinen Menschen ließ er mehr an sich heran, bis schließlich alles, was damals gewesen war, langsam verblasste und nicht mehr davon übrig blieb als eine Erinnerung daran, dass er einmal ein Mensch wie alle anderen gewesen war, mit einem normalen Leben und normalen Problemen. All das lag nun schon so lange zurück, dass selbst der einstmals verzehrende Schmerz in seiner Brust nur noch ein dumpfes Pochen war.

Das stimmt nicht, kam ihm unterschwellig zu Bewusstsein. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, aber es ist nicht einmal drei Jahre her. Die Wunde müsste noch immer frisch sein. Warum fühlt sie sich jetzt nur noch an wie eine juckende Narbe?

Die Einsamkeit war so gegenwärtig, als hätte er nie etwas Anderes gekannt. Keine Worte waren mehr in seinem Geist, keine Wege der Kommunikation. Zurück blieb nur das Schweigen.

Bin ich noch ein Mensch?, fragte er sich. Hat er etwas von dem, was ich früher war, übrig gelassen?

Nein, das ging nicht, das durfte nicht sein. Er konnte sich unmöglich von diesem Vakuum, das sämtliche Gefühle in ihm tilgte, davontragen lassen. Noch nicht. Er hatte noch etwas zu tun. All die Monate des erbitterten Kampfes gegen die Bestie durften nicht umsonst gewesen sein, das würde er nicht zulassen. Er musste aufwachen. Musste diesen leblosen Traum verlassen. Jetzt sofort.

Bleib, sagte sie dicht an seinem Ohr. Bleib bei mir.

Körperlos drehte er sich zu ihr um und sah sie, milchig und durchscheinend. Ihre Erscheinung bot so wenig Kontrast zur trostlosen, grauroten Umgebung, dass sie darin ganz und gar unterging, nur ein schwacher Hauch an einem windstillen Tag.

»Ich kann nicht«, erklärte er ihr. »Das hier ist nicht real. Ich kann nicht den Rest meines Lebens in einem Traum verbringen.«

Warum nicht? Ihre dunklen Augen sahen von Trauer bewegt hinauf in seine. Du musst niemals von hier fortgehen, das weißt du. Das Böse erreicht dich hier nicht. Und du kannst endlich wieder bei mir sein. Er spürte ihre Hand auf seiner. Zu zart, zu kühl, und dennoch war ihr Griff fest. Das möchtest du doch. In deinem Herzen weißt du es. Du hast dich so lange nach mir gesehnt. Ich will nicht, dass du mich jemals wieder verlässt. Ich ertrage es nicht, dich ein zweites Mal zu verlieren. Ihre Stimme war nicht beherrschend, nur bittend, flehend. Ihre Finger bebten. Verzweiflung stand in den Tiefen ihrer Augen.

Sanft streichelte er ihre Finger mit seinen eigenen. Natürlich war das die Wahrheit. Der Tod seiner Mutter hatte ihn zum Zeitpunkt seiner größten Verletzlichkeit getroffen, und in seiner Abhängigkeit von ihrer Liebe hatte er ihren Verlust nie verwinden können. Sich plötzlich schutzlos und völlig allein zu finden, das hatte seine friedliche Kindheit auf einen Schlag beendet, ein Schlag so fest, dass Jin seinen sicheren Stand nie wiedergefunden hatte. Erschüttert bis ins Mark und ohne Ersatz für diese nährende, heilende Liebe, die er als Kind erfahren hatte, war er misstrauisch und verbittert geworden, ein Mann, der sein Herz vor der Welt verborgen tief in kalter Erde vergraben hatte.

»Ich muss gehen.« Er versuchte, sie loszulassen.

Bitte nicht, Jin. Sie weinte leise. Bitte nicht. Geh nicht fort. Lass mich nicht allein.

»Ich muss.« Doch er spürte bereits, wie sein Widerstand schwächer wurde. War es denn nicht wirklich völlig gleich, was er tat? Wen interessierte es, ob er in die Welt der Lebenden zurückkehrte und diese erneut mit Devils Präsenz belastete? War es nicht wirklich besser, wenn er fort war? Fort, versenkt in sich selbst, und nie zurückkehrte?

Einfach vergehen wie ein Windhauch. Die Ewigkeit unter sich verstreichen spüren. Diese Welt vergessen. Seinen Schmerz, seine Angst, seinen Hass und seine Verzweiflung einfach dort draußen zurücklassen. Nur mit sich allein und dieser Traumgestalt von seiner Mutter in friedlichem Nichts treiben.

Wen interessierte es schon? Er hatte keine Freunde mehr, dafür hatte er gesorgt. Niemand vermisste ihn. Wer da draußen noch an ihm interessiert war, wollte ihn tot sehen. Für ihn gab es in der wahren Welt weder Liebe noch Erfüllung. Dort wartete nur Devil.

Langsam erwärmte ihre Hand sich in seiner. Er bemerkte, dass er sie selbst nun fester drückte als sie ihn. Loszulassen war falsch. Er brauchte das hier. Dieser Traum konnte seine neue Wirklichkeit werden.

»Gut.« Es kam kaum über seine Lippen, nur wie ein Flüstern. Doch er wusste, dass sie zuhörte. »Ich bleibe bei dir. Für immer.«

Wieder drückten ihre Hände einander.
 

Lügen. Nichts als Lügen und falsche Versprechungen.

Ein Traum, weiter nichts; ein irrsinniger Klartraum, der ihm seinen sehnlichsten Wunsch vor Augen geführt hatte. Sobald er das Versprechen abgegeben hatte, nie wieder zu erwachen, war die Illusion verblasst. Verweht von unsichtbarem Wind ließ sie Jin voller Sehnsucht und gestohlener Hoffnungen zurück. Er konnte nicht einfach vor der Welt fliehen, diese Option gab es nicht; wie hatte er nur so einfältig sein können, an so etwas zu glauben?

Sein Kampf würde immer und immer weitergehen.

Er begann seinen Körper wieder zu spüren, erst dumpf, dann stärker. Berührungen drangen durch die Dunkelheit. Er wusste nicht, wie viel davon Illusion war, doch ein Teil dieser Empfindungen fühlte sich real an. Sein Geist erschuf den Hintergrund zu diesem haptischen Szenario, und er fand sich in einem Bett wieder. Noch immer war es dunkel um ihn herum, doch diese Dunkelheit war weder beängstigend noch bedrückend, und das erstaunte ihn selbst. Sie war … friedlich. Und noch mehr erstaunte ihn – als er die Präsenz seiner Mutter so dicht bei sich fühlte wie nie zuvor –, dass es ihm nicht wehtat.

Er schlief in einem Bett in einem dunklen Raum, der nur in seinem Kopf existierte; der ebenso wenig real war wie der vergitterte Käfig und die trostlose Ebene. Und sie war bei ihm. Er wusste es, obwohl er sie nicht sah und obwohl sie nicht sprach. Sie saß auf der Bettkante über ihn gebeugt. Er sah nichts, weil er die Augen nicht öffnete, und das war auch nicht nötig. Er fühlte ihre Nähe, ihre Wärme, die unvergängliche und bedingungslose Liebe einer Mutter, die über ihr Kind wacht. Wie oft hatte sie, als er ein kleiner Junge gewesen war, des Nachts so bei ihm gesessen, während er geschlummert und ihre Anwesenheit bis in die Tiefen seiner Träume hinein gespürt hatte? Schweigend hatte sie ihn behütet, laut- und reglos, hatte einfach nur ihre Liebe wie eine Decke über seinen verletzlichen Körper ausgebreitet. Nach ihrem Tod war die Erinnerung an diese Liebe das Einzige gewesen, das ihn am Leben erhalten hatte. Das Einzige, das seinen zerrütteten Geist genährt und wieder gestärkt hatte, nachdem er zu zerbrochen war, um selbst noch dazu fähig zu sein. Jin war schwach. Das wusste er. Er war es immer gewesen. Ohne die tiefempfundene Zuneigung seiner Mutter, die ihm über ihren Tod hinaus noch zuströmte, war er, auch jetzt als Mann, so hilflos wie ein verwaistes, blindes Tierjunges. Seine Lebensgeister flackerten nur ihretwegen. Weil sie stark war, wo er es nicht sein konnte.

Lange genoss er die Ruhe ihres Beisammenseins. War er auch in Wahrheit allein gewesen, als die Traumgestalt ihn dazu überredet hatte, sich in seiner Einsamkeit zu verlieren – jetzt war er es nicht. Das wusste er mit unumstößlicher Gewissheit. Er war nicht verlassen. Er würde niemals verlassen sein. Dieses Wissen erfüllte und wärmte ihn. Sie war bei ihm, ganz egal, wo sein Körper sich in Wirklichkeit befand, ganz egal, in welchem Zustand er war. Sie hatte ihn niemals wirklich allein gelassen.

Irgendwann – er wusste nicht, wie viel später, hatte kein Empfinden für Zeit inmitten dieses Meeres aus Ruhe, in dem er trieb – ging sie fort. Er spürte mit einem Mal ganz deutlich, wie ihr Gewicht sich vom Rand des Bettes erhob. Ihre Nähe, so greifbar und gegenwärtig, verschwand von seiner Seite.

Doch es war nicht schlimm.

Es war in Ordnung.

Sie war nicht wirklich fort, und er war nicht wirklich verlassen.

Er wusste, dass es oft so gewesen war in seiner Kindheit; sie hatte lange Zeit bei ihm gesessen, sodass es ihm im Schlaf völlig bewusst gewesen war, bis sie schließlich ein letztes Mal seine Hand gedrückt, die Decke glattgestrichen und sich leise entfernt hatte. Dieses Verlassenwerden war nicht beängstigend und schmerzte auch nicht. Sie beide wussten, dass es kein Abschied war. Am Morgen würden sie einander wiedersehen.

Doch jetzt war es Zeit zu gehen.

Jetzt war alles gut.
 

Jin spürte die Wirklichkeit über sich gleiten, spürte, wie die Schleier des Traums sich lichteten. Sein Körper, seine Arme, Beine, Finger, Zehen, Augenlider – alles kehrte zurück an seinen Platz.

Und immer noch herrschte völlige Ruhe.

Als er langsam die Augen öffnete, fühlte er Kälte auf den Wangen. Sein Blick, der durch den Spalt der Lider drang, war verschwommen. Er wusste, woher das kam. Dass sein Gesicht sich kühl anfühlte, dass seine Augen nichts sahen, lag daran, dass sie nass von Tränen waren.

Akt IV - Balsam: 8-1

8-1: DANTE
 

Der schmale helle Streifen am Horizont wurde schnell breiter und kündigte den nahenden Sonnenaufgang weit früher an, als es Dante lieb gewesen wäre. Auf dem Weg in den Talkessel hinunter behinderte ihn die zunehmende Helligkeit dabei, ungesehen in die Stadt zu gelangen. Abgesehen davon, dass er im eiskalten Wind, der überall an ihm rüttelte, so sehr fror, dass er es fast nicht aushalten konnte, hatte der Sturm auch den Himmel von Wolken blankgefegt, sodass die Straßenlichter in der Ferne nicht länger aus der Finsternis hervorstachen wie fliegende Funken; die Konturen von Dächern und Monumenten hoben sich immer schärfer von der schwarzblauen Nacht ab. Selbst der Nebel hatte sich völlig verzogen. Dante beschloss, den restlichen Weg zu Fuß zu gehen, Jin auf den Armen tragend. Der junge Mann war noch immer reglos und fühlte sich zudem so alarmierend kalt an, dass Dante sich ernsthaft Sorgen zu machen begann, ob er ihn wirklich noch lebendig in die beheizte Stube schaffen konnte.

Hinter der Highway-Auffahrt kamen die ersten Ausläufer von Hallow Hills in Sicht. Still starrten die Silhouetten der niedrigen Häuser durch die kristallklare Luft; Menschen waren keine zu sehen. Dies waren jene zarten Stunden des frühen Morgens, in denen tatsächlich alles schlief.

Dante schlich um die Häuserfronten wie ein Gangster, Jins schlaffen Körper an die Brust gepresst und fasziniert von der Stille, die sie beide umgab. Trotz der Anstrengung, die ihn der Weg gekostet hatte, war ihm erbärmlich kalt – oder vielleicht gerade deswegen, bedeutete der Verlust von Energie doch immer auch den von Wärme. Und was er gemacht hatte, um so schnell hierher zu gelangen, das hatte ihn wirklich eine Menge Energie gekostet, verdammt.

Aus der Ferne drang, an den Talwänden bizarr widerhallend, der Lärm des Motorrads heran. Dante hörte es lange, bevor es auch nur annähernd in Sichtweite kam, und seine Ohren kribbelten. Taub waren sie nur von der Kälte. Trish und Yuri waren jedenfalls nahe, und das war gut. Wahrscheinlich überholten sie ihn, bevor er das Devil May Cry erreichte. Das war nicht der Plan gewesen, doch das frühe Licht hatte ja alles kaputt gemacht. Tarnung war nun mal eine der obersten Prioritäten. Auch wenn wirklich niemand zusah.

Dante schaute einmal rund um sich, verließ dann die Schatten und überquerte die Hauptstraße mit großen Schritten. Oh, er würde jetzt auch gern im Warmen sein und schlafen, am besten zwei volle Tage, soviel stand fest. Jin auf seinen Armen sah so erbärmlich aus, wie Dante sich fühlte.

Als das Motorengeräusch tatsächlich so laut wurde, dass er es genau lokalisieren konnte, verfiel er trotz der Steifheit seiner Glieder noch einmal in Laufschritt. Dämlicher männlicher Stolz stellte die Anforderung an ihn, trotzdem als Erster anzukommen.

Es klappte fast.

Um ein Haar hätte Dante die richtige Straße verfehlt, da er, aus alter Gewohnheit, nach der roten Neonschrift Ausschau gehalten hatte; dann fiel ihm wieder ein, dass niemand sie eingeschaltet hatte. Trish bog hinter ihm ab, und der Lärm zeriss noch einmal besonders grausam die perfekte Stille, die über der Stadt ruhte. Dante drehte auf dem Absatz um, wobei er Jin fast mit dem Kopf gegen eine Hausecke gerammt hätte, und folgte ihr.

»Hey!«

Gerade hielt das Motorrad vor der schwarzen Fassade des Devil May Cry, und Yuri kletterte schleunigst vom Rücksitz, wobei es einen Moment lang aussah, als würden seine Knie gleich unter ihm nachgeben. Trishs Fahrstil war eben Quälerei.

»Du warst langsam, Dante«, merkte sie an, während sie das Vehikel in aller Ruhe an der Hauswand arretierte. Der taillierte Mantel schmiegte sich um ihre makellose Gestalt. »Was hat dich aufgehalten?«

Dante machte eine ungeduldige Kopfbewegung Richtung Himmel.

»Oh, bist du nicht Profi?« Der neckende Ton war Programm, aber sie würde es nicht schaffen, ihn aufzuziehen. Nicht mehr für eine sehr, sehr lange Zeit.

Yuri guckte nur zwischen ihnen hin und her, zitternd die Hände in den Taschen vergraben, was wahrscheinlich nicht viel nützte. Sein Blick blieb an Jin auf Dantes Armen hängen.

Trish trat, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, sofort von ihr zurück, um Dante mit seiner Fracht zuerst einzulassen. Dante genoss das erhebende Gefühl der Erleichterung, als er sich bewusst machte, dass sie nun alle in Sicherheit waren. Zu Hause, im Warmen, im Gewohnten. Als er die Tür erreichte, hob er den Fuß und trat sie ein. Sie flog rekordverdächtig weit, bis kurz vor den Schreibtisch. Staub rieselte vom Türrahmen, als Dante zufrieden hindurch spazierte.
 

»Sie hängt schon ziemlich lose«, stellte Yuri fest, nachdem er und Dante die Tür wieder eingehängt hatten.

»Oh, wirklich?«, gab Dante lahm zurück, während er sich mit gekreuzten Armen der Couch zuwandte.

»Da hat sie wohl jemand zu oft aus den Angeln getreten.« Trish trat neben ihn, und flüchtig berührte ihre herabhängende Hand seine eigene.

Gemeinsam starrten sie hinunter auf Jin Kazama, der wie tot unter einem Bündel Decken lag und dessen schwache Atemzüge kaum seine Brust bewegten. Sie hatten das Blutgeschmiere mit warmem Wasser von seiner Haut gewaschen und ihn flüchtig untersucht, jedoch nur feststellen können, dass er vermutlich ziemlich entkräftet und unterkühlt war.

»Ich gehe duschen«, teilte Trish ihm leise mit und verließ seine Seite.

Dante wandte nicht den Blick ab. Er zwang sich, Jin anzusehen, vergegenwärtigte sich die Tatsache, dass er an dieser Misere Schuld war, mit einem beinahe masochistischen Genuss. Wie ein Ferkel im Schlamm suhlte er sich in dieser Schuld, die sich fast körperlich schmerzhaft und gleichzeitig auf seltsame Weise heilsam anfühlte. In diesem Moment wünschte er sich, dass ihm jemand wehtat.

Yuri kam angetrottet, blieb neben ihm stehen und stieß sein bekanntes despektierliches Schnauben aus. »Tse. Der hat doch nichts, wieso wacht er nicht auf?«

»Weil ihm das Ganze den Rest gegeben hat«, erklärte Dante, ohne in das verdrießliche Gesicht des Anderen zu sehen. »Hast Recht, er hat keine Wunden. Er ist einfach nur platt.«

»Sind wir doch auch.«

Sie gafften beide auf Jin hinunter. Lange Sekunden verstrichen, in denen sie weder sprachen noch sich bewegten. Dann aber ging plötzlich alles ganz schnell. Beinahe ohrenbetäubend war das KLICK in ihren Köpfen, als sie sich jäh beide erinnerten, was sie seit der äußerst delikaten Konversation mit Sarris vor sich hergeschoben hatten.

In ein und derselben Bewegung griffen sie beide nach ihren Waffen, und nur einen Wimpernschlag später lag Ivorys Mündung und Yuris Schläfe und eine blau glühende Fingerklinge an Dantes Kehle.

»So, jetzt ist Schluss mit den Spielchen«, grollte Dante. »Was bist du? Wie hat Sarris dich genannt, was ist das?«

»Und du?«, schnappte Yuri zurück, wobei Geifer auf seinen gekräuselten Lippen glitzerte. »Was hat der Irre gemeint, das du verheimlichst? Denkst du, du kannst mich ewig verarschen?«

»Du hast angefangen, Kumpel!«, knurrte Dante, ihm den Pistolenlauf an die Haut drückend. »Außerdem ist das hier meine Bude und du bist wohl eher mir Rechenschaft schuldig als andersrum!«

Yuri starrte ihn finster an. Das widernatürliche Rostrot seiner Augen spiegelte eine Mischung aus Enttäuschung, Wut und … Furcht. Ja, natürlich hatte er Angst. Jeder, der Dante in die Augen sehen musste, hatte Angst; sogar Devil. Aber Yuri hatte eben den Mumm dazu, diesen instinktiven Fluchtreflex auszublenden, genau wie Jin.

Immer noch lag das kalte Metall der Klinge an Dantes Hals, genau unterhalb des Kinns, wo unter der Haut die Schlagader verlief. Er selbst dachte ebenfalls nicht daran, Ivory wegzunehmen. Jedenfalls nicht zuerst. Er wollte Yuri genauso wenig das Hirn aus dem Schädel und gegen die Wand pusten, wie dieser ihn filettieren wollte, das war unbestritten; das hier war reines Imponiergehabe, aber es musste sein.

Yuri schien seinen Standpunkt verdeutlichen zu wollen. Seine Faust, die den klingenbewehrten Schlagring hielt, spannte sich kaum merklich fester.

»Denk nicht mal dran«, sagte Dante scharf, ehe der Druck gegen seine Kehle stärker wurde. »Wenn du mich ein bisschen ritzt, schieße ich ein bisschen

Verkrampft entblößte Yuri die obere Reihe seiner Zähne, hielt aber inne. Noch immer sahen sie einander so fest in die Augen, dass Dante das Gefühl hatte, die Konturen im Raum würden sich allmählich verdunkeln und ineinander fließen.

Hinter ihnen ging mit leisem Knarren die Badezimmertür.

Einen Moment lang war Trishs erstaunter Blick förmlich zu spüren; dann stöhnte sie enerviert und fragte: »Ernsthaft

Als sie beide nicht reagierten – Dante hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, was er tun sollte, aber nachgeben ganz sicher nicht –, kam sie, nur in ein Frotteehandtuch gehüllt, das sie kaum von Brust bis Hüfte bedeckte, in langen Schritten zu ihnen und packte gleichzeitig Dantes und Yuris Hand, in der jeweils die Waffe lag, um sie nachdrücklich vom Körper des jeweils Anderen wegzuziehen. Energisch funkelte sie sie beide aus ihren leuchtend blauen Augen an, und der Rahmen aus nass glänzendem Haar verlieh ihrem Gesicht zusätzliche Strenge. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab. »Männer«, brummte sie und zog das Handtuch fester um sich. »Klärt das gefälligst vernünftig.« Und statt wieder zurück ins Bad zu gehen, setzte sie sich auf die Kante des Sofas, überschlug die nackten Beine und wartete.

Dante merkte, wie der Krampf in seinen Muskeln schmerzhaft wurde. Widerwillig lockerte er den Griff um die Pistole. Nur Sekunden später ließ auch Yuri die Faust endgültig sinken und schüttelte augenrollend den Arm aus.

»O-kay, hören wir auf mit der Kacke.«

»Schön, dass du vernünftig wirst.« Er konnte es sich nicht verkneifen. »Du zuerst.«

Yuri ließ sich breitbeinig auf das Sofa fallen und starrte düster auf die Dielen. »Du hast also keine Ahnung, was ich bin?«

»Ich bin nicht allwissend. Spuck’s aus, und keine Rumdruckserei mehr.«

»Na schön. Ich bin ein –«

»– Harmonixer«, sagte Trish neben ihm plötzlich in eher beiläufigem Ton. »Ein Seelenverschmelzer. Das ist ein uralter Fluch, der vererbt wird – meistens an Söhne, selten an Töchter. Inzwischen vermutlich ausgestorben, weil die wenigsten solcher Menschen tatsächlich ihrem Nachwuchs diese Last aufbürden wollen, egal wie nützlich sie ist.«

Yuri sah sie beeindruckt an, und Dante ertappte sich dabei, dass er das auch tat.

»Es wird nicht automatisch vererbt«, sagte Yuri. »Bei mir dachten sie, ich hätte es nicht, bis … bis es dann doch erwacht ist.«

»Und was macht ein Harmonixer?«, fragte Dante, während er Ivory endlich wieder in den Gürtel schob. »Du kannst Teufelswaffen benutzen und siehst aus wie ein Junkie. Du musst irgendwie berührt sein.«

Yuri lachte bitter auf. »Es ist noch schlimmer. Wenn ich Monster töte, zerren ihre Seelen an meiner und füllen mich bis zum Hals mit ihrer Bösartigkeit.« Er griff unter das Shirt und holte den sonderbaren Talisman hervor, der genauso dumpf von innen heraus glühte wie seine Augen. »Das Schlimmste habe ich überstanden, glaub ich, als ich … gezwungen war, mich meiner Angst vor dem Bösen zu stellen. Meinem Bösen. Denn ich muss ständig aufpassen, dass es mich nicht … aufzehrt. Aber Harmonixer zu sein hat auch was Nützliches … Ich kann meine eigene Seele mit der eines Dämons vereinigen.«

Dante starrte ihn an und versuchte, sich darauf einen Reim zu machen. Es gelang ihm nicht richtig. Argwöhnisch hakte er nach: »Wie … vereinigen? Dämonen haben keine Seelen wie wir.«

»Aber so was Ähnliches, eine Art … Spiritus. Und das kann ich mir nehmen und damit verschmelzen. Wir nennen das Fusion

Für Dante klang das nach Märchenbuch. »Im Ernst? Du kannst mit jedem x-beliebigen Teufel eins werden?« Ein Teil von ihm weigerte sich, das zu glauben. Er hatte noch nie von so einer absurden Fähigkeit gehört. Andererseits war Yuris Gesichtsausdruck gerade so ernsthaft wie nie zuvor; er konnte sich das einfach nicht ausgedacht haben, ein so guter Schauspieler war er nicht. Und außerdem kannte Trish diese Fähigkeit.

Yuri sah immer noch beiseite, und nun stopfte er den Talisman gedankenverloren wieder in seinen Kragen. »Also … ganz so einfach ist das nicht. Meine Seele muss die des Teufels unterwerfen, sonst verschlingt er mich … und ich verliere mich in ihm, bis nichts mehr von mir übrig ist. Ich gehe in ihm unter wie in einer schwarzen Suppe und komme nie wieder hoch. Er löscht mich aus, als hätte es mich nie gegeben.«

»Gruselig«, sagte Dante mit einem Zungenschnalzen.

Trish musterte Yuri von der Seite, und ihre Augenbrauen gingen jäh steil nach oben. »Du hast deine Fähigkeiten schon einmal überschätzt«, stellte sie fest.

Er nickte beherrscht. »Kann von Glück sagen, dass ich hier sitze.«

»Was war es?«

»Ich will nicht drüber reden.«

Dante wandte sich ab und schlenderte um den Tisch herum zur anderen Couch, wo Jin lag. Ich wusste doch, dass in Yuri irgendwas drinsteckt, dachte er. Seelenverschmelzung mit Dämonen? Erfüllt werden vom Bösen? Na, besten Dank. Das erklärt seinen komischen Charakter. »Das ist also die Art und Weise, wie du Dämonen erledigst, denen du nicht einfach den Schädel einschlagen kannst. Du verschmilzt mit ihnen. Ihr werdet zu einem Körper, und du besiegst sie …« Er tippte sich an die Stirn. »… mit dem Geist.«

»Yo. So ist das.«

»Fesch.«

»Sei froh, dass du das nicht kannst.« Yuri lehnte sich zurück, atmete tief durch und machte dann eine auffordernde Geste. »Gut, alter Mann, du bist dran. Was kannst du, das keiner sehen darf?«

»Ich erzähle es dir«, versprach Dante, »sobald er wach ist.« Er wies auf Jin. »Ich erzähl’s euch beiden, denn das bin ich euch schuldig. Kannst du damit leben?«

Yuri zuckte die Achseln. »Das war zwar nicht abgemacht, aber ich werd’ durchhalten.«

»Fein. Ich leg alle Karten auf den Tisch … Versprochen.« Und dann gründen wir eine Selbsthilfegruppe für gestörte Typen mit Teufelskräften. Wird lustig.

Er sah zu Trish, und sie schien zufrieden. Elegant erhob sie sich wieder von der Sofakante und ging zurück ins Bad, nicht ohne noch einmal einen warnenden Blick durch den sich schließenden Türspalt zu werfen.

Dante betrachtete Yuri, der ohne jegliche Ambitionen zu neuer Gewalt träge sitzen geblieben war. Beiläufig fragte er: »Kannst du so eine … Fusion alleine wieder beenden?«

»Jap«, gab Yuri bereitwillig Antwort, »es sei denn, ich raste aus.«

»Wie, du rastest aus?«

»Na, ich kann’s nicht leugnen, das Fusionieren reißt ganz schön an den Nerven. Wenn ich zu lange mit einem Dämon verschmolzen bleibe, laufe ich Amok. Dann ist es wie bei ihm.« Er nickte zu Jin hinüber. »Ich hab keine Kontrolle mehr und weiß auch später nicht mehr, was los war.«

»Ah. Hab ich mir gedacht, dass man das nicht einfach so aushalten kann. Und wenn du Amok läufst, wie geht das dann vorbei?«

»Mit Gewalt natürlich, anders nicht. Man muss mich bewusstlos machen oder eben so schwer verletzen, dass ich es körperlich nicht mehr aushalte.«

Sieh an. Er und der Kazama-Boy haben doch mehr gemeinsam, als ich dachte. »Passiert das oft, dass du … ausrastest?«

»Nein«, gab Yuri entschieden zurück. »Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich bin Profi.«

»So.« Dantes Blick wanderte aufs Neue zu Jin. »Kannst du ihm dann nicht helfen?«

»Nope. Nicht nachdem ich das Vieh im Schacht gesehen hab. Keine Chance, das riskier ich nicht.« An Yuris düsterem Blick war zweifelsfrei zu erkennen, dass er noch immer einen unterschwelligen Groll gegen Jin hegte. »Das Ding war echt heftig. Ich hab ja schon viel gesehen, aber das war eins der wirklich harten Sachen. Lange wird er das nicht mehr aushalten, Mann … Es wird ihn zerstören.«

»Was bei einem Teufel dieser Stärke längst hätte passieren müssen«, sagte Dante und sprach damit aus, was er dachte. »Aber wie auch immer: Als nächstes müssen wir uns überlegen, was Sarris jetzt machen wird. Wenn ich das richtig verstanden habe, fehlen ihm Seiten aus der Dschaizan-Kopie.« Besagte Blättersammlung ruhte unsortiert auf seinem Schreibtisch, oben auf dem Buch Henoch, während die Divina Commedia wieder ihren angestammten Platz im Bücherregal eingenommen hatte.

Yuri grinste. »Lächerlich, oder? Alle fragen sich, warum bei dieser Abschrift der Mittelteil fehlt, dabei war er schon im Original nicht drin … was man wohl vergessen hatte, als es geklaut worden war. Ich glaube, ich weiß, wo die Seiten sind. Ein Freund von mir hat früher viele Manuskripte kopiert und dabei immer die Seiten rausgenommen, die gefährlich sind. Vielleicht hat er das später auch bei Abschriften von Anderen gemacht. So eine Art Entschärfung. Azazel muss ein mächtiger Dämon sein, wenn der Irre diese fehlenden Seiten braucht. Mächtiger als Devil.«

»Gut, ich schlage vor, wir lassen uns das erklären.« Und Dante wusste auch, wer das tun würde. Sich nach dem Badezimmer umdrehend rief er: »Trish!«

»Was?«, drang ihre Stimme durch die Tür, und das Schnurren des Haartrockners verstummte.

»Du hast ihm gesagt, dass die Seiten, die er braucht, nicht in dem Kodex sind! Wieso wusstest du das?«

Zuerst antwortete ihm ein kurzes Schweigen; dann erklärte sie: »Du vergisst, dass ich auf Mallet Island lange Zeit allein war. Und alles vorbereitet habe, um … dich zu … ah, du weißt schon.«

Natürlich wusste er. Nicht ihr Lieblingsthema, und seins auch nicht. »Was weißt du sonst noch über Azazel?«

»Auch nicht viel. Wieso interessiert uns das noch? Ich hab das Buch gesehen. Es fehlen genau vierzehn Seiten. Die wichtigsten. Ohne diese Seiten kann Sarris die Invocatio nicht durchziehen.« Ein leises Klicken zeigte an, dass sie einen Stecker aus der Dose zog. »Dante, hast du dir das Manuskript angesehen?«

»Nein.«

»Dann mach es jetzt.«

»Warum?«

»Weil ich wissen will, was du siehst.«
 

Während Dante das Bündel loser Seiten vom Schreibtisch nahm und damit zur Sitzecke zurückkehrte, gesellte Trish sich wieder zu ihnen. Ihr Haar war nun halb trocken, und sie trug ihren cremefarbenen Bademantel. Als Dante sie so ansah, musste er lächeln. An diesem Anblick konnte er sich einfach immer wieder freuen, er erweckte ein starkes, heimeliges Gefühl der Zuneigung in ihm, das er nicht ganz erklären konnte; es war einfach, als würde Trish, wenn sie so unschuldig aussah, ohne es zu wissen eine Saite in ihm zum Schwingen bringen, die ihn schon in seiner Kindheit mit Entzücken erfüllt hatte. Zum Teil wusste er, woran das lag – und das war ein Teil, über den er nicht nachdenken wollte. Besser nicht.

Zu dritt saßen sie auf dem freien Sofa, Dante in der Mitte, und Trish nahm ihm die Folios ab und breitete sie auf dem Tisch aus. »Der Text auf der Tafel von Dschaizan ist in einer alten Schrift und Sprache der Dämonen verfasst«, erklärte sie. »Kein Mensch kann die Worte entziffern oder aussprechen. Die Seiten werden also nicht laut verlesen, sondern müssen bei der Beschwörung lediglich präsent sein, damit der Dämon sie selbst lesen – oder sagen wir, wahrnehmen kann. Deshalb wusste Sarris auch nicht, welche Seiten diejenigen sind, die er braucht.«

In Dante reifte die Erkenntnis. »Aber du schon.«

Trish nahm eine der Seiten und hielt sie ihm vor das Gesicht. Er nahm sie, stellte seinen Blick darauf scharf … und wusste sofort, was sie gemeint hatte. Weil ich wissen will, was du siehst. Es war, als sprängen ihm die unlesbaren Symbole von der Seite entgegen; seine Augen und sein Hirn schienen sich nicht einig zu sein, was sie da sahen. Die Zeichen hatte eine seltsam widernatürliche, ekelerregende Geometrie, sie waren zu perfekt gerade oder zu perfekt gerundet, über das Mögliche hinaus, sie hoben sich von der Seite ab, veränderten sich, sahen einfach abartig überrealistisch aus, als existierten sie in zwei Dimensionen zugleich. Mal waren sie erhaben, schwebten, mal sanken sie tief ins Bodenlose. Schon nach wenigen Sekunden des Draufstarrens fühlte Dante sich wie verkatert. Sein Kopf schmerzte, und ihm wurde so übel, dass er den Blick abwenden und tief durchatmen musste.

»Alles okay?«, fragte Yuri, der ihn von der Seite musterte. »Ich seh’ da ehrlich gesagt nur komische Zeichen. Ist da noch was Anderes?«

Dante rieb sich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein.« Aber sein knapper Seitenblick zur ihn wachsam beäugenden Trish informierte sie hinreichend. Yuri war ein Mensch, er sah unbekannte Buchstaben; Trish sah die andere Wirklichkeit, erfasste den Sinn hinter den Linien und Schnörkeln, erblickte ihre wahre Natur; und er, Dante, sah beides gleichzeitig, und das war kaum auszuhalten. Es fühlte sich an, als wollte er etwas mit den Augen fixieren, das sich dafür knapp zu schnell bewegte, während alles um ihn herum sich drehte.

»Glaubst du, der Irre wird die vierzehn Seiten suchen gehen?«, fragte Yuri.

Trish übernahm die Antwort. »Wie ich ihn einschätze, ist er bereits dabei. Hoffen wir, dass er nicht weiß, wo er suchen muss.«

»Ich hätte eine Idee, wo sie vielleicht sind. Ich weiß, wo Roger gefährliche Schriften aufbewahrt.«

»Roger? Dein ominöser Freund?«, hakte Dante nach. Eigentlich wollte er das Thema jetzt nicht ausbreiten, denn er wurde langsam müde. Mehr als müde, wenn er ehrlich war.

»Roger Bacon«, sagte Yuri eifrig. »Schräger Typ, aber der klügste Kopf, den ich überhaupt kenne. Wir könnten schneller sein als Sarris, wenn wir Rogers Spuren folgen.«

»Aber nicht, solange der da nicht fit ist«, gab Dante mit Blick auf Jin zu bedenken.

Yuri schnitt eine schiefe Grimasse. »Ganz ehrlich? Auf den könnt ich grad –«

»Untersteh dich, Hyuga. Sonst pennst du draußen.«

»Wieso nimmst du ihn in Schutz?«, beschwerte sich Yuri und gab dem Tischbein einen halbherzigen Tritt. »Er hat uns echt voll auflaufen lassen!«

»Was soll’s. Wir alle machen Fehler. Sei nicht grausam, nur weil du schlechte Laune hast.«

»Bin ich nicht! Ich bin nur so … so enttäuscht von der Aktion! Verstehst du?« Wieder trat er den Tisch, diesmal fester. »Ich will ihm doch helfen, Mann! Wenn er mir egal wäre, dann wär ich jetzt nicht so wütend auf ihn!«

»Kein Grund, deinen Frust an meinen Möbeln auszulassen. Das darf nur ich. Wir hauen uns jetzt alle ’ne Runde aufs Ohr, und du –« Mutwillig provokant setzte er Yuri eine Fingerspitze auf die Brust. »– kümmerst dich um Jin. Ob er nun aufwacht, eine Panikattacke kriegt, auf die Dielen kotzt oder aus dem Fenster springt – ich will, dass du dich drum kümmerst. Ist das angekommen?«

Einen Moment lang sah Yuri aus, als wollte er wild protestieren; dann schloss er den Mund noch einmal, bevor er – wie ein Kind, das sich ungerecht behandelt fühlt, aber vor dem Vater zu viel Respekt hat – leise murrte: »Wieso muss ich ihn bewachen?«

»Weil du ihn geschlagen hast.«

»Er ist nicht deswegen ohnmächtig«, behauptete Yuri.

»Ach nein?«

»Nein! Ich hab mich beherrscht. Sonst würde er jetzt anders aussehen!«

Das stimmte wahrscheinlich. »Kann sein«, räumte Dante ein. »Mit deiner brutalen Veranlagung hättest du ihm auch leicht das Gesicht zertrümmern können. Ich weiß ja, wie du Schädel einschlägst. Aber du scheinst dich auch dann noch im Griff zu haben, wenn du sauer bist.« Und er war nicht sicher, ob man das auch über Jin sagen konnte.

Seufzend ergab sich Yuri in sein Schicksal. »Und was mache ich, wenn … andere Dinge passieren?«

»Du meinst Dinge mit Hörnern?«

Yuri verdrehte die Augen. »Hast du vergessen, dass Jin ein Devil-Jin-Problem hat?«

»Oh, das ist gar nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Devil Jin ein Jin-Problem hat. Er beansprucht seinen Körper und versucht alles, um die Oberhand zu gewinnen. Wenn der Kerl nicht einen so starken Willen hätte …«

»Nicht stark genug, so viel wissen wir jetzt«, ätzte Yuri weiter.

»Verdammt, Hyuga! Nicht jeder kommt als Psychofreak auf die Welt und muss sich mental sauberhalten wie du, klar? Hör auf, bei anderen Leuten Schwäche für Unfähigkeit zu erklären. Das hat er nicht verdient, okay?«

Yuri sah beiseite. »Jaah, ich weiß! Aber so was frustriert mich einfach. Ich mach’s ja, Mann! Ich mach’s. Aber vorher will ich … wenn ich darf …« Sein Blick glitt zu Trish hinüber, beinahe scheu, und Dante fragte sich, was um alles in der Welt jetzt für ein Anliegen kommen mochte. »… auch … duschen

Dante furchte die Stirn, dann tauschte er einen Blick mit Trish, und wahrscheinlich sahen sie beide gerade gleich perplex aus. Das war alles? Duschen?

»Klar kannst du duschen«, sagte Dante, vor Verblüffung viel sanfter als beabsichtigt. »Du bist nicht mein Gefangener und wir sind nicht in Guantanamo. Im Schrank sind Handtücher, die Armatur ist selbsterklärend. Los, tob dich aus.«

Yuri erhob sich seltsam schüchtern vom Sofa und trottete zum Badezimmer. Er schloss es nicht ab, weil er wahrscheinlich noch nicht entdeckt hatte, dass das möglich war.

Dante und Trish blieben sitzen und lauschten befremdet.

»Wo hast du den aufgegabelt?«, fragte Trish skeptisch. »Der ist noch seltsamer als der Andere.«

»Er kommt aus der Vergangenheit«, sagte Dante und merkte im selben Moment, wie lächerlich das klang. »Sagt er. Er behauptet, schon vor dem ersten Weltkrieg Dämonen vermöbelt zu haben, und bisher hat er null Beweise dafür geliefert, dass es ihm damit nicht völlig ernst ist. Ich werd nicht schlau aus dem.«

Im gleichen Moment hörten sie, wie das Wasser anging, und nur einen Augenblick später folgte ein hellbegeisterter Aufschrei: »Oooooh Mann, Alter, wie irre ist das denn? Warmes Wasser aus der Wand! Whoooohooo!«

Dante sah Trish an und zuckte die Schultern. »Du siehst, was ich meine … Wenn er den Zeitreisenden nur vorspielt, dann macht er das verdammt überzeugend.«
 

Yuri schien das Duschen für sich entdeckt zu haben. Er wollte gar nicht mehr damit aufhören. Dante stellte sich vor, wie es jemandem, der an kaltes Brunnenwasser und Handtücher mit der Weichheit von Stahlwolle gewöhnt war, gehen musste, wenn er sich plötzlich unter einem steten, wohlig warmen Wasserfall wiederfand.

Er klopfte an die Badezimmertür und sagte müde: »Ich hab dir ’ne Zahnbürste aufs Kopfkissen gelegt und deinen Namen draufgeschrieben. Wir sehen uns morgen.«

»Ja, klar, gute Nacht«, antwortete Yuri halbherzig, ohne das Wasser abzustellen.

Dante überließ ihn sich selbst. Meine Residenz hat sich in eine Freak-WG verwandelt, dachte er. Mal sehen, wie lange ich das mitmache.

Als er durch die halboffene Tür in Trishs Zimmer sah – was er völlig unverfroren tat, wann immer er wollte, weil es sie nie zu stören schien – hatte sie sich bereits unter ihrer Bettdecke zusammengerollt, hob aber sofort den Kopf und sah überrascht aus, als er eine Seite des Dschaizan-Manuskripts mitbrachte und zu ihr auf die Decke legte.

»Du kannst es lesen, oder?«, fragte er, während er sich lässig das schwarze Hemd über den Kopf zog.

»Natürlich«, war ihre simple Antwort.

»Ich nicht. Ich kann nicht hingucken.«

»Du versäumst nichts.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Es wäre besser, wenn nie ein Mensch erfahren würde, was dort steht. Es ist haarsträubend. Widernatürlich. Wenn ich religiös wäre, würde ich sagen: blasphemisch.«

Dante schmunzelte. »Also keine Karriere als erste und einzige Person, die es entschlüsseln kann?«

»Danke, nein.« Sie nahm die Seite und legte sie auf den Nachttisch, so spitzfingrig, als würde sie sich davor ekeln – und Trish war ganz sicher nicht die Art von Frau, die sich schnell vor etwas ekelte.

Dante warf sich das Hemd über die nackte Schulter und lauschte. »Duscht der Kerl immer noch?«

»Er sagt die Wahrheit«, erklärte Trish simpel. »Er kommt aus einer anderen Zeit.«

»Vielleicht kommt er auch einfach nur aus dem hintersten Sibirien.«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass er beim Pinkeln die Tür offen lässt?«

Dante sah sie fragend an.

»Nur einen Spalt. Für die Hörweite.«

»Oh.«

»Das machen Leute nicht unbedingt, weil sie schlecht erzogen sind, sondern auch dann, wenn sie mit Angriffen rechnen. Wenn sie Verfolgung kennen, oder Krieg. Es wird eine Gewohnheit, die Sicherheit gibt.«

Dante blickte zur Tür. »Du hast Recht. Ich glaub auch nicht, dass er lügt. Weil er im Lügen armselig wäre.«

»Gib es zu, es stört dich nicht, dass die Beiden hier sind.«

»Naja – solange du nicht da warst, hatte ich immerhin etwas Unterhaltung.« Missmutig fügte er hinzu: »Seit nicht mal mehr Lady anruft … «

»Das Telefon funktioniert in beide Richtungen, Dante.«

Er wollte ihren vorwurfsvollen Blick nicht sehen, also schaute er stur weiter zur Tür. Das Wasserrauschen verstummte. Na endlich.

»Ich bin jedenfalls froh, dass du mal Andere triffst.«

»Andere … was?«

»Leute«, wich sie aus, aber das war nie im Leben das, was sie gemeint hatte. Sie zog die Decke über sich und kehrte ihm den Rücken zu. »Gute Nacht.«
 

Überraschenderweise war Yuri bereits wieder wach, als Dante und Trish gegen Mittag ihren Bedarf an Schlaf gedeckt hatten. Er saß auf seinem Sofa und beobachtete Jin, der gegenüber lag und unverändert aussah, mit derselben wächsernen Haut und den kaum sichtbaren Atembewegungen.

Dante beugte sich über die Sofalehne. »Wie geht’s ihm?«

Yuri hob die Schultern. »Pennt wie’n Stein. Und ist eiskalt.«

»Die Erweckung hat nicht funktioniert, aber sie hat alle Kraft aus seinem Körper gezogen. Ich staune, dass der noch lebt. Mit einem normalen Menschen kannst du so was nicht machen. Tja, halten wir ihn einfach warm und warten wir ab … Gut möglich, dass er so was nicht zum ersten Mal erlebt.«

Erst jetzt drehte Yuri sich zu ihm um. »Hör mal, ich glaub, du hast gar nicht verstanden, was da mit ihm passiert ist. Wie viele Leute kennst du, die es überstehen, von einem Dämon wie Devil besessen zu sein?« Seine Miene war so ernst wie selten zuvor.

»Nicht viele«, räumte Dante ein.

»Eben. Was dein irrer Freund gemacht hat, hat dem Vieh noch mal einen richtigen Schub an Power gegeben. Jetzt gerade prügeln Devil und Jin sich um die Oberhand. Das merkt man. Fass ihn irgendwo an, egal wo – es fühlt sich an, als wird da drinnen eine Schlacht geschlagen.«

Dante musterte Jin skeptisch. Tatsächlich hatte er schon einige Menschen gesehen, die nach dem Kontakt mit bestimmten dämonischen Substanzen einer Art feindlicher Übernahme standhalten mussten. Die meisten hatten mindestens Fieber, oft kamen auch geschwollene Lymphknoten dazu – signifikante Zeichen dafür, dass der Körper versuchte, sich gegen etwas Eingedrungenes, Fremdes zu verteidigen. Jin jedoch zeigte nach der gestrigen Untersuchung nichts davon. »Er liegt doch ganz still.«

»Ja, jetzt. Letzte Nacht hat er sich rumgeworfen und mit den Zähnen geknirscht. Das ist ein Kampf im Kopf, verstehst du? Geist, nicht Körper.«

Dante seufzte und wandte sich ab. Was gab es auch zu sagen? Er konnte es nicht ändern. Wenn in Jins Körper, seinem Kopf oder wo auch immer ein Gefecht epischen Ausmaßes stattfand, dann musste er es alleine schlagen.
 

Als erste sinnvolle Handlung reparierte er zunächst die Tür. Nur wenn sie stabil in ihren Angeln hing, war es wirklich befriedigend, sie aus diesen hinaus zu treten und auf die Straße zu befördern. Leider erwies sich der momentan fittere seiner beiden neuen Mitbewohner nicht gerade als fähiger Assistent.

»Das ist ein Nagel, Hyuga. Eine Schraube ist das Ding mit Gewinde.«

»Dann mach deinen Scheiß doch alleine.« Yuri stierte verdrossen in die Pappschachtel mit Schrauben und Nägeln aller Sorten, dann fischte er schließlich etwas heraus, das brauchbar aussah.

Dante drehte die Schraube durch das Scharnier, rüttelte versuchsweise daran und entschied, dass es bis zum nächsten Tritt halten würde. »Siehst du, schon hast du dazu beigetragen, diesen Ort wieder wohnlicher zu machen«, sagte er gönnerhaft zu Yuri.

»Soll das so was heißen wie ›Du bist ja doch ganz brauchbar‹?«

»Na, wir wollen nicht gleich übertreiben.«
 

Dante beschloss, diesen schon halb vergangenen Tag nicht zu verschwenden, sondern wieder zur Arbeit zu nutzen. Je früher er sich wieder um seinen Lebensunterhalt kümmerte, desto besser. Von der langen und kräftezehrenden Nacht in GRITT-D674 hatte er sich gewohnt rasch erholt, und auch die Anderen schienen nicht übermäßig traumatisiert zu sein, von Jin Kazama einmal abgesehen; doch der Junge war im Moment ohnehin auf sich allein gestellt, und es half ihm auch nicht, um ihn herum zu glucken und den Nachmittag zu vertrödeln. Also räumte Dante seinen Schreibtisch auf – was vorwiegend darin bestand, dass er die Blätterstapel ein wenig zusammenrückte und näher an den Rand schob – und nahm sich etwas Papierkram vor. Besonders bei den offiziellen Aufträgen vom Police Department achtete er darauf, sie wenigstens abzuheften, immerhin waren sie sein Schutzschild gegen strafrechtliche Verfolgung wegen Kollateralschäden.

Ihn erstaunte selbst, wie motiviert er war, und er fragte sich, ob es moralisch richtig war, sich so zu fühlen. Seine Laune sollte mies sein wegen Jin. Doch sie war bestens wegen Trish.

Letztere räumte mehrmals an diesem Tag Dinge durch die Gegend, die Dante seit ihrem Verschwinden hatte herumliegen lassen. Sie war kein großer Fan jener Unordnung, die ihn umgab, doch sie war viel zu cool, um sich zu beschweren oder ihn zu maßregeln. Trish ließ ihn sein, wie er war, weil sie tief im Innern ganz genauso war, nur in weiblich. Trish war ein Prachtstück. Und sie wusste es.

Anfangs war es schwierig gewesen. Trish in eine menschliche Gesellschaft zu integrieren war die größte Herausforderung, der er sich je gestellt hatte, und auch ihr hatte dieses Ziel einiges abverlangt. Ein Teil von ihr war kampflustig, erbarmungslos und brutal, ein anderer – der, den erst die Ereignisse auf Mallet Island in ihr erweckt hatten – war vernünftig, mitfühlend und sogar etwas labil. Ständig befand sie sich im Spagat zwischen Killerqueen und sensibler Frau, und für sie selbst war das noch wesentlich anstrengender als für ihn. Alles, was über basale Empfindungen hinausging, war neu für sie. Oft hatte sie das Lernen überfordert. Sentimentale Gefühle zu kontrollieren fiel ihr schwer, und während sie einerseits faszinierende neue Erfahrungen sammelte und dabei gleichzeitig (und mit Heidenspaß) in Dämonenärsche trat, warfen immer wieder Heulkrämpfe und Wutausbrüche sie in ihrer emotionalen Reifung zurück. Stets kam irgendwann der Punkt, an dem ihr schlagartig alles zu viel wurde. Stabilität gewann sie so langsam wie ein Kind, das aus jahrelanger psychischer Misshandlung befreit worden war. Eines Tages hatte sie Dante betrübt gefragt, wie er es mit ihr aushielt. Er hatte nur die Schultern gezuckt … und sich dabei gefragt, wie er es bisher ohne sie ausgehalten hatte. In manchen Phasen des Lebens zahlte es sich aus, ein Gemüt wie ein Schaukelpferd zu haben. Auch wenn Trish mittlerweile rundum gefestigt war, kam es gelegentlich immer noch zu Situationen, die … schwierig waren. Und dann war er da, falls sie das wollte. Wenn sie wollte. Denn die Unabhängigkeit von ihm war eines ihrer frühstens Ziele gewesen, und inzwischen wusste Dante nicht mehr, ob sie noch bei ihm blieb, weil sie ihn brauchte – oder weil er vielleicht von ihr abhängig geworden war.

Jedenfalls war Trish völlig anders als seine erste, frühere Partnerin. Lady war grob und fordernd und kein Stück fürsorglich; sie trat ihm auch dann noch in den Arsch, wenn er das Gegenteil davon brauchte. In dieser Hinsicht hatte Trish sich als sehr viel feinfühliger erwiesen. Zwar mit mehr Vorlauf, aber … Jedenfalls war ohne Trish zu leben etwas, das Dante sich im Moment nicht mehr vorstellen konnte.
 

»Kommst du mit mir arbeiten, Hyuga?«

»Ich?«, fragte Yuri düster. »Wieso nimmst du nicht Trish mit? Ich soll doch auf Knalltüte aufpassen, war’s nicht so?«

Dante lehnte sich zurück und sah sich eher beiläufig nach Trish um, die gerade ein paar Magazine zusammensammelte. »Oh, weißt du, ich hätte sie gerne für eine Weile aus der Schusslinie. Nur für alle Fälle.« Trish sah ihn kühl an und hob eine Augenbraue; sie nahm ihn kein Stück ernst.

Yuri hatte es nicht gesehen. »Wenn du drauf bestehst, von mir aus.«

Es war kein großartiger Job, der ihnen da zugespielt worden war, lediglich das Bewachen eines verwahrlosten Grundstücks während einer Sprengarbeit. Sie standen ein paar Stunden lang im kalten Wind und beobachteten die Fahrzeuge, das eifrig arbeitende Abrisskommando und den dicht bewölkten Himmel.

»Wieso machen sie das alte Haus platt?«, wollte Yuri wissen. »Sieht doch hübsch aus.«

»Ist offenbar ein Erbstück, und es soll drinnen spuken. Die Erben wollen sich da lieber ’nen Garten anlegen.«

»Und glaubst du, dass da drinnen wirklich Dämonen hausen?«

»Eigentlich nicht. Macht aber nichts.«

Yuri wurde ungeduldig. »Wieso hast du mich dann mitgeschleppt? Du willst doch was.«

»Stimmt. Warte, bis wir entlassen und ungestört sind.«

Hinter ihnen brach das Haus zusammen. Die Wände sackten nach innen, eine Wolke pulverisierten Schutts erhob sich geräuschvoll und schwebte minutenlang über den Trümmern, ebenso langsam verebbend wie der Lärm. Ratten eilten aus den plötzlich freigelegten Kellernischen, sich lautstark über die Störung beschwerend, doch Teufel waren keine da. Natürlich nicht. Das Gebäude hatte eine sterbenslangweilige Geschichte.

Auf das OK das Sprengkommandos hin verließen Dante und Yuri das Grundstück und schlenderten zurück Richtung Slum Avenue, um in jener Ecke anzuhalten, wo bei Gott niemand wohnen wollte, der einigermaßen bei Sinnen war. Dante beäugte die mit Brettern vernagelten Fenster rechts uns links und griff dann wortlos über die Schulter, um Alastor zu ziehen. Es war eine seiner ältesten Teufelswaffen, ein Langschwert, dessen schwarzer Griff Drachenflügel aufwies und das seinem Träger ähnliche Fähigkeiten verlieh, wie Trish sie besaß.

»Hier.« Er hielt Yuri das Schwert hin.

Yuri nahm es entgegen und war ratlos. »Hä?«

»Interessant, du kannst es anfassen. Jeder normale Mensch kriegt eine gewischt.«

»Achso? Danke für die Warnung.« Yuri betrachtete die Klinge, ließ die Fingerspitzen prüfend über das blanke Metall gleiten.

»Kannst du die Teufelsseele spüren?«

»Ja … Aber ich glaub, ich komm nicht an sie ran …« Yuri trat zurück und holte mit dem Schwert aus, als versuchte er sich mit dem Gefühl der Waffe vertraut zu machen. Zweimal ließ er die Klinge probeweise durch die Luft zischen, voll konzentriert auf etwas, das Dante nicht erfassen konnte, und der zweite Hieb verfehlte den Dämonenjäger nur um Haaresbreite.

»Hey, hau mir nicht den Kopf ab!«

»Wie ich mir schon dachte, als Fusionsseele ist sie nutzlos für mich. Ich kann noch auf die Kräfte zugreifen, aber nicht auf die … Essenz, oder wie man das nennen soll.«

»Das hätte auch keinen Sinn ergeben. Eine Teufelswaffe ist sozusagen ein manifestiertes Fragment einer Teufelsseele«, erklärte Dante.

»Und eine Fusionsseele ist der Rest davon«, stimmte Yuri zu.

»Ja, das ist deine Trophäe. Ich mach mir nur was aus der Waffe. Du kannst sie zwar anfassen, aber ich kann mehr rauskitzeln.« Dante zeigte auf die klingenbewehrten Schlagringe zwischen Yuris Fingern. »Um die Macht einer Teufelswaffe voll nutzen zu können, musst du den Namen des Dämons kennen, zu dem sie gehört. Wie deine Dinger da richtig heißen, weißt du nicht, oder?«

Yuri schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Wie denn, wenn Roger sie aus irgendeinem Versteck geholt hat.«

Dante vermutete, dass Yuris seltsamer Freund einen guten Grund gehabt hatte, diese Waffe irgendwo zu verbergen – und Yuri ihren wahren Namen nicht zu nennen.
 

Als sie ins Devil May Cry zurückkehrten, war dort die Lage unverändert. Trish hatte ihre Pistolen Luce und Ombra bis aufs letzte Zahnrädchen zerlegt und war dabei, jedes Einzelteil zu putzen.

»War was los?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

»Nein. Was macht der Kazama-Boy?«

»Nichts.«

»Ich hab Hunger«, beklagte sich Yuri und ließ sich auf sein Sofa fallen.

»Willst du einen Apfel?«, fragte Dante mit gespieltem Ernst. Das hatte seine Mutter ihn stets gefragt, wenn er behauptet hatte, hungrig zu sein, und so etwas konnten wirklich nur Mütter fragen; wenn ein Junge sagte, dass er Hunger hatte, dann war ein Apfel einfach der abwegigste denkbare Vorschlag.

Und genau das sagte ihm jetzt auch Yuris Blick. »Ich brauch was mit Kohlenhydraten.«

»Fruchtzucker ist ein Kohlenhydrat.«

»Hör auf zu klugscheißen. Ich will was Richtiges.«

Dante sah sich nach Trish um. Sie erwiderte seinen fragenden Blick, erhob aber keine Einwände. Jin schlief und konnte sowieso nicht nörgeln.

»Okay, kannst du haben«, sagte er zu dem anderen. »Ich bin gespannt auf deine Meinung, ob sie früher besser oder schlechter war.«
 

»Hmmm«, überlegte Yuri, nachdem sie ihr Mahl beendet hatten. »Schwer zu sagen. In Florenz war sie ganz anders. Der Boden war dünner, die Gewürze waren aufregender. Und es war weniger hiervon drauf, ganz bestimmt.« Mit den Fingerspitzen klaubte er den letzten Rest geschmolzenen Käses vom fettfleckigen Boden des Pizzakartons. »Aber egal, es ist gehaltvoll. Das mag ich.«

»Du bist hier in Amerika. Hier haben die Leute früh entdeckt, dass Fett der beste Energielieferant ist.« Dante rieb sich die Schläfe und beobachtete Trish dabei, wie sie sich die Fingerspitzen ableckte. »Aber à propos Energie … Jin sieht nicht aus, als würde er sich erholen. Vielleicht müssen wir ihn doch zum Arzt schleppen.«

»Geben wir ihm morgen früh als Deadline«, schlug Trish vor und ließ sich von der Schreibtischplatte gleiten.

»Und dann?«

»Wir brauchen ihn, Dante. Ihm hat Sarris mehr gesagt als mir. Der Spinner wird die Seiten suchen, und wir sollten möglichst schneller sein als er. Er will unbedingt Jin.«

»Er will Devil«, korrigierte Dante. »Er weiß was über den, das wir nicht wissen. Sicher ist jedenfalls, dass nur wir Jin beschützen können.« Er ließ das Kinn auf die Hand sinken. »Das wird ziemlich viel Arbeit …«

»Damit könntest du dich beschäftigen, statt Experimente mit Yuri zu machen«, sagte Trish schnippisch.

Erwischt. War ja klar. »Wir brauchen einen Plan«, stellte er fest, die Bemerkung übergehend. »Aber Jin muss mithelfen. Wenn er überhaupt noch will.«

Eine schwierige Frage. Falls Jin erneut den erbitterten Kampf um die Herrschaft über seinen Körper gewann, würde er sich überhaupt jemals wieder auf Experimente einlassen, um Devil loszuwerden? Denn darauf würde es hinauslaufen. Würde er diese labile Überlegenheit, die ihn sein dämonisches Alter Ego kontrollieren ließ, aufs Spiel setzen? Und, noch viel gravierender: War er nach alldem überhaupt noch willens zu kämpfen? Dante und Yuri hatten sich nicht gerade im Guten von ihm getrennt; Jin wähnte sich wahrscheinlich wieder allein in seinem Kampf. Es gab vieles geradezurücken, bevor sie, wiedervereinigt, die Verfolgung von Sarris und den Seiten aufnehmen konnten. Wenn von Jins leidlich intaktem Gemüt nun auch noch der Rest in Scherben lag, waren die Aussichten in jede mögliche Richtung geradezu unterirdisch.

Von Jin, der da wie ein angespültes Stück Treibgut auf dem Sofa lag und aussah, als wäre er dem Tode näher als dem Leben, hing letztendlich alles ab.

Akt IV - Balsam: 8-2

8-2: YURI
 

»Fühlt sich echt gut an, man spürt sie gar nicht«, bemerkte Yuri und sah zufrieden an sich herab. »Schade, du willst sie bestimmt wiederhaben, oder?«

Dante schüttelte entschieden den Kopf. »In unserer Zeit will niemand Unterhosen wiederhaben, Hyuga, glaub mir. Niemand.«

Diese Antwort machte Yuri für den Moment ziemlich zufrieden.
 

Es war unübersehbar, wie froh Dante war, Trish wieder um sich zu haben. Yuri hatte es nur schwer ausgehalten, ständig dieser Mischung aus Niedergeschlagenheit und passiver Aggressivität ausgesetzt zu sein, die zuletzt nicht zu knapp auf ihn abgefärbt hatte. Zu seiner Erleichterung wirkte Dante nun wie ausgewechselt: Er war vergnügt wie ein kleiner Junge, dessen bester Freund lange verreist war und mit dem er nun endlich wieder durch das Haus toben konnte. Seine Probleme waren gelöst. Schon am nächsten Tag hatte er ein wenig aufgeräumt, und zu Yuris großer Überraschung hatte er sich wieder ordentlich rasiert – eine nur kleine äußerliche Veränderung, die ihn jedoch um Längen gepflegter aussehen ließ. In anderen Klamotten hätte er einen anständigen Schwiegersohn abgegeben. Jedenfalls war der neue Zustand angenehm, denn Trishs Rückkehr hatte Dante auch im Verhalten völlig verwandelt. Verschwunden war seine Verbitterung, er war munter und zuversichtlich, dabei auf geradezu irritierende Weise charmant. Es schien, als könne absolut nichts ihn aus der Ruhe bringen, und den Unbilden des Alltags begegnete er mit einer Gelassenheit, die an Gleichgültigkeit grenzte.

Außerdem fiel auf, wie nahe Dante und Trish sich standen. Wenn sie sich nicht kabbelten wie ein altes Ehepaar, flirteten und kokettierten sie miteinander, auf eine leicht spöttische, aber liebevolle Art und Weise. Yuri war schnell klar, dass in ernsthaften Angelegenheiten Trish diejenige war, die das Sagen hatte. Dante ließ sich nur allzu bereitwillig, fast mit einem gewissen Genuss, in den kleinen Dingen von ihr dominieren.

»Bei dir ist er viel weniger nutzlos«, bemerkte Yuri zu Trish, als Dante ohne großen Protest das unter dem Sofa verstreute Popcorn aufgekehrt hatte.

»Es geht schon«, antwortete sie. »Man muss ihm nur klar kommunizieren, dass man von ihm will, dass er etwas tut.« Yuri vermutete, dass diese Kommunikation multiple Arschtritte beinhaltete.
 

Da Jin immer noch nicht willens schien, seine Ohnmacht aufzugeben – Yuri vermutete dahinter einen Schutzmechanismus seiner Seele, falls davon noch etwas übrig war –, blieb den Anderen nichts weiter übrig als zu warten. Dante war ob seines wiedergekehrten Seelenfriedens zum Klugscheißer mutiert, der viele gute Ratschläge verteilte, wenn der Tag lang war, und so führte er Yuri in die Geheimnisse der Lederpflege ein, nachdem er sich über den Zustand seines Mantels ausgelassen hatte. Yuri, der beim Betrachten des Kleidungsstücks stets nur noch mit düsterem Tunnelblick vor Augen hatte, wie er Alice’ wächsernen, eiskalten Körper darin einhüllte, protestierte nicht. Also lernte er, wie man mit Sattelseife die Oberfläche des Leders reinigt, Lederfett zum Erhalten der Geschmeidigkeit in die Poren reibt und zuletzt mit einem weichen Tuch duftendes Bienenwachs als Schutzschicht aufträgt.

So zurückgeworfen auf seine eigenen dunklen Erinnerungen wuchs in ihm wieder das Unverständnis gegenüber Jin. Mitleid hätte ihn gewöhnlich milde stimmen können, aber nicht in diesem Fall; Jin hatte ein Verbrechen gegen sein und Dantes (aber vor allem seins!) Vertrauen begangen, das sich mit der Bedrohung durch Devil nicht entschuldigen ließ. Jin konnte unmöglich dieselbe Verzweiflung kennen wie Yuri selbst, was also rechtfertigte sein rücksichtsloses Handeln? Gern hätte Yuri Jin gehasst oder zumindest verabscheut, aber er konnte es nicht. Zu ähnlich waren sie sich in vielen Dingen. Und ein Arschloch wollte Yuri auch nicht sein. Er wusste selbst, dass er grob und verletzend sein konnte, aber er war nicht der Typ, der Anderen ans Bein pisste. Das machten schon genug andere Leute.

Gelangweilt setzte er sich ans Kopfende des Sofas, auf dem Jin lag, und starrte auf seinen Gefährten wider Willen hinab. Seit der letzten Nacht lag Jin ganz still, als er wäre er nach seinem inneren Kampf in ein Koma gesunken, so tief, dass sein Körper nicht mehr tun konnte als atmen und überleben.

Auf dem Tisch zwischen den beiden Sofas lag sein Mobiltelefon. Es blinkte im Sekundentakt, gab aber keinen Ton von sich. Yuri griff nahm dem kleinen Wunderding, klappte es auf und drückte ein paar der glatten Tasten, bis der kleine Bildschirm seine Funktionen präsentierte. Yuri hielt sich das strahlende Gerät ganz dicht vor die Augen; die kleinen Bilder leuchteten von innen heraus in satten Farben. Er hatte keine Ahnung, wie das funktionierte. Egal. Alle Beschriftungen und Menüs waren auf Japanisch oder schlimmstenfalls Englisch, und obwohl seiner Meinung nach Zeichen fehlten oder anders aussahen, konnte er bis auf wenige Wörter alles lesen. Zu seinem Erstaunen entdeckte er ein Erdbebenwarnsystem (sicher ungemein nützlich für jeden, der in Japan lebte), und auch dabei fragte er sich, wie so etwas überhaupt funktionieren sollte. Das Blinken, so stellte er fest, rührte von nicht entgegengenommenen Anrufen her; eine dazugehörige Grafik zeigte das sterile Portrait einer blonden Frau mit leidenschaftsloser Miene. Dreimal hatte sie Jin zu erreichen versucht. Yuri ließ die Anrufliste hinter sich und spielte stattdessen mit einer Funktion herum, die offensichtlich Zugriff auf japanische Unterhaltungsmedien gewährleistete. Er manövrierte sich durch Terrorwarnungen und Bilder von brennenden Häusern, gestylten Nachrichtensprechern und nackten Demonstranten, bis er sich in einer Liste wiederfand, deren sehr bunte Bildchen eher auf Kinderunterhaltung schließen ließen. Wie passte das bloß alles auf dieses winzige Gerät? Das war ja wie Zauberei! Niemand in seiner eigenen Zeit würde an so etwas auch nur denken! Aber Yuris Erstaunen wurde noch größer, als er plötzlich durch die Berührung des Displays eines der Bildchen in Bewegung setzte. Es plärrte los, und er hätte es beinahe fallen lassen. Ein bewegtes Bild! Es war nur gemalt, aber es bewegte sich von selbst! Yuri kannte Filme ohne Farben oder Ton – im Foyer eines Varietés hatte er einmal einen gesehen. Dieses hier war nicht nur bunt, es machte auch Geräusche! Da redete jemand!

Perplex starrte Yuri auf das gezeichnete Filmchen und hörte der Frauenstimme zu, die es mit einer Geschichte untermalte:

»Mokujin machte sich auf, um den dunklen Herrscher zu besiegen, der aus einem laaaangen Schlummer erwacht war.« Mokujin – ›Baummensch‹ – war in der Tat eine Figur aus zylindrischen Holzklötzen. Immerhin hatte er Boxhandschuhe … und ein Automobil, in dem er zu Klaviermusik durch die Landschaft fuhr. »Er durchquerte Gebirge … Ozeane … und Wüsten. Schließlich fand er seinen Weg zum Schloss des dunklen Herrschers.« Schwarz, verzerrt und von Fledermäusen umkreist ragte dieses absurde Bauwerk in den Himmel, als Mokujins stilisiertes blaues Vehikel vorfuhr. »Nach einem grimmigen Kampf …« ZACK, Mokujin zog dem roboterartigen Halunken eins über. »… besiegte Mokujin den dunklen Herrscher …« Na, wenigstens siegte das Gute. Auch wenn die Geschichte ansonsten ziemlich lahm war. »… und nahm seinen Platz auf dem Thron des dunklen Herrschers ein. Ende.« Moment, was? Der Holzmensch saß jetzt tatsächlich auf einem finsteren Thron, seine Gestalt schwarz und mit böse glühenden Augen, während hinter ihm die Blitze zuckten und vor ihm zwei Reihen identischer Holzmenschen wie Maschinen salutierten. Die Szene war so unerwartet bedrohlich, dass Yuri sekundenlang darauf starrte wie ein Schwachsinniger.

Dann, plötzlich, bewegte sich Jin.

Yuri fuhr zusammen und ließ das Telefon auf den Teppich fallen. Schnell hob er es wieder auf und sah aus dem Augenwinkel, wie Jin ihn durch halbgeschlossene Lider mit glasigem Blick beobachtete.

»Guckst du dir immer so einen Rotz an?«

Jin blinzelte langsam. »Was … was machst du da?«

»Nichts.« Demonstrativ legte Yuri das Handy wieder auf den Tisch, als hätte er das Interesse verloren. Plötzlich hatte er wieder große Lust, Jin die kalte Schulter zu zeigen. »Na? Munter?«, fragte er ohne große Anteilnahme.

Jin zog eine zittrige Hand unter der Decke hervor und fuhr sich durch die verklebten schwarzen Strähnen, die ihm vorn in die Stirn fielen und in denen der Schweiß getrocknet war. »Wie lange?« Seine Stimme war dünn.

»Fast zwei Tage. Schön geträumt?«

Jin antwortete nicht. Sein abgewandter Blick war, soweit sich das beurteilen ließ, beschämt. »Ist Sarris entkommen?«

»Jap.«

»Meinetwegen?«

»Jap.«

Ein Seufzen hob seine Brust unter der Decke. »Das alles tut mir leid.«

Yuri schnaubte. Ach ja? Es tat ihm leid? Das konnte er schön zusammenrollen und sich in den Arsch stecken. Yuri stand auf und stolzierte davon. Dante und Trish schäkerten in der Küche; sollten sie sich doch um den armen Jin kümmern, der einfach gar nichts auf die Reihe kriegte außer denen, die ihm helfen wollten, in die Eier zu treten.
 

Dante sah das Ganze weit weniger dramatisch, das wurde Yuri sofort klar, denn der Teufelsjäger hielt sich nicht mit Vorwürfen auf. Als er Jins verhuschten Blick sah, sagte er lediglich: »Entspann dich. Wir sind hier, du bist hier, alles gut.« Und ging wieder. Erst später (als er offenbar merkte, dass Yuri es nicht tun würde) fragte er Jin, wie er sich fühlte und ob er etwas bräuchte. Jin schwieg sich zu beidem aus. Trish – die einzige anwesende Person mit immerhin einem Hauch von Fürsorgeinstinkt – brachte ihm trotzdem einen Tee und etwas Brühe, und er trank beides klaglos und artig.

»Hyuga!«, rief Dante, als Yuri geglaubt hatte, der Lage erfolgreich den Rücken gekehrt zu haben. »Die Bude ist zu klein, um sich aus dem Weg zu gehen. Hör auf zu schmollen und beweg deinen Arsch hierher.« Man hörte ihn nur selten schmutzige Wörter benutzen, und jetzt klang es, als fände er Gefallen daran. Es schwang kein wirklicher Ärger in der Aufforderung mit; Dante war immer noch viel zu aufgekratzt, um für Provokationen empfänglich zu sein. Trotzdem gehorchte Yuri widerwillig.

Er stellte fest, dass Jin, der nun aufrecht auf seinem Lager saß, immer noch seinen Blick mied.

»Wir müssen reden.« Dante kam dazu und stellte die Stahlkanne offen auf den Tisch, randvoll mit der schwarzen Brühe, die man hier für Tee hielt. Von den Tassen schob er jedem eine zu, überlegte es sich dann anders, zog sie zurück und begann, sie der Reihe nach vollzugießen. »Ich will die ganze Sache geklärt haben, kapiert? Jin. Woran erinnerst du dich?« Er stellte eine volle Tasse vor dem Japaner hin.

»An fast alles, denke ich.« Jins Stimme klang schon etwas kräftiger und sein Tonfall mutiger. »Ich bin zu Sarris gegangen … «

»Freiwillig«, ergänzte Yuri.

Dante patschte ihm die Hand auf den Mund. »Was weißt du danach noch?«

»Nur, dass ihr plötzlich auch dort wart … in diesem … Schacht. Devil hatte mich überwältigt, etwas hat ihn gerufen. Doch plötzlich war er weg … vertrieben. Ich weiß nichts weiter. Nur noch, dass du mich geschlagen hast.« Jins Blick heftete sich an Yuris, fest, aber auch fragend.

»Tut mir nicht leid«, gab Yuri eisig zurück.

»Was hat Devil gerufen?«, hakte Dante nach.

Jin öffnete den Mund, rang aber mit den Worten. »Er … Azazel. Der Dämon, den Sarris erwecken wollte. Er … hat geantwortet.«
 

Dante und Trish starrten Jin an, und Yuri sah zwischen ihnen hin und her.

»Konntest du Azazel abwehren?«, fragte Dante ruhig.

»Zum Teil«, antwortete Jin. Es klang nicht voll überzeugt.

Yuri konnte sich nicht länger beherrschen. Die Ungerechtigkeit nagte an seinem Verstand, und so platzte er heraus: »Erklär uns endlich, warum du zu ihm gegangen bist, Mann! Wie konntest du das machen? Wie konntest du zu diesem Spinner rennen und uns in den Rücken fallen? Erklär’s mir!«

Falls er erwartet hatte, dass Jin zusammenzucken würde, so hatte er sich getäuscht. Der Blick des Anderen flog in seine Richtung, und die dichten Brauen senkten sich grimmig. »Erstens«, sagte Jin kühl, »habe ich es getan, damit er Trish gehen lässt. Er hat zugegeben, dass er Dante nicht mehr braucht. Er klang sehr vernünftig –«

»Vernünftig?«, wiederholte Yuri.

»Fall mir nicht ins Wort!«, sagte Jin plötzlich scharf. »Zweitens hat er Gründe. Hörst du zu? Er hat Gründe. Dante hat uns nicht die ganze Wahrheit gesagt.«

Das kam überraschend. Yuri blickte zu dem Dämonenjäger, der gelassen dasaß und die Anschuldigung offenbar hatte kommen sehen, denn er sagte nüchtern: »Ich habe aber auch nicht gelogen. Ich habe mit nichts gelogen, das weißt du.«

»Er aber auch nicht«, entgegnete Jin.

Dante schüttelte den Kopf. »Ich hab dich nicht für so gutgläubig gehalten.«

»Doch«, fuhr Jin auf. »Doch, Dante, hast du. Du hast mir nur einen Bruchteil dessen verraten, was wirklich hinter seinem Plan steckt. Du hast gesagt, er wäre einfach nur wahnsinnig, weil er etwas verloren hätte.«

»Und so ist es auch. Er ist wahnsinnig, hast du das nicht gesehen?«

»Ich habe gesehen, dass er verzweifelt ist. Genauso wie ich.« Jin atmete schnell, aber beherrscht.

»Dann weißt du das mit seiner Tochter«, stellte Dante fest.

»Natürlich weiß ich das«, gab Jin kalt zurück. »Du hast sie im Stich gelassen. Sie und ihn.«

»Das hat er gesagt?«

»Er sagt, er hätte dich angefleht, seine Tochter zu retten. Ein Auftrag, der dich keine Mühen gekostet hätte. Aber du hast dich geweigert.«

»Nein.« Dante erwiderte den anklagenden Blick gleichmütig. »Das ist das, was du dir zusammengereimt hast. Er hat es bestimmt anders gesagt – nämlich dass er sie zurückholen wollte und dass ich mich geweigert habe, ihm zu helfen

»Wo ist der Unterschied?«

»Seine Tochter ist tot. Das ist der Unterschied.«

Yuri merkte, dass er Dante anstarrte. Und Jin tat das ebenfalls; seine Miene war nun nicht mehr nur ausdrucks-, sondern auch verständnislos. »Er hat so von ihr gesprochen, als wäre seine Tochter irgendwo ganz in der Nähe. Nicht, als wäre sie unerreichbar. Es hat sich angehört, als müsste sie nur jemand holen gehen, ein paar Teufel erschlagen und sie mitnehmen.« Er schüttelte den Kopf. »Bist du sicher, dass sie tot ist?«

»Allerdings«, antwortete Dante, »denn er hat sie hergebracht und mir auf den Schreibtisch geworfen. Hat mich angeschrien, ob ich denn ein so schönes und sanftes Wesen wirklich den Qualen der Hölle überlassen könnte.« Er stützte das Kinn auf die Faust und blickte scharf von Jin zu Yuri. »Habt ihr schon mal jemanden gesehen, der erhängt wurde? Wisst ihr, wie das aussieht?«

Yuri wusste es. Er kappte diesen Gesprächsfaden: »Also das, wovon wir hier reden, das ist –«

»Nekromantie«, sagte Dante. »Er will sie von den Toten zurückholen.«

Yuri ließ den Kopf sinken. Davon verstand er etwas – mehr, als er wollte, viel mehr.

»Gibt es so etwas wirklich?«, fragte Jin.

Dante hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich hatte noch nie damit zu tun. Aber es gibt Dämonen, es gibt Rituale, Beschwörungen, Siegel, schwarze Magie … funktioniert alles wirklich. Es würde mich wundern, wenn die Wiederbelebung von Toten nicht auch irgendwie möglich wäre. Die Frage ist nur, ob das Ergebnis das ist, was man erwartet hat.«

»Nein«, hörte Yuri sich sagen. »Meistens nicht.«

Dante beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während er fortfuhr: »Dafür jedenfalls braucht Sarris noch ein anderes komisches Buch. Eins, das Tote wiederbeleben kann.«

Yuri nickte. »Ich weiß. Die Émigré-Schrift.«

»Ah, du kennst es?«

»Es ist auf Griechisch verfasst und sieht aus wie ein Schädel. Es heißt auch Manuscript of the Exiles.« Er wusste, es konnte sich um kein anderes Buch handeln. Und dass überhaupt noch jemand davon wusste, entsetzte ihn. Hier, in dieser Zeit, fühlte Yuri sich persönlich verantwortlich für die Émigré-Schrift und ihr schreckliches Erbe. Er durfte nicht zulassen, dass dieses Buch jemals wieder einem Psychopathen in die Hände fiel. Von denen hatte es schon zu viele gegeben, und jedes ihrer kranken Experimente hatte eine enorme Bedrohung auf die Menschheit losgelassen. »Hat er … noch was darüber gesagt?«, fragte Yuri vorsichtig nach.

»Er hat es nicht. Noch nicht. Aber er weiß, wo es ist.«

»Scheiße.«

»Also weißt du es auch.«

»Ja.«

»Etwa genau da, wo auch diese fehlenden Seiten vom Dschaizan-Buch sind?«

»Sehr wahrscheinlich.« Diese Pille war bitter, aber er schluckte sie. Es war seine Verantwortung. »Denkst du, er weiß, wie man … das Ritual durchführt?«

Dante blickte ratlos über den Tisch. »Kann sein. Er kann kleine Dämonenbeschwörungen und so was. Azazel könnte ’ne Nummer zu groß für ihn sein. Und eine Totenerweckung, tja … Ich verstehe nicht mal, was das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hat.« Er sah Yuri an. »Idee dazu?«

Yuri schüttelte den Kopf. Über Azazel wusste er nichts.

Jin wandte sich an Dante: »Welche Rolle solltest eigentlich du dabei spielen? Hat Sarris erwartet, dass du diese Rituale für ihn ausführst?«

»Glaube ich nicht. Ich vermute, er wollte mich nur als eine Art Backup, falls … irgendwas schiefgeht. Du und Devil bringt ihn seinem Ziel offenbar näher als ich.«

»Dann weiß er zumindest, dass was schiefgehen wird«, brummte Yuri.

»Das hält den nicht auf. Seit ich Nein gesagt habe, versucht er, mir Schuldgefühle anzuhängen. Weil er seine Tochter nicht beschützt hat. Das Schlimme ist, es funktioniert! Ich habe angefangen, mich zu fragen, ob es wirklich einen Ort in der Hölle gibt, wo …« Dante brach ab und machte eine abwinkende Geste. »Egal, verzerrte Wirklichkeit. Nicht mal ich weiß, was mit schlechten Menschen passiert, ob irgendwas mit denen passiert.« Das typische Schulterzucken begleitete diese Aussage. Dante hatte wirklich kein großes Repertoire an Körpersprache. »Glaubt nicht, ich hätte nicht versucht, ihm das zu erklären. Er hat mir leid getan. War verzweifelt, vor Kummer abgemagert. Hat mir auch ’ne Menge Kohle angeboten. Ich musste ihn wegschicken. Und seitdem ist nie Ruhe. Als letzte Hoffnung bedroht er mich jetzt, steckt Trish in irgendein Loch … Soll ich wirklich noch Sympathie für ihn aufbringen?«

Yuri wies halbherzig auf Jin. »Er hat also gedacht, wenn er einen gutgläubigen Kerl wie den da einer Gehirnwäsche unterzieht, kriegt er einen willigen Schergen.« Er sah Jin dabei nicht an. »Einen, der sogar dämonische Kräfte zu bieten hat.«

Dante nickte beipflichtend. »Deal für beide. Aber das Problem ist Azazel, dieser Teufel, den Sarris haben will. Der spielt bei diesem Wiederbelebungs-Hokuspokus irgendeine Rolle, und ich weiß nicht, welche. Deshalb schlage ich mich mit dem Kram rum –« Er deutete zum Schreibtisch. »– ohne dass ich irgendwas rausfinde. Und jetzt müssen wir uns außerdem noch fragen, was Azazel eigentlich mit Jin zu tun hat.«

»Er hat gar nichts mit mir zu tun«, behauptete Jin steif.

»Quatsch. Sarris ist begeistert von dir. Und du weißt, warum, richtig?«

Da war Jin still, und jetzt wirkte er nachdenklich. Seine Augen waren klar und blank und seine Haltung nach außen gefasst, doch angesichts der vielen Fragen musste in seinem Kopf ein ziemliches Chaos herrschen. Schließlich sagte er: »Sarris hat kaum etwas darüber gesagt, aber ich habe es gefühlt … Devil hat Azazels Präsenz gespürt. Sie reagieren aufeinander. Sarris nannte Devil … Azazels … Saat.« Unheilvoll hing das Wort einen Moment im Raum. Dann fuhr Jin fort: »Er hat behauptet, niemand könnte Azazel töten, auch nicht du, Dante. Das könnte nur jemand, der … von ihm verflucht ist.«

»Also du.« Dante sah ihn unverwandt an. »Denk nicht mal dran, Kazama. Du hast keine Ahnung, ob er weiß, wovon er da redet.«

»Ich … glaube ihm auch nicht.«

Yuri hob den Kopf. Das war der Moment, um einzugreifen, und er verdrängte vorübergehend die Émigré-Schrift. »Wo wir gerade bei Lügen sind … Dante, wir haben da noch was offen. Los, du hast es versprochen. Jetzt leg die Karten auf den Tisch. Pack aus.« Er warf dem Dämonenjäger einen herausfordernden Blick zu. Nun hatte Dante keine Ausreden mehr, um sein Geheimnis weiter zurückzuhalten. Erwartungsvoll griff Yuri nach seiner Teetasse, um den Moment der Wahrheit zu genießen.

Dantes Ausdruck wurde missmutig, und er stieß ein Seufzen aus. Doch dann hielt er sich an sein Wort. »Na gut, alles klar. Bringen wir’s hinter uns. Habt ihr je von Sparda gehört?«

Jin deutete ein Kopfschütteln an.

»Ja«, antwortete Yuri bereitwillig, stolz, dass er erneut mit Wissen glänzen konnte. »Irgend so eine lokale Legende, oder? Angeblich war das ein Dämon, der … ein, zwei Jahrtausende bei den Menschen lebte, im Verborgenen sozusagen. Er hat sie vorher irgendwie gerettet und konnte danach nicht zurück in seine Welt. Oder so. Naja. Viel ist nicht bekannt über den.« Er setzte die Teetasse an, um einen tiefen Schluck zu nehmen.

»Er ist mein Vater«, sagte Dante.

Yuri verschluckte sich und hustete. Der Tee spritzte über den Tisch, von dem Jin neben ihm schnell zurückwich. »Was?«, krächzte Yuri und versuchte, die Flüssigkeit in seiner Kehle loszuwerden. »Verarschst du uns?«

Dante genoss es sichtlich, ihn derart kalt erwischt zu haben, und lehnte sich auf der Couch zurück. Er wandte sich an Jin: »Kazama. Du hast mich mal provokant gefragt, was ich machen würde, wenn ich zur Hälfte das wäre, was ich am meisten hasse. Wie du siehst, hab ich mich nicht vor einen Zug geschmissen.«

Yuri hatte einen faden Geschmack im Mund. Irgendwie hätte er das ahnen müssen. Es musste irgendwas in der Art sein, anders waren Dantes übermenschliche Fähigkeiten schließlich nicht erklärbar, doch Yuri hatte mit etwas viel Simplerem gerechnet – schließlich war das Jahr 2008 für ihn völlig fremd. Dass Dante der Sohn eines Teufels war, war keine Erklärung, die einen ruhig schlafen ließ. Trotz der ungewissen Vorahnung, die er gehegt hatte, breitete sich der Schock nun langsam in seinen Eingeweiden aus. Vorsichtig sah er zu Jin, doch der starrte immer noch Dante an. Nein, Jin hatte mit nichts dergleichen gerechnet, so viel stand fest.

»Du bist also ein …«

»… Halbdämon«, sagte Dante ruhig.

Jin sah tief verunsichert aus, da half seine Fassade diesmal wenig. Doch er nickte gefasst. »Das ist also der Grund, aus dem Devil dich so verabscheut.«

»Wahrscheinlich. Mein Vater hat einen gewissen Ruf.«

»Und wozu siehst du dich zugehörig? Bist du ein Mensch oder ein Dämon?«

Yuri fand die Frage ziemlich dumm, da für ihn die Antwort offensichtlich war – schließlich lebte Dante bei den Menschen als einer von ihnen und nicht irgendwo in der Unterwelt.

Zu seiner Überraschung blieb Dantes Antwort sehr vage. »Es ist egal, wie ich das sehe. Dämonen nennen mich Mensch, Menschen nennen mich Dämon. So richtig will mich keine von beiden Seiten.«

»Und das macht dir nichts aus?«

»Nein. Übrigens …« Dante nickte zu Trish, die sich die ganze Zeit über vornehm zurückgehalten und nur an ihrem Tee genippt hatte. »… Sie ist auch ein Dämon.«

Das überraschte Yuri irgendwie gar nicht. Er betrachtete die elegante Blondine, und sie zwinkerte ihm zu.

»Sonst noch etwas?«, fragte Jin tonlos.

»Ja, eins noch.« Dante wandte sich mit einem herablassenden Lächeln an Yuri. »Für dein bescheuertes Verhalten in letzter Zeit verpetze ich dich jetzt.«

»Mach doch«, entgegnete Yuri und vermied es, Jin anzusehen, während Dante diese letzte Wahrheit aufdeckte.

»Yuri ist ein Harmonixer, er kann mit Dämonen verschmelzen und ihre Stärke nutzen. Also, wo du eine Faust aus Eisen hast, hat er ein Hirn aus Granit.«

Jin ging gar nicht darauf ein. Ein wenig hatte Yuri gehofft, dass es ihn erschrecken würde, doch Jin tat ihm den Gefallen nicht. Er betrachtete Yuri einmal flüchtig von der Seite und wandte sich dann wieder Dante zu: »Sarris wollte dich also für sein Ritual, weil du auch dämonische Kräfte hast. Nicht nur als Sicherheit.«

Dante hob träge die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich weiß einfach nichts über diese Totenbeschwörungsnummer.« Er sah Yuri an. »Aber du anscheinend.«

Yuri fühlte sich unbehaglich. »Ähm. Ich weiß … vielleicht … etwas darüber, aber was ein Dämon namens Azazel oder du oder Devil oder sonst jemand damit zu tun haben soll, kann ich euch nicht sagen.« Das Thema war abgegrast. »Du hast auch nichts von Sarris dazu aufgeschnappt, oder, Jin?«

»Nein, nichts.« Jin ließ den Blick sinken. »Es tut mir leid«, sagte er dann, und diesmal klang es so aufrichtig, dass ein Teil von Yuris Groll zu schmelzen begann. »Ich dachte, es wäre richtig, was ich tue. Und Sarris, er wirkt so … reell.«

»Ja.« Dante seufzte. »Er ist aufrichtig. Das ist das Problem. Aber er kann dir wahrscheinlich nicht helfen, Kazama. Deshalb solltest du lieber uns vertrauen als ihm. Versuch’s wenigstens.«

Jin sah wieder auf. »Ich werde versuchen, dir zu vertrauen, wenn du mir vertraust. Wenn du aufhörst, mich einzusperren und zu bevormunden. Tu das nie wieder, Dante.«

Yuri sah die Ernsthaftigkeit in seinem Blick, und Dante sah sie anscheinend auch, denn er nickte beinahe feierlich. »In Ordnung.«
 

Skeptisch beobachtete Yuri Jins ersten Versuch, vom Sofa aufzustehen. Es gelang ihm nicht sofort. Seine Knie schienen ihn nicht tragen zu können; jeder seiner Muskeln zitterte in versagender Anstrengung, bis er sich am Tisch festhielt. Seine Verwirrung war offensichtlich. »Was ist das?«

Yuri trat zu ihm und fasste ihn an der Schulter, um ihm aufzuhelfen – und ließ sofort los, als Jin vor der Berührung zurückzuckte. »Oh, hoppla. Tut dir was weh?«

Jin antwortete nicht, doch seine Reaktion hatte klargemacht, dass er Berührungen nicht schätzte. Yuri fragte sich, woher das kam.

»Die Beschwörung hat deine Kräfte aufgezehrt«, erklärte er etwas unbeholfen. »Du musst deine Reserven wiederherstellen.«

»Geh erst mal duschen«, schlug Dante vor.

»Genau, das knallt total!«

»Du kennst dich ja inzwischen aus, deine Sachen sind alle hier. Lass dir Zeit. Wir machen währenddessen was zu futtern.«

»Wir machen was zu futtern?«, wiederholte Trish mit gehobenen Augenbrauen, während Jin sein Gleichgewicht allmählich wiederfand und sich Richtung Badezimmer vorkämpfte.

»Tu nicht so, als würde das nie passieren«, gab Dante zurück.

»Oh, doch, einmal im Jahrtausend. Und meistens nicht von dir aus. Aber gut, was hast du im Sinn?«

Yuri schaute zum Badezimmer, in welches Jin sich endlich verkrochen hatte. »Habt ihr Reis?«, fragte er.

»Ja«, sagte sie, » irgendwo in der Küche.«

Also suchten sie irgendwo in der Küche. In einem dunklen Schrank fand Yuri zu seiner Überraschung Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Alles keimte munter vor sich hin und versuchte zu entkommen, aber nichts war schimmelig. Im selben Schrank war auch der Reis – geschälter vorgekochter Langkornreis, der gewöhnlichste von allen. Was Yuri hingegen nicht fand, war das geeignete Gerät, um ihn zuzubereiten.

»Habt ihr keinen Reiskocher?«

»Wozu denn?«, antwortete Dante, der darauf zu spekulieren schien, nicht in den Kochprozess involviert zu werden. »Nimm einen Topf.«

»Warum muss ich in deiner Küche alles zusammensuchen?«

Trish streckte den Kopf herein. »Unter der Spüle. Ich gehe Grünzeug holen, denn das findest du hier nicht, egal wo du suchst.«
 

Es stellte sich heraus, dass Dante in der Küche nicht so unbrauchbar war wie befürchtet. Trish nutzte seine Fingerfertigkeit mit Klingen, um ihn ziemlich zackig alles Gemüse zu Würfeln, Rauten, Ringen oder Spalten zu verarbeiten. Nur die Zwiebeln zu schneiden lehnte er ab, also beschloss Yuri, sich derer selbst anzunehmen. Dante beobachtete ihn, den Rücken an die Schrankzeile gelehnt.

»Du schneidest wie ein Anfänger. Erstaunlich, dass deine Finger noch dran sind.«

»Schon mal ’ne Zwiebel in der Fresse gehabt?«, brummte Yuri und drohte mit der zweiten Hälfte.

»Schon gut.« Dante ließ den Schrank los, beugte sich zu ihm und stützte einen Ellenbogen auf die fleckige Arbeitsfläche. Sein Blick war nachdenklich. »Hör mal, Hyuga … Verstehst du Jin? Ich meine – verstehst du ihn?«

Yuri hielt inne. »Keine Ahnung. Ich bin schon vielen Leuten begegnet, in so vielen Ländern, aber ihn … kann ich kaum einschätzen.«

»So geht’s mir auch. Er ist ruhig, er ist höflich, er ist alles, was Devil Jin nicht ist. Und was ist dahinter? Wenn man ihm in die Augen sieht, weiß man nicht, ob er ein netter Kerl ist oder ein Arschloch.« Dante zuckte die Achseln. »Ich kann nichts mit ihm anfangen.«

Yuri konnte damit mehr anfangen, als ihm lieb war. Er spürte die unterschwellige Gefahr, die von Jin ausging. Es gab Momente, in denen er nicht wusste, ob es richtig war, ihm zu helfen. So ein Moment war der gewesen, in dem er erkannt hatte, dass Jin freiwillig zu Sarris gegangen war; die Erkenntnis, dass Jin nicht nur der brave Junge war, den man ihm aufgrund seines höflichen Auftretens sofort unterstellte. Diese reservierte Kälte, die er unentwegt ausstrahlte, war wie eine Warnung. Jin bedeutete nichts Gutes – und er wusste es.

»Er kann anscheinend nicht lächeln«, fuhr Dante fort, »und lachen schon gar nicht.«

Yuri schob mit dem Messer die fertig geschnittenen Zwiebelwürfel zusammen. »Ich weiß nicht … wenn wir ihm helfen, ob wir ihm dann … helfen

»Richtig.« Dante schob sich die Stückchen auf die Hand und warf sie in die Schüssel. »Machen wir irgendwas besser, oder machen wir alles noch schlimmer? Weißt du«, fuhr er fort, während er das Messer in die Spüle fallen ließ, »Jin hat außer diesem Teufel noch ganz anderen Stress. Ein Haufen Leute will ihn tot sehen, darunter sein Vater und sein Großvater, die engsten Verwandten, die er noch hat. Familienbande bedeuten da wohl nicht viel, die wollen sich alle gegenseitig umbringen. Klingt nach viel Spaß auf Familienfesten.« Nachdenklich starrte Yuri in den köchelnden Reis vor sich auf der Herdplatte und harkte sich mit der Rechten durch seinen zerzausten Haarschopf. Zu Dante waren seine Gedanken nach dessen verstörendem Outing ebenso oft zurückgekehrt, und er fragte vorsichtig: »Sag mal, dass du halb Dämon bist … hat dich das früher fertig gemacht? Ich meine, du hasst Dämonen, und dann bist du zur Hälfte selber einer … Wie gehst du damit um?«

»Es geht irgendwie«, war Dantes simple Antwort. »Ich war als Kind anders als heute, weißt du, ziemlich friedlich, geradezu langweilig brav. Erst irgendwann nach dem Tod meiner Mutter wurde bei mir ein Schalter umgelegt. Ich hab das Schwert meines Vaters genommen und mein Erbe angetreten. Und ich setze es gegen das ein, was meine Mutter getötet hat.« Er öffnete einen Oberschrank und nahm vier Teller heraus. »Der Unterschied ist: Ich hab das unter Kontrolle, ich nutze es als Vorteil und als Waffe. Bei Jin funktioniert das nicht. Wir alle müssen unseren Fluch ertragen, jeder für sich, aber …«

»… Aber Jin packt es nicht«, beendete Yuri unumwunden den Satz. »Und seinetwegen werden wir noch verdammt viel Ärger haben.« Er sagte das nicht nur so daher, sondern war überzeugt, dass es stimmte.
 

Die Einzige, die etwas von Gewürzen verstand, war Trish. Sie erzählte Yuri ohne Umschweife, wie sie sich in alle Bereiche des menschlichen Lebens eingearbeitet hatte, um ein normales und unabhängiges Leben zu führen. An Dantes Rockzipfel zu hängen war nie eine akzeptable Option für sie gewesen. Yuri bewunderte ihre Zähigkeit und den Umstand, dass sie trotz ihrer Vergangenheit völlig im Reinen mit sich war.

Als das Essen fertig war, brachten Dante und Yuri es an den Couchtisch. Jin saß dort mit feuchtem Haar und einem immer noch ziemlich leeren Gesichtsausdruck und wandte verdrossen den Blick von den Speisen ab.

»Komm schon«, forderte Trish ihn nachdrücklich auf. »Sei kein Baby.«

»Ich soll dieses Ding also füttern«, gab Jin noch undeutlicher als sonst von sich und blickte stur beiseite.

Yuri spürte seine Finger kribbeln und kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie zur Faust zu ballen und Jin erneut kräftig eine zu langen. Der schien es wirklich nötig zu haben. Allerdings hatte er keine Lust auf das Echo, also zog er stattdessen achselzuckend seine Mir-doch-scheißegal-Wand hoch und bediente sich am Reis.

»Du willst dagegen kämpfen«, erinnerte Dante derweil Jin an seinen Plan. »Und du gibst doch wohl wegen eines Rückschlags nicht auf.«

Jin zog krampfhaft Luft ein und stieß sie wieder aus. »Nein, das hab ich nicht vor«, behauptete er und wandte sich widerwillig der Mahlzeit zu.

Sie aßen schweigend und ohne viel Blickkontakt. Yuri futterte so schnell wie immer, zeigte aber seine besten Tischmanieren; da die Anderen ihn ohnehin für einen Rüpel hielten, konnten sie ruhig seine gute Erziehung zur Kenntnis nehmen.

Irgendwann fragte Dante ihn: »Was hast du eigentlich in deiner Zeit zuletzt gemacht, Hyuga? Außer die Welt gerettet.«

Yuri hörte einen Moment lang auf zu kauen. Das war wieder so ein Scheißthema, das er eigentlich gar nicht bearbeiten wollte. Hoffentlich würde es ihm gelingen, das schnell abzuhaken.

»Bin verflucht worden«, antwortete er mit halbvollem Mund. »Von einem Kirchentypen. Sollte meine Seele auslöschen.« Und ich war schon so weit, aufzugeben. Der Gedanke entsetzte ihn mit einem Mal. »Will nicht drüber reden«, fügte er noch undeutlicher hinzu und rührte mit der Gabel in Reis und Gemüse, bis nur noch ein bunter Brei auf seinem Teller war. Ich wäre fast verloren gewesen. Ein Körper ohne Seele. Eine leere Hülle.

Er hörte, wie Jin mit den Zähnen knirschte; die Erschöpfung verminderte seine Konzentrationsfähigkeit.

»Verkrampf dich nicht, Kazama«, sagte Dante gemütlich. »Wir haben Zeit.«

»Nein, wir haben keine Zeit«, schnappte Jin und ließ die Gabel auf den Tisch fallen. »Ich kann ihn hören, verstehst du? Seine Stimme ist in meinem Kopf!« Er warf das Messer hinterher und erhob sich so ruckartig, dass der Tisch über die Dielen schrubbte und seine Kante gegen Yuris Knie stieß. Dann war er auch schon auf dem Weg nach draußen.

»Hey!«, rief Dante, aber nur halbherzig, ließ es dann sein und blickte, als die Haustür zugefallen war, Yuri an. »Das ist mehr als Frust, oder?«

»Wenn Azazel nach Devil ruft«, wandte Trish stirnrunzelnd ein, »wird Jin eine schwere Zeit haben. Wir müssen die vierzehn Seiten finden, Dante.«

»Und dann? Wie können wir Azazel dazu bringen, die Klappe zu halten?«

Ungeduldig meldete sich Yuri zu Wort: »Ich hab euch doch gesagt, wen wir fragen können. Roger. Er weiß einfach alles. Er ist auch Dämonologe.« Er hoffte, dass man ihm nicht ansehen möge, wie eigennützig dieser Vorschlag war. Er war sicher, dass Roger oder irgendetwas, das er hinterlassen hatte, ihm dabei helfen konnte, in seine eigene Zeit zurückzukehren.

Dante sah ihn ungläubig an. »Das war also kein Witz, als du gesagt hast, du würdest Roger Bacon kennen?«

»Nein, Mann! Wie gesagt, der hat das Dschaizan-Dings kopiert und die bösen Seiten rausgenommen. Der weiß nicht nur, wo sie sind, der kann uns auch hundertpro sagen, was die können. Wir müssen zu Roger, wenn wir irgendwas erreichen wollen. Alleine haben wir doch keine scheiß Ahnung, was zu tun ist!«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dieser Typ noch lebt«, gab Dante fast belustigt zurück. »Rechne mal aus, wie alt der jetzt wäre!«

»Oh, die hundert Jahre machen Roger nichts aus. Er war schon siebenhundert oder so, als ich ihn das erste Mal getroffen habe.«

»Du spinnst, Hyuga. Hör auf mit dem Mist.«

»Oh, na schön!«, schnappte Yuri. »Wenn dir was Besseres einfällt! Aber das wird nicht passieren, und deshalb müssen wir nach Wales

»Nach Wales, sag mal, hast du eine Ahnung, wie weit Wales von hier weg –«

Die Tür klappte erneut, und beide Männer schlossen den Mund. Jin kam wieder herein, mit genau derselben Miene wie zuvor. Yuri hätte ihm prophezeien können, dass der Anblick der Slum Avenue ihn nicht aufheitern würde.

»Ihr wollt nach Wales?«, fragte der Japaner müde.

Akt IV - Balsam: 8-3

8-3: JIN
 

Unschlüssig starrte Jin auf Yuri hinab, der sich von seiner Umwelt vollkommen abgekapselt hatte und in eine Stille verfallen war, die an seiner Lebendigkeit zweifeln ließ. Seine Brust hob sich kaum noch.

Er fragte sich, ob es seine Schuld war. Er wusste, dass er sich zumindest bei Yuri äußerst missliebig gemacht hatte, und ob der offenen Feindseligkeit des Anderen überraschte es ihn, dass Yuri Dante offenbar freiwillig auf die Rettungsaktion begleitet hatte. War es dabei nur um Trish gegangen? Jin bedauerte diesen Verlauf, denn Yuris offen zur Schau gestellte Abneigung gegen Verrat machte ihm diesen sympathischer denn je.

Gerade kehrte Trish mit den Blättern zurück, die Yuri sie zu holen gebeten hatte. Jin hörte, wie Dante in der Küche Wasser zum Kochen aufsetzte.

»Es ist Traumkraut«, sagte sie. »Eine Pflanze aus Süd- und Mittelamerika, ein natürliches Psychopharmakum. Ureinwohner nutzen es zum Einleiten von Klarträumen – ihr wisst schon, Träume, in denen man weiß, dass man träumt, und ihren Inhalt beeinflussen kann. Es soll die Sinne klären und völlige innere Ruhe herbeiführen, ohne Müdigkeit zu verursachen.« Sie musterte Jin prüfend. »Denn das ist das Problem, richtig? Wenn du normale Beruhigungsmittel nimmst, betäubst du dich, nicht Devil. Dadurch hat er mehr Macht als vorher und alles wird noch schlimmer.«

»Ja.« Jin starrte immer noch Yuri an. »Wie häufig ist diese Pflanze heute noch?«

»Selten. Traumkraut ist schwer zu kultivieren, und der Export ist stark reglementiert.«

»Also opfert er seinen Vorrat für mich.«

»Sieht so aus.«

»Obwohl er wütend ist?«

»Das Gekläffe würde ich nicht überbewerten«, sagte Trish kühl. »Er ist emotional, das ist alles. Als du bewusstlos warst, hat er dich keine Sekunde aus den Augen gelassen.«

Jin betrachtete die trockenen Blätter nachdenklich, dann Yuri, der wie ein Komapatient weiterschlief.
 

»Woher weißt du so viel über das Zeug?«, wollte Dante von Trish wissen, als er das Wasser mitgebracht die Blätter damit aufgegossen hatte.

»Weil ich es in São Paolo in einem Teehaus probiert und nicht vertragen habe.« Auf Dantes neugierigen Blick hin fügte sie hinzu: »Scheint, als würde es auf Dämonen wirken wie … K.O.-Tropfen.«

Wahrscheinlich hatte Dante nun das Gefühl, etwas Elementares verpasst zu haben, und Jin dankte ihm, dass er nicht weiter fragte. Als der Tee fertig war, bekam er schon von dem stechend bitteren Geruch weiche Knie. Er zwang sich dennoch, ihn einzuatmen, und hielt die Nase dicht über die Tasse, sodass seine Wangen vom Dampf feucht wurden.

Was er gesagt hatte, war nicht erfunden gewesen. In seinem Kopf hallte ein verderbtes Echo jener Stimme, von der er wusste, dass sie Azazel gehörte. Sie war wie die von Devil, aber tiefer, grollender, mächtiger. Er fühlte, wie diese Stimme seine Gedanken hin und her bewegte, um zwischen ihnen nach gewalttätigen Impulsen zu wühlen. Immer wieder flackerten die unverständlichen, bösartigen Worte in seinem Inneren auf. Jedes Mal zuckte Jin dabei innerlich zusammen. Instinktiv wusste er, wusste einfach, dass nun auch Dantes durchdringender Blick Devil nicht mehr niederringen würde; der Teufel hatte Sukkurs erhalten von etwas, das Äonen älter war als er, eine Urgewalt, die ihm aus der Ferne Kraft gab, und jeder Versuch, Devil einzuschüchtern, würde ihn jetzt nur noch provozieren.

Dante lachte leise und deutete vage auf die Tasse. »So wie du aussiehst, sollten wir dir das Zeug nicht lieber gleich intravenös geben, hm?«

Jin war nicht amüsiert, und wie immer machte er keinen Hehl daraus. »Du hast einen komischen Humor«, murmelte er in die Tasse.

»Und du hast komische Haare.«

»Gibt es sonst noch etwas, das du mir sagen willst?«

»Ja. Deine Wunde braucht ’nen Check-up.« Dante deutete auf Jins verbundene Flanke. »Die von dem Messerstich. Ich bin ahnungslos bei so was, aber die Typen, die dich verarztet haben, sagten, du müsstest nach ein paar Tagen die Fäden ziehen lassen.«

Jin seufzte, stellte die Tasse auf den Tisch und stand auf. »Das erledige ich sofort.«

»Ich weiß leider nicht, wer so macht.«

»Jeder Arzt kann das machen. Hast du einen, dem du vertraust?« Im selben Moment wurde Jin klar, wie dumm diese Frage klang, wenn man sie jemandem stellte, der seinen Wunden gewöhnlich beim Heilen zusehen konnte. »Schon gut, ich werde einen finden«, murmelte er und griff nach seinem Handy. »Nur muss ich irgendwie hin kommen.«

Zur Antwort hielt Dante einen kleinen silbernen Zündschlüssel hoch. »Kannst du Motorrad fahren?«

Jin war so erstaunt, dass es einige Sekunden dauerte, ehe er die Antwort fand. »Ja … Ja, kann ich.«

»Gut. Hier.« Dante warf ihm den Schlüssel zu, und Jin fing ihn etwas ungeschickt. »Steht draußen.«

»Ich weiß.« Ungläubig wog Jin den kleinen Gegenstand in der Hand. »Aber warum –«

»Ich stehe zu meinem Wort, Kazama. Ich vertraue dir.« Er zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Tut mir leid, dass ich dich nicht so behandelt hab.«

Jin schüttelte ratlos den Kopf. Du hättest mich doch einsperren sollen, dachte er, das hätte uns vieles erspart.

»Du bist jünger als der da«, fuhr Dante mit einem Kopfnicken zu Yuri fort, »trotzdem würde ich dir einen Schnaps anbieten und dem einen Apfelsaft. Verstehst du?«

»Nein.«

»Dann anders: Ich respektiere dich und das, was du durchmachst. Und jetzt mach, dass du wegkommst, bevor ich weiter rede wie ein alter Mann.«
 

Jin trank die Tasse mit einiger Überwindung ganz leer, ehe er aufbrach. Fädenziehen war nicht angenehm, und er wollte nicht austesten, wie viel davon Devil jetzt tolerieren würde. Dantes antiquiert aussehendes Motorrad, das jedem großen Rockstar gut gestanden hätte, war wie immer vor der Eingangstür am Straßenrand geparkt. Es unterschied sich sehr von dem modernen Modell, das Jin gewöhnt war – eine vollautomatische Sportmaschine, die per Knopfdruck gestartet wurde und sämtliche Statuswerte über Digitalanzeigen mitteilte –, doch mit etwas Geduld brachte Jin das Gefährt schließlich zum Starten. Es dauerte ein paar Biegungen, bis er sich mit der altmodischen Steuerung vertraut gemacht hatte, doch dann

brachte ihn Dantes Fahrzeug schnell und sicher in die Innenstadt. Beim Fahren spürte er bereits die Wirkung des Traumkrauts, die sich verblüffend von der eines herkömmlichen Sedativs unterschied: Es machte weder die Lider schwer noch das Hirn träge, im Gegenteil; Jin spürte eine Klarheit im Kopf, die es leicht machte, jeden beliebigen Gedanken zu ergreifen und festzuhalten. Gleichzeitig war er so ruhig, so mühelos konzentriert, dass es ihm tatsächlich leicht fiel, Devil zurück zu halten. Unter Einwirkung der Droge konnte er all diese Dinge gleichzeitig tun, ohne dass es ihn geistig erschöpfte. Es war genau das, was er gebraucht hatte.

Die Fäden zu ziehen war keine große Angelegenheit, und der vollbärtige Arzt machte auch keine daraus. Kommentarlos pinzettierte er die Enden der durchtrennten Naht und zupfte sie Stück für Stück aus der gut verheilten Haut. Jin hielt still und starrte aus dem Fenster des kleinen Behandlungszimmers auf die Straße, froh darüber, keine Fragen zur Herkunft der Verletzung beantworten zu müssen.

»Behalten Sie das noch im Auge«, sagte der Arzt, als er sein Besteck beiseite legte, und deutete auf den kleinen Blutstropfen auf dem Tupfer. »Schonen Sie sich noch ein paar Tage. Dann sollte alles in Ordnung sein.« Zweifellos hatte er an Jins muskulöser Statur sofort erkannt, dass er Profisportler war.

»Werde ich«, antwortete Jin bemüht.

Als er auf dem Rückweg war, sein Gemüt noch immer durch die Leichtigkeit des Traumkrauts wie auf Watte gebettet, brach endlich auch die Sonne hinter der grauen Wand hervor, als hätte sie einen langen Kampf gewonnen. Ihre Strahlen berührten Jins bloße Unterarme, und als er kurz hinauf in die sich teilenden Wolken blickte, fühlte er unvermittelt etwas in sich keimen, das er zuletzt tief unter Apathie und Empfindungslosigkeit vergraben hatte: Hoffnung.
 

Als er zurück war und die schwere massivhölzerne Doppeltür aufdrückte, saßen Dante und Trish über eine riesige Landkarte gebeugt, die, voll ausgebreitet, an allen Seiten über die Tischplatte hinausragte. Jin sah die zerklüftete Oberfläche einer Insel.

Dante sah auf und begrüßte ihn mit den Worten: »Weißt du, wo Wales ist?«

»Ja, natürlich«, antwortete Jin und sah sich nach Yuri um, der auf dem Sofa saß, die Füße gemütlich auf dem Tisch und eine Tasse seines Beruhigungstees in der Hand, und Jin nur einen beiläufigen Blick zuwarf. »Das ist ein Land in Großbritannien, neben England.«

»Was hältst du davon, wenn wir uns da mal umsehen?«

»In Wales? Wofür?«

Yuri stellte die Tasse auf den Tisch. »Na, deinetwegen, Mann. Der Irre sucht die fehlenden Seiten, das ist wohl klar.«

Ohne ihn anzusehen, ließ Jin sich auf der Couch gegenüber nieder. Er hatte schon so oft und lange auf ihr gesessen und dabei so viele seiner Probleme ausgebreitet, dass sie ihm schon wie seine persönliche Therapiecouch vorkam. »Aber was wissen wir überhaupt über das Buch? Wer hat es geschrieben?«

»Das weiß niemand«, nahm Dante das Wort. »Da sind verschiedene Dämonologen aus der damaligen Zeit im Gespräch, unter anderem ein Gelehrter namens Roger Bacon. Und Hyuga hier behauptet, dass er ihn gekannt hat.«

Jin überprüfte das in Gedanken und schüttelte langsam den Kopf. »Das ergibt zeitlich keinen Sinn.«

»Hab ich ihm auch gesagt.«

»Aber ich kenne ihn!«, behauptete Yuri.

»Und du willst sagen, dass du weißt, wo er gelebt hat?«, fragte Jin spöttischer als beabsichtigt. »Sollen wir das glauben?«

Yuri reckte das Kinn vor. »Roger wohnt in Aberystwyth.«

»Aberwo?«, fragte Dante.

»Eine Stadt in Wales. Dort stand das Kloster Nemeton. Davon gehört?«

»Nein.«

»Ihr wisst echt gar nichts! Wir müssen dahin. Roger hat die Seiten entfernt, also weiß er auch, wo sie sind. Wir müssen sie kriegen, bevor Sarris sie kriegt.«

Dantes lahm angehobener Arm fegte ein paar Blätter vom Schreibtisch, die geräuschvoll zu Boden flatterten. »Leider ist das auf der anderen Seite der Erdkugel.«

Jin setzte sich unruhig in Bewegung, durchquerte den Raum. Seine Gedanken gerieten in Bewegung. »Sarris hätte nach dem Kampf im Schacht davon ausgehen können, dass Trish ihn belügt, ein …« Kurz suchte er das richtige Wort. »… Bluff. Aber er hat geahnt, dass sie Recht hat. Das heißt, er muss eine Idee haben, wo die Seiten sind.«

»Also reisen wir jetzt sofort auf Verdacht nach Wales – einmal um die halbe Welt?«, fragte Dante ungläubig. »Ich meine, ich bin an Bord, aber … wie

»Wir haben doch die Knete dafür«, mutmaßte Yuri und sah Jin direkt in die Augen. »Oder?«

Jin straffte sich. Das war es. Wenn er so das Vertrauen der Anderen zurückgewinnen konnte, war er zu allem bereit – sogar dazu, das verhasste Erbe der Mishimas anzutreten. »Natürlich. Überlasst das mir.«

Dante musterte ihn prüfend. »Du bist noch nicht lange im Besitz von so viel Geld, stimmt’s?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du es nicht gewohnt bist. Normalerweise wollen Reiche immer reich bleiben oder noch reicher werden. Immer, wenn sie was hergeben sollen, stehen sie erst eine Weile da und rechnen. Du aber nicht … Du sagst einfach: Ja, ich hab die Kohle. Und dabei siehst du aus, als ob dich das selber überrascht.« Er schmunzelte.

Jin wandte sich unwillig ab. »Es ist wohl besser, wenn ich mich um die Organisation kümmere.«

»Allerdings. Du könntest –«

»Ich will keinen der … meiner Leute einweihen«, unterbrach Jin ihn sofort. »Jedenfalls … noch nicht.«

»Ganz wie du meinst. Du bist der Mann mit der Kohle.«

Jin schnaubte innerlich. Genauso, das wusste er, würden ihn bald sehr viele Menschen betrachten – als etwas, das er niemals, niemals hatte sein wollen. Der Mann mit der Kohle.
 

Da die Organisation der Reise nun Priorität hatte, versuchten sie sich alle gemeinsam an einer sinnvollen Ablaufplanung. Jin und Yuri begutachteten das aramäische Henochbuch, um zu entscheiden, welchen Wert es für ihre Unternehmung haben mochte. Da Jin fest entschlossen war, alles über Azazel herauszufinden, forschte er eine Weile fruchtlos im Internet über die das Buch. Immer noch wollte er nicht Nina einweihen, obwohl es sicher klug wäre, sie auf Informationssuche zu schicken; doch ihm widerstrebte der Anschein von Verwundbarkeit, der damit einherging. Er wusste, dass Männer mit Macht sehr schnell unter der Erde verschwanden, wenn sie Schwäche zeigten, und diesen Fehler würde er nicht machen – egal, wie sehr er Nina vertraute.

Yuri indes bestand darauf, das Henochbuch einfach mitzunehmen. »Roger kann das lesen«, behauptete er, als ginge er ernsthaft davon aus, in Wales einem hundert Jahre alten Mönch zu begegnen, der Aramäisch verstand.

Während sie recherchierten, kümmerte Trish sich unaufgefordert um das Geschäft. Sie nahm Dantes Platz hinter dem Schreibtisch ein und übernahm das Telefon, wobei sie das »Devil May Cry« so zuckersüß in den Hörer trällerte, dass ihre Abweisung, wenn das Passwort nicht fiel, dem Anrufer vermutlich trotzdem noch den Tag versüßte. Längst war Jin eines unmissverständlich klar: Dante und Trish waren ein Paar. Ihre Beziehung mochte sowohl aromantisch als auch asexuell sein, aber dennoch war sie auf anderer Ebene so tief und vertraut, so wortlos und selbstverständlich, dass es Jin beinahe schmerzte, die vielen kleinen Gesten und flüchtigen intimen Blicke zwischen ihnen mitanzusehen. Seine eigene Sehnsucht nach Halt und Beistand durch eine andere Person erkämpfte sich bisweilen einen Weg an die Oberfläche seiner gut behüteten Gefühlswelt, und dann ging er fast in die Knie vor der Erkenntnis, dass er niemals Teil einer solchen Partnerschaft sein konnte.
 

Am Abend nahm Trish einen Anruf entgegen, der nicht nach dem üblichen Gruß endete. Ihre Miene war ernst, während sie lauschte; Jin hörte mit halbem Ohr, wie sie in einen seriöseren Ton fiel, und sah vom Sofa aus zu, wie sie etwas auf einen der vielen herumliegenden Zettel notierte. »Passwort«, sagte sie, als sie aufgelegt hatte. »Eastport.«

»Oh, gut«, antwortete Dante, eine Spur zu eilig von dem Henochbuch aufsehend. Er war die letzte halbe Stunde so still gewesen, dass Jin vermutete, er hatte nicht gelesen, sondern geschlafen. »Kommst du alleine klar?«

»Nein, du musst mit.«

»Wirklich?«

»Ich kann nicht alleine zwei Ausgänge blockieren.« Trishs Logik war unfehlbar.

»Ich lasse Jin nicht alleine hier. Nimm Yuri mit, der braucht frische Luft.«

»Gar nicht«, behauptete Yuri aus seiner lümmelnden Position vom anderen Sofa aus.

Dante sah ihn schräg an. »Ich weiß genau, dass du uns die ganze Zeit zuhörst und die Zeitung von gestern dich nicht die Bohne interessiert.«

»Ach ja?«

»Du hältst sie falsch rum.«

Augenrollend warf Yuri die Lokalzeitung zur Seite. »Na schön! Was soll ich machen?«

»Wir machen eine kleine Spritztour«, erklärte Trish und bewaffnete sich mit ihren beiden Pistolen.

»Auf dem puffenden Fahrrad? Nö.«

»Ich bin damit vorhin zum Arzt gefahren und zurück«, sagte Jin, nur um zu sehen, wie Yuri darauf reagierte.

»Echt? Na dann.« Yuri sprang auf. »Wär doch gelacht.«

Jin sah ihnen nach, als sie hinausgingen. »Du darfst dich richtig austoben …«, hörte er Trish noch überzeugend sagen, dann fiel die schwere Tür ins Schloss.

Sobald das Geräusch verklungen war, schob Dante das Buch beiseite. »Gut, die Luft ist rein. Zeit für ein Männergespräch«, verkündete er.

»Männergespräch?«

»Naja, Trish zählt nicht, da ihre Reproduktionsorgane sich innen befinden, und Yuri disqualifiziert sich dauernd selbst, also bleiben nur wir als echte Männer übrig.«

»Was hast du vor?«, seufzte Jin.

Dante stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte. »Wir reisen zusammen nach Wales, wir Drei. Wir müssen einander vertrauen können.«

»Oh, bitte. Nicht das wieder.«

»Hör zu, ich rede nicht von unseren vielen kleinen persönlichen Angelegenheiten, sondern von Devil. Ich will wissen, wie weit du ihn im Griff hast. Was sich seit dem Ritual im Schacht verändert hat. Wie lange hat das Kraut gewirkt?«

Jin horchte in sich hinein und fragte: »Haben wir noch was davon?«

»Nur ein paar Blätter.«

»Es wirkt noch, glaube ich.«

»Gut. Du hast gesagt, du konntest dich früher mal ganz kontrolliert in Devil Jin verwandeln, also …«

»Nein, Dante«, knurrte Jin ihn an, ehe der Teufelsjäger den Satz beenden konnte. »Verlang das nicht von mir. Wo auch immer du deine Experimente machen willst, er wird alles niederreißen, er wird Menschen töten …«

»Nicht, wenn wir das einsetzen.«

Jin sah hoch; Dante hielt eine faustgroße bläuliche Glaskugel in der Hand. Richtig, das war die Chemikalie, die Devil so große Schmerzen zugefügt hatte, dass er das Feld geräumt hatte. »Weihwasser.«

»Sollte funktionieren. Niederstarren kann ich mir sparen, wenn Devil und Azazel jetzt in telepathischem Kontakt stehen, aber das tut immer noch weh.«

Jin fühlte sich viel zu schwach für Experimente, viel zu verbraucht und zu mutlos. Er hatte momentan weder die körperliche noch die geistige Stärke, um das Verhältnis zwischen sich und Devil umzukehren und den Dämon in Schach zu halten. Widerwillig sagte er: »Wenn du darauf bestehst, werde ich es tun.«

»Glaub mir, ich schlage das nicht vor, um dich zu ärgern.«

Das anzuzweifeln wäre nicht fair, also sagte Jin nichts. Sein unschlüssiger Blick glitt über den Tisch zu dem Stuhl, über dessen Lehne Dantes schwarze Weste hing. »Ist die kugelsicher?«, wollte er wissen. Er vermutete Stahlplatten oder etwas Ähnliches unter dem Stoff.

Dante folgte seinem Blick. »Gegen Weichkernkugeln, ja. Wieso? Denkst du, ich schieße auf dich?«

Jin beachtete das spöttische Lächeln nicht. »Vielleicht solltest du.«

Dante zuckte die Schultern. »Wir können testen, was Devil dazu sagt. Vielleicht ist es eine freundliche Methode, dich zurückzuverwandeln. Aber gegen Messerangriffe hilft die nicht, dass du’s weißt.« Er nahm die Weste vom Stuhl und warf sie Jin in die Arme.

Die Weste war so schwer, dass Jin, der mit dem Gewicht nicht gerechnet hätte, fast in die Knie ging. »Was ist das? Blei?«

»Kevlar. Die ist noch leicht. Alles, was schwerer ist und besser schützt, schränkt die Beweglichkeit ein, das hasse ich.«

»Aber du brauchst sie nicht wirklich«, stellte Jin fest.

»Nicht zum Überleben. Aber es ist angenehmer, beim Arbeiten nicht ständig durchlöchert oder zerfetzt zu werden. Ich hab sie gerne auf härteren Missionen an.«

Etwas ungeschickt verschloss Jin die vier kleinen Schnallen über der Brust.

»Du kannst sie auch über dem Mantel tragen. Es sei denn, du willst nicht, dass jemand sieht, dass du sie anhast.«

»Das ist weniger auffällig. Wohin gehen wir?«

»Dahin, wo ich mit Yuri war, in den stillgelegten U-Bahn-Tunnel. Da kriegst du nichts kaputt, und Kinder werden sich da heute auch nicht verirrt haben.«
 

Jins Laune besserte sich nicht, als sie durch die trübe Dunkelheit zur alten U-Bahn-Station trotteten. Ihm wurde sofort klar, warum Dämonen diesen Ort mochten: Er war dunkel, feucht, über die Maßen schmutzig und stank nach allem, was die industrialisierte Welt überhaupt ausscheiden konnte.

Einige Schritte tief im Tunnel, wo das Licht kaum noch hinreichte, stellte Dante sich Jin gegenüber. Er war jetzt schwer auszumachen, kaum mehr als eine diffus umrissene Gestalt. »Also. Was müssen wir tun, oder kannst du es ohne Hilfe?«

»Es gibt kein Kommando«, antwortete Jin finster. »Es musste mir immer erst schlecht gehen. Mittlerweile bin ich so darauf fixiert, ihn zurückzuhalten, dass ich kaum daran denken kann, ihn einfach … loszulassen.«

»Verstehe. Versuch es einfach. Und warn mich, wenn das Traumkraut zu wirken aufhört.«

Jin atmete tief durch und konzentrierte sich. Ganz bewusst ließ er die dicke Mauer, die er stets krampfhaft aufrecht erhalten hatte, langsam sinken. Es fühlte sich so falsch an und lief so sehr allem zuwider, was er sich beigebracht hatte, dass die Überwindung dazu ihm einige mentale Anstrengung abverlangte. Doch es gelang. Behutsam öffnete er das Tor zu dem Kerker, in dem er die Bestie gefangen hielt, und spähte hinein.

Devil war … nicht da.

Keine Antwort kam von dort drinnen, auch dann nicht, als Jin mutiger wurde, gar versuchte, den Dämon mit aufwühlenden Gedanken zu provozieren.

Nichts.

Das Traumkraut wirkte gründlich.

»Es … es geht nicht.«

»Sicher?« Dante, lässig auf sein Schwert gestützt, beobachtete ihn aufmerksam. »Soll ich dich schlagen?«, bot er verschmitzt an.

Das würde er wirklich tun, dachte Jin.

»Konzentrier dich, Kazama. Wie vor einem Match. Erinnere dich an eine Situation, in der du deinem Großvater ausgeliefert warst.«

Das war nicht besonders schwierig. Derlei Szenen hatten sich Jin unauslöschbar eingeprägt, das ganze Bild mit all den Gefühlen dazu. Heihachi, wie er seine Waffe auf Jin richtete, den bärtigen Mund zu einem kalten, gehässigen Lächeln verzogen; seine Haltung schrie Verrat! , seine Augen zeigten kein Bedauern darüber, seinen Enkel zu töten, den er vier Jahre lang ausgebildet hatte. Dieses Erlebnis hatte Devil ebenso getriggert wie das in Hon-Maru, als Jin in Ketten lag, während irgendeine benebelnde Droge in seinem Blut kreiste und das Gelächter Heihachis von allen Wänden widerzuhallen schien …

Er riss die Augen auf, schaute an sich herab und sah die schwarzen Linien unter der Haut hervortreten wie pechgefüllte Adern. Ja, damals hatte er Devil kontrollieren können, hatte nur eine Art halbe Transformation zugelassen, ohne Hörner, ohne das widerwärtige dritte Auge …

Er kontrollierte seine Atmung, starrte seine Hände an, die zwar die magischen Tätowierungen zeigten, aber nicht zu Krallen wurden, als er sie mit Bedacht schloss. Devil kämpfte nicht gegen ihn.

Jin öffnete die Flügel, langsam.

Dante sah ihn abwartend an. Seine Haltung war wachsam, aber nicht kampfbereit. »Und? Geht’s dir immer noch gut?«

»Ja«, murmelte Jin. »Dieses Kraut … ist …«

Doch plötzlich brachte Dante ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

Jin sah ihn beunruhigt an und ließ seine Lippen das Wort Was? formen.

Dante packte ihn sanft, aber bestimmt am Arm – ganz so, als wäre alles in Ordnung – und Jin wehrte sich diesmal nicht, weil Dante im selben Moment raunte: »Mitkommen.«

Jin gehorchte und ließ sich in eine Nische an der Seite ziehen, die voll mit vergessenem Gerümpel stand. Tattoos und Federn hatten sich bereits fast vollständig in seinen Körper zurückgezogen, ohne dass er es wahrgenommen hätte; aber Devils Zustand interessierte Dante gar nicht.

»Was ist los?«

»Schhht.« Dante wandte sich um und drehte langsam den Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Unbehaglich folgte Jin seinem Blick. »Sag mir, was los ist!«, zischte er.

»Jemand ist uns gefolgt.«

Jins Mund wurde trocken. »Ich habe nichts geh–«

»Hast du die Weste richtig an?« Dante hatte die Stimme zu einem scharfen Flüstern gesenkt und sich näher zu ihm gebeugt.

»Ja … aber –«

»Gut. Weil uns jemand im Visier hat.«

Jin schloss den Mund wieder.

»Bist du ein guter Schauspieler?«

»Warum?« Unruhe befiel Jin. Er kannte das Gefühl eines drohenden Attentats, so oft hatte er es erlebt. Seine Haut prickelte. »Was soll ich spielen?« Eilig ließ er die Finger über die Verschlüsse der Weste gleiten. Sie war korrekt verschlossen. »Wie soll ich aussehen?«

»Möglichst tot. Und zwar ab … jetzt.« Dante nickte an sich herab, und Jin bemerkte den kleinen roten Lichtpunkt, der ruhig auf seiner Brustmitte ruhte.

Sein Blut gefror.

Zwei kurze Geräusche durchschnitten die Luft, und beide klangen wie ein gespanntes und dann losgelassenes Schießgummi. Dass auf ihn tatsächlich geschossen worden war, wurde Jin erst klar, als der Schuss ihn tatsächlich traf. Der Schalldämpfer hatte das Krachen unterdrückt, und so kam der Schmerz aus heiterem Himmel und ließ Jin aufschreien. Es fühlte sich an wie ein harter Faustschlag mitten in die Rippen. Der Stoß ließ ihn taumeln und zu Boden gehen, und kurzzeitig glaubte er wirklich tot zu sein. Seine Lungen schienen keine Luft mehr zu enthalten und seine Muskeln keinerlei Kraft. Vor seinen Augen flimmerte es grau und hell wie ein Schneesturm. Der Schmerz pulsierte weiter, und Jin wusste, dass er nicht tot war – die Weste war kugelsicher, ihr Kevlarkern hatte die Ladung abgefangen.

In diesem Moment brach die Stille.

Zwei Schatten stürzten um die Ecke, und einer davon war groß, muskulös und bewaffnet. Etwas glänzte in seiner Hand, und ein langes Rohr ragte davon auf.

Augenblicklich wurde Jin still. Rücklings lag er im stickigen, nassen Dunkel. Leise Schritte erklangen, doch sie hielten an und kamen nicht näher. Jin war sich auf seltsame Weise der Tatsache bewusst, dass Dante ebenso präzise getroffen worden war und keinen Meter entfernt lag.

Ein helles Wispern erklang; die Stimme einer Frau. Sie klang bedauernd, aber gefasst. »Sollten wir nicht sichergehen?«

Der Schütze, ein Mann, atmete geräuschvoll ein. »Ich habe sauber getroffen.«

»Auch den Anderen?«

Ein Seufzen. »Ja. Er atmet nicht. Beide nicht.« Die Schritte des Mannes, lang und schwer, setzten sich wieder in Bewegung und kamen näher, stapften an Jins Ohr vorbei. Er hörte, wie Dantes Schwert vom feuchten Boden aufgehoben wurde. »Sieh an. Wer läuft mit so was durch die Gegend?«

»Leg es hin«, bat die Frau. Es klang irgendwie unglücklich. »Bitte.«

»Etwas stimmt nicht.« Der Mann stapfte noch einmal um sie herum, und Jin hatte das Gefühl, seinen Atem keine Sekunde länger mehr so flach halten zu können. Auch wenn er es gelernt hatte, war es in einer solchen Situation nahezu unmöglich; zu viel Schmerz und zu viel Angst durchströmten seinen Körper. »Wieso wehrt sich der dunkle Stern in ihm nicht? Haben wir hier vielleicht zwei harmlose Passanten erwischt?«

»Nein!«, zischte die Frau. »Solche Fehler passieren nicht. Das ist Jin Kazama. Und ich bin sicher, sein Begleiter ist ebenfalls ein Dämon.« Sie zögerte einen Moment, dann bat sie, mit hörbarem Unwillen: »Durchbohre sein Herz. Es ist das Beste.«

Jin verkrampfte sich und glaubte, seine Muskeln würden zerspringen. Sein Herz? Das würde die Weste nicht aushalten. Seine Lungen brannten; jeden Moment wäre seine Selbstbeherrschung dahin, und er würde in Keuchen und Zittern ausbrechen. Sie mussten sehen, dass er schwitzte.

Doch dann nahm er wahr, wie der Mann sich herunterbeugte – nicht zu Jin, sondern zu Dante direkt neben ihm – und hörte, oder glaubte zu hören, dass der Assassine Dante mit einem gut gezielten Kraftaufwand an der Schulter packte und auf den Rücken warf. Dann folgte das unverkennbare Geräusch, wenn eine scharfe Schneide in Stoff und Fleisch eindringt. Ein unbeschreibliches Geräusch.

Dann schepperte die Schwertklinge wieder auf den Steinboden.

»So«, sagte der Mann ruhig, und seine Schritte entfernten sich wieder. »Auftrag ausgeführt. Komm, gehen wir. Es musste sein.«

Die Frau folgte ihm und sagte mit ehrlichem Kummer in der Stimme: »Es tut mir leid, dass das nötig war. Aber es ist zum Wohl der ganzen Welt.«

Dann gingen sie fort. Schnell und leise verschwanden ihre Präsenzen aus dem Radius von Jins chi.

Jin widerstand dem Drang zu atmen. Er blieb liegen, bis es völlig still war, und sein Herz pochte wie ein Schlagbohrer unter seinen schmerzenden Rippen.

War Dante tot – und würde er es auch jeden Moment sein?

Akt V - Aufbruch ins Gelobte Land: 9-1

9-1: DANTE
 

Die ersten Sekunden lang war der Schmerz so überwältigend, dass er fast das Bewusstsein verlor. Es war nur eine Kugel, doch sie hatte seine linke Lunge durchschlagen, die sich sofort mit Blut zu füllen begann und seine absichtlich flach gehaltene Atmung zu ersticken drohte. Im Dunkel liegend blieb er ganz starr, um den kurzen Moment, den es dauern würde, irgendwie durchzuhalten – und dann, endlich, ging sein halbdämonischer Organismus in den Leck-mich-Modus über und schüttete Unmengen von Schmerz- und Aufputschmitteln in sein Blut aus.

Keine Sekunde zu früh.

Der Hobbymörder packte ihn und drehte ihn auf den Rücken – für Dante war es jetzt einfacher, Leiche zu spielen – und rammte ihm sein Schwert in die Brust, dass die Klinge an den Rippen kratzte und noch mehr Blut seinen Brustraum flutete.

Egal. Das war nicht neu. Passierte gefühlt ständig. Immerhin trat die Spitze nicht im Rücken wieder aus, so blieb wenigstens der Mantel diesmal heil. Alles andere konnte Dante jetzt leicht ignorieren. Blut war kein kritischer Faktor – er produzierte es so schnell wie andere Leute Schweiß. Also gab er sich Mühe, so tot auszusehen wie noch nie, während in seinem hastig kreisenden Blut die körpereigenen Drogen alle Beeinträchtigungen tilgten.

Als die beiden Pseudokiller ihren Sermon beendet und das Weite gesucht hatten und nachdem auch jedes andere Geräusch längst verhallt war, zog Dante Arme und Beine an und sprang auf die Füße. Sein Kreislauf machte ihm keinerlei Probleme.

»Die waren ja gründlich«, stellte er fest, die schummrige Düsternis mit großen Schritten durchmessend. Der Hustenreiz war schon wieder völlig verschwunden. Er umfasste Rebellions Griff und zog sich die Klinge aus der Brust. Dabei achtete er darauf, Jin, der immer noch reglos dalag, nicht mit seinem Blut zu besprenkeln. »So was passiert immer nur montags.«

Von Jin kam überhaupt keine Antwort. Er lag so auf dem Rücken, wie er gefallen war, und der Schock ließ ihn nicht länger stillhalten: Heftig hob und senkte sich sein Oberkörper, und alle seine Glieder zitterten unkontrolliert.

»Kazama?« Dante kniete sich neben seinen Kopf und blickte ihm in die leicht glasigen schwarzen Augen. »Alles cool?«

Jin schaute verwirrt zu ihm auf. »Du … hast …«

»… dir das Leben gerettet? Wahrscheinlich.«

»Aber du hast …« Jin befeuchtete sich die Lippen wie in Zeitlupe. »… dein eigenes Schwert …«

»Ist schon in Ordnung. War nicht das erste Mal.« Tatsächlich spürte er gar nichts mehr, die Wunde war völlig taub und Dante bei glasklaren Sinnen. Im Stillen dankte er seinem dämonischen Erbe: Als normaler Mensch hätte er schon etliche Male das Zeitliche gesegnet, so oft, wie seine Feinde auf die Idee kamen, ihn mit irgendwas zu durchbohren. Doch Schmerzen von solcher Heftigkeit machten ihn nicht kaputt, sondern high. Je mehr man Dante verletzte, desto mehr er lief er zur Höchstform auf.

Jin schien sich einigermaßen zu fassen. Noch etwas verwaschen sagte er: »So was sollte … nicht passieren.«

»Nein, aber das war auch kein Geniestreich.« Dante strich mit der Hand über das Leder des Mantelkragens und hob sie nass und rot vor die Augen. »Werden Auftragskiller heutzutage nur noch schlampig ausgebildet? Er hätte mir das Schwert direkt ins Herz stoßen können, das hätte mich länger beschäftigt. Aber er wollte mir wohl eine Chance geben.« Er zuckte die Schultern. »Ich wurde bisher nicht oft ermordet, aber wenn, dann immer von Idioten.«

»Die wollten nicht dich töten.« Jin hielt noch immer den Kopf gesenkt und bekam kaum die Zähne auseinander.

»Nein«, pflichtete Dante ihm ernst bei, »du hast Recht. Die wollten nicht mich töten.«

»Woher wusstest du, dass sie auf uns schießen würden?« Jin zog die Schutzweste über der Brust auf und rieb sich die Stelle, wo das Material die ganze Wucht des Geschosses aufgefangen hatte. Sicherlich war das ordentlich geprellt, vielleicht waren auch ein, zwei Rippen angeknackst. Aus einem Mordanschlag ging man eben nicht völlig heil hervor.

»Ich hab sie gehört. Die sind ganz vorsichtig an uns ran geschlichen, das kam mir verdächtig vor. War nur eine Vermutung, dass sie uns umlegen wollen. Hättest du erst diskutiert und nicht gleich mitgespielt, dann hätten sie erkannt, dass ich dich gewarnt habe. Zum Glück bist du ein braver Junge, darauf trainiert zu gehorchen.« Er sagte das nicht ohne eine Spur von Spott.

»Wir müssen sie kriegen«, knurrte Jin. »Ich muss wissen, warum sie mich erschießen wollten.« Damit hatte er Dante auch schon brüsk den Rücken gekehrt und stapfte den Weg zum Aufgang zurück, sich weiter die schmerzende Seite reibend.

»Ich denke, dich umlegen wollen viele?«, rief der Dämonenjäger ihm halbherzig nach. Sein Adrenalinspiegel sank bereits wieder, und er wurde zusehends lustlos. »Die erwischen wir jetzt nicht mehr.«

Jin schenkte ihm keine Beachtung. Schon war er der schmierigen Treppe nach aufwärts gefolgt.
 

Draußen hatte es angefangen zu graupeln; die winzigen Schneekügelchen stoben in unregelmäßiger Dichte durch die viel zu warme Luft und zerflossen am Boden zu punktförmigen Wasserflecken.

Jin war nicht so kopflos wie gefürchtet – Gott sei Dank. Er stand vor dem Ausgang und horchte, seine Silhouette schwarz vor dem blass einsickernden Licht. Dante brauchte nicht zu fragen: Die Killer waren noch da. Und sie rechneten nicht damit, dass ihre jüngsten Opfer noch lebten.

»Was machen sie?« Er versuchte, es so leise wie möglich und so dicht an Jins Ohr wie möglich zu sagen und sah, wie sich im Nacken des Japaners die Härchen aufstellten.

»Ich glaube, sie platzieren Sprengstoff.«

»Was? Die gehen aber wirklich auf Nummer sicher.«

»Sie wollen den Zugang zum Tunnel einstürzen lassen, damit niemand unsere Leichen findet«, zischte Jin.

Im selben Moment hörten sie auch wieder die helle Stimme der Frau: »Ich bedaure sehr, dass das nötig ist.«

»Ich auch«, pflichtete der Mann bei, teilnahmsvoll, aber voll gefasst. »Aber du tust das hier für das Wohl der Welt. Wenn deine Visionen wahr sind, dann gibt es keinen anderen Weg. Also sieh geradeaus: Im Kampf gegen das Chaos sind wir ruhig, kühl und zielorientiert.« Eine kurze Pause folgte. »Gut, ich setze den Zünder jetzt ein … Geh da rüber, zur Brücke. Das sollte reichen.«

Während er Jin folgte, versuchte Dante seinen Rücken, so gut es ging, den Fassaden zuzukehren; über der Brust war sein Mantel nicht blutbefleckt, nur alles darunter, doch das konnte er verstecken. Immer dasselbe mit diesem Job.

Jin war zwischen zwei parkenden Autos auf die unbefahrene Straße gelaufen. Na großartig. Würden die Killer ihn nicht sehen? Trotz aller Akkulturation sah er eben immer noch aus wie ein reicher Chinese, und das fiel hier auf.

Nach kurzem Zögern folgte Dante ihm. Er konnte nicht irgendwo im Hintergrund herumhängen, während Jin seinen Beinahe-Mördern direkt ins Schussfeld lief. Was stimmte mit dem Kerl bloß nicht?

Die beiden Attentäter, als sie endlich in Sicht kamen, wie sie emsig an ihrer Sprengladung herumwerkelten, gaben ein unerwartet kurioses Bild ab; sie waren das ungleichste Paar, das Dante je gesehen hatte. Der Mann sah in der Tat wie ein Killer aus: Er war dunkelhäutig, steckte in schwarzen, militärisch anmutenden Klamotten mit allerlei Taschen und Schlaufen für Waffen und trug eine verspiegelte Sonnenbrille; außerdem zierte eine große Narbe in Form eines X zentral sein Gesicht. Mehr Klischee ging gar nicht. Die Frau hingegen trug wallende, zum Kämpfen eher unpraktische Kleidung, ähnlich einem indischen Sari in Olivgrün, und hatte den Gang eines schlanken schwarzen Pferdes, eine orientalische Grazie mit schönen Kurven und Linien, wie gemalt. Ihre Augen waren schwarz umrahmt und glitzerten; dabei waren sie nicht kalt, sondern, im Gegenteil, voller widersprüchlicher Gefühle, die sie jedoch gut unter Kontrolle zu haben schien.

Jin huschte ihnen direkt ins Sichtfeld – lautlos, im Stealth Mode wie ein Ninja. Großes Kino! Sie sahen ihn weder kommen noch hörten sie ihn. Riesenüberraschung in drei, zwei, eins

Jin stellte sich genau zwischen die Beiden, breitbeinig, die Arme gekreuzt, und blickte herausfordernd vom Einen zum Anderen. »Was habe ich euch getan?«, verlangte er ruhig zu wissen.

Die Gesichter der ertappten Attentäter waren unbezahlbar.
 

»Es ist zum Wohle der Welt«, setzte die Frau zu einer schwachen Verteidigung an; ihre großen, dunklen Rehaugen ruhten funkelnd auf Jin, der den Blick gewohnt abweisend erwiderte.

In diesem Moment trat Dante unter der Brücke vor und neben ihn. »Ich fürchte, das musst du erklären.« Mit einer lässigen Bewegung zog er Ebony und richtete sie auf den Boden, unmittelbar vor die Füße der Beiden. »Na los, unter die Brücke.« Es war nicht sein Stil, Leute mit Waffen zu bedrohen, doch seine beiden Mädels machten den nötigen Eindruck. Immer.

Die Araberin ging sofort los; sie schien überhaupt keine Angst zu haben. Sie sah aus, als bewegte sich irgendetwas in ihrem Inneren unentwegt, wie ein unruhig flackerndes Feuer. Der Mann, im Kontrast, stand erst still wie ein Stamm – wahrscheinlich war er wirklich ein Ex-Marine oder so – und folgte ihr erst nach einem langen Moment wie mechanisch. Seine eigene Waffe (zumindest die eine, die zu sehen war) steckte in ihrem Holster und blieb auch dort. Er war klug genug, keinen Gegenangriff zu riskieren.

Mit dem Rücken zum gusseisernen Pfeiler der Somerset Bridge war es leicht, die Beiden in Schach zu halten. Dante machte eine Geste zu Jin und trat dann zurück; schließlich war er das Ziel ihres schlecht organisierten Anschlags gewesen.

Jin trat mit unbewegter Miene näher. »Warum wolltet ihr mich töten?« Es klang fast unbeteiligt, mit nur einer Spur von Drohung, etwa wie: Warum habt ihr mir mein Snickers geklaut? Dachtet ihr, ich esse das nicht mehr?

Der Camouflage-Typ reagierte gar nicht, als hätte er die Frage einfach nicht gehört. Es war die Frau, die antwortete. Ihre Stimme klang jetzt kühl und beherrscht.

»Es gibt eine Prophezeiung«, sagte sie langsam, wobei ihr wunderlicher arabischer Akzent deutlich zutage trat, »dass sich schon bald die beiden bösen Sterne berühren werden … und dann wird das Siegel einer besonderen Grabstätte gebrochen werden.«

Dante wusste mit dieser Ansage nichts anzufangen, doch Jin ermunterte die Frau ruhig: »Sprich weiter.«

»Der Eine Gefangene«, fuhr sie eindringlich fort, ihn mit ihrem starren Blick durchbohrend, »wird freikommen … und die Welt wird zu Ende gehen. Du musst verstehen, dass wir das nicht geschehen lassen können.«

Langweilig, dachte Dante und beschloss einzuschreiten, indem er Ebony wieder anhob. »Sonst noch kryptische Storys, oder willst du endlich seine Frage beantworten?«

»Es gibt keine weitere Antwort«, brummte der Navy-Seal, oder was auch immer er war. »Du hast keine Ahnung, welche Bürde sie trägt. Genauso wenig wie ich. Ich kann auch nur mit der Knarre fuchteln, der einzige Beistand, den ich ihr bieten kann.« Er nickte der Frau zu.

»Ich kenne diese Prophezeiung von unserem spirituellen Führer«, fuhr sie rasch fort, als würde sie sich um Frieden bemühen. »Mein Name ist Zafina.« Sie nickte Jin zu. »Und du bist Jin Kazama.«

»Und was bedeutet das für dich?«, fragte Jin skeptisch.

»Du bist einer der beiden dunklen Sterne. Du bist einer von denen, die das Ende einläuten werden. Dein Kampf mit dem anderen Stern ist unausweichlich. Deshalb …« Sie unterbrach sich kurz, führte jedoch den Satz, so lächerlich er auch weiterging, tapfer zu Ende: »… deshalb musst du sterben. Es ist vernünftig.«

Jin reagierte weder schockiert noch aufgebracht. Die Ruhe auf seinen Zügen bezeugte, dass er sich mit dem Gedanken an seinen eigenen Tod durchaus schon beschäftigt hatte.

»Ich hatte Träume«, fuhr Zafina sanft fort. »Es ist die Wahrheit.«

Dante schnaubte und wandte sich an ihren Partner. »Und welche Rolle spielst du dabei? Bist du nur der Hitman, der abdrückt?«

»Codename Raven«, erwiderte der Militär-Typ kühl. »Und ich bin kein Assassine.«

»Siehst aber aus wie einer.«

»Dass du noch lebst, ist mir ein Rätsel.« Sein aufmerksamer Blick hatte längst die schwarze Schutzweste unter Jins Mantel entdeckt und somit dieses erste Mysterium gelöst; ebenso jedoch sah er das trocknende Blut an Dantes Kleidung, ein Indiz dafür, dass er ihn wirklich schwer verwundet hatte. Sein Blick wanderte zu Zafina. »Ich glaub, ich weiß, wer der Kerl in Rot ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es auch. Aber er ist völlig bedeutungslos.«

Na, besten Dank.

»Wenn du nicht stirbst«, wandte Zafina sich erneut an Jin, »wirst du die Welt in großes Unheil stürzen.« Sie holte tief Atem. »Es tut mir leid.«

»Du hast von zwei Sternen gesprochen«, erinnerte Jin sie milde. »Warum räumst du nicht den anderen aus dem Weg? Ich habe mich noch nicht ganz mit dem Tod abgefunden.«

Raven atmete leise auf. Dante musste zugeben, dass er immer weniger wie ein Killer wirkte. »An den anderen kommt man nicht so leicht ran wie an dich. Jedenfalls nicht, wenn er derjenige ist, den Zafinas Guru im Verdacht hat.«

»Still!«, sagte sie scharf. »Die Gedanken unseres Oberhauptes sind Informationen, die ich nicht einmal unter Folter preisgeben würde!«

Bedeutsam spielte Dante mit Ebonys Abzug, um den aufmüpfigen Angeklagten seine Feuerbereitschaft noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Zwar fingen sie an, ihm ein wenig leid zu tun, weil sie wirklich arme Spinner waren, aber versuchten Mord konnte er nicht so schnell verzeihen. »Tja, für Folter ist hier der allgemeine Sadismus-Level zu niedrig, fürchte ich, aber das gute alte Wird’s-bald-oder-ich-schieße ist noch im Angebot.«

Sogar Jin warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Oh ja, sie kannten sich bereits recht gut.

Zafinas Worte baten beide Parteien um Mäßigung. »Ich bekleide in meinem Dorf eine wichtige Position«, erklärte sie, und Dante war klar, dass sie nicht ›Präsidentin‹ sagen würde. »Ich bin die Hüterin des Tempels – seiner Grabstätte.«

»Wessen Grabstätte?« Jins Stimme war schneidend.

Ihre Augen glitten fast ehrfürchtig an ihm hinunter. »Wenn du nur wüsstest, was für eine große Kraft in dir wohnt, Jin Kazama …«

»Das weiß ich besser, als du denkst.«

Sie beachtete seinen Einwand nicht. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht verantworten, dass du am Leben bleibst.«

Das war eine klare Ankündigung. So klar, dass Dante im selben Moment dämmerte, wie sehr er diese beiden Pseudo-Assassinen unterschätzt hatte.

Als wäre Zafinas letzter Satz ein geheimes Zeichen gewesen, setzten sich beide gleichzeitig in Bewegung. Ihre Anstürme kreuzten sich: Zafina stieß mit beiden Fäusten Dantes erhobenen Arm beiseite, Raven stürzte sich auf Jin. In seiner Faust glänzte die dicke, widerwärtig brutal gezackte Klinge eines Buschmessers, mit welcher der muskulöse Mann gezielt nach Jins Kehle hackte. Er war ein Profi, seine Bewegungen waren so koordiniert wie die einer zustoßenden Kobra. Zwar hatte Jin feine Reflexe, und einer davon brachte ihn vor dem ersten Stoß in Sicherheit, sodass die groben Zähne der Machete die weiche weiße Haut am Hals nur ritzten; jedoch war er auf den Überfall nicht vorbereitet gewesen, seine Deckung war unten, kein Ausfallschritt würde groß genug sein, ein zweites Ausweichen zu ermöglichen –

– und Devil würde ihn nicht retten, sie hatten ihn mit Yuris Traumkraut betäubt …

Dante sah alle Bewegungen nur noch in Slow Motion, seine eigene eingeschlossen. Nie würde er schnell genug sein, den Killer mit einer Kugel zu erwischen, bevor –

Doch in diesem Moment betrat eine weitere Person die Bildfläche.

Zapp, zapp.

Dante kannte das Geräusch einer schallgedämpften Pistole, und er wusste: Wenn diese Schüsse ihr Ziel verfehlten, würden sie auf dem eisernen Rahmen der Brücke zu Querschlägern werden – nur, was war ihr Ziel?

Kurz darauf wusste er es.

Der Aufprall riss Raven von den Füßen, und die Spitze des Messers brachte Jin einen harmlosen, hauchzarten Schnitt vom Kehlkopf bis zum Schlüsselbein bei, der sich träge rot färbte. Mit einem Wumm prallte der dunkle Mann rückwärts gegen den Brückenpfeiler. Das ehrwürdige Konstrukt schluckte die Erschütterung einfach.

Es war nicht überraschend, dass aus dem Loch in Ravens Tarnfleck-Jacke kein Blut quoll. Natürlich war auch er gepanzert, sicher mit so einem Militär-Stahlwams Level Fuck You, das Dantes Kevlar-Weste kindisch aussehen ließ.

Als Vollprofi war Raven sofort wieder auf den Beinen und voll gefasst – jedoch konnte er das Messer nicht mehr halten, dafür hatte Treffer Nummer zwei gesorgt.

Zafina, die im Moment der Schüsse mit einem Überschlag davon gesprungen war wie die Stuntesse in einem Martial Arts-Film, glitt schlangengleich zwischen Raven und Jin. Wie eine aufgerichtete Speikobra stand sie vor ihrem ursprünglichen Opfer, die Hände geschlossen; Jins Fäuste waren instinktiv zur Deckung erhoben, und es hätte nur einer einzigen falschen Bewegung bedurft, ihn vom Verteidigungs- in den Angriffsmodus zu bringen.

»Wir werden uns wiedersehen«, verkündete Zafina dann ruhig und glatt, »und ich hoffe, dass du bis dahin weißt, was richtig ist.«

Raven salutierte zu Jin – eine unerwartete Geste des Respekts.

Dann machten die beiden Attentäter sich los und verschwanden, zusammen mit ihren Beuteln voll Sprengstoff, wie zwei Geister im dunklen Schatten, den der schwere Brückenkörper auf den Asphalt warf.
 

Langsam fuhr sich Jin mit der Hand über den Hals und wirkte erstaunt über das Rot an seinen Fingern. Mit dem altbekannten Was-soll’s-Ausdruck wischte er das wenige Blut mit einem Taschentuch ab und sah sich dann um. Dante wusste, dass nicht er es war, nach dem der Japaner Ausschau hielt; nein, Jin suchte den geheimnisvollen Schützen, der ihm soeben das Leben gerettet hatte. Dante wandte den Kopf Richtung Straße: Dort stand die Gestalt unbewegt unter einem Dachvorsprung und ließ soeben mit ruhiger Hand die Waffe wieder verschwinden.

Jin schaute hin, und seine Züge entspannten sich augenblicklich. Ohne zu zögern setzte er sich in Bewegung und ging auf die Person zu.

Dante blieb, wo er war. Zweifellos kannte Jin die Frau – denn ja, es handelte sich unverkennbar um eine solche –, doch das musste nicht bedeuten, dass sie auch Dante wohlgesinnt war. Hierin hatte er sich schon zu oft getäuscht.

Die Frau trug einen langen schwarzen Wintermantel, der mit einem breiten Stoffgürtel tailliert war und einen Kragen aus ebenfalls schwarzem Kunstpelz aufwies. Ihre Augen verbarg eine anthrazitfarbene Sonnenbrille, obwohl das nachts wohl kaum nötig war. Unter ihrer Kapuze lugte kein einziges Haar hervor, nur die milchig weiße Haut einer Europäerin.

Jin begrüßte die Dame auf seine freundlichste Art: »Was machst du hier?« Ein leises Seufzen. »Bist du mir gefolgt?«

»Was glaubst du wohl?« Ihre Stimme war unerwartet tief. Damit hätte sie gut in einer dieser Serien über knallharte Killerladies mitspielen können, wäre da nicht die Ahnung eines Akzents, der ein kleines bisschen putzig klang. »Ich habe dich schließlich hergeschickt.«

Interessant, dachte Dante, steckte endlich Ebony weg und trat nun ebenfalls näher.

Jin drehte sich halbherzig zu ihm um. »Dante, das ist Nina Williams. Meine …« Er zögerte.

»Dein Kindermädchen?«

»Meine Leibwächterin. Nina, du weißt, wer er ist.«

Die Frau schlug ihre Kapuze zurück, unter der straff zurückgebundenes Haar in einem satten, fast leuchtenden Honigblond zum Vorschein kam, und nahm ihre Sonnenbrille ab, um Dante kritisch zu beäugen. Ihre blauen Augen waren ohne Wärme, ihre Züge jugendlich, aber hart. Er versuchte, sich dieses Gesicht lachend vorzustellen, und scheiterte. »Ich hatte Sie mir beeindruckender vorgestellt, Dante«, sagte sie.

»Ach, wirklich? Größer?« Er überragte sie um fast eine Kopflänge. »Oder …«

»Gefährlicher«, erwiderte sie achselzuckend.

Ich hätte mich doch nicht rasieren sollen.

»Wie auch immer, ich habe für Jin nach jemandem gesucht, der ihm helfen kann, und Sie wurden mir wärmstens empfohlen … Ich bin nur hier, um mich zu überzeugen, dass Sie ihn nicht einfach umgelegt haben.«

»Das wollte ich am Anfang.« Dante sah zu Jin. »Siehst du, das hat deine Funkstille uns eingebracht. Du hättest ihr mal ’ne Mail schreiben können, dass alles in Ordnung ist.«

»Sie hat uns gerade gerettet«, stellte Jin emotionslos fest.

Nina richtete ihren Blick wieder auf ihn, und sofort wich das finstere Starren einem fast freundlichen, neugierigen Examinieren. »Ich habe gesehen, wie dieser Idiot vorhin auf dich losgegangen ist … Ja, ich habe dich zuletzt ein wenig beschattet, zu deinem eigenen Schutz. Immer mehr Gruppierungen und auch Einzelpersonen werden auf dich aufmerksam, und die meisten sind nicht gerade an deiner Unversehrtheit interessiert. Aber …« Sie befeuchtete sich die Lippen. »… da er dich angegriffen hat und du keine Anzeichen von … Verwandlung gezeigt hast …« Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben, als warte sie darauf, dass er irgendeine positive Neuigkeit mit ihr teilte, doch sofort nahm sie sich wieder zurück. »… gehe ich davon aus, dass ihr dein Problem gelöst habt.«

Jin betrachtete sie einen Moment lang aufmerksam, und Nina schaute erwartungsvoll zurück; keiner von beiden blinzelte. Dann sagte er leise: »Nur temporär.«

»Das bedeutet?« Ninas rechte Augenbraue wanderte in die Höhe. Dass ihre Stirn sich dabei in Falten legte, bewies, dass an ihrem makellosen Gesicht noch alles echt war.

»Dass ich einer Lösung nicht wirklich näher gekommen bin.«

Nina schürzte die Lippen, als läge ihr so etwas wie ›Das tut mir leid‹ auf der Zunge, doch stattdessen wandte sie den Blick ab und trat von ihm zurück. »Wenn das so ist, sorge ich dafür, dass meine Kontakte sich weiter umhören. Bis dahin können wir zurück nach Tokyo fliegen, oder wohin auch immer du möchtest.« Ein kurzer Seitenblick galt Dante. Sie traute ihm nicht.

»Ich würde ihn gerne noch ein wenig behalten«, teilte Dante ihr lächelnd mit.

»Ich glaube nicht, dass Sie das entscheiden.«

Jin hob enerviert eine Hand zwischen die beiden. »Genug. Nina, wir haben noch etwas zu erledigen, etwas, bei dem wir möglicherweise deine Hilfe brauchen.« Er wandte sich an Dante: »Vielleicht sollten wir uns, da ich immer mehr Aufmerksamkeit zu erregen scheine, weiter mit unserer geplanten Reise nach Wales beschäftigen.«

»Wales?«

»Meinetwegen«, erwiderte Dante großzügig. »Abmarsch, wir gehen nach Hause und besprechen das bei einem … Scotch.« Er zwinkerte Nina zu. Die würde er schon noch um den Finger wickeln. Für ihren Trip würden sie jemanden brauchen, der ihnen den Rücken freihielt, und nur Nina würde die Mittel dazu haben.

»Scotch«, wiederholte die Blonde misstrauisch.

»Sie sind doch von den Inseln, oder nicht? Sie können keinen Whisky ablehnen.«

Nina, bezüglich ihrer Herkunft enttarnt, dachte darüber nach. »Nein, kann ich nicht wirklich«, entschied sie dann. »Wenn Jin das wünscht, werde ich tun, was ich kann.«

»Dann wäre das ja geklärt.« Dante wies mit der Hand geradeaus. »Da geht’s lang.«

Akt V - Aufbruch ins Gelobte Land: 9-2

9-2: JIN
 

Er hatte versucht, Nina wieder wegzuschicken. Sie brauchte nicht hier zu sein, während sie ihnen half. Aber irgendwie ging sie nicht; sie tat so, als missdeutete sie seine wie üblich sehr höflich formulierten Anweisungen, die ihr nahelegten, sich um Wichtigeres zu kümmern. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie kommen würde, sie hatte ihn überrascht, und das machte ihn verdrossen. Es gab ihm ein Gefühl von Kontrollverlust, nicht einmal seine Handlanger im Griff zu haben. Aber Nina war bei allem Gehorsam eine eigenwillige Person, und sie hatte einen starken Beschützerinstinkt – was zweifellos in der Art und Weise gründete, wie mit ihrem einzigen Sohn verfahren worden war, um sie am Aufbau jedweder mütterlicher Gefühle zu hindern. Nun, dies war eine andere Geschichte, aber ihre Wurzeln reichten tief.

In Dantes Behausung gebarte die Irin sich weiterhin kalt und unnahbar. Sie beobachtete die Anderen mit zusammengezogenen Brauen wie eine Mutter, die mit Sorge sieht, mit was für Freunden ihr Kind sich umgibt, mit welch schlechtem, verderblichem Umgang.

Gut – vielleicht war sie sein Kindermädchen. Vielleicht hatte er sie unbewusst genau deswegen eingestellt. Um emotional eine Art Mutterersatz zu haben. Nicht, dass sie in irgendeiner Form miteinander umgingen wie Mutter und Sohn, das war keineswegs der Fall, aber sie war momentan der einzige Mensch, der Jins uneingeschränktes Vertrauen genoss; und er hatte einen Menschen um sich gebraucht, dem er genau dieses Vertrauen schenken konnte. Er brauchte sich nicht zu fragen, ob sie loyal war oder nicht. Er hatte sie damals vor Toshin gerettet. Sie schuldeten einander etwas, sie hatten eine Abmachung. Jede Art von Treuebruch würde sie beide in Schwierigkeiten bringen.

Mit unbewegter Miene schaute Nina sich in Dantes Büro um, nahm kommentarlos Yuri zur Kenntnis, der lang auf dem Sofa lag und sich hinter einem Magazin versteckte, das er viel zu dicht vors Gesicht hielt, um es tatsächlich lesen zu können. Trish war nicht zu sehen. Es erstaunte Jin, wie schnell sie und Yuri den Auftrag erledigt hatten, um bereits vor ihm und Dante wieder im Devil May Cry zu sein.

Mühsam ließ er sich auf sein Sofa sinken. Seine Seite schmerzte, noch mehr als die, in der der Messerstich heilte. Wieder war er verletzt. Er fragte sich, womit er so viel schlechtes Karma verdient hatte. Doch andererseits, überlegte er … Er hatte dieses eine Mal Devil betäubt, trug nur deshalb dieses eine Mal, wo Devil ihn nicht heilen konnte, Dantes Schutzweste, und genau jetzt wurde er Opfer eines Mordanschlags. Das war absurd. So absurd, dass er, wäre er nicht Jin Kazama, laut aufgelacht hätte.

Nina trat sofort ungefragt an die Schränke heran und öffnete jeden einzelnen, um hineinzuschauen; ein Dominanzverhalten, das an offene Provokation grenzte. Dante sah jedoch nicht wütend aus. Seine Miene war sogar belustigt, während er sie beobachtete, und er schien es ihr überlassen zu wollen, auch den Whisky selbst zu finden, den er ihr angeboten hatte. Jin fragte sich unwillkürlich, wie und auf welche Art man Dante wirklich richtig wütend machen konnte. Es musste schrecklich sein, wenn er dann wütend wurde.

Nina war fündig geworden und legte eine Schachtel Pistolenmunition auf den Tisch. Es war die gewöhnliche Art, die man in Amerika überall bekommen konnte. »Die Gerüchte über Sie sagen, Sie müssten diese beiden niemals nachladen«, sagte sie und deutete auf Ebony und Ivory, die in ihrem Holster über Dantes Stuhllehne hingen. »Wenn das so wäre, hätten Sie nicht schubladenweise Munition auf Lager.«

Dante zuckte die Achseln. »Da unten ist noch mehr davon, eins tiefer.«

»Sie töten also Dämonen – nur damit? Denken Sie, ich glaube das?«

Nun setzte Dante ein charmantes Lächeln auf. »Dann schau mal noch eine Schublade weiter unten, Schätzchen.«

Mit typisch ungerührtem Ausdruck öffnete Nina auch diese und fischte mit ihren langen Fingern ein paar einzelne, große Patronen mit roten Spitzen heraus. Ihre Stirn furchte sich. »Ah. Wolframkarbidkern. Panzerbrechend.«

»Na siehst du.«

»Hartkerngeschosse sind sogar hier illegal.«

»Das sind die, die in Actionfilmen immer Cop Killer genannt werden.«

»Nur fürs Militär zugelassen.«

»Natürlich. Die Dinger machen Löcher so groß wie meine Hand.« Demonstrativ legte Dante diese mit gespreizten Fingern vor Nina auf die Tischplatte. Als großer Mann hatte er auch große Hände.

Nina betrachtete ihn angewidert. »Sie haben hoffentlich nicht vor, so ein Loch in meinen Boss zu machen.«

»Das hängt ganz davon ab, wie Ihr Boss sich benimmt.«

In diesem Moment war Ninas protektives Verhalten für Jin so unerträglich beschämend geworden, dass er eine Höflichkeitsregel brach und tonlos sagte: »Du solltest den Scotch versuchen, Nina. Du solltest wirklich.«

Dantes Miene hellte sich auf. »Hyuga, hol mal den Talisker!«

»Ich bin hier nicht das Mädchen für alles«, nuschelte die Zeitung auf dem Sofa.

»Egal. Ich hol ihn selber.«

Jin bedeutete Nina mit einer klaren Geste, sich hinzusetzen, und sie gehorchte. Er brauchte sie, doch ihr Arbeitseifer würde erst zurückkehren, wenn sie sich wieder entspannt hatte; momentan war sie in Hab-Acht-Stellung wie ein scharfer Dobermann, und wahrscheinlich vermochte nur ein guter Scotch etwas dagegen zu tun. Denn so gut kannte Jin sie: Nina schätzte guten Scotch sehr.

»Für uns alle reicht der nicht mehr«, stellte Dante etwas verstimmt fest, als er die Flasche in der Hand hielt. Dafür war Jin dankbar. Er fand, dass der Skye-Whisky wie Dieselöl roch. »Aber mit dem Rest und einem Schlückchen Honiglikör kann ich jedem von uns einen Rusty Nail mixen.«

»Ein Cocktail?« Yuri ließ die Zeitung fallen. »Ich nehm einen.«

»Das ist der echte Spirit! Kazama, du auch einen?«

Lass es das wert sein, betete Jin.

»Jin?«

»Nur einen.«
 

Der Cocktail schmeckte noch mehr nach Desinfektionsmittel als befürchtet, trotz der fast beißenden Süße des Honiglikörs. Jin hob das Glas so selten wie möglich an die Lippen und benetzte kaum seine Zungenspitze mit dem brennenden Schnaps. Ein notwendiges Übel: Etwas Angenommenes stehen zu lassen war unhöflich, und ohnehin würde er im Augenblick alles tun, um das Eis zwischen seinen neuen Verbündeten und seiner Leibwächterin zu brechen.

Bisher schwieg Nina beharrlich, nippte jedoch wohlwollend an dem Drink, wenn sie auch die Flecken auf der Tischplatte despektierlich beäugte.

Unerwartet kehrte Trish zurück. Von draußen, mit einer Einkaufstasche.

»Da komme ich wohl im rechten Moment«, kommentierte sie kühl und nickte der Runde zu, gänzlich unüberrascht. Ihren Mantel ließ sie über Dantes Stuhllehne fallen. »Ich hab Bier mitgebracht, aber das braucht ihr wohl jetzt nicht mehr.« Trish hielt ein Sixpack hoch; es war Asahi, japanisches Bier. Jins Annahme, dass man in Amerika einfach alles bekommen konnte, bestätigte sich damit.

»Wir haben gleich mit dem echten Stoff angefangen. Aber der Talisker ist alle.«

»Du hast noch einen Glenfiddich.«

»Ah, Glenfiddich«, sagte Nina anerkennend. Sie kroch aus der Deckung.

Dante fing ihren Blick. »Ach ja, genau. Das ist auch ein Single Malt, Ladies, aber milder.«

»Tatsächlich ist es der beste«, sagte Nina überzeugt.

»Jünger als fünfzehn Jahre geht der gar nicht raus.«

»Ungeschlagen in seiner geschmacklichen Vielschichtigkeit.«

»Den trinken wir pur, oder?«

»Es gibt keine andere Art, Glenfiddich zu trinken.« Ninas Augen waren noch immer eng, doch sie glänzten verräterisch, und in ihre Stimme hatte sich eine Spur von Leidenschaft geschlichen.

Trish brachte die Flasche und fünf der seltsamen gestielten Gläser an den Tisch, zog sich Dantes Bürosessel heran und setzte sich zu den Trinkenden.

»Ein komisches Glas für Whisky«, befand Nina stirnrunzelnd. »Was ist aus den guten alten Tumblern geworden?«

»Oh bitte, da tut man Bourbon rein.« Dante schnalzte abfällig mit der Zunge.

»Auf den Inseln bekommt man Malts immer noch old fashioned in dram-Gläsern«, belehrte sie ihn.

»Wir sind in Amerika, also sei froh, dass ich dir keine Eiswürfel reinschütte.«

Jin war nicht begeistert, als man ihm ohne seine Zustimmung ein Glas Glenfiddich hinstellte. Allein von dessen Geruch begann seine Nase zu laufen. Aber er beklagte sich nicht – dies hier war eine soziale Verpflichtung.

Dante und Nina stießen an.

»Sláinte mhath«, sagte sie in der nativen Sprache des Getränks. Jin wusste, dass Nina neben wenig schottischem Gälisch naturgemäß auch Irisch verstand; sie hatte beide Sprachen in der Schule des Dorfes gelernt, aus dem sie stammte.

»Wieso um Himmels Willen trinkst du Scotch, wenn du Irin bist?«, fragte Dante mit charmantem Lächeln. »Nicht sehr patriotisch.«

»Ich bin kein Fan von Torf«, erwiderte Nina. Allmählich wurde sie weich wie irisches Soda Bread.

Jin merkte bereits, wie ihm der Alkohol in die Glieder sickerte. Er sah zu Yuri, der ihm halb gegenüber saß, und einen so zufriedenen Ausdruck hatte er auf dessen Gesicht noch nie gesehen.
 

Innerhalb der nächsten Viertelstunde wurde klar, dass Dante und Nina keinen Alkohol brauchten, um sich miteinander zu amüsieren. Der Glenfiddich war lediglich die Brücke gewesen, die sie benutzt hatten, um den jeweils Anderen möglichst unter Kontrolle zu bringen – so glaubten sie beide. Beim ersten Glas noch hatten sie sich überaus nett unterhalten, und schon beim zweiten sangen sie ein irisches Volkslied, mehr oder weniger textsicher.

Jin und auch Yuri, aus Solidarität, hatten nach dem ersten Glas aufgegeben; Trish allerdings war noch im Rennen. Man sah ihr an, dass es sie in keiner Weise beeindruckte, wie Dante mit Nina schäkerte. Nein, Jins Leibwächterin und der Teufelsjäger waren zwar fasziniert voneinander, doch gleichzeitig belauerten sie einander wie scharfe Hunde.

»Jin?« Trish zog eine Strähne ihres langen, sonnenfarbenen Haars durch die schlanken Finger mit den schwarzlackierten Nägeln und beugte sich wie beiläufig zu ihm hinüber. »Wollen wir einen Flug nach Wales suchen?«

Jin hatte sich, den Gesprächen lauschend, in eine angenehme, fast schläfrige Passivität zurückgezogen. Der Alkohol hatte ihn so tief entspannt wie nichts seit Langem, und er verspürte keine Lust, seine Muskeln zu bemühen, um von seinem Platz aufzustehen; doch natürlich hatte Trish Recht. »Nina«, sagte er und war verblüfft, wie schleppend seine Stimme klang. »Ich unterbreche dich nur ungern, aber wir müssen uns an die Arbeit machen.«

Dante musterte ihn erheitert. »Du verträgst nicht viel, Kazama, oder? Denn jetzt versteh ich dich gar nicht mehr.«

»Wales also«, sagte Nina kühl. »Plant ihr eine kleine … Expedition?«

»Du wirst protestieren, aber ich werde nicht erlauben, dass du uns begleitest.«

»Oh, du bist der Boss«, gab sie gekränkt zurück. Auch bei ihr wirkten die drei Gläser Schnaps plus Cocktail. »Also bitte. Wann wollt ihr fliegen? Ich suche euch die kürzeste Verbindung.«

»Wir chartern also kein Luftschiff nur für uns?«, fragte Yuri hörbar enttäuscht.

»Zu kurzfristig«, sagte Jin, »und zu … auffällig.«

Nina klappte das Lederetui ihres Smartphones auf. »Dann sehen wir doch mal, wann die nächste Maschine geht.«
 

Der nächste Flughafen war Eastport City, der als eher kleinerer seiner Art wenig interkontinentale Flüge tätigte. Ein deutlich größerer befand sich im über hundertsechzig Meilen entfernten Boston und bot bessere Aussichten.

»Ich fahre euch hin«, erklärte Nina. »Wo wollt ihr landen? Der einzige walisische Flughafen ist in Cardiff. Direktflüge gibt es keine, wie es aussieht … Und da zwischen uns und Europa nur der Atlantik ist, bieten sich auch Zwischenstopps nicht an …« Ihre Finger huschten über das Display, ihr Blick glitt suchend über die Fluglisten. »Ihr könntet in England landen.«

»Ich weiß, dass Eastport auch Großbritannien anfliegt«, warf Trish ein. »Und dahin sind es nur dreiundzwanzig Meilen.«

»Gefällt mir besser«, murmelte Nina und wählte sich in den kleineren Flughafen. Ein paar Display-Tipper später bestätigte sie: »Das wird gehen. Cardiff wird zwar nicht angeflogen, aber Birmingham. Von da aus geht ein Zug nach Aberystwyth. Wales hat keine sehr gute Infrastruktur.«

»Da tobt auch nicht gerade das pralle Leben«, murmelte Yuri.

»Ihr könntet um fünf Uhr morgens in Birmingham sein und gegen zehn in Aberystwyth.«

»Dann machen wir es so«, erklärte Jin leidenschaftslos.
 

»Oh Mann, der Glenfickdich hat voll geknallt«, stöhnte Yuri und rollte sich über die Schulter wie ein gestrandeter Seehund, um den Oberkörper aufzurichten. »Müssen wir wirklich schon packen?«

»Ich kann deine Sachen unterbringen«, bot Jin an.

»Und wenn wir die nich’ mitnehmen dürfen … unsere Waffen und so?«

»Das Gepäck wird woanders verstaut als die Passagiere.« Jin überlegte, ob er alles beisammen hatte. Auf die Reise zu Dante nach Amerika hatte er nicht besonders viel mitgenommen, eigentlich fast nur Kleidung.

Nina schien seine Gedanken zu lesen: »Ihr hättet niemals an das hier gedacht.«

Etwas Faustgroßes aus hellem Plastik plumpste neben ihm aufs Sofa. Jin hob es auf; es war ein Steckdosen-Adapter. Er starrte das Ding an.

»Japan und Amerika haben die gleichen Steckdosen, Großbritannien hat andere«, erklärte Nina. »Ich komme zufällig von da. Du kannst mir später danken.«

Jin packte den Steckdosen-Adapter kommentarlos ein.
 

Ninas Angebot, sie zum Flughafen zu fahren, blieb bestehen, und nachdem sie dem Packen und den Diskussionen noch eine Zeitlang mit gelangweilter Miene zugesehen hatte, verabschiedete sie sich knapp und kehrte zu ihrem Fahrzeug zurück, das unweit der Stelle geparkt stand, an der sie Jin und Dante vor den Attentätern gerettet hatte. Sie logierte in einer Pension ganz in der Nähe und würde zweifellos überpünktlich und startklar zur Abfahrt erscheinen. Indes blieb ihr Steckdosen-Adapter nicht die einzige unerwartete Leihgabe, die Jin vor dem Aufbruch anvertraut wurde.

»Hm«, machte Dante, die Arme vor der Brust gekreuzt, und musterte Jin kritisch.

»Was ist?«

»Falls wir dieses Kloster wirklich finden und da tatsächlich Monster sind, wie Yuri behauptet, dann … sollten wir dich vielleicht bewaffnen.«

»Nein. Ausgeschlossen. Ich kämpfe nur mit meinen –«

»– Fäusten, schon klar. Geht natürlich, aber es könnte auch nicht schaden, deine Fäuste ein bisschen … aufzurüsten.«

Jin sah misstrauisch zu ihm auf. »Und was soll das bedeuten?«

»Dass ich drüber nachdenke, dir eine Teufelswaffe zu geben.«

Das kam unerwartet. Jin starrte ihn an. Sollte das mit dem Vertrauen doch kein leeres Versprechen gewesen sein? Er wusste, wie viel Dante von diesen beseelten Waffen hielt – und was sie tun konnten. »Ich bin nur ein Mensch«, stellte er fest.

»Aber dein Körper ist von einem Teufel besetzt.«

»Und das genügt?«

»Werden wir sehen.« Dante wandte sich der Schrankwand zu. »Mal sehen. Was wär dein Ding? Ich hab manches für die Fäuste. Cerberus, Beowulf … ewig nicht angefasst, aber sollte sicher sein …«

»Dante, vertrau mir oder lass es sein«, murrte Jin. Auf so etwas hatte er keine Lust.

»Hm, guter Punkt. Dann nehmen wir einfach gleich das Schlimmste. Du liebst doch Flammen? Ja. Die werden dir stehen.« Dante griff über den oberen Rand des Bücherschrankes – er war der Einzige von ihnen, der dort herankam – und nahm ein unförmiges Bündel von dessen Oberseite, das unentdeckt darauf gelegen hatte und völlig verstaubt war. Es war ein Tuch, und in ihm war wieder ein Tuch – ein dunkles, schwer aussehendes Tuch, das Jin an die Aramid-Westen von Feuerwehrmännern erinnerte, und darin eingeschlagen war …

Jin verengte die Augen, als er sah, was Dante da auf der Tischfläche auswickelte. »Kampfhandschuhe.« Es waren nicht irgendwelche Kampfhandschuhe. Schon beim Öffnen des Bündels war daraus Wärme hervorgeschlagen, Dampf quoll zu den Ritzen heraus, und als das Tuch die schwarze, zerklüftete Oberfläche freigab, die an glimmende Kohlen erinnerte, fingen die Handschuhe sofort Feuer. Orangerote Flammen züngelten auf, wo Luft das Material berührte. Die Handschuhe hatten die Form schuppiger Drachenköpfe, ihre Haut glühte von innen und die Hitze flimmerte über ihnen wie über Wüstensand. Ein feines Knistern, begleitet von gelegentlichem Funkenstieben, umgab das Waffenpaar. »Was … ist das?«

»Ifrit«, warf Yuri wie beiläufig ein. »Ich erkenne die Seele.«

Dante schaute zu ihm hinüber. »Du hast Ifrits Seele genommen? Nicht schlecht. Wie hast du sie verloren?«

»Durch den Fluch. Wie fast alle Seelen von damals.« Er sah nicht aus, als würde er gerne darüber reden wollen.

Dante wandte sich wieder Jin zu. »Ein normaler Mensch sollte Teufelswaffen lieber nicht anfassen. Aber ich halte dich nicht für einen normalen Menschen.«

»Was wird passieren, wenn ich es versuche?« Jin konnte sich mühsam daran hindern, die Hand auszustrecken; die Panzerhandschuhe, die da flackernd vor ihm auf dem Tisch lagen, schienen ihn anzusingen, zu locken. Er hörte es, doch er widerstand.

»Es ist Höllenfeuer«, erklärte Dante. »Muss ich mehr sagen? Entweder ist es angenehm warm oder du verbrennst dir die Finger.«

»Das klingt gefährlich.«

»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen.«

Yuri im Hintergrund kicherte.

Jin gab dem Drängen nach und schob die Hand vor. Er dachte keinen Moment länger darüber nach, ob das klug war. Ganz sacht berührte seine Fingerspitze die flackernde Substanz, und eine Flammenzunge streifte die Handkante wie ein Streicheln, tanzte kurz um den Daumen. Es wurde warm – aber es brannte nicht.

»Es geht«, sagte Jin heiser. Er fühlte eine unbekannte Erregung in sich, ein zartes, freudiges Flattern in der Brust. Er wollte die Finger um den Drachenkopf schließen, aber Dante umfasste sein Handgelenk und zog es zurück.

»Nicht hier, nicht jetzt.«

Hastig zog Jin seine Hand aus Dantes Griff. »Warum nicht?«

»Wir testen das bei einer besseren Gelegenheit. Die erste Begegnung mit einer Teufelswaffe ist immer etwas … heftig. Pack sie einfach ein, ganz nach unten.«

Schweigend schlug Jin das feuerfeste Tuch wieder über Ifrit. Er hätte es wissen müssen. »Du vertraust mir immer noch nicht.«

Dante lachte auf. »Mehr als du denkst, Kazama. Viel mehr.«
 

Inzwischen ahnte Jin, dass Dante ein ganzes Arsenal dieser sogenannten Teufelswaffen in seiner Behausung versteckte. Nicht erwartet hatte er jedoch, dass er sogar den größten Schatz der Sammlung – sozusagen das Kronjuwel – zu sehen bekommen würde.

»Ich hab mich schon gefragt, warum es nicht mehr an der Wand hängt«, bemerkte Trish.

»Zu früh«, gab Dante lapidar zurück. »Ich wollte es nicht hinhängen, während du dich bei Sarris vergnügt hast.«

Yuri kam sofort dazu wie ein neugieriges Hündchen, als der Teufelsjäger ein wirklich riesiges Bündel auf den Tisch warf, ohne dass Jin gesehen hätte, wo es herkam. Es war fast so lang, wie Dante hoch war, und hatte sicher zwei Drittel seiner Breite. Allerdings war es flach. Jin betrachtete das Ungetüm misstrauisch.

»Dieses Schwert«, erklärte Dante beinahe feierlich, »ist ein Heiligtum. Aber keine Angst, ich nehme es nicht mit nach Wales.« Er schlug den weißen Stoff beiseite.

Jin hatte Rebellion für das furchterregendste aller Schwerter gehalten, mit seinem fast schwarzen Blatt, dem massiven Griff und der grausamen, rotäugigen Fratze darauf; doch was er jetzt sah, ließ Rebellion wie einen Zahnstocher aussehen. Es war ein schier unvorstellbares Schwert – es sah kaum aus wie eines. Die Klinge, falls man es überhaupt so nennen konnte, war massiv wie ein Fels, dick, schwer, lang, geschwungen wie ein gigantisches Sensenblatt – und bestand aus rotem Fleisch und bleichem Knochen.

»Oh wow«, ächzte Yuri. »Das ist ja widerwärtig.« Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ich meine, großartig.«

Jin fand die Waffe abstoßend. Er hatte noch nie eine so brutale Mischung aus pervers anmutender Hässlichkeit und tödlichster Ästhetik gesehen. Ein Schlachtwerkzeug wie dieses hatte seine eigene, bizarre Schönheit, es war in Form gegossene Vernichtung. Ein Stich von Übelkeit durchfuhr ihn bei dem Anblick, und er wandte die Augen ab.

»Das ist das Schwert von Big Daddy«, eröffnete Dante. »Es trägt seinen Namen. Sparda. Wir nennen es auch liebevoll ›das kalte Kotelett‹.«

Die Übelkeit wurde schlimmer. Jin war froh, dass das Schwert sie nicht über das Meer begleiten würde.

»Steckt da auch ein Dämon drinnen?«, fragte Yuri eifrig und streckte die Finger aus.

»Probier’s aus.«

»Hmm.« Er rieb einen Finger über die Klinge. Jin erwartete ein feuchtes Geräusch, doch es blieb aus; das Metall war tatsächlich fest. »Nö«, stellte Yuri fest. »Brauchst du deine Superkräfte nicht?«

»Das lass mal meine Sorge sein.« Dante wickelte das Bündel wieder zusammen, und erst jetzt konnte Jin wieder hinsehen. »Aber das Schätzchen Rebellion muss mit.«

»Willst du wirklich ein Schwert mit ins Flugzeug nehmen?«, fragte Jin verdrießlich. »Wie? Etwa im Handgepäck?«

Dante sah ihn entzückt an. »Höre ich da Sarkasmus in deiner Stimme? Gefällt mir. Nur weiter so.«

»Deine Gleichgültigkeit macht mich krank.«

»Ich bin nicht gleichgültig. Ich bin gelassen. Sieht gleich aus, ist aber ein großer Unterschied.«

Sein herablassender Blick ärgerte Jin, und er schaute nicht länger hin, sondern nahm wieder sein Telefon zur Hand und brachte mit ein paar Tastendrücken zu Ende, was er bereits begonnen hatte. Beiläufig sagte er: »Ich hab uns eingecheckt.«

Wie erwartet starrten beide Männer ihn an. »Wie?«, fragte Dante.

»Hiermit.« Jin zeigte ihm das Handy. Er war keineswegs überrascht: Nicht nur Yuri befand sich in der falschen Zeit, auch Dante war so rückständig, als wäre er in den Vierzigern hängen geblieben.
 

»Wenn ihr morgen fliegen wollt, Dante, dann habt ihr noch einen unangenehmen Besuch vor euch.« Trish bedachte sie alle mit einem vielsagenden Blick, der zuletzt an ihrem Partner hängen blieb. »Du weißt, was ich meine?«

»Ich fürchte ja.«

Auch Jin war es klar. Sie hatten zwei ernste Probleme zu lösen: das genehmigungspflichtige Ausführen schwerer Waffen (zu denen quasi Dantes gesamtes Arsenal gehörte) und einen chinesischen Reisepass von 1913. Beides würde ihnen das Verlassen des Landes unmöglich machen. Es sei denn … »Wir können nicht zu deinem Chief, solange wir halb betrunken sind.« Ich hätte einen späteren Flug buchen sollen, dachte er. Wir schaffen es nie so schnell, alles vorzubereiten.

»Überlass Fordham mir. Ich geh da immer halb betrunken hin.« Jin betrachtete Dante zweifelnd, doch der schien das ernst zu meinen. »Er musste mir schon öfters so eine Genehmigung aufsetzen, für Auslandsaufträge. Normalerweise macht er da keine Zicken.«

»Gut. Dann haben wir nur noch ein Problem.«

»Mich, oder?«, fragte Yuri.

Jin griff erneut nach seinem Handy. »Stell dich an die Wand. An die da drüben.« Die dort neben dem Treppenaufgang sah nicht ganz so schrecklich aus wie die anderen, und es war so ziemlich die einzige leere Stelle.

»Was willst du machen?«, fragte Yuri und gehorchte.

»Ein Foto von dir. Wir machen dir einen neuen Pass.« Das zu sagen war ein höchst seltsames Gefühl. Jin wusste, dass er im Begriff war, seine neu gewonnene und noch nie genutzte Macht zu missbrauchen. Er war nicht sicher, ob sich das richtig gut anfühlte oder richtig schlecht.

»Können deine Leute das?«, fragte Dante misstrauisch.

»Die Mishima Zaibatsu kann alles, wenn es nötig ist.« Das stimmte zu zweihundert Prozent. »Ich schicke es Nina, sie wird das Dokument für uns am Flughafen hinterlegen lassen.«

Yuri hatte sich vor die Wand aufgestellt und nahm Haltung an. »Wie muss ich gucken?«

»Möglichst gelangweilt und gleichgültig«, sagte Dante.

»Ah, so wie du? Krieg ich hin.«
 

Als Dante seinen Mantel anzog, um sich auf den Weg zum Chief zu machen, wandte Jin sich wie beiläufig an ihn, bevor er gehen konnte.

»Weiß der Chief, was ich bin?«

»Klar«, winkte Dante ab. »Er hat dich in der Kapelle gesehen, dann als blutendes Opfer. Und ohne dir auf den Schlips zu treten: Deine Frisur vergisst man nicht so schnell.«

»Wenn er zu freundlichem Entgegenkommen nicht bereit ist – obwohl er weiß, was ich bin, und du mich seiner Stadt vom Hals hältst –, dann haben wir zwei Möglichkeiten.«

»Du willst ihn mit Devil einschüchtern«, sagte Dante lustlos. »Vergiss es. Geht nach hinten los.«

Jin erkannte an Dantes Unterton, wie sehr es ihn frustrierte, sich Personen unterzuordnen, die seinen Respekt nicht verdienten. Es widersprach seiner Natur. »Dann Möglichkeit zwei«, lenkte Jin ein. »Etwas, das … bei den meisten wichtigen Leuten funktioniert.«

»Was du nicht sagst!«, lachte Dante auf. »Etwa das, was ich denke? Du hast doch gar keine Erfahrung damit, du braver Junge.«

»Überlass es mir«, gab Jin kühl zurück. »Ich begleite dich.«

Dante erwiderte seinen festen Blick amüsiert. »Was kann schon schiefgehen? Beeil dich, es ist kurz vor zehn, der geht gleich nach Hause.«

»Ich hab’s nicht kapiert«, meldete sich Yuri von der Couch. »Was macht ihr mit dem Chief? Ihn beklauen? Ihn bescheißen? In Ohnmacht würgen?«

»Wart’s einfach ab, du Leuchte.«

Auch Trish griff mit vieldeutigem Seufzen nach ihrem Mantel. »Falls so was wie Diplomatie im Spiel ist, seid ihr hoffnungslose Fälle.«

Zu dritt traten sie zur Tür, und vom Sofa aus setzte Yuri, im Kampf mit einem Ärmel, forschend an: »Also, Jin sagt seiner Killerlady, sie soll ihm einen Betäubungspfeil in den Arsch schießen … Richtig?«

»Kalt, Hyuga«, feixte Dante über die Schulter, »eiskalt.«
 

Chief Fordham hatte Spätschicht gehabt und packte gerade seine Sachen zusammen, als sie eintrafen. Jin sah ihn zum ersten Mal, aber umgekehrt war das nicht der Fall.

»Oh, du«, sagte Fordham, als sein Blick auf Jin fiel, und seine Miene unter dem breitkrempigen Hut nahm einen säuerlich-überraschten Ausdruck an, als hätte er auf ein Pfefferkorn gebissen. »Der Dämon von Hallow Hills. Siehst besser aus als neulich.« Offenbar wusste er, dass er sich nicht zu fürchten brauchte, weil Dante dabei war.

»Ich muss nach Britannien«, erklärte Dante ohne Umschweife. »Morgen früh.«

»Nicht zum Skiurlaub, wie?« Der Chief sah aus, als hätte er wenig Lust, seinen Computer wieder hochzufahren und das nötige Formular auszustellen.

»Das Übliche«, erwiderte Dante stoisch.

Fordham schnaubte. Sein Blick wanderte zu Jin. »Und warum ist der hier? Du weißt, ich lasse mir keine Angst einjagen. Das ist nicht die Art, wie man hier Chief wird.«

»Zum Glück, denn sonst würde ich mir rein gar nichts von dir anhören.«

Das Gesicht des Mannes glättete sich ein wenig. »Gott. Na schön. Du kriegst dasselbe wie immer: zwei halbautomatische Pistolen und ein Schwert. Dein anderer Scheiß bleibt hier.«

»Ich brauch noch was. Panzerhandschuhe.«

»Kann man damit jemanden umbringen?«

»Mit allem, was ich habe, kann man jemanden umbringen.«

Fordham stöhnte leise, hob mit einer Hand den Hut an und fuhr sich mit der anderen durch das schüttere Haar.

»Komm schon, Steingesicht. Lass uns kein Machtspiel daraus machen.«

»Dante, du nimmst dir zu viel raus! Du bist kein verdammter Cop!«

Jin beschloss, dass es Zeit war, die Aufmerksamkeit des Chiefs auf sich zu lenken. »Es ist nicht Dantes Entscheidung, was er mitnimmt, sondern meine. Es ist meine Mission, und ich bestimme, wie er sie erledigt.«

Mit ungläubiger Miene wandte Fordham sich ihm zu. »Du glaubst also, du kommst damit davon, eine Kirche zu zerstören und dann auch noch der Polizei zu sagen, was sie zu tun hat? Wer bist du überhaupt, du kleiner chinesischer Schnösel?«

»Ich bin Japaner.«

»Das ist dasselbe.«

»Ist es nicht.«

»Doch.«

»Nein.« Jin ließ seine Faust auf Fordhams Tischplatte fallen, ohne eine Miene zu verziehen. In diesem Spiel war er Meister. »Ich bin Jin Kazama, der neue Leiter der Mishima Zaibatsu. Verstehst du, was das heißt, Kleinstadt-Sheriff?«

Fordhams Gesicht nahm einen verblüfften Ausdruck an; dann verdüsterte es sich. Argwöhnisch spähte er zu Jin auf. »Verstehe«, murrte er. »Verstehe. Ich hasse es, wenn Typen wie du in meine Stadt kommen.«

»Und ich hasse Typen, die sich nicht an Vereinbarungen halten«, entgegnete Jin emotionslos. »Ich mag deine Stadt – aber vielleicht nicht mehr lange. Mishima Industries hat schon einmal in euch investiert, um eure Wirtschaftlichkeit zu verbessern, aber ihr und Shardworks habt es versaut. Ich habe mir die Ruine von GRITT-D674 selbst angesehen. Wie ihr sie im Schlamm verscharrt habt, vierzig Tonnen feinster Stahl und beste Technik unter vier Metern Dreck.« Er spuckte das letzte Wort so aggressiv aus, wie seine Natur es zuließ.

Fordham sagte nichts, aber seine Mundwinkel begannen in U-Form festzufrieren. Langsam, ganz langsam sank die Nachricht ein.

Perfekt wurde es, als Trish hinter ihm leise schniefte und dann eine Hand an den Mund hob. Er blickte kurz über die Schulter und sah es, sah ihre leicht zitternden Finger, als sie so tat, als ringe sie um Fassung. Zu Dante musste er nicht schauen; dessen Miene war kalt und undurchlässig wie ein zugefrorener See, das wusste er.

Fordhams Blick wurde immer unsicherer, glitt zwischen den drei Personen vor seinem Schreibtisch hin und her.

»Wenn ich also entscheide«, sagte Jin sehr ruhig, »die beiden einzigen Leute, die in deinem Dorf etwas taugen, mitzunehmen und ihre Waffen auch, dann können sie das genauso wenig ändern wie du, Chief.«

Trish schluchzte erstickt auf und klemmte die Unterlippe fest zwischen die Zähne; dann wich sie einen Schritt zurück. Dante blieb stumm wie eine Säule.

Fordham war blass. Ihn traf zum ersten Mal die Erkenntnis, dass Dante und Trish, das furchtloseste Duo diesseits des Äquators, im Begriff waren, entführt zu werden. Das allein hätte lächerlich sein müssen, doch zusammen mit Jins Andeutung einer Drohung wirkte es.

Fordham bewegte seine Hand langsam zu der schmierigen Computermaus neben der Kaffeetasse. Seine Finger vibrierten kaum sichtbar, als er sie auf die Tasten legte. »Ist das alles, was ihr wollt? Panzerhandschuhe?«

»Ja«, erklärte Dante, sah ihn aber nicht an. »Mehr werde ich nicht brauchen.« Jetzt blickte er doch zu Fordham, und wieder ging eine Nachricht über diese unsichtbare Brücke. Dieser Blick versprach dem Chief zusammen mit dem »Mehr werde ich nicht brauchen«, dass Dante eine Gelegenheit finden würde, den Teufel, der Jin war, zu erledigen und triumphierend nach Hause zurückzukehren. Sie mussten jetzt kooperieren, für den Moment. Aber dann würde alles ein Kinderspiel sein.

Fordham verstand, und das Beben in seinen Händen verschwand, als er das Formular ergänzte, nun mit beinahe verwegener Zuversicht. »Ich hoffe«, knurrte er in Jins Richtung, als der Drucker am Ende des Tisches hustend zu arbeiten begann, »dass ich dich danach in meiner Stadt nie wiedersehen werde.« Fast keck reckte er das Kinn vor. Er verließ sich auf Dante. Jetzt gerade war Dante sein bester Freund. Genau wie geplant.

»Das sehen wir dann«, antwortete Jin nüchtern.

Als die Genehmigung fertig war, nahm Fordham den Ausdruck und hielt ihn Dante hin, nicht Jin, und Dante nahm ihn mit der Andeutung eines Lächelns. »Geht doch. Danke.«

»Macht, dass ihr rauskommt«, knurrte der Chief.

Und sie taten ihm den Gefallen.
 

»Hat sich das gut angefühlt?«, fragte Dante, als sie das Gebäude verlassen hatten.

»Was?«

»Den Boss rauszukehren.«

Jin verzog das Gesicht. »Nein. Aber ich fürchte, ich werde mich daran gewöhnen müssen.«

»Keine Sorge, du machst das gut.«

Trish an Dantes Seite lachte leise.
 

Um pünktlich beim Boarding zu sein, würden sie am nächsten Morgen um sechs Uhr früh nach Eastport City aufbrechen. Vierundzwanzig Stunden später würden sie im Zug nach Wales sitzen.

»Sollten wir nicht noch ein paar Vorkehrungen treffen, wenn auf unbestimmte Zeit niemand hier sein wird?«, hakte Trish nach – sie war sichtlich jener Teil des Paares, der plante und vorausdachte.

Dante sah sie einen Moment lang ertappt an. Dann wandte er den Blick ab und sagte umständlich: »Also … Ich denke, es sollte schon jemand hier sein.«

Trish verschränkte die Arme vor der Brust. »Verstehe.«

»Du kannst den Job wunderbar alleine machen. Sarris ist mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nicht mehr in den USA. Siehst du, er würde dich nur wieder als Schutzschild gegen mich benutzen, als Geisel, Druckmittel oder sonst was. Ich hab eben –«

»Angst«, endete sie und blickte ihn direkt an.

Er ließ die Schultern fallen.

»Es ist nicht so, dass ich mich nicht verteidigen kann«, setzte sie zu mildem Protest an. »Noch mal würde ich ihm nicht ins Netz gehen. Aber ich verstehe schon … Das ist eine Angelegenheit unter Männern, in die ich mich nicht einmischen werde.« Widerwillig nickte sie. »Na schön, Dante. Ich bleibe hier und hüte das Haus.«

Yuri warf das Magazin weg. »Glückwunsch zu diesem Prachtstück von Frau, Dante. Die meisten anderen wäre zickig geworden.«

Dantes Miene verriet, dass er es nicht gewohnt war, Trish etwas vorzuschreiben – und dass sie ihn mit ihrem unerwarteten Einlenken ziemlich überrascht hatte. Doch wie auch immer es war, sie hatte damit das letzte Problem aus dem Weg geräumt, das ihrem Aufbruch nach Wales noch entgegen gestanden hatte.
 

Der Mut verließ Jin am späten Abend.

Die Reisevorbereitungen waren getroffen, es blieb ihnen nichts mehr übrig als zu warten und etwas zu schlafen.

Aber der Fremde in seinem Kopf war wieder da.

Als die Wirkung des Traumkrauts abebbte und die Stimme des Dämons wieder mehr und mehr in Jins Bewusstsein drang, stetig, wie bei Flut das Meer langsam den Strand vereinnahmt, da kehrte auch die innere Kälte, das nach außen unsichtbare Zittern seiner Seele zurück.

Ich kann nicht schlafen. Nie mehr.

Yuri hatte sich grummelnd auf seiner Couch zusammengerollt, und auch Dante und Trish hatten sich in ihre Schlafzimmer verzogen. Wie mechanisch durchquerte Jin die geräumige Wohnstätte, bis er die Treppe erreichte, die er an seinem ersten Tag in diesem gitterlosen Gefängnis bereits einmal erklommen hatte.

Komm mich holen, sagte Azazel zärtlich. Ich bin ein Teil von dir, und du von mir.

Er sollte wieder schweigen! Warum träumte er nicht mehr, dieser dunkle Kern, wie er es die Stunden zuvor auch getan hatte?

Dunkler Stern. Wir könnten die Welt regieren.

Was …?

Du brauchst mich, um endlich Frieden zu finden. Nur ich kann dir geben, was du verloren hast.

»Sei still.« Er murmelte es nur zwischen den Zähnen, auf Japanisch. Mehr ein Zischen als ein Wort.

Komm zu mir. Komm mich befreien. KOMM.

Jin erreichte die Dachluke und trat in die Kälte hinaus. Seine Knie waren schwach, seine vielen Verletzungen schmerzten, aber er ging vorwärts. Bis zum Rand.

Die Dachkante warf einen scharfen Schatten in den Schein der Straßenlaterne. Es war ein gelbes Licht; der Mond war nicht zu sehen.

Jin schob die Schuhspitze über den Dachrand. Es knirschte kaum hörbar. Er stellte sich vor, wie es sich anfühlte, auf den Asphalt zu schlagen. Sicher wäre er kalt, kälter als die Nacht. Und er wäre das Ende von allem – von Devil Jin, vom bösen Stern, von dieser aussichtslosen Unternehmung …

Ein leises Geräusch dicht hinter ihm. Er drehte sich nicht um.

»Das ist nicht hoch genug.«

Jin atmete langsam aus. Dantes Präsenz war inzwischen vertraut, und er hatte ihn gespürt, bevor er seine Stimme gehört hatte. Aus irgendeinem Grund erwartete er, dass der Andere ihm die Hand auf die Schulter legen würde, eine Geste, die die höfliche Distanz zwischen ihnen überbrücken und Jin eine Art des Kontakts aufzwingen würde, die seiner Kultur fremd und ihm unangenehm war.

Doch Dante hielt den Abstand. Als Jin sich endlich umdrehte, stand er da, die Arme vor der Brust gekreuzt, ganz der überlegene, unerschütterliche Anführer.

»Du würdest dir nur die Sprunggelenke brechen, mehr nicht«, fuhr er in sachlichem Ton fort.

»Dann erschieß mich.« Jins Kehle fühlte sich an wie ein nasser Stein.

»Ich denk nicht dran. Frag Yuri, ob er dich erwürgt, da hast du bessere Chancen.«

Jin schüttelte den Kopf. »Es würde sowieso nichts nützen. Ich kann mein Problem nicht auf die harte Tour lösen. Devil gestattet mir nicht zu sterben.«

»Natürlich nicht. Er kann deinen Körper nicht besetzen, wenn du tot bist. Stirbst du, stirbt er auch. Deshalb wird er das nicht zulassen.« Dante entfaltete die Arme und rieb sich den Nacken. »Aber was Yuri betrifft …«

»Er wird es nie verstehen.«

»Nein, weil er nicht rafft, dass nicht jeder so ein Ego aus Fels haben kann wie er. Das ist alles. Keiner von uns wird dich Sarris oder Azazel überlassen, ich nicht und er auch nicht.«

»Ich weiß.«

Dante zögerte, ohne den Blick zu lösen, und sagte dann: »Wir sind noch nicht am Ende, Jin. Wir werden ihm folgen.«

Jin öffnete den Mund, um zu antworten – zu sagen, wie sinnlos und aberwitzig das alles war –, doch er ließ es bleiben. Er wünschte, er könnte es. Irgendjemandem erzählen, was in ihm vorging, was sich da wand wie eine schwarze Schlange, schleichend versuchte, seinen Geist zu vergiften. Aber er konnte nicht. Schon als Teenager hatte er gelernt, mit seinen Gefühlen allein zurecht zu kommen; sie zu teilen hatte ihn stets in eine Opferrolle gebracht, in der sein Schmerz gegen ihn ausgenutzt wurde. Er wollte nicht mehr angreifbar sein. Die Zeit, in der er sich freiwillig auf den Rücken gerollt hatte, war vorbei.

Gleichzeitig wollte er Dante und Yuri vertrauen. Er wusste, dass es den Beiden nie in den Sinn käme, jemanden zu hintergehen – sie waren klare Frontalangreifer, machten keine halben Sachen, schmiedeten keine Intrigen. Wahrscheinlich wussten sie gar nicht, wie man log. Es entsprach nicht ihrer Natur: Sie sagten beide immer das, was sie dachten.

Trotzdem. Jin konnte seinen Widerstand nicht aufgeben. Diese Mauer war ein Teil von ihm geworden.

»Geh schlafen, Kazama«, sagte Dante versöhnlich, indem er sich abwandte, und das war das Letzte, was Jin an diesem Abend von ihm hörte. Keine Anweisung, gefälligst vom Dach zu verschwinden, kein »Ich bleibe hier stehen, bist du im Bett bist, Kleiner«. Keine Bevormundung. Er hielt Wort.

Jin atmete erneut tief durch und wich dann langsam vom Dachrand zurück. In ihm grollte der Dämon wie ein angekettetes Tier, und er wusste, dass er nicht schlafen würde.

Akt V - Aufbruch ins Gelobte Land: 9-3

9-3: YURI
 

Yuri schüttelte die Taschenuhr. Sie zeigte jetzt genau vier Uhr an – fast ein Drittel des Ziffernblatts war umrundet. Eine verdammt lange Stunde war das. Immer noch hatte Yuri keinen blassen Schimmer, was dieses Verhalten von McNabs magischer Uhr bedeuten sollte. Sie hatte vorher nie etwas Ungewöhnliches gemacht. War einfach nur eine Uhr gewesen. Und nun … Es zog unangenehm in seiner Magengegend, wenn er daran dachte, dass die Zeiger irgendwann wieder bei zwölf Uhr ankommen würden. Wenn diese Stunde vorüber war – was passierte dann?

Als er sah, dass Jin ihm von gegenüber zusah, zuckte er innerlich zusammen. »Hey, du bist ja auch wach«, sagte er unnötigerweise.

»Ich hab nicht geschlafen.«

»So siehst du auch aus.« Yuri hatte bis eben geschlafen wie ein Stein. Alkohol war da ein wahres Wundermittel – eins, gegen das Jin offenbar immun war.

»Wann müssen wir raus?« Er schob die Arme wieder unter den Nacken und starrte zur Decke.

Jin sah auf die Uhr. »Du kannst noch fast zwei Stunden schlafen.«

»Oh, gut.« Das würde er tun. Oder zumindest versuchen.
 

Als sie tatsächlich aufstanden, hatte Yuri das Gefühl, es seien nur fünf Minuten vergangen. Er war müder als vorher. Matt blinzelte er ins gelbe Licht der Deckenlampe, da vor den Fenstern noch Finsternis herrschte, während um ihn herum die Abreisehektik einsetzte. Wie gut er das kannte – und doch war es jedes Mal anders und neu.

Erst zum Frühstück bequemte er sich, die Couch zu verlassen, und dieses fiel spärlich aus, da die Zeit drängte. Jins Leibwächterin erschien oberpünktlich bei Dantes Büro, um ihren Chaffeurdienst anzutreten.

»Ähm«, unterbrach Yuri das Zusammenräumen des wenigen Geschirrs, das sie benutzt hatten, während Jin schon die Taschen nahm, »hat einer ’ne Beschreibung für mich, wie sich Fliegen anfühlt? In so einem …«

»Flugzeug«, half Jin.

»Ja … Ich kenne nur Luftschiffe. Letztere … sind nicht so mein Fall.«

Dante blieb im Türrahmen stehen und sah ihn über die Schulter an: »Hast du Angst vor Schiffen?«

»Äh … nö, aber mir … wird … schlecht auf Schiffen.« Der Satz war zum Ende hin immer leiser geworden.

»Schön, dass du jetzt damit rausrückst.« Dante schnalzte tadelnd mit der Zunge.

»Ich hätte es mir auch bis zum Reinklettern aufheben können«, murrte Yuri.

»Ach, mach dich nicht verrückt. Wahrscheinlich werden wir sowieso schlafen – mehr kann man in einem Flugzeug nicht machen.«
 

Dante nahm diese Mission ernst, wie es aussah. Er reiste offenbar nicht oft, denn er widmete seiner Ausstattung tatsächlich einige Aufmerksamkeit. Yuri spekulierte darauf, noch etwas zum Schutz gegen die Kälte abzugreifen, und tatsächlich brauchte er nicht danach zu fragen: Nach einem letzten Gang in sein Schlafzimmer warf Dante ihm ein warmes Sweatshirt und vier Paar Wollsocken zu. Yuri befühlte sie entzückt: Prima, das waren die guten Wollsocken, aus der Wolle von Schafen, die sich in Grönland die Haxen abfroren und trotzdem fett wurden.

Wenig später waren alle Drei gegen den Winter gerüstet. Es gab keine sibirische Kälte in Wales, wie Yuri wusste, doch er erinnerte sich mit Schrecken an die frostigen Winde, die dort um die Klippen brausten.

»Bitte lass uns nicht unnötig auffallen«, hatte Jin Dante gebeten, und der Teufelsjäger hatte dem mehr oder minder entsprochen: Er trug ausnahmsweise nur unauffällige Kleidung, ein schwarzes Shirt und darüber eine schlichte warme Unterjacke ganz ohne Schnickschnack, nicht zweitausend Gürtel und nicht dreitausend gruselige Schnallen. Er hatte nicht mal seine Biker Boots an, sondern so etwas wie harmlose Allwetterschuhe, über denen er soeben die verwaschene dunkelgraue Jeans glattstrich. Dann allerdings nahm er seinen roten Mantel von der Stuhllehne (Yuri hörte Jin leise aufseufzen), den wohl unverkennbarsten Mantel Amerikas. »Ohne den geht’s nicht«, sagte er gleichmütig. Allerdings rollte er die Ärmel ordentlich herunter und schloss die Knopfleiste. Immerhin etwas.

Der Morgen graute, als sie einluden; Gehwegplatten und Gras waren ganz mit bläulichem Raureif bedeckt, außer den Stellen, die von der Sonne direkt beschienen wurden. Die Luft war eiskalt und klar wie Kristall.

»Ich hoffe, ihr freut euch auf den langen und öden Flug«, bemerkte Nina, als sie hinter dem Lenkrad des lackschwarzen Mietwagens Platz nahm.

»Ein Land Rover Evoque? ’nen auffälligeren Wagen hatten sie nicht, oder?«, stichelte Dante.

»Ich setze mich nicht in jedes Auto«, gab sie unberührt zurück. »Du kannst gern zu Fuß gehen.«

Trish, die wie eine stolze Wächterin in der Tür des Devil May Cry stand, tauschte einen letzten vielsagenden Blick mit Nina, und jene nickte kaum merklich. Yuri war klar, dass die beiden Ladies einander verstanden. Frauen kommunizierten zusätzlich auf einer Meta-Ebene, wo Männer niemals hingelangten.

Die Sache mit dem Sonnenschein hatte sich bald erledigt: Dicker Nebel wälzte sich träge über den Rand des Talkessels und stieg von dort in langen Fäden wieder nach oben.

Noch immer war Yuri ganz vereinnahmt von jeder Art motorisiertem Fahrzeug, und dieses gefiel ihm besonders gut, weil es fast lautlos fuhr und sehr sauber roch – nicht wie der Polizeiwagen, in dem er kurz nach seiner Ankunft im Jahr 2008 gesessen hatte und in dem schon zwei Dutzend Besoffene, Kinder und Hunde auf das Polster gekotzt hatten.

Vollkommen wortlos kutschierte Nina ihre drei Fahrgäste die dreiundzwanzig Meilen bis Eastport, und der leere Highway, dem sie leise schnurrend folgten, wirkte wie ein endloses dunkles Band. Etwa in der Mitte der Strecke war die Sonne gänzlich hinter Wolken verschwunden, und an ihrer Statt setzte ein ungestümer Schneeregen ein. Das gleichmütige Auf und Nieder der Scheibenwischer hatte eine fast hypnotische Wirkung auf Yuri, und er starrte darauf wie in Trance, bis das Auto auf dem Parkplatz des Flughafens Eastport City zum Stehen kam.
 

Von dem Ort Eastport sahen sie fast nichts, und dieses Wenige war auch nicht gerade spektakulär – ebenso wenig wie der Flughafen. Yuri war nicht sonderlich beeindruckt. Da hatte er in seiner eigenen Zeit größere Häfen und Bahnhöfe gesehen,

Der Anblick der Flugzeuge indes erschreckte ihn etwas. Sie waren einfach zu groß. Aus der Ferne wirkten sie klein, aber wenn man näherkam … Wie kriegte man diese Ungetüme überhaupt in die Luft? Was für ein Motor schaffte das? Er erinnerte sich mit Grauen an das kleine Doppeldecker-Jagdflugzeug, das er mit Alice und Margarete von einem Truppenflugplatz der japanischen Armee entführt hatte und das ihnen in zweihundert Metern Höhe klappernd und rauchend buchstäblich unter den Ärschen auseinandergefallen war. Schon jener bescheuerte kleine Motor hatte getuckert wie ein Trecker und einen Höllenlärm gemacht – aber immerhin hatte man ihm abgekauft, dass er fliegen konnte. Diese Eisenriesen dagegen … Sogar Rogers Bacon-Jet war Kinderkram dagegen.

Sein Blick klebte weiterhin an den glänzenden Flugzeugkörpern auf dem asphaltierten Platz, während seine beiden Begleiter ihn anstellig hinter sich herzogen. Er hatte nicht einmal mitbekommen, wie Nina sich von ihnen verabschiedet hatte.

Jin ließ sich aus einem der vielen aufgestellten Automaten Karten ausdrucken, auf denen erstaunlicherweise ihre Namen standen. Woher auch immer das Gerät sie kannte.

»Hier, deine Bordkarte.«

Yuri begutachtete das Papier. »Was bedeutet der Buchstabe mit der Nummer?«

»Dein Platz. Wir sitzen nebeneinander. Fenster, Gang, Mitte.«

»Du kommst in die Mitte, Kazama, wir gehen kein Risiko ein«, bestimmte Dante.

»Von mir aus«, erwiderte Jin leidenschaftslos.

Nach einem Blick auf die übergroße Uhr über den Terminals nahmen sie noch einmal in der Lounge Platz. Es war noch Zeit bis zum Boarding. Yuri merkte, wie er ungeduldig wurde. Er hatte erwartet, dass sie ankamen, ins Flugzeug spazierten und losflogen.

Also machte er sich quer über drei der unbequemen Stühle lang und starrte zur meterhohen Hallendecke mit ihren weiß glänzenden Streben. Er hatte Dante nicht erzählt, wie es gelaufen war, als er seinen Job für ihn übernommen hatte, damit Dante mit Jin abhängen konnte. Aber hey, Dante und Jin hatten auch nicht erzählt, was sie getrieben hatten – und da sie voller Blut, mit einer Scheißlaune und mit Jins Babysitterin im Gepäck zurückgekommen waren, konnte von einem Winterspaziergang wohl nicht die Rede sein.

Nun ja, dafür hatte er mehr über Trish und Dante und ihre verkorkste Beziehung erfahren. Mehr, als ihm lieb war.
 

»Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte Yuri verkrampft, während er sich auf dem Motorrad an Trish klammerte und der Versuchung widerstand, ihren Brüsten zu nahe zu kommen. Oh Mann, wie kamen Frauen nur mit solchen Monstern klar, die waren doch bestimmt bei allem im Weg – und Trish war in dieser Hinsicht wirklich nicht von der Natur vernachlässigt.

»Zum Parkway Drive. Aber das sagt dir sowieso nichts.«

»Was ist die Mission?«

»Wir suchen einen Teenager und seinen Onkel, die ins Drogengeschäft verwickelt sind. Beide werden vermisst, aber mit Verdacht. Eine Kontaktperson gibt uns die Details. Dante wollte den Job nicht, aber ich. Es wird schmutzig.« Sie duckten sich, als Trish unter einer breiten Brücke hindurch steuerte.

»Ich bin an Schmutziges gewöhnt«, antwortete Yuri, hundert Jahre zu spät. Seine Schlagfertigkeit erlebte selten Höhenflüge. Kurz darauf fragte er: »Rufen eure … Kunden euch immer an, oder kriegt ihr die auch mal zu sehen, bevor ihr den Auftrag annehmt?«

»Manche kommen auch direkt ins Devil May Cry, um uns anzuheuern«, antwortete Trish, und ihre Stimme hallte unter der Brücke, bis sie durch waren. »Einmal kam einer in einem teuren Anzug, dem schon ›Arschloch‹ auf der Stirn stand. Dante war nicht da, also musste er mit mir Vorlieb nehmen, aber offenbar konnte er sich nicht dazu herablassen, sich in dieser Angelegenheit mit einer Frau abzugeben. Ich war wirklich noch nett zu ihm«, fügte sie nachdrücklich hinzu. »Er hat deutlich gemacht, dass er mit mir keine Geschäfte abschließt. Im nächsten Moment kam Dante, und der Typ hat sich fast in den Staub geschmissen und gejammert, dass die Sekretärin anmaßend zu ihm war.«

»… Sekretärin?«

»Dante hat ihn freundlich rausbefördert, und dann hat er sehr laut und sehr lange gelacht. Du hast keine Ahnung, wie oft ich mir seitdem anhören muss, wie nett ich in den Klamotten einer Sekretärin anzusehen wäre.«

Trish bog in einen Hinterhof ab und hielt auf eine Gruppe von Männern zu, die ihnen abwartend entgegensahen, mit düsteren Mienen und Schlagstöcken in den Hosengürteln. Gut gelaunt sahen die alle nicht aus. Yuri kannte diese Art von verkniffenen Gangstergesichtern. Trish bremste das Motorrad scharf vor ihnen, sodass das Hinterrad herumschleuderte und eine Spur heißen Reifengummis hinterließ, und gab sich zu erkennen: »Purgatorio.«

»Ihr seid also die Typen vom Devil May Cry«, stellte der Vorderste der nicht sehr vertrauenerweckend aussehenden Bande fest. Er trug eine graue Wollmütze und eine flickenreiche Jacke, und einer seiner Schneidezähne fehlte.

»Zumindest ich«, sagte Trish.

»Ich bin nur der Praktikant«, erklärte Yuri mürrisch.

»Wie auch immer, ihr seid knapp zu spät. Der Boss hat euch vor ’ner halben Stunde erwartet. Jetzt haben wir den Laden schon aufgemischt.«

»Jaah, zum Glück isses gut gegangen«, brummte der Typ links des Anführers, ein Bärtiger, der älter wirkte. »Dumm, dass ihr nicht da wart. Hätte uns das Leben leichter gemacht, uns ’ne Menge Ärger erspart. Ihr wärt da rein und wieder raus spaziert.«

»Dann hätte euer Boss sich früher melden sollen«, sagte Trish unbeeindruckt. »Dem war doch sicher klar, dass wir das Viertel umrunden mussten, schließlich ist die Salvadore Street schon seit zwei Wochen dicht.«

Die Männer schauten einander an. Offenbar fragten sie sich, ob der Scharfsinn ihres Bosses soeben angezweifelt worden war oder nicht.

Schließlich zuckte der Vordere etwas ratlos die Schultern. »Wie auch immer, jedenfalls gibt’s leider nichts mehr für euch zu tun.«

»Verdrückt euch wieder«, fügte Nummer zwei hinzu.

»Moment.« Trish dachte gar nicht daran, sich wieder zu verdrücken. »Wir sind kein Lieferservice, bei dem die Bezahlung ausfällt, wenn die Pizza kalt ist.«

»Wir hätten euch bezahlt, wenn ihr pünktlich gewesen wärt.«

»Es war keine Zeit ausgemacht, und wir waren trotz der Sperrung viel schneller hier als jeder andere aus unserer Branche.«

»Hör mal, Miss, wenn ich sage, ich bezahle euch nicht ...«

Er verstummte, als Trish das Motorrad feststellte und das Bein elegant über den Sattel schwang. Wortlos ging sie auf die Gruppe zu, mit derselben einschüchternden Lässigkeit, die Yuri von Dante kannte – aber bei ihr wirkte es noch bedrohlicher.

Die Männer wichen instinktiv zurück. »Miss, die Sache ist glasklar …«

»Ist das so?« Trish kam näher, die Hände auf den Hüften wie ein Model auf dem Catwalk. Sie war größer als der Mann mit der Mütze.

»Also … ich denke, wir können uns einigen …«

»Fünfzig Prozent«, schlug Trish vor.

Der Bärtige sah aus, als ob er protestieren wollte, und sein Mund öffnete sich zu einem beherzten Vorstoß, doch als Trish vor ihm stehen blieb, senkte er den Blick. »Geht klar.«

Yuri grinste. Gute Show. Lässig stützte er die Ellenbogen auf den Motorradsattel und sah zu, wie Trish die Kohle einstrich. Klar, irgendjemand musste sich ums Geschäft kümmern, und Dante sah nicht aus wie jemand, der sich viel um Geld scherte. Für ihn zählte wahrscheinlich nur der Spaßfaktor, wenn es um die Auswahl seiner Missionen ging. Trish war pragmatischer.

Nach der Übergabe wendete Trish das Motorrad und sie brausten ohne jeden Gruß davon. Na gut, einen neuen Stammkunden hatte sie hier nicht klargemacht.

»Dante könnte jeden Job erledigen, den man ihm anbietet«, murrte Trish im Fahren über die Schulter. »Er kann fast alles. Aber nein. Er hat seine Standards, seinen Stolz.«

»Ist das so schlimm?«

»Nein.« Doch ihr Ton sprach eine andere Sprache.

Yuri hielt ihre Taille umfasst und beobachtete den vorbeihuschenden Straßenrand, als das Zweirad plötzlich in einer leeren Straße langsamer wurde. Trish bremste weiter, würgte dann radikal den Motor ab, stieg wortlos ab und trat gegen das Vorderrad, während Yuri noch auf dem Ding saß.

»Holla, was ist los?«

»Ich bin wütend.«

»Auf die Typen?«

»Nein.« Statt sich zu erklären, sog sie tief die Luft ein und stieß sie mit einem Schnauben wieder aus. Gott, die war wirklich angepisst.

Yuri spürte eine gewisse Beunruhigung und blieb angespannt sitzen. Stumm beobachtete er, wie sie am Straßenrand ein paar Mal steif auf und ab ging, dann schien sie wieder ein bisschen runterzukommen. Sie kehrte zurück und stieg wieder auf die Maschine, doch noch ließ sie den Motor nicht an. Irgendwas machte sie offenbar komplett fertig, und jetzt war so ein Moment, in dem sie es nicht mehr runterschlucken konnte. Er hörte sie mürrisch seufzen.

Er musste irgendetwas sagen. Irgendwas. Um sie von dem, was auch immer sie gerade ausbremste, abzulenken. »Und? Äh, wie habt ihr zwei euch kennen gelernt, du und Dante?«, fragte er und gab sich höflich interessiert.

Es war genau das falsche Thema. Oder das richtige, ganz wie man es sah. »Ziemlich klassisch«, antwortete Trish mit leisem Zähneknirschen. Ihre Fingernägel trommelten über die Griffe des Lenkers. »Er würde behaupten, ich hätte mich über seinen Schreibtisch gebeugt und etwas gesagt wie: ›Ich habe gehört, Sie sollen der Beste sein‹ … was nicht ganz der Wortlaut war.«

»Äh … Und dann?«

»Dann habe ich ihm sein Schwert in den Bauch gerammt, mitten in die Leber. Es war richtig romantisch.« Sie sagte das so abgebrüht, dass es nur die Wahrheit sein konnte. Die Leute in dieser Zeit machten wirklich schräge Sachen.

»Ah … und dann … seid ihr wahrscheinlich übereinander hergefallen … direkt auf –«

»– den ungepflegten Dielen, inmitten von Türtrümmern, Billardkugeln und Motoröl«, endete Trish und schenkte ihm über die Schulter hinweg ein sardonisches Lächeln. »So hätte es laufen sollen.« Dann verschwand das Lächeln, und sie wandte den Blick ab. Noch immer standen sie mit dem Motorrad mitten auf der Straße.

Yuri hatte das Gefühl, dass er fragen sollte, was zwischen den Beiden nicht stimmte. Eigentlich hatte er keine Lust darauf, weil die Beziehungen anderer Leute ihn nicht interessierten; sie konnten ihn nicht interessieren, weil niemand von ihnen wusste, was Liebe war. Aber vielleicht war genau das der Grund, warum er nach einem Moment des Zögerns trotzdem fragte. »Was«, begann er, ohne zu wissen warum, »ist das netteste … ich meine, das bedeutendste Kompliment, das er dir je gemacht hat?«

Diese Frage hatte Trish wohl nicht kommen sehen. Sie dachte darüber nach. »Das Übliche«, sagte sie dann. »›Was würde ich ohne dich machen‹, irgend so was.«

»Und was würdest du lieber von ihm hören?«

»Wie wär’s mit ›Nicht anziehen‹

Yuri brauchte mehrere Sekunden, bis er verstand. Oder glaubte zu verstehen. »… Er mag es nicht, wenn du nackt durch die Wohnung springst?«

»Es ist ihm völlig egal. Er guckt nicht mal hin.«

Yuri schloss den Mund. Obwohl Trish nach außen wieder ganz cool und gefasst war, spürte er ihre Frustration noch stärker als in dem Moment, als sie gegen das Fahrzeug getreten hatte.

»Ich komm nicht mit«, gestand er. »Obwohl du seine Frau bist, seid ihr –« Als Trish sich auf dem Sitz zu ihm umdrehte, brachte ihn das schlagartig zum Verstummen.

»Du glaubst, ich wäre seine Frau?«, fragte sie. Es klang nicht wütend, nur … verblüfft. Sie sah aus, als ob sie nicht wüsste, ob sie lachen oder weinen sollte.

Yuri fühlte sich plötzlich irgendwie hilflos, wich unter ihrem Blick so weit zurück, wie er konnte, ohne vom Sitz zu fallen. »Ja, klar … Das liegt nahe, musst du zugeben. Immerhin hat er ein Foto von dir auf seinem Schreibtisch.«

»Das auf dem Foto bin nicht ich.« Wieder ein Seufzen. »Sondern seine Mutter.«

Zum zweiten Mal klappte Yuri den Mund wieder zu wie ein Koi-Karpfen.

»Ein perfider Plan von Mundus, dem Erzfeind seines Vaters. Ich wurde nach dem Vorbild seiner Mutter erschaffen, damit er mich an sich heran lässt. Ich sollte in ihm blindes Vertrauen wecken – das Urvertrauen, das man nur in die Mutter hat. Ich habe Dantes Vertrauen gegen ihn ausgespielt.«

»Ausgespielt?«

»Er ist mir ohne zu zögern in die Unterwelt gefolgt, und ich habe ihn direkt zu Mundus geführt. Und dort hab ich ihn in eine Falle gelockt.«

Yuri sagte nichts. Ein Teil von ihm wünschte, er hätte die Klappe gehalten; der andere rollte den geistigen Faden auf, auf den alles aufgezogen war, was er über Dante und Trish wusste, und überarbeitete die Reihenfolge.

»Dante hat mich besiegt und zurückgelassen«, fuhr Trish ruhig fort. »Und da ich für Mundus nichts mehr wert war, sollte ich vernichtet werden. Dante hat es nicht zugelassen.«

»Das Vertrauen.«

»Wir alle haben unterschätzt, wie stark es ist. Ich glaube, er hätte alles für mich getan, nur weil ich eben aussehe wie … die Personifikation seines Bedürfnisses nach Geborgenheit.« Selbst erstaunt über ihre Worte rümpfte sie die Nase. »Altes Geschwätz. Ich habe die Seiten gewechselt, den Rest kannst du dir denken.«

»Ich glaub, ich kapiere das Dilemma langsam. Du wärst gerne seine Gefährtin, aber er ... will nicht.«

Mit bitterer Miene schüttelte sie den Kopf. »Ich bin das Abbild seiner Mutter, ich bin unberührbar für ihn. Gleichzeitig alles und nichts. Vielleicht war das auch Teil von Mundus’ Plan, auf lange Sicht.«

Yuri betrachtete sie ratlos. »Oh, Mann. Das ist echt voll für den Arsch.«

»Das trifft es«, antwortete Trish emotionslos. »Es ist nicht leicht, so eng mit jemandem zusammen zu leben und zu arbeiten, wenn man –«

»– ständig scharf auf ihn ist.«

Immerhin schien seine vulgäre Art Trish zu amüsieren. Sie schüttelte mit einem unglücklichen Lachen den Kopf. »Denkst du wirklich, das wäre alles?«

»Du bist ein Teufel, schöne Dame. Was soll ich denken?«

»Ich bin nicht mehr, was ich war. Zumindest nicht mehr, seit Dante mich von Mundus befreit hat. Ich weiß zwar nicht, warum ich dir das erzähle, aber … als wir zusammen den Herrscher der Unterwelt besiegten, waren wir nicht nur ein Team, wir waren … irgendwie verbunden. Und ich war …« Ihre glatte Stirn furchte sich, und sie sah durch Yuri hindurch. »… verwirrt. Mein Dasein hatte sich von Grund auf verändert. Ich wusste, dass es richtig war, mich gegen Mundus zu wenden und Dante zu helfen, weil er mir das Leben gerettet hatte. Ich …« Sie schluckte hinunter, was auch immer ihr auf der Zunge gelegen hatte. »… Dante sagte mir, Teufel würden nie weinen. Tränen wären ein Geschenk für Menschen.« Sie schnaubte.

»Ich … glaub, das stimmt«, sagte Yuri. Er war ein wenig baff. Trish schien nicht zu einhundert Prozent die ultra-taffe Lady zu sein, die eben noch mit einem einzigen bösen Blick zu einer Menge Geld gekommen war.

»Vielleicht«, brummte Trish, nun wieder ganz gefasst. »Wie gesagt, ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle. Vielleicht, weil du … auch Liebeskummer hast.«

Ich habe keinen Liebeskummer, dachte Yuri. Ich habe ein gebrochenes Herz.

Er schluckte so leise wie möglich. »Weil du weißt, dass ich auch jemanden liebe, den ich nicht mehr haben kann«, murmelte er. Er wollte ihr nicht erzählen, dass er schon literweise bittere, sinnlose, menschliche Tränen vergossen hatte. Nur weil sie sich gerade nackig machte, brauchte er das nicht auch zu tun.

»Als Dante und ich Partner wurden«, fuhr Trish frustriert fort, »waren wir uns weniger nahe als vor meinem Überlaufen. Ich wurde nicht klug draus. Er war nur dann in seinem Element, wenn er Dämonen jagte, und ansonsten war er faul, stoisch und für wenig zu begeistern.«

»Ach, und das hat sich geändert? Davon seh ich aber nichts.«

»Denkst du, er hätte früher Dinge, die er kaputt gemacht hat, wieder repariert? Weit gefehlt.« Sie nahm seinen Blick wieder auf, und Yuri fand das leuchtende Blau irgendwie unangenehm. »Wenn ich es benennen müsste, würde ich sagen, er wirkte … verloren.«

»Fein, aber was … hat das mit …«

»Ich versuche gerade, dir zu sagen, dass es ihm besser zu gehen scheint, seit ihr hier seid«, erklärte sie ungeduldig. »Ihr lenkt ihn ab. Es wurde immer besser, wenn ihn etwas abgelenkt hat.«

»Aber wovon denn?«

»Davon, dass er sich nutzlos fühlt!«

Yuri saß bereits mit dem Hintern genau auf der Kante des Sitzes und konnte nicht noch weiter zurückweichen, sonst hätte er es getan.

»Als ich ihn holen kam und nach Mallet Island schleppte, um Mundus aufzuhalten, habe ich ihm den Sinn seines Lebens genommen. Verstehst du das?«

»Weil dieser Mundus seine Mutter getötet hat.« Natürlich verstand er, was sie ihm sagen wollte, selbst ein Huhn hätte das verstanden. Allerdings war Yuri kein Sinnbild der Eloquenz.

Sie fauchte weiter: »Ich werde den Dante, der mir eine Seele gegeben hat, nie wiedersehen. Das ist das Problem.« Ihre Augen waren hart und kalt. Das waren die beiden Seiten einer Frau wie ihr: Hart wie Stein und unnahbar auf der einen Seite, sehnsüchtig nach Nähe auf der anderen. Da Trish, wie Yuri begriffen hatte, noch nicht lange im Besitz tiefer gehender Empfindungen war, musste ihr der Spagat unendlich schwer fallen.

Er fühlte sich hilflos. »Du weißt aber, dass er dich liebt, oder? Du hast ihn nicht erlebt, als du weg warst. Er war unerträglich, im Ernst. Er hat irgendwo da drinnen ziemlich was für dich übrig. Er würde alles für dich tun.« Außer aufräumen. Oder den Boden wischen. Das nicht. Aber die Wahrheit lag vor ihm: So sehr Trish Dante jetzt auch herumschubste and dominierte – sollte er je seine gutmütige, aufopfernde Seite wieder herauskehren, wäre sie sofort Butter in seinen Händen.

Er konnte nur mit Trish nicht … nun ja.

»Ich habe versucht, ihn zu verlassen«, erklärte sie widerstrebend. »Ich ging so weit weg, wie ich konnte. Studierte die Menschen, lernte, suchte mein eigenes Leben. Aber es hat nichts genützt. Er hat weder versucht, mich aufzuhalten … noch hat er protestiert, als ich zurückkam. Es war ihm irgendwie … egal.« Ihre Stimme war seltsam unbewegt. »Tut mir leid«, sagte sie ruhig, aber mit abgewandtem Blick. »Ich erwarte nicht, dass du mir einen Rat gibst.«

»Kann ich auch nicht«, gab Yuri ehrlich zu. »Meine Liebe … beruhte auf Gegenseitigkeit.« So sehr, dass sie sich für mich geopfert hat. Ich lebe, sie nicht. Schlag DAS, Dante.

»Vermisst du sie noch sehr?« Trish sah ihm wieder in die Augen, aber jetzt war ihr Blick nicht mehr so tödlich bohrend.

»Ja.«

»Wenn du durch die Zeit gekommen bist – meinst du, du kannst wieder zurückreisen bis zu ihr?«

»Ich weiß nicht.« Er hatte arge Zweifel daran, doch sein Herz klammerte sich an diese Hoffnung. »Ich werde alles versuchen.«

»Vielleicht finden wir alle noch unser Glück wieder«, sagte Trish, und als sie das sagte, war sie nur Frau und nichts anderes.

Dann trat sie den Kickstarter durch, erweckte den Motor röhrend zum Leben und fuhr so hart an, dass Yuri den Halt verlor und nur ein beherzter Griff in ihr Dekolleté ihn vor dem Absturz bewahrte.
 

Yuri hob ein Augenlid. Was er sah, war erneut die Hallendecke des Terminals mit den weißen Streben. Der Lärm aufgeregter Reisender, das hoch oben widerhallte, begann wieder in seine Ohren einzufluten.

Ganz kurz überlegte er, ob er etwas mit einer Frau anfangen würde, die aussah wie seine Mutter. Was genau sollte daran so schlimm sein? Wenn sie in seinem eigenen Alter wäre, also niemals seine Mutter sein könnte, wäre eine rein optische Ähnlichkeit dann so eine große Sache? Bestimmt nicht. Allerdings erinnerte er sich auch kaum noch an eine Mutter; ihre Züge verschwammen vor seinem geistigen Auge immer mehr, je älter er wurde. Ihr rotbraunes, fast mahagonifarbenes Haar hatte er noch gut in Erinnerung, aber abgesehen davon … Sie musste wohl so ähnlich ausgesehen haben wie Karin, die deutsche Offizierin, mit der er zuletzt lange auf Reisen gewesen war und die, wie ihm nicht entgangen war, durchaus daran interessiert gewesen wäre, ihre Beziehung zu vertiefen. Sie war ehrlich und furchtlos und hatte sich nicht gescheut, ihre Gefühle vor sich selbst und den Anderen zuzugeben. Doch Yuri hatte ihr nichts anzubieten. Sein Herz war so gründlich vergeben, dass nicht auch nur das kleinste Stück davon mehr ihm selbst gehörte. Alles hatte er Alice geschenkt, und alles war mit ihr gestorben. Alles.

»Hey, Hyuga. Hoch mit der Kiste.« Jemand stupste ihm gegen den Oberschenkel.

»Was, geht’s etwa weiter?«

»Es gibt noch einiges zu tun, bevor man ins Flugzeug steigen kann«, erläuterte Jin geduldig und steckte gerade sein Telefon wieder in die Tasche. »Wir müssen unser Gepäck abgegeben und durch verschiedene Kontrollen.«

»Wie kompliziert.« Yuri rappelte sich von der unbequemen Sitzbank hoch und strich seinen Mantel glatt. Seit er den mit dem ganzen Zeug eingeschmiert hatte, sah er wirklich wieder ganz anständig aus, bis auf die abgewetzten Stellen. Jetzt war er noch besser dazu geeignet, Alice’ Leichnam darin einzuwickeln, als damals … Ein ziemlich schäbiges Begräbnis war das gewesen … aber es war alles, das er hatte tun können …

Nein, nicht weiterdenken. Das half jetzt nicht. Sie würden nach Wales zu Roger gehen – und vielleicht konnte er das eine oder andere erklären.
 

Als sie endlich bei der Passkontrolle an die Reihe kamen, kapierte Yuri, wozu der ganze Eiertanz mit dem Chief nötig gewesen war – und warum er nach seiner Landung um Jahr 2008 von den Polizisten mit solchem Misstrauen behandelt worden war. Die Pässe aus dieser Zeit sahen komplett anders aus, sie wiesen eine Menge Erkennungsmerkmale auf, die nur mit irgendwelchen Geräten verifiziert werden konnten. Auf Yuris Pass, ein zusammengefaltetes Papier mit vergilbten Rändern, traf nichts davon zu. Jin hieß ihn mit einer Geste zu warten; dann, nachdem er selbst durch die Kontrolle gelassen worden war, trat er an die kleine Tür neben dem Schalter, auf dem SECURITY stand, und wurde nach einer kurzen Frage durch den Türspalt eingelassen. Yuri sah geduldig diese Tür an, bis sie sich kaum zwei Minuten später wieder öffnete. Jin kam zu ihm zurück und gab ihm wortlos ein kleines flaches Büchlein in die Hand, kleiner als seine Handfläche, mit wenigen Seiten zwischen zwei harten Deckeln. Mit einem Stempel der Polizeibehörde.

»Dein Pass«, sagte Jin. »Pass gut darauf auf.«

»Mach ich.« Yuri verbrachte nach der Kontrolle noch mehrere Minuten damit, das nagelneue Dokument von allen Seiten zu betrachten und dabei mehrmals fast mit anderen Reisenden zusammenzustoßen, bis Jin und Dante ihn wortlos mitschleiften.
 

Mit dem Gepäck verhielt es sich ähnlich komplex. Die Röntgenstrahlen offenbarten sehr wohl, was sie da für Schlachtwerkzeuge mit sich herumschleppten und aus den USA zu exportieren gedachten, doch auch hier machte der Stempel das Gesetz. Nach anfänglichem Stirnrunzeln wurden die Drei hastig durch die Absperrung gewinkt wie Vollstrecker eines Geheimdienstes.

»Geht das so weiter? Ich hab keinen Bock mehr«, nörgelte Yuri, als sie die nächste Etappe vor sich hatten.

»Wenn du weiter quengelst, geben wir dich als Gepäckstück auf«, versetzte Dante, zwar frivol wie immer, aber gleichfalls genervt.

Nur Jin war tiefenentspannt. Sicher war er schon sehr oft auf diese Art gereist und kannte das alles auswendig.

Die letzte Kontrolle war so ziemlich das Unangenehmste, was Yuri je auf einer Durchreise erlebt hatte. Die Leute gingen ihm mit einem kleinen Gerät auf den Sack, das Metall hasste. Erst war Yuri noch eingeschüchtert und ganz brav, aber schließlich konnte er den Umstand, dass er völlig überfordert war, nicht mehr geheim halten. »Wieso muss ich hier alles ausziehen?«, fragte er ungehalten, doch es klang eher weinerlich.

»Sie könnten Waffen dabei haben«, erklärte ihm die junge Dame zum zehnten Mal mit einer Engelsgeduld.

»Ja, wir haben ja auch Waffen dabei! Unsere ganzen tausend Waffen sind in den Reisetaschen!«

»Und nur da dürfen sie mitfliegen«, erwiderte sie liebenswürdig. »Nicht bei Ihnen in der Kabine.« Sie glaubte offenbar, dass er sie verarschen wollte.

Das Gerät schlug schon wieder an. Seufzend zog Yuri die magische Taschenuhr hervor und ließ sie zu seinem Mantel in die Plastikkiste auf dem Band fallen.

Es piepte immer noch. »Oh Mann, was will das Teil?« Er griff wieder in die Hosentasche und fand eine uralte Zunderbüchse. Augenrollend warf er sie zu dem anderen Krempel.

Sein nächstes Zielt fand das Gerät an Yuris Taille.

»Im Ernst, die Gürtel auch?«

»Ja, bitte abnehmen. Alle.«

»Oh, Leute. Ich mache das nie wieder.«

Er gehorchte widerwillig und blickte zu Jin hinüber, der die Prozedur seelenruhig über sich ergehen ließ. Die anderen schienen schon im Voraus gewusst zu haben, was sie ablegen mussten. Sie hätten ihn wenigstens vorwarnen können.

Die manuelle Kontrolle bildete den Abschluss. Sie war an sich nicht schlimm: Yuri war schon von ganz anderen Typen begrabbelt worden und hielt artig still, in der Hoffnung, danach entlassen zu werden.

Nichts da.

Der Sicherheitsbeamte, der ihn abgetastet hatte, hieß ihn mit einer Geste zu warten, dann zog er aus einer Tasche einen etwa fingerlangen Papierstreifen, befreite ihn von einer feinen Folie und wischte damit kommentarlos einmal über Yuris Stirn.

»Sagt mal, was soll das eigentlich? Ich will das Flugzeug nicht in die Luft jagen!«

»Drogentest«, brummte der Beamte, betrachtete einen gefärbten Strich auf dem Papier und zog die Brauen zusammen, als wollte er dem Testergebnis nicht ganz glauben.

»Sauber?«, fragte die Dame vor dem Monitor gelangweilt.

Der Mann nickte grimmig und schob Yuri an der Schulter vorwärts, zum Ende des Bandes. Hinter ihm erhob sich ein Chor erleichterten Aufseufzens.

Yuri sammelte seine Habe wieder ein und betrat den Boarding-Bereich, wo die anderen auf ihn warteten.

»In den Staaten haben sie die Kontrollen wirklich extrem verschärft«, bemerkte Jin, der sein technisches Equipment wieder verstaut hatte und nun noch seine Armbanduhr wieder umlegte. »Bei meinem Abflug in Tokyo waren sie laxer. Gab es denn früher keine entführten Flugzeuge?«

Gleichmütig gab Dante zurück: »Doch, aber früher fanden es die Leute noch nicht okay, dass man ihnen an die Klöten packt.«

Yuri verkniff sich den fälligen Kommentar, dass ihm das nicht zum ersten Mal passiert war, und schaute sich um: Vor ihnen lag eine weitere Halle, kleiner als die vorherige, sauber und schick, mit kleinen niedlichen Läden. Die hatten hier beim Bauen an alles gedacht. »Sind wir etwa durch?« Er konnte es gar nicht glauben.

»Ja, wir sind durch.«

»Wir haben die dreißigtausend Kontrollen hinter uns? Yeah! Können wir jetzt ins Flugzeug?«

»Wir werden aufgerufen, wenn es Zeit wird.« Jin musterte Yuri prüfend, als gäbe es irgendwas Interessantes an ihm, dann schlug er vor: »Lasst uns noch was Kaltes trinken, bevor wir an Bord gehen.«

»Oh ja. Super.« Yuri war fast egal, was jetzt kam, Hauptsache kein Anstehen und Durchchecken mehr. Er streckte sich munter und registrierte dann, dass Jin und Dante ihn immer noch so merkwürdig ansahen. »Ähm. Ist was?«

»Nein. Du kommst nur erstaunlich gut mit allem zurecht«, sagte Jin wohlwollend.

»Ich bin total anpassungsfähig«, erklärte Yuri etwas misstrauisch. Sie starrten ihn immer noch so an.

Als sie sich an einen der langweiligen stahlgrauen Tische gesetzt hatten, an denen wartende Reisegäste die Zeit totschlugen, stand Jin auf, um die Getränke zu ordern. Dante hatte aufgehört, Yuri zu beobachten, schaute in die Gegend und sagte nichts.

Yuri entspannte sich. »Halt mal die Stellung, Großer, ich geh noch mal pinkeln.«

»Ja, prima, troll dich.« Dante wirkte jetzt wieder unberührt von der ganzen Welt, als ginge ihn nichts von alldem, was rundherum passierte, etwas an.

Yuri verzog sich auf die Toilette (luxuriös, sauber, schick, und die Hände trocknete man mit einer Air Blade, die die Hände wirklich trocknete – was es nicht alles gab!) und kehrte dann zurück, wo auf dem hässlichen Tisch nun drei hübsch ziselierte Limonadengläser standen. Jin und Dante sahen ihm erwartungsvoll entgegen.

»Das ist deins«, sagte Jin ruhig und schob ihm eines der Gläser zu. »Es ist Eistee, kalter Früchtetee. Ich dachte, das würdest du mögen.«

»Nett von dir. Danke.«

Als er den ersten Schluck nahm, der kühl und fruchtig durch seinen Rachen flutete, bemerkte Yuri wieder die schlecht verhohlenen, neugierigen Blicke seiner beiden Gefährten. Angefressen fragte er sie: »Sagt mal, was ist los mit euch? Hab ich Hasenohren, oder was?«

»Hast du nicht gesagt, du hättest Flugangst?«, fragte Dante.

»Woher soll ich das wissen, wenn ich noch nie geflogen bin? Ich hab nur gesagt, dass ich mit Schiffen nicht klarkomme und mit Eisenbahnen auch nicht so, und es könnte sein, dass ich Flugzeuge auch nich’ so …« Hinter seiner Stirn begann es leicht zu kreiseln. Seltsam. Stimmte da irgendwas nicht? »… nich’ so gut … warm werde.« Schnell nahm er noch einen großen Schluck und musste sich Mühe geben, ihn nicht in den falschen Hals zu bekommen. »Oh, Leute … was ist denn da bitte drin …?« Seine Muskeln machten nicht mehr so richtig mit, und gegen seinen Willen sank seine Wange auf die Tischplatte. Er sah noch, dass Jin und Dante einen Blick tauschten und sich ihren eigenen Getränken zuwandten. Dann wurde alles schwummerig, ruhig und nett.

Akt VI - Der Zug: 10-1

10-1: DANTE
 

Das Atravet hatte gewirkt. Yuri würde diesen Flug in seichtem Halbschlaf verbringen und keinerlei Gelegenheit haben, irgendeine latente Flugangst in sich zu entdecken.

Mit triumphierendem Blick ließ Dante lässig die kleine Tube, die er bis eben auf dem Schoß versteckt hatte, wieder in der Manteltasche verschwinden. Jin, der sehr skeptisch gegenüber der Idee gewesen war, wirkte zufrieden mit dem Resultat.

Bereits vor der Abreise hatten die beiden sich über diesen Plan kurzgeschlossen. »Wenn Yuri Luftkrankheit oder Flugangst entwickelt«, hatte Jin bemerkt, als ihr dritter Mitstreiter gerade in der Küche nach weiterem Popcorn suchte, »können zehn Stunden sehr lang werden.«

»Entspann dich, das hab ich im Griff«, erwiderte Dante und förderte aus einer Schreibtischschublade das Atravet zutage. »Wenn wir in der Abfertigungshalle unseren letzten Drink nehmen, kriegt er was hiervon.«

Natürlich war Jin misstrauisch, nahm ihm die Tube ab, schraubte sie auf und drückte sie, bis die klare, honigfarbene Paste hervortrat. »Was ist das?«

»Ein Beruhigungsmittel. Aber ich benutze es fast nie.«

Jin stutzte, drehte die Tube und las im Halbdunkel, was darauf stand. »Das ist … für Tiere.«

»Ja. Eignet sich gut für Wachhunde, die Grundstücke bewachen oder Lärm machen könnten. Gehen total ab auf das Zeug. Sollte auch bei Menschen wirken … aber nicht bei Teufeln, also nicht für deine Therapie geeignet.«

Jin machte den Mund auf und wieder zu und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Guck nicht so. Er wird nichts mitkriegen, bis wir in Wales sind. Kann doch nur in seinem Sinne sein.«

Ihm war klar, dass er nie Jins Zustimmung für dieses kleine Attentat, das Yuris Vertrauen in seine Verbündeten untergrub, bekommen würde, aber es kam auch kein Protest mehr. Und als es schließlich an der Zeit war, die Rotznase kalt zu stellen, zeigte Jin sich sogar kooperativ, indem er vorschlug, etwas zu trinken zu besorgen, und damit die einzig mögliche Gelegenheit schuf, die sich in einer Flughalle überhaupt ergeben konnte.

Als Yuri zu den Toiletten verschwunden war, kam Jin mit den Getränken zurück, stellte sie vor Dante ab und sagte auffordernd: »Du wolltest ihn doch betäuben. Hier, beeil dich.« Ihre Misshelligkeit schien vergessen. Also war sogar Jin zu gewissen Gemeinheiten zu motivieren, wenn nichts anderes zu Gebote stand.

»Er muss es nicht wissen«, erwiderte Dante bedeutungsvoll, als er die Tube über einem der Gläser aufschraubte. »Jedenfalls noch nicht.«

Jin erwiderte seinen Blick in stiller Übereinkunft.
 

Eine Viertelstunde später bugsierten sie Yuri halbwegs liebevoll über die Gangway ins Innere der Boeing 737-700 von United Airlines. Es war eine ziemlich kleine Maschine, aber Eastport City war nun einmal kein Metropolenflughafen. Wie zuvor festgelegt schoben sie Yuri auf den Fensterplatz, wo er sich brav zusammenrollte, und Jin setzte sich neben ihn, in die Mitte der Dreierreihe, schnallte ihn an und hatte ein Auge auf ihn. Dante, der das Gefühl nicht los wurde, sie beide im Auge haben zu müssen, fand seinen Platz im Gang sehr angemessen, machte er ihn doch zu einem schwer überwindbaren physischen Hindernis für die Beiden – oder für die Flugzeugcrew.

»Ready for take-off«, war das Signal, das die Maschine endlich in Bewegung setzte. Die meisten Passagiere gaben sich unbeeindruckt bis offen gelangweilt; viele trugen Anzüge oder zumindest ordentlich gebügelte Hemden und lasen die Times, die am Eingang ausgegeben worden war. Ein reiner Business-Flug, Routine für die meisten an Bord. Dante sah zwei oder drei Kinder, die sich die Nasen an den Bullaugen plattdrückten, ein aufgeregtes Seniorengrüppchen im vorderen Teil und nicht weit weg ein kuschelndes junges Paar, das in England vermutlich eine Menge vorhatte. Entsprechend wenig Aufmerksamkeit erhielt das Personal bei der routinemäßigen Sicherheitseinweisung. Kaum jemand schaute hin. Außer Jin natürlich, den seine angedrillte Höflichkeit durchs Leben dirigierte. Yuri schlummerte friedlich an die Bordwand gelehnt und sabberte gegen die Scheibe. Auch an ihn war jede Mühe verschenkt.

Dante war tatsächlich sehr lange nicht mehr geflogen und beobachtete alles mit einem gewissen Wohlwollen. Vor allem gefiel ihm das interessante Gefühl, als sich die voran rasende Maschine plötzlich vom Boden löste und wie mühelos alles unter sich zurückließ. Sobald sich jedoch alles beruhigt hatte, wurde der Flug ziemlich langweilig.

Dante sah zu Jin, der irgendetwas auf seinem Telefon las. Von ihm zumindest ging keine Gefahr aus, er war sichtbar entspannt, und die schwarzen Ponyfransen fielen locker über seine nach unten gewandten Augen, deren Brauen jetzt buschige Bögen waren und keine schmalen Sägeblätter, die einem den Weg in die Hölle zeigten. Zwar ließen Jins Züge wie üblich wenig Emotion erahnen, doch sie waren auch frei von der ebenso gut bekannten mühsam verhohlenen Wut, die sich gelegentlich Bahn brach.

Dante schaute wieder beiseite und seufzte theatralisch. »Fliegen ist nicht wie in Filmen, hm? Keine Erdnüsse, kein Tomatensaft und keine leicht bekleideten Stewardessen. Klischees verfehlt.«

Jin nickte nur, ohne aufzusehen. Dante fragte sich, wie Menschen ohne Humor überleben konnten. Das schien Jins Superkraft zu sein. »Wenn wir die korrekte Flughöhe erreicht haben, werden sie bestimmt einen Film zeigen. Bis dahin … Lies die Zeitung, oder was auch immer.« Offensichtlich war das genau das, was Jin gerade tat: die Zeitung lesen, nur auf seinem Handy. Dante sah nur japanische Schriftzeichen auf dem Display und fragte sich, wie man jemals alle davon auswendig lernen konnte. Er hatte gehört, dass Kinder in Japan erst mit zehn Jahren eine Zeitung lesen konnten, da sie erst dann genügend Zeichen verstanden, um den Aufbau der Sätze zu begreifen. Das war doch irgendwie nicht normal. »… Oder schlaf einfach, wie Yuri, oder bestell dir was zu trinken.« Jin schien es nicht zu mögen, wenn man zusah, was er las, auch wenn man nichts davon verstand.

»Gibt es hier auch Getränke mit Kohlensäure?«

»Natürlich. Wir sind im Flugzeug, nicht im Weltraum.« Jin klappte das Telefon zu und steckte es weg. »Warst du schon mal in New York?«

»Sicher. Mich haben Aufträge schon an viele verschiedene Orte geführt. Aber eigentlich reise ich nicht gern.«

»Nicht mal dann, wenn dein Auftraggeber die Kosten trägt?«

»So wie jetzt, meinst du?« Dante legte die Arme im Nacken zusammen und erwiderte gleichmütig Jins fragenden Blick. »Nein. Weil … ach, weil ich faul bin. Ich mag es, wenn ich einen Auftrag schnell und möglichst ohne viel Mühe erledigen kann. Was bei den meisten auch der Fall ist.«

Jin schüttelte verständnislos den Kopf. »Du bist überhaupt nicht … neugierig?«

»Nicht wirklich.« Dante fragte sich selbst, warum das eigentlich so war. Warum ihn die Welt oft derart langweilte. Obwohl sie, wenn man den großen Denkern glaubte, doch voller Wunder sein sollte. Als Kind war er nicht so gewesen. »Meine Neugier muss man erst wecken.«

Jin betrachtete ihn skeptisch. »Dann verstehe ich, warum dein Name nicht bekannter ist«, sagte er. »Bei dem, was du leisten kannst – schnell und ohne Mühe, wie du sagst –, müsstest du mehr als nur ein Geheimtipp sein. Dann würden weit mehr exotische Gäste wie ich um deine Hilfe bitten und dir viel mehr dafür anbieten. Aber du willst es gar nicht.«

Darauf brachte Dante nicht mehr als ein Schulterzucken zustande. »Es gibt wenig Materielles, das mir was bedeutet. Ich hab viel Begeisterungsfähigkeit verloren, als – du weißt schon, als ich meinen Rachefeldzug antrat. Das ging dir doch genauso, stimmt’s? Du bist drauf eingeschossen, irgendjemanden für das bezahlen zu lassen, was dir und deiner Mutter angetan wurde. Was du dafür opfern musst, bedeutet dir nichts. Auch dein plötzlicher Reichtum bedeutet dir nichts. Dass du jetzt Chef dieser Firma bist, ist dir völlig egal. Nichts davon hat irgendeinen Wert für dich. Und genauso hat mein Geschäft keinen Wert für mich – ich bin nur froh, wenn ich ein Stück von dieser Brut zurück in die Hölle schicken kann, und ob ich dafür einen feuchten Händedruck, zehn Dollar oder ein Strandhaus in Miami Beach kriege, ist mir vollkommen egal.«

Jins zuerst noch ertappte Miene veränderte sich, und er gab so etwas wie ein verhaltenes Lachen von sich. Jin hatte die Fähigkeit, beim Lachen seine Mundwinkel an Ort und Stelle zu belassen, aber das Geräusch dahinter war weich, wie Erde nach dem Regen.

»Nanu, du kannst lachen?«

»Was? Natürlich kann ich lachen.«

Schade, schon hatte er das zarte, scheue Tier, das Jins Humor war, wieder in den Wald gescheucht.

Nüchtern fragte Jin: »Wenn das alles bedeutungslos ist, was sollte dann Bedeutung haben? Für dich und mich?«

»Hmm. Werte.« Dante antwortete ohne zu überlegen. »Moral. Fairness. Das Ethos des Ehrenhaften … Oh, hab ich das wirklich gerade gesagt?«

»Aber was soll Moral einem nützen?«, fragte Jin verständnislos.

»Moment, Kazama. Du musst aufpassen. Werte unterscheiden dich von den Typen, die du hasst. Vergiss das nicht.«

Jin rieb sich mit dem Handrücken die Stirn. »Meine Mutter wollte auch immer, dass ich das verstehe. Aber das habe ich nie.«

»Wie alt warst du, als sie starb?«

»Fünfzehn.«

»Fast doppelt so alt wie ich, als meine starb. Ich glaub, mit fünfzehn nimmt man nicht mehr jedes Wort der Mutter als göttliches Gesetz hin, sondern hinterfragt es. Normal. Ich war noch nicht so weit, als ich meine verloren habe. Für mich ist das, was sie mir beigebracht hat, bis heute Gesetz. Aber du hast Zweifel. Das ist okay, aber … wenn du dir nicht im Klaren bist, ob du ein guter oder ein schlechter Kerl sein willst, ob du fair kämpfst bis zum Schluss oder ob du Andere mit reinziehst, wenn du verzweifelst … dann hat sie irgendwas falsch gemacht.«

Jin schwieg. Sein Blick war forschend, aber seltsam in sich gekehrt.

»Ich muss aufhören zu reden«, stellte Dante fest. »Ich schwadroniere wie ein alter Sack.« Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und legte sich demonstrativ den Arm über die Augen, was nicht bequem war, aber Jin signalisierte, dass er den Mund zu halten hatte.
 

Als sie über den Wolken flogen, spiegelte sich das Sonnenlicht auf den genieteten Tragflächen und sandte blitzende Reflexe ins Innere der Kabine, die aber zumindest Yuri bei seinem komaartigen Tiefschlaf keineswegs zu stören schienen. Allmählich fragte sich Dante, ob er ihm vielleicht zu viel Atravet in den Tee gemischt hatte. Oder ob Yuri das Zeug einfach nicht vertrug. Schließlich war er schon nach zwei Schlucken abgekippt, was ziemlich bedenklich schien. Andererseits konnte sein Zustand nicht ernsthaft gefährlich sein, denn die tiefen, ruhigen Atemzüge ließen darauf schließen, dass er nicht bewusstlos war, sondern nur … verdammt gut schlief. Wenn alles ganz still war, konnte man aus seiner Manteltasche sogar ganz leise das Ticken der magischen Uhr vernehmen.

Die Flugroute führte, unschwer zu erraten, einmal quer über den Nordatlantik. Selbst wenn man aus dem Fenster schaute, bot sich keinerlei Fixpunkt, nichts Interessantes. Schon wegen der Wolkenmassen, die sich naturgemäß über jedem Meer dahinwälzen, war die Aussicht noch eintöniger als das Innere der Maschine.

Kurze Zeit später wurde, gemäß Jins Prophezeiung, ein Film gezeigt: Bloodline, ein alter Krimi mit Audrey Hepburn und einer Schar weiterer berühmter Schauspieler im Gefolge. Etwa nach der Hälfte murmelte Jin: »Ich verstehe vieles nicht. Die sprechen sehr undeutlich.« Aber er bat Dante nicht um eine Zusammenfassung des Geschehens, und Dante gab ihm auch keine.

Als es vor den Fenstern allmählich dunkler wurde und die Nacht hereinbrach, verebbten auch die letzten leisen Gespräche. Hier und da beklagte sich noch quengelnd ein Kind darüber, dass sein Kuscheltier unter den Sitz gefallen war, und wenige Leselampen über einzelnen Plätzen blieben angeschaltet. Ansonsten versuchten die Leute tatsächlich, die vor ihnen liegenden Nachtstunden bis zur Landung mit Schlaf zu überbrücken. Nun, wer es bequem haben wollte, der flog wahrscheinlich auch nicht Economy Class. Die meisten Typen an Bord waren den mangelnden Komfort gewöhnt: Sie würden nach dem Aussteigen routiniert die nächste Herrentoilette aufsuchen, das Hemd wechseln, eine Handvoll Rasierwasser ins Gesicht klatschen und dann ausgeschlafen zum Meeting erscheinen. Geschäftsleute.
 

Dante stellte fest, dass er wohl auch vor Langeweile eingeschlafen sein musste, denn er wachte auf, als begleitet vom bekannten Signalton die Symbole zum Hinsetzen und Anschnallen aufleuchteten. Die Lichter über den Sitzen sprangen flackernd an, und der Kapitän meldete in munterem Ton, dass er nun in den Landeanflug überging.

Die Flugbahn senkte sich spürbar. Als Dante über Jin hinweg zu Yuris Fenster sah, glitten sie gerade durch die undurchsichtige Wolkenschicht nach abwärts. Nur die blinkenden Lichter an den Tragflächen offenbarten dies, alles andere lag noch immer in völliger Dunkelheit.

Die Stewardessen begrüßten die Passagiere zuckersüß und verteilten Zeitungen – diesmal The Guardian. Jin bestellte sich einen Kaffee und befand, dass er fürchterlich war, er aber nichts anderes erwartet hatte. Dante trank den Rest und sagte Jin, dass er seine Meinung teilte. Schon hatten sie beide keine hohen Erwartungen mehr an England.

Unter den Wolken regnete es. Auch das entsprach den Erwartungen. Als immer mehr Tropfen geräuschvoll gegen die Fenster prasselten, wachte Yuri auf.

»Holla. Was war denn das?« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das mausbraune Haar und streckte sich ausgiebig, wobei Jin seiner Faust ausweichen musste. »Sind wir … sind wir im Flugzeug?« Schon drehte er sich auf dem Sitz um und kroch halb über die Lehne, um sich in der Kabine umzuschauen.

Amüsiert sah Dante zu, wie Jin Yuri wieder auf seinen Sitz zog und ihn anschnallte wie einen sich daneben benehmenden Dreijährigen. »Ja, du siehst ein modernes Flugzeug von innen«, sagte er geduldig. »Wir landen gleich. Bitte sei ruhig.«

Fürs Erste blieb Yuri sitzen, klebte allerdings fasziniert am Fenster und starrte lange Zeit auf die völlig einförmigen Regenschleier inmitten der Finsternis, die das Flugzeug umgaben.

Schließlich konnte Dante nicht mehr widerstehen. »Hyuga, mal ehrlich … Du hast gar keine Flugangst, oder?«

»Nö. Ich weiß, wie die Welt von oben aussieht. Ich hatte nur … Bedenken, wegen … Schiffen.«

»Oh.« Zum Glück wirkte das Atravet auch dämpfend auf jede Art von Kotzreiz. Hatte zumindest der Tierarzt gesagt.

»Aber jetzt geht’s mir gut. Wirklich, ich fühl mich großartig. Wann gibt’s Frühstück?«

Jetzt merkte Dante, dass sie dem Erdboden schon ganz nahe waren – er sah die Lichter des Flughafens unter dem Fenster. Die Maschine lag auf der Seite. Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass sie zu steil hereinkamen. »Festhalten«, verkündete der Pilot, kurz bevor er durchstartete und den Flieger wieder hochzog, was den Passagieren ein überraschtes Ächzen entrang.

»Was machen die denn?«, fragte Yuri und klammerte sich kurzzeitig an die Armlehnen.

Der Pilot entschuldigte sich für den Go-Around und begann den Anflug erneut.

Misstrauisch beobachtete Dante die sich wie aus dem Nichts auftürmenden, tief liegenden Wolken, die die Lampen der Landebahn unter ihnen immer mehr verdeckten, bis sie nur noch wie matte Irrlichter durch Nebel schimmerten. Die Herausforderung für den Kapitän wurde mit jeder Sekunde größer.

Jin beugte sich zu ihm. »Siehst du das? Jemand oder etwas will nicht, dass wir sicher landen.«

»Was du nicht sagst«, raunte Dante zurück.

Yuri starrte fasziniert aus dem Fenster; noch hatte er die Besorgnis in den Gesichtern der anderen Passagiere nicht bemerkt. Diese Leute flogen, im Gegensatz zu ihm, sehr häufig und hatten längst erkannt, dass hier etwas nicht stimmte.

Wieder versuchte der Pilot zu landen, und wieder musste er durchstarten, als ein kräftiger, rüttelnder Wind die Maschine anschob. Diesmal bekam er sie kaum wieder nach oben.

Dantes sah etwas leuchtend Rotes am Fenster vorbei zischen, etwas, das sicher kein wegweisendes Licht war.

»Jin«, sagte er leise zu seinem Nachbarn. »Er hat dein Blut. Sarris, meine ich.«

»Was?« Jin sah inzwischen sehr beunruhigt aus. »Wovon redest du?«

»Von dem Ritualdolch. Da klebte bestimmt genug dran.«

Endlich verstand Jin. »Du hast Recht. Wir müssen was tun.«

»Die Frage ist, was. Wir können schlecht aus dem Flugzeug klettern wie Superman und das Ding auf den Boden setzen.«

Das Flugzeug schlingerte hart, und ein Kind in der hintersten Reihe quietschte auf.

»Bitte bleiben Sie unbedingt angeschnallt«, ließ der Pilot aus dem Cockpit verlauten. Seine Stimme klang gefasst. »Wir haben es mit unerwarteten Turbulenzen zu tun. Kein Grund zur Aufregung.«

»Kein Grund zur Aufregung mein Arsch«, knurrte Yuri, die Fingerknöchel weiß vom Festkrallen. »Hey, Sarris war vor uns hier und will verhindern, dass wir nach Wales kommen – ist euch das klar?«

In Dantes Hirn arbeitete es. Sarris konnte weder sicher sein, dass sie ihm nach Wales folgten, noch konnte er wissen, mit welchem Flugzeug sie kamen und wo sie landen würden. Wenn er für das hier verantwortlich war, dann … »Energiespuren«, sagte er stirnrunzelnd. »Oder so was Ähnliches. Das ist die einzige Erklärung. Als ich mich auf Mallet Island zu Mundus’ Thronsaal durchgeschlagen habe, sind alle seine Wächter auf mich aufmerksam geworden und haben mir aufgelauert. Sie kannten das Blut meines Vaters.«

»Treffer, Alter. Sarris hat an der Küste irgendwas platziert, das anspringt, wenn wir auf der Insel landen wollen«, bestätigte Yuri.

Jin korrigierte: »Wenn ich landen will. Er hat nur mein Blut … wegen des Rituals.«

Die Drei beobachteten, wie der schwarze, wabernde Dunst, der das Flugzeug umgab, sie ansah: Zwei rote Punkte schwammen in der beinahe flüssigen Dunkelheit. Die Lichter des Flughafens schienen fern wie Trugbilder.

Die Passagiere tuschelten aufeinander ein, bemühten sich, die Ruhe zu bewahren.

»Es wird verschwinden, wenn ich verschwinde«, erklärte Jin ruhig. »Erst dann können wir landen.«

»Ach, und was hast du vor?«, fragte Yuri in bissigem Ton. »Raushüpfen?«

»Ich werde mein chi unterdrücken. Wenn ich es gut mache, genügt das vielleicht.«

»Dein – oh, okay.« Yuris Miene zeigte Verständnis, und er nickte brav. »Versuch das.«

Dante hatte rein gar nichts verstanden. Was unterdrücken? Er für sein Teil war kurz davor, tatsächlich aus diesem jämmerlich herum schaukelnden Flieger zu springen und einzugreifen, auch wenn er die starke Vermutung hatte, dass er nicht so einfach herauskäme. Von hier drinnen aus konnte er jedenfalls nicht viel gegen diese ungnädigen Nebelwalzen tun. Dann allerdings fiel ihm ein, dass ja alle seine Waffen irgendwo anders waren – und nicht in Reichweite. Mist.

Er sah neben sich zu Jin, der sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Er atmete nur noch langsam. Es schien, als würde sich sein ganzes Sein in ihn zurückziehen, sich auf einen einzigen Punkt konzentrieren, der sich ganz tief in seinem Innern befand. Nach wenigen Momenten hob er wie in Trance die rechte Hand und legte sie sich über die Stirn. Handfläche nach außen.

Vor dem Fenster blitzte es rot.

Die Fluggäste waren jetzt so unruhig, dass ihre aufgeregten Gespräche die Kabine mit auf- und abschwellendem Stimmengewirr erfüllten, das zunehmend hysterisch klang. Zwei Stewardessen standen im Mittelgang und hielten sich an den Sitzen fest; ihre Gesichter waren kalkweiß, die Blicke hektisch.

Dante sah abwechselnd aus dem Fenster und auf Jin, der jetzt still wie ein Stein war. Er verstand nicht viel von meditativen Techniken – das war einfach nicht sein Ding –, doch er vermutete, dass Kampfkunstexperten, wie Jin einer war, damit ihre Kräfte zusammenzogen, sie versammelten, um sie dann auf einen Schlag zu entfesseln und den Gegner damit zu überrollen. Bam. Ein Finishing Move.

»Da, es haut ab!«, hörte er Yuri sagen.

Dante drehte den Kopf. Alle starrten wie gebannt aus dem Fenster, wo die schummrige Düsternis sich ganz allmählich zu verflüchtigen begann. Die roten Irrlicht-Augen waren bereits nicht mehr zu sehen; schwarze Nebelschwaden zogen hier und dort beiseite, und hinter ihnen tauchte wieder die ganz gewöhnliche Finsternis der Nacht auf, eine klare, durchsichtige Finsternis, durchdrungen von Lichtern aller Größen, Formen und Farben. Nur wenige Sekunden später lag das Flugzeug wieder ruhig in der Luft. Die Landebahn strahlte unter ihnen.

»Verehrte Fluggäste, wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten«, brummte es aus den Lautsprechern. »Wir werden in Kürze in Birmingham landen.«

Das Flugzeug ging ohne jegliche Schwierigkeiten nieder. Unter den Wolken regnete es weiter lange Fäden.

Erst als die Räder hart auf dem Asphalt aufsetzten, schlug Jin die Augen auf und bedachte seine Umgebung mit dem gewohnt düsteren Blick, ehe er ohne ein weiteres Wort den Sicherheitsgurt löste.

Sie waren in England angekommen.

Akt VI - Der Zug: 10-2

10-2: YURI
 

Birmingham empfing sie dunkel, kalt und nass.

Yuri stolperte allen voran die Gangway hinunter und hinein in das Flughafengebäude, wo die Regentropfen laut an die großen Fensterfronten trommelten. Seine Knie waren noch ziemlich wabbelig; keine Frage, Jin und Dante hatten ihn mit irgendwas ausgeknockt, weil er seine Anfälligkeit für Seekrankheit erwähnt hatte. Hätte er mal die Klappe gehalten. Ihm hätte klar sein müssen, dass den beiden keine intelligentere Lösung einfiel, als ihm irgendwas in den Drink zu kippen. Arschlöcher.

Aber egal, jetzt gab es Wichtigeres. Yuri schlängelte sich durch den bunten und lauten Menschenstrom in eine große Halle, wo mehrere schwarze Laufbänder ihre Runden drehten – er sah, dass auf ihnen Koffer vorbeirollten und wie die umstehenden Leute danach griffen und sie herunterzogen. Offenbar bekam man auf diese Weise sein aufgegebenes Gepäck zurück. Wow. Egal, das konnten Jin und Dante machen. Die ließen sich sowieso Zeit da hinten. Yuri suchte etwas anderes.

Wenn der Irre aus der Kirche geplant hatte, sie hier auf seine Weise willkommen zu heißen, dann langte es nicht, irgendwo an der britischen Küste ein paar schwarzmagische Runen an die Klippen zu schmieren. Sarris hatte ein Grimoire benutzt, und das war eindeutig Neuland für ihn. Er hatte gewusst, dass sie wissen würden, dass er in Wales war, und ebenso, dass sie nicht in Cardiff, sondern in Birmingham landen würden – vielleicht, weil das von Dantes Wohnort aus die naheliegendste Verbindung war. Oder er hatte einfach geraten. Oder gleich beide Orte präpariert. Wie auch immer, scheißegal: Er hatte hier den Beschwörungszauber ausgelegt, der, sobald Jin sich diesem Ort näherte, aktiv wurde. Wenn man im Leben genug Hexenmeister bekämpft hatte, wusste man irgendwann, wie die tickten.

Yuri schnaubte verächtlich, als er an den Terminals vorbei eilte. Gut, dass er rechtzeitig wieder zu sich gekommen war. Die beiden Anderen hatten keine Ahnung, leider. Hier brauchte es jemanden, der sich mit dem Scheiß auskannte.

Leider war Birmingham ein wesentlich größerer Flughafen als der in Eastport; so viele Schilder, so viele Lichter, so viele Wege, so viel Reklame – so viel Kram, der einen ablenkte. Vor allem viel zu viele Menschen. Yuri blendete alles aus, was ihn durcheinander brachte, blieb mitten in der Halle stehen und konzentrierte sich. Er musste dorthin, wo die Flugzeuge landeten. Gut. Wo war das? Aha. Genau gegenüber sah er die riesige Fensterfront, eingenommen von bestuhlten Tischen kleiner Lokale, deren Gäste die Flugzeuge beobachteten, die mit blinkenden Lichtern an den Scheiben vorbeirollten. Im Dunkeln wirkten ihre riesenhaften, metallischen Gestalten bedrohlich, obwohl ihr Lärm das Innere des Flughafengebäudes kaum erreichte.

Na toll, dachte Yuri, angestrengt auf die Scheibe starrend. Wie zur Hölle komme ich da raus?

Sekunden später wusste er es.

Ein sechsköpfiger Trupp des Bodenpersonals, versehen mit leuchtend orangefarbenen Warnwesten, schloss eine ebenfalls gläserne Tür auf und eilte im Laufschritt auf die Rollbahnen zu. Der Grund dafür war unschwer zu erkennen, wenn man ihnen mit dem Blick folgte: Auf einer der Bahnen lagen Trümmer von … etwas, das im Weg war. Yuri setzte sich wieder in Bewegung und starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Scheibe, während er darauf zuhielt. Jetzt konnte er sehen, dass das, was da im Weg lag, der Kopf einer Lampe war. Er maß bestimmt einen Meter im Durchmesser und hatte im Sturz Teile seiner gläsernen Abdeckung überall im Umkreis verteilt. Bestimmt hatte er zu der wegweisenden Beleuchtung der Landebahn gehört, doch der Abwehrzauber, der mit seinen Stürmen und Nebeln das Flugzeug in der Luft gehalten hatte, schien auch auf dem Flugplatz gewütet zu haben.

Als Yuri merkte, dass er nichts mehr sah, weil sein Atem an der Scheibe beschlug, schickte er sich kurzerhand an, dem Aufräumkommando zu folgen. Die Glastür stand noch einen Spalt offen …

»He, Halt, Stopp, Sie dürfen dort nicht – …«

Er hörte es hinter sich verklingen, als er hinaus in den Regen joggte. Passte gut, dass er dunkel gekleidet war. Schnell hielt er auf den langen Schatten eines stehenden Flugzeugs zu; das beschäftigte Bodenpersonal hatte noch keine Notiz von ihm genommen. Von hier aus schlich er weiter in die Richtung, in der die Landebahn begann – dahinter war nur Wiese, zwei rote Lichter markierten den Anfang der asphaltierten Strecke.

Während er auf den schwarzen Asphalt starrte und ihm das Regenwasser von der Nase tropfte, sah er bereits die ersten schwarzen Striche unter seinen Füßen. Sie waren schrecklich schwer zu erkennen. Hier hatte Sarris getestet, ob das Farbgemisch gelungen war. Mit Erfolg: Die Nässe hatte keine der breiten Linien, die wahllos hingeschmiert aussahen wie ein Graffiti, auch nur im Mindesten beeinträchtigt.

Gut. Jetzt kam der schwerste Teil. Yuri sah noch einmal um sich. Er musste zum Startpunkt der Landebahn gelangen. Schnell. Entweder wurde er dabei von allen übersehen und lief Gefahr, von einem hereinkommenden Flugzeug plattgemacht zu werden (was er für unwahrscheinlich hielt bei all dem modernen Überwachungsschnickschnack), oder aber er blockierte den Flugverkehr für absehbare Zeit und erweckte in gewissen Ordnungshütern wieder einmal das Interesse, ihn zu schnappen und irgendwo einzusperren. Nun, darauf würde er sich bestimmt kein zweites Mal einlassen.

Yuri duckte sich und rannte los, auf die beiden roten Lichter zu, die den Beginn der Landebahn markierten. Sie kamen durch den Regenschleier schnell näher. Hinter ihm rief irgendjemand etwas, aber das war durch den Lärm leicht zu ignorieren.

Als der Asphalt endete, kam er schlitternd zum Stehen und ließ sich auf die Knie fallen. Direkt vor ihm waren die Runen – wie erwartet –, angeordnet in einem komplizierten Kreissystem mit mehreren Ringen und Speichen, die einen fünfzackigen Stern bildeten. Jedes Feld hatte seine eigene Bedeutung, aber welche, das entzog sich Yuris Verstand und war zum Glück auch völlig unwichtig: Er musste nur die Hauptlinien unterbrechen, damit der Bannkreis unwirksam wurde. Mit dem Ärmel rieb er das Regenwasser über die kohlschwarze Linie, von der er nur mutmaßen konnte, woraus sie bestand – aber dies konnte der Substanz nichts anhaben. War ja klar … Also anders. Er griff in die Innentaschen seines Mantels. Und zog sie leer wieder heraus. Ach, Kacke. Seine Waffen waren natürlich nicht da, sondern in Jins Reisetasche. Blut kam also leider nicht in Frage als Mittel der Wahl. Aber irgendetwas brauchte er, um die Linien zu unterbrechen …

… Und dann sah er unmittelbar neben sich eine kleine Pfütze, die erste von mehreren in einer Reihe, in der das Licht einen Reflex schillernder Farben zurückwarf.

Flugzeugtreibstoff.

Yuri betrachtete die bunten Schlieren und beschloss dann, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.
 

Eine Viertelminute später war er vollauf zufrieden, und seine Finger stanken nach Kerosin.

Nass wie ein Hund flitzte er zurück zum Gebäude – nicht zu der kleinen Glastür, denn dort waren eindeutig zu viele Leute; stattdessen umrundete er den Komplex bis zu einem der offiziellen Eingänge und schaffte es dort, relativ unauffällig durch mehrere Hallen zurück zu dem Terminal zu finden, an dem sie angekommen waren. Von wegen, die Security hätte ihn aufhalten wollen! »Sie dürfen da nicht hin« war etwas, das er schon viel zu oft gehört hatte. Umsonst. Auf diesem Ohr war Yuri taub – vor allem, wenn er etwas zu erledigen hatte. Also kehrte er einfach brav zurück und verhielt sich so, als hätte er nie etwas falsch gemacht. Das Sicherheitspersonal warf ihm strenge Blicke zu, als er vorüber trottete, hielt ihn aber nicht auf – wahrscheinlich, weil er nichts zerstört hatte (jedenfalls nichts für sie Bedeutsames), vielleicht auch, weil er auf Jin und Dante zuhielt, die wie seine wartenden Betreuer neben der Coffee-Shop-Theke standen.

»Hey«, begrüßte ihn Dante, während Jin ihn nur forschend ansah. »Wo warst du?«

»Ich hab aufgeräumt.« Yuri gesellte sich zu ihnen und nahm Jin einen der drei dampfenden Becher ab. Die dunkle Flüssigkeit roch nach Tee. Nach gutem, englischem Tee, wahrscheinlich von der Küste Ostindiens. Er nahm einen winzigen Schluck und verbrannte sich die Zunge.

»Wie viel verstehst du eigentlich wirklich von solchen Sachen?«

»Ähm – nur Theorie«, antwortete Yuri ernsthaft. »Ich kann nicht selber zaubern, bin zu …« … doof. »… unkonzentriert. Durch die Fusionssache. Geistig ausgelastet.«

Dantes Lächeln gab ihm zu verstehen, dass er Yuris geistige Auslastung schon lange regelmäßig einplante.

Jin nahm das Wort: »Es ist jetzt fünf Uhr siebzehn und unser Zug nach Wales fährt in gut zwanzig Minuten unten am Gleis ab. Die Fahrt nach Aberystwyth wird ungefähr drei Stunden dauern.« Wie als Rechtfertigung fügte er hinzu: »Der Zug ist langsam.«

»Gibt’s keinen schnelleren?«, fragte Yuri. Er hatte mittlerweile den Eindruck gewonnen, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert alles immer noch schneller, höher und weiter gehen konnte.

»Das ist nicht ein Zug«, antwortete Jin, »es ist der Zug.«

Nur ein einziger Zug nach Wales? Yuri sah in seinen Tee. Hier war die Zeit offenbar stehen geblieben. »Ich freu mich nicht besonders drauf, so lange im Zug zu hocken«, gestand er.

»Das hast du schon erwähnt«, sagte Dante. »Was stimmt mit dir eigentlich nicht? Wird dir in Zügen auch schlecht?«

»Nein«, beschied ihn Yuri säuerlich. »Nicht wenn ich in Fahrtrichtung sitze. Ich hab auch keine Angst, klar? Ich … mag Züge nur nicht.« Er hoffte sehr, dass Dante es dabei bewenden ließ. Über sein letztes Zugerlebnis wollte er nun wirklich nicht reden. Schnell nahm er einen weiteren großen Schluck Tee, der jetzt gerade so weit abgekühlt war, dass nicht seine ganze Mundhöhle taub wurde. Irgendwie kribbelte er trotzdem unangenehm – und dieser Nachgeschmack … »Leute, der Tee in eurer Zeit schmeckt ja schon ein bisschen komisch im Abgang, oder? … Oder?«

Oh Gott. Die Beiden sahen ihn schon wieder so an.

»Tees sind heutzutage fast alle aromatisiert«, sagte Dante freundlich. »Sag mal, wenn du Züge nicht magst, wäre es dir dann nicht lieber, wieder ein Nickerchen zu machen?«

Yuri schnappte nach Luft. »Nein, Mann! Ich hab’s geahnt! Wehe, ihr kommt auf die Idee, mir wieder – ! … Ach, Scheiße …« Seine Knie gaben unter ihm nach. »… Ich hasse euch … argh
 

Dieses Mal träumte er.

Das wurde ihm sofort klar, als das Chaos, das stets das Überschreiten der Schwelle zwischen Wachheit und Traum begleitete, langsam in den Abgrund zurück floss, aus dem es jedes Mal empor stieg.

Sehr schnell wusste er, wo er war. Er kannte diesen Ort so gut, als hätte er sein halbes Leben hier verbracht. Wie er hierher gekommen war, konnte er allerdings nicht erklären … Diesmal nicht.

Es waren doch nur Drogen gewesen …

Langsam setzte er sich in Bewegung. Durchquerte fast ehrfürchtig den Waggon, Reihe für Reihe der beidseitig angebrachten Sitzbänke hinter sich lassend.

Der Zug. Warum? Warum der Zug?

Er war schon einmal hierher zurückgekehrt, an diesen Ort, an dem Alice und er sich zum ersten Mal begegnet waren. Damals hatte er ihr – oder vielmehr seiner lebendigen Erinnerung an sie – gesagt, dass Roger und er versucht hatten, sie mit der Macht des Émigré-Manuskripts wieder zum Leben zu erwecken. Damals hatte er gewusst, dass sie hier auf ihn wartete, hatte es gespürt, wie er es jetzt spürte, hier in dieser so realen Illusion, in der er jeden Nagel in den Abteilwänden, jeden Kratzer auf den hölzernen Bänken genau erkennen konnte und in der seine Schritte und sein Atem die seltsame Ruhe füllten. Außer ihnen beiden war niemand hier. Nicht so, wie es in Wirklichkeit gewesen war.

Als er Alice zum ersten Mal gesehen hatte – voller Entsetzen, die zarten kleinen Hände vor den Mund geschlagen, ihr gegenüber Kardinal Albert Simon, drauf und dran, sie zu entführen –, war ihm vor allem eines an ihr aufgefallen: Sie war so zerbrechlich. Er hatte sie in dem Wissen gerettet, dass der Hexenmeister, der ihr gegenüberstand und zuvor Alice’ gesamte Eskorte hingemetzelt hatte, aufgehalten werden musste – von ihm, denn die Stimme in seinem Kopf hatte darauf bestanden, hatte an seiner Psyche gezerrt wie eine Schraubzwinge. Rette sie. Und schon hatten sie unter dem Vollmond am Rand der Gleise gekauert, er und sie. Am Anfang einer Reise, die sein Leben verändern sollte.

Sein Urteil, das Alice niedlich war, hatte er schnell revidiert. Sie war nicht niedlich, sie war stark und mutig und schwer vom Schicksal getroffen, wie er; sie war nur deshalb in diesem Zug gewesen, weil ihr Vater kurz zuvor ermordet worden war. Er erinnerte sich, wie sein vulgäres Auftreten sie anfangs eingeschüchtert hatte. Wie sie zusammengezuckt war, wenn er lachte. Wie grob er sie behandelt hatte, ohne ihr je irgendetwas Böses zu wollen. Instinktiv war er vor ihrer Reinheit in die Knie gegangen, nicht mehr fähig zuzulassen, dass irgendetwas, irgendjemand sie berührte. Sein Leben hatte sofort ihr gehört – und erst so viel später war ihm das klar geworden.

Immer noch machte er einen Schritt nach dem anderen. Er wusste, wo sie saß und auf ihn wartete.

Diesmal setzte er sich sofort neben sie.

Schweigend nahm sie seine Hand in ihre, zart wie ein Vögelchen aus Porzellan, sodass er sich nicht traute, seine Finger ebenfalls um ihre zu schließen. Sie waren kühl.

Er sah in ihr feines, helles Gesicht, umrahmt von weißblondem Haar, das wie Mondlicht aussah. Ihre ernsten, klugen Augen ruhten auf ihm mit derselben Unvoreingenommenheit wie damals.

»Ich bin zurück«, sagte er etwas hilflos.

»Das sehe ich«, erwiderte sie lächelnd. »Du kannst jederzeit hierher kommen.«

»Aber ich … Ich sollte eigentlich …« Er stockte.

»Ja, ich weiß. Du hast versprochen, zurückzukommen und nie wieder fortzugehen. Und trotzdem bist du jetzt nicht hier, um zu bleiben.« Es war kein Vorwurf. Sie war ihm nicht böse.

»Ich weiß, ich wollte wiederkommen, wenn … ich alles erledigt habe.« Aber offensichtlich habe ich nicht alles erledigt … Immer noch nicht … Er wusste nicht, wie er sich erklären sollte. »Alice, ich – ich bin schon wieder auf einer anderen Reise … Ich weiß nicht, warum das alles kein Ende nimmt …«

Sie lächelte immer noch. Ihr Daumen strich über seinen. »Wann es zu Ende ist, entscheidest du allein.«

»Ja … Vielleicht … Aber ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll … wie ich mich entschieden habe.« Beklemmung setzte sich in seiner Brust fest. Es war ein nur zu vertrautes Gefühl, diese erstickende Ungewissheit. »Wenn ich in meine Zeit zurückgehe, dann … ist da immer noch der Fluch. Ich glaube, jetzt hab ich so eine Art … Aufschub, aber … wenn ich wieder da bin, wo ich hingehöre, wird er meine Seele …« Verschlingen war das Wort. »Alice, warum bin ich hier? In diesem Körper, von damals … Was ist der Sinn dahinter?«

»Du hattest einen Wunsch frei«, sagte sie ruhig. »Weißt du noch, was du gesagt hast, als du hierherkamst? Deinen Wunsch?«

»Ich hab gesagt, ich möchte zu dem Tag zurück, an dem wir uns begegnet sind … und die Reise mit dir noch mal beginnen.«

»Ja.«

»Dann würde ich alles richtig machen … Ich würde nicht zulassen, dass … dass du …« Die Sehnsucht nach ihr wurde so stark, so unerträglich, dass er sich abwenden musste. Sie war so nah bei ihm – und doch so weit weg. Obwohl sie seine Hand hielt, erreichte ihre Wärme ihn nicht.

»Ich weiß«, sagte sie wieder.

»Es muss einen Weg geben … Ich muss verhindern, dass die Dunkelheit in mir … dich …« Er schluckte, hart. »… dass du das Böse in mir auf dich nimmst, um mich zu retten … Ich bin es, der dich hätte beschützen müssen, nicht umgekehrt …«

Dicht an seinem Ohr sagte sie sanft: »Deshalb bist du hier.«

»Ich … Was?« Er sah ihr wieder in die Augen. Sie waren klar und offen. »Weil ich nicht weiß, wie ich dich retten kann? Deswegen?« Er presste die Lippen zusammen, immer noch gegen die Trauer anschluckend. »Was für einen Sinn hätte es, die Reise mit dir noch mal anzufangen, wenn ich dich wieder nicht retten kann? Alice, ich würde es nicht noch mal überstehen … d-dich zu verlieren …«

Er wusste, dass es die Wahrheit war. Er war hier – in dieser Zeit, an diesem Ort –, um zu lernen, wie er sie retten konnte. Wie wäre es möglich gewesen? Wie hätte er verhindern können, dass sie der Dunkelheit zum Opfer fiel, dass der Pakt zwischen ihr und seiner eigenen Finsternis gültig wurde? Dass sie im Zug nicht mehr erwachte, als er bereits glaubte, sie hätten alles überstanden …?

Sein Blick glitt zur Seite, zum Fenster rechts neben ihm. Dort sah er Dunkelheit, obwohl es hell war … hell, wie am Tage … oder war es nicht das Licht der Sonne, sondern … war es Alice, von der dieses Licht ausging …? Er fühlte sich plötzlich betäubt, wie nach dem Verhör bei der Polizei, seltsam leicht … Die Klarheit, die bis eben alles so greifbar gemacht hatte, löste sich in Dämmerung auf …

Aber Alice war noch immer neben ihm. Ihre Hände lagen ineinander, und als sie seine Finger sanft drückte, öffnete sich eine Tür in ihm.

Er sah es.

Er sah Alice, wie sie den Friedhof betrat. Seinen Friedhof. Sie war nicht hier, weil sie es wollte; sie war hier, weil ihre Schuld sie hierher gerufen hatte. Es war Zeit, ihren Teil des Paktes zu bezahlen …

Er hatte nichts von alldem mitbekommen. Sie hatte nichts gesagt.

Er hatte es nicht gewusst, bis es zu spät war.

Er war nicht bei ihr gewesen, als sie für ihn gestorben war.

Sie hatte sich diesem Kampf allein gestellt. Sie war dem Tod gegenüber getreten, für ihn – ganz allein.

Tapfer trat sie hinein in diesen Ring aus Schwärze, um für Yuris Seele zu bezahlen.

Es würde passieren. Atmans Sense würde ihr Blut trinken, bis nichts mehr von ihr übrig war. Und er, Yuri, sah es … Diesmal musste er zusehen

Nein.

Diesmal nicht. Diesmal. Nicht.

Kein zweites Mal würde er das zulassen. Er musste zu ihr – musste ihr beistehen, musste für sie gegen den Tod kämpfen, irgendwie …

Musste – !

Und da sah er sich selbst. Er war dort. Eine dunkle Gestalt, die in die Szene hinein schritt.

Lässig trat er neben Alice, und der lange Mantel schlug gegen seine Kniekehlen, als er an ihrer Seite stehen blieb und die Fäuste hob. Da standen sie, zu zweit, ihnen gegenüber der Todesbote mit seiner Sense, die auf Alice gerichtet war. Ihre Blicke trafen sich – sie waren zusammen. Und diesen Kampf würden sie gewinnen.

Yuri sah, wie er und Alice sich gemeinsam in den Kampf stürzten. Wie seine Faust die Sense in zwei Teile schlug. Auf dem kleinen Grabstein würde etwas anderes stehen – nicht mehr ›Ruhe in Frieden, Alice Elliot‹, sondern ›Ruhe in Frieden, Atman‹ …

Genauso musste es geschehen …

Yuri zitterte am ganzen Körper. Sein Herz klopfte schnell und hart, und seine Hände waren taub, sodass er Alice’ Berührung kaum noch spürte. Ein wildes Fieber hatte ihn gepackt. Er ahnte, wie er sie retten konnte. Niemand hatte leichter Zugang zu seinem Unterbewusstsein als er selbst. Er musste mit ihr zusammen dort sein.

»Alice, ich – ich muss gehen …«

»Ja, sicher.« Sie war überhaupt nicht überrascht. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, wie damals.

»Ich weiß, dass wir es schaffen können! Ich muss nur – ich muss ausprobieren, wie ich es steuern kann –, dass ich mit jemand anderem zusammen auf dem Friedhof bin …«

»Mhmm.« Dieser eine weiche Ton war so voller Güte, dass sein Herz schmerzte.

»Wann kann ich zurück? Wann wird diese neue Reise vorbei sein? Ich bin in einem Zug nach Aberystwyth, mit zwei Typen – ich, ich komme wieder, aber ich muss das erst erledigen …«

»Hab Geduld, Yuri. Hab Geduld. Ich bin bei dir. Das weißt du.«

Ja, er wusste es. Ein Fragment ihrer Seele begleitete ihn, wohin auch immer er ging.

»Alice, wie lange wird es noch dauern? Bis wir diesen Sarris aufgehalten haben, meine ich? Bis wir Jin geholfen haben?« Dann wusste er plötzlich, was er eigentlich fragen wollte. »Wann, Alice, können wir wieder weg aus Wales – wann werden wir wieder bei Dante zu Hause sein?«

Alice öffnete ihre veilchenblauen Augen. Ihr Lächeln wirkte fragiler als eben noch, zerbrechlich, aber wissend. Weise.

»Niemals«, sagte sie sanft.

Akt VI - Der Zug: 10-3

10-3: JIN
 

Jin bedachte Dante, der soeben unter dem Tisch die Atravet-Tube hervorholte und gemächlich wieder zuschraubte, mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Ich habe dir gesagt, er wird es merken.«

»Gut, du hast die Wette gewonnen. Ich geb dir einen aus, wenn wir da sind.«

Jin war von dieser Art Humor nach wie vor angewidert, doch auch jetzt sparte er sich seinen Atem. Schon bei ihrem Einstieg ins Flugzeug hatte das Aufsichtspersonal recht besorgt gewirkt, als sie Yuri mehr oder weniger hinter sich her geschleift hatten – zumal die drei Männer in den langen Mänteln nicht eben die unauffälligsten Passagiere waren. Jetzt hatten sie wieder das gleiche Problem. Nur mit dem Zug.

Jin hatte die Tickets schon an einem einsamen Schalter im Erdgeschoss gelöst, sie kosteten fünfunddreißig Pfund pro Person, und er hatte keine Ahnung, ob das viel oder wenig war.

Glücklicherweise war der Gebäudeteil des im Flughafen befindlichen Bahnhofs nur wenig frequentiert, als Jin und Dante den (schon wieder) halbkomatösen Yuri zwischen sich hinunter zu den Gleisen dirigierten. Es war dunkel und windig, der nahende Morgen noch nicht zu erahnen. Stumm lag der grün und gelb gestrichene Zug der Gesellschaft Virgin Trains von London Midland in seinem Gleisbett. Links und rechts der Überdachung führten die Schienen unter dem kalten Licht von Laternenreihen zwischen farblosen Gebäuden und Baugerüsten ins Nichts.

»Die Stadt scheint nicht viel zu bieten haben«, stellte Dante fest, und seine ruhige Stimme warf ein majestätisches Echo in die Stille.

»Birmingham ist eine reine Industriestadt, sie muss nicht schön sein«, erwiderte Jin. Und das war sie auch nicht, nach allem, was er sah. »Wir müssen in Newstreet umsteigen und haben nur zehn Minuten Zeit. Schaffen wir das?«

»Kazama.« Dante quittierte seine skeptische Miene mit einem belustigten Ausdruck. »Ich glaube, wir haben bis hier schon ganz andere Sachen hingekriegt, meinst du nicht?«

Niemand beobachtete sie, als sie einstiegen, und niemand kontrollierte sie. Genau sieben Minuten später setzte sich der Zug fast schweigend in Bewegung und durchquerte das Industrieviertel, in dem sich um diese Zeit noch nichts regte. Die Fassaden blieben grau und unästhetisch, auch als sie, durchs Fenster den ersten hellen Streifen am Himmel betrachtend, Birmingham verließen und England Richtung Westen durchfuhren.
 

Der Zug, in den sie in Newstreet Station wechselten, war ein walisischer Zug. Er gehörte der Gesellschaft Trenau Arriva Cymru und führte sämtliche Beschriftungen zweisprachig: Neben Exit stand Allanfa, die Sicherheitshinweise waren alternativ mit Mewn Argyfwng betitelt. Jin empfand das Schriftbild als Zumutung. Schon für Europäer musste es schwierig sein, das Rätsel um die Aussprache solcher Wörter zu lösen, aber für ihn als Japaner war es schier unmöglich. Er hoffte, dass die Waliser verständliches Englisch sprachen.

Aus den Durchsagen ging hervor, dass Aberystwyth die Endstation war. Nach jeder hochfreundlichen Ankündigung des nächsten Halts folgten Dankesworte; das fand Jin eigentlich ganz sympathisch.

Um halb sieben besuchte sie das Zugpersonal und kontrollierte die Fahrkarten. Inzwischen wirkte Yuri zum Glück nur noch wie jemand, der von seiner nächtlichen Sauftour erschöpft war, und so sprachen Dante und Jin besonders leise, um diesen Eindruck zu bestärken. Jin bestellte sich einen Kaffee, ohne große Hoffnung, er könnte besser sein als der im Flugzeug, und wurde hierin nicht enttäuscht: Kaffee war nicht die Stärke der Briten.

Einige Kilometer später, am Halt Shrewsbury, änderte sich die Fahrtrichtung. Es war die Grenze zu Wales – und es war der Zeitpunkt, an dem Yuri wieder zu sich kam. Jin sah, wie wieder Spannung in seinen Körper kam, dann öffnete er die Augen, erst einen Spalt breit, dann sehr schnell sehr weit. Er hielt einige Sekunden lauschend den Atem an und begriff offenbar, wo er sich befand. Augenblicklich entspannte er sich. Er streckte Arme und Beine, und ein schweres Seufzen hob seine Brust.

»Das war jetzt das dritte Mal, dass mir jemand irgendwas unterjubelt, um mir das Hirn weich zu machen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass in eurer Zeit alle Probleme durch Drogen gelöst werden.« Es klang matt und resigniert, als hätte er sich mit dieser Tatsache abgefunden.

Jins Blick wanderte zu Dante, der zurück schaute und in keiner Weise schuldbewusst wirkte. »Ich weiß nicht, warum du keine Züge magst, Hyuga, denn du machst ja ein Geheimnis draus … aber es kam so rüber, als würden Züge dich ernsthaft nervös machen.«

»Das hier«, versetzte Yuri und umfasste das Innere des Großraums mit einer Geste, »hat echt gar nichts mit der Art von Zug zu tun, die ich kenne.«

Dampflokomotiven, dachte Jin. Yuri war an laute, stinkende, schrill pfeifende Ungetüme gewöhnt. Ein E-Zug dagegen rollte einfach nur.

Dante wandte sich dem Fenster zu und betrachtete die Umgebung, die allmählich von urbanisiert in ländlich und einsam überging, und fragte Jin: »Was machen wir, wenn wir keine Unterkunft finden?«

»Dann bauen wir uns ’ne Höhle im Wellington Monument«, schlug Yuri vor und lächelte breit. Er hatte erstaunlich wenig Bedenken dafür, dass er Großbritannien nur von 1913 bis 15 kannte.

Jin schüttelte den Kopf. »Tatsächlich wird das vielleicht etwas schwieriger, da gerade eine Art wissenschaftliche Tagung in Aberystwyth stattfindet.«

»Was? In dem Kaff? Unmöglich!«

»Du bist hundert Jahre zu spät mit deinen Einschätzungen. Überlass mir das. Ich werde uns schon unterbringen.«

»Dann aber bitte ohne Schmiergeld und Tote.«

Diese Bemerkung fand Jin nicht besonders komisch. Schmiergeld und Tote, das war in der Tat der Stil des Mishima-Konzerns. Yuri konnte das nicht wissen; sicher kannte er nicht viele Leute aus diesem Business. Oder … vielleicht gerade doch.

Inzwischen fuhren sie durch vereinzelte Häuschen, die auf sanften Hügeln verstreut lagen. Der Regen war schwächer geworden, nur noch Niesel prasselte in weichen Schwüngen gegen die Scheiben. Die Schatten der Wolken glitten rasch über das zarte Grün hinweg, jede verlor einige Tropfen und zog dann weiter. Mehr und mehr tat sich die Landschaft um sie herum auf, felsige Wiesen mit karger Vegetation, in denen keine Zivilisation mehr zu sehen war außer den Bahnschienen, die durch das Nichts führten. Und dann … erschienen ringsumher immer mehr weiße Tupfen, größere und kleinere, bis es unzählige von ihnen waren: Schafe, die ohne Zäune auf den endlosen Flächen weideten.

Für eine lange Zeit gab es draußen nichts zu sehen als Wiesen, Wolken und Schafe. Ein sehr einsames, schönes Land entfaltete sich vor ihnen, das geradezu erstrahlte, als endlich die Wolken sich verzogen und schließlich die Sonne mit voller Kraft auf feuchtes Gras und Erde strahlte.

»Endlich!«, freute sich Yuri. »Wales im Sonnenschein! Genießt es, so oft wird das nicht passieren.«

Jin brauchte man das nicht zu sagen; er genoss die Aussicht. Die grünen Hügel wurden flacher, wichen einer Art Moor mit von Wasser bedeckten Wiesen und hohen Gräsern, deren Ähren wie kleine Fahnen im Wind flatterten. Zahllose Wildvögel kauerten im Gras oder zogen darüber: Reiher, Kanadagänse, Fasane, Brandgänse, Rebhühner, Kolkraben und alle Arten europäischer Singvögel. Jins Mutter war eine Koryphäe für Wildvögel gewesen, und sie zu beobachten hatte ihr stets das Herz aufgehen lassen. Obwohl Jin diese Leidenschaft nicht teilte, hatte er sie immer respektiert und daran teilgehabt.

Leider hielt das schöne Wetter nicht an: Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto dunkler bezog sich der Himmel, und schließlich begann es wieder ausdauernd zu regnen.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Dante. Offenbar langweilte er sich schon. Jin hatte geglaubt, dass Dante gerne gar nichts tat, doch das hier war wohl selbst für ihn etwas zu viel gar nichts.

Er sah auf seine Uhr. »Wir fahren erst eine gute Stunde.«

»Dann habt ihr mein Schlafmittel ja schlecht berechnet«, fand Yuri.

»Ich bin kein Tierarzt«, erwiderte Dante gleichmütig.

Yuri trat halbherzig nach ihm und verfehlte ihn, weil Dante sein Bein rechtzeitig beiseite zog, wie immer ohne einen Muskel unnötig zu bemühen. »Mist. He, Dante … wie hieß dein Vater noch mal? … Sparda?«

»Ja … Wieso? Er hat 2000 Jahre über die Menschheit gewacht, ohne dass es jemand mitgekriegt hat. Im Verborgenen.«

»Oh, klar, sehr verborgen. So verborgen, dass meine Freunde und ich die Welt retten mussten. Zweim–«

»Zweimal, ich weiß«, fiel Dante ihm ins Wort, »Hey, wenn du was über meinen Vater weißt, dann spuck’s doch einfach aus.«

Yuri zögerte und betrachtete Dantes herausfordernde Miene. »Es kann sein«, sagte er dann, langsam, »dass mein Vater deinen kannte. Ich denke, sie … waren damals auf derselben Seite. Es gab ja immer eine Menge Irrer, die sich der Kräfte von Monstern bemächtigen wollten …«

»Und dein Vater hat diese Leute bekämpft. Er war doch Oberst bei der japanischen Armee, hm? War er auch wie du? Du hast deine Kräfte von ihm, richtig?«

»Ja. Und ich weiß, dass es zu seiner Zeit einen legendären Dämonenkrieger gab – einen Rebellen, einen Verräter –, der vor über tausend Jahren mal einen Krieg gegen die Welt der Teufel geschlagen und gewonnen hat, um eine Invasion zu verhindern. Er hat der Menschheit so ziemlich den Arsch gerettet.«

»Ja, klingt nach meinem Vater«, sagte Dante mit einer Spur von Stolz, aber auch Befremdung in der Stimme. Es sah so aus, als wäre sein Vater zwar Gegenstand seiner Bewunderung, aber zugleich auch ein großes Rätsel für ihn, dessen Lösung er sein Leben lang auf der Spur war.

»Er hat sich mit Menschen verbündet. Mit denen, die … auch dämonische Kräfte hatten, durch irgendwelche Blutsvermischungen …«

»Was? Erzähl keinen Mist, Hyuga. Das wüsste ich.«

»Dass es noch mehr Leute mit Dämonenblut gab?«, fragte Yuri herausfordernd. »Was glaubst du, warum manche Menschen gewisse unerklärliche Fähigkeiten haben? Dünnes, sehr dünnes Teufelsblut.«

»Tsssss.« Dante blieb dieser Idee gegenüber völlig indolent. »Erzähl das deinem Schrank.«

Jin für sein Teil hatte nie von Sparda gehört – aber wie auch, schließlich war er nicht eben viel in Schwarzmagier-Kreisen unterwegs. Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten hingegen … Das konnte einem gar nicht entgehen, wenn man aufmerksam den Lauf der Welt beobachtete. »Wie soll das möglich sein?«, wollte er wissen. »Konnte dein Vater menschliche Gestalt annehmen, Dante?«

Dante sah ihn an, als hätte Jin soeben festgestellt, dass die Erde eine Kugel war. »Ja, natürlich, was hast du gedacht? Das können viele von denen – die höher entwickelten. Und viele dürften jetzt gerade unerkannt durch unsere Straßen spazieren.«

»Das bedeutet also, auch du hast eine … eine Teufel…form?«

Dante schien entzückt über die Frage. »Interessant, dass du das fragst. Ich glaube, mit ein bisschen Nachdenken kannst du dir das selbst beantworten.«

Doch Jin war ratlos, und als er nur zurücksah, warf Yuri ein: »Klar hat er eine. Dämonenblut manifestiert sich. Aber bestimmt kommt er da nicht ständig ran.« Er sah zu Dante und hob die Brauen. »Stimmt doch, oder?«

Jin erinnerte sich, dass Dante, ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft, in Bezug auf Jins Transformation das Wort Devil Trigger gebraucht hatte. Es klang wie ein selbst erfundener Terminus, der das willkürliche Verwandeln bezeichnete, doch zugleich implizierte das Wort Trigger, dass es nicht einfach so passieren konnte, sondern einen Auslöser brauchte. »Wie also wie aktivierst du deinen … Devil Trigger

Dante schien enttäuscht darüber, dass Yuri sein wohlbehütetes Geheimnis preisgegeben hatte. »Wille und Konzentration, wie sonst. Aus der Ruhe heraus ist es schwierig, mitten im Kampf ganz leicht. Je mehr Adrenalin, desto einfacher lässt sich der Schalter umlegen.«

Jin starrte ihn an; das klang so einfach, dass ihm fast schwindelig wurde. Den Teufel in sich willkürlich freilassen zu können, das war so unerreichbar fern für ihn. Und doch war er früher nicht weit davon entfernt gewesen … Zwar hatte er nie bestimmen können, wann es passierte, doch zumindest hatte er seine Handlungen weitgehend selbst steuern können. Wut, Hass, Schmerz, all das hatte die Raserei ausgelöst, aber es war kein purer Amoklauf gewesen – auch wenn seine Neigung zu Gewalt als Devil Jin deutlich gesteigert war. Dante sagen zu hören, dass eine völlig kontrollierte Verwandlung möglich war, erweckte in Jin tiefe Sehnsucht, eine Erinnerung an bessere Zeiten. Kannst du es mir zeigen?, fehlte ein Teil von ihm. Kannst du mir beibringen, wie das geht? Jin hatte seinen Devil Trigger nicht im Griff, nicht ansatzweise.

»Alles okay, Kazama?«, fragte ihn Dante und bewegte die Hand vor seinen Augen. »Hör mal, bei mir ist das nicht wie bei dir. Ich bin nicht getrennt von meinem inneren Dämon. Er ist ich, zu einhundert Prozent. Das in dir ist ein Parasit, okay?«

»Und warum kann es kein Symbiont sein? So viele Menschen haben sich im Laufe der Geschichte mit Teufeln verbündet und sie kontrolliert.«

»Ja, aber der Preis«, sagte Yuri ruhig, »ist immer zu hoch. Und am Ende verrecken sie alle auf die abartigste Weise.«

»Aber wenn ich Devil nicht loswerden kann, dann –« Jin schloss den Mund und wandte sich von den mitleidigen Blicken der Anderen ab. »Ich muss ihn loswerden. Egal wie.«

Behutsam fragte Dante: »Hast du es denn mal mit so einem Exorzismus-Hokuspokus versucht? Und es nur nicht zugegeben, weil ich davon nichts halte? Sarris mal beiseite, vielleicht kann ja doch irgend so ein Typ mit irgendeinem magischen Ding –«

»Nein!«, warf Yuri sofort ein, beinahe hysterisch. »F-falscher Ansatz! Vergiss Exorzisten.« Seine Hand war zur Mitte seiner Brust geflogen, und kurz schien er dort unbewusst nach etwas zu tasten, das er nicht fand; also ließ er die Hand wieder fallen.

Jin hatte es genau gesehen. Er begriff. »Erzähl mir von dem Artefakt, mit dem du verflucht wurdest«, bat er.

Yuri sah ertappt aus. »Äh … Was meinst du?«

»Du hast gesagt, bevor du hierher kamst – als du in deinem älteren Körper warst –, wärst du verflucht worden.« Jin war klar, warum Yuri bisher vermieden hatte, darüber zu sprechen, und er sah die Abneigung in dessen Augen – Yuris Emotionen waren lesbar wie ein Buch. Doch Jin wollte es jetzt hören. »Dieser Fluch, das war ein Exorzismus, ist es nicht so? Du sagtest, dass du früher Angst vor deiner Fähigkeit hattest, und auch Sarris hat angedeutet, dass Harmonixer zu sein selbst eine Art Fluch ist … Hast du versucht es loszuwerden? Wie?« Sein Herz schlug so laut, dass er fürchtete, die Anderen würden es hören.

Yuri ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. »Nein«, widersprach er, »so war das nicht. Von meiner Angst vor mir selbst bin ich längst geheilt – durch … Alice. Ich hatte ganz bestimmt nicht vor, so ’nen bekloppten Vatikan-Typen an mich rankommen und meine Kräfte versiegeln zu lassen! Vor allem, weil mich das –« Er stockte, verkrampfte sich sichtbar. »– meine – Seele kosten wird.«

Jin verstand nicht. »Deine Seele?« Auch das hatte Yuri bereits als Bemerkung fallen lassen, er erinnerte sich.

»Was glaubst du, warum ich jetzt so in der Scheiße sitze, hä?«, fuhr Yuri plötzlich auf. »Weil dieser Kerl meinte, ich wäre eine Bedrohung für seine Geheimgesellschaft! Er hatte dieses Ding – diese Mistel … Jetzt bin ich verflucht, und meine Seele wird sich in Nichts auflösen, als hätte es mich nie gegeben! Und mein Körper wird das überleben! Verstehst du? Mann, wenn ich mir das nur vorstelle, krieg ich schon vor Angst die Scheißerei! Eine leere Hülle sein – glaubst du, das ist die Lösung? Ich kann davor nicht wegrennen. Wenn ich es schaffe, in meine Zeit zurückzukommen –« Er brach ab. Der Satz hing unbeendet in der Luft, und Yuri starrte nur auf das Sitzpolster gegenüber, die Augen weit, aber unfixiert.

»Deshalb bist du jetzt in deinem jüngeren Körper«, mutmaßte Dante. »Weil dein älterer …«

»Nur noch ein Zombie ist«, endete Yuri. Dann funkelte er Jin an: »Es gibt keine Teufelsaustreibung, bei der du völlig du selbst bleibst, jedenfalls nicht bei so starken Dämonen! Vergiss das!«

»Wie du willst.« Jin hatte nicht vor, das zu vergessen. Gerne hätte er noch viel mehr über dieses Objekt gehört – diese Mistel, was auch immer das war –, aber Yuri blockte schon jetzt mit aller Macht. Es war besser, nichts zu forcieren, auch wenn es schwer für Jin war, seine Wissbegier und Ungeduld im Zaum zu halten.
 

In einem kleinen Ort namens Machynlleth wurde der Zug geteilt. Die hinteren zwei Waggons fuhren mit einer eigenen Lok nach Barmouth weiter, die vorderen zwei setzten ihren Weg nach Aberystwyth fort.

»Wir sitzen im richtigen Teil«, fühlte Jin sich verpflichtet mitzuteilen, weil er nicht sicher war, wie gut Dante und Yuri aufgepasst hatten. Wahrscheinlich gar nicht – was die Reise betraf, hatte Jin so entschlossen die Führung übernommen (weil er überzeugt war, dass nur er es konnte), dass niemand außer ihm sich um irgendetwas gekümmert hatte. So weit, so erwartbar.

Noch immer waren sie in ihrem Waggon die einzigen Reisenden. Ein weiteres Ereignis auf der Fahrt überraschte Jin: der Bahnhof Dovey Junction. Er befand sich mitten im Nichts. Eine Gras- und Heidelandschaft erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und nur ein Schild mit dem Namen wies darauf hin, dass hier ein Halt war.

»Eigenartig«, sagte Dante stirnrunzelnd. »Wenn ich hier aussteige … Wo will ich hin?«

Minutenlang fuhr der Zug nicht weiter. Alles war still. Schließlich sprintete ein Zugabfertiger, ein junger Mann mit olivgrüner Sweatjacke und beigefarbenem Regenhut, einmal von vorne bis hinten am Zug entlang, rannte einmal herum und dann zum Führerstand zurück.

»Das tägliche Sportprogramm von dem?«, spekulierte Yuri.

Jin dämmerte, dass es draußen ein Problem gab, und er wurde ungeduldig. Diese Fahrt dauerte schon viel zu lange, und sie kamen ihrem Ziel nur quälend langsam näher.

Yuri starrte aus dem Fenster wie ein Spürhund, der eine Fährte aufgenommen hat. »Wollen wir wetten, der Sack hat’s schon wieder getan?«

»Du meinst, wie auf dem Flughafen?« Jin wusste, dass Yuri die von Sarris ausgelegte Falle dort gefunden und zerstört hatte – auf welche Weise auch immer.

»Ja, wie sonst? Ich müsste die Schienen und die Lok untersuchen, vor den Augen des Zugpersonals, und ich, äh, ich seh nicht besonders … vertrauenerweckend aus. Oder?«

Er und Dante richteten gleichzeitig einen forschenden Blick auf Jin.

»Unser japanischer Firmenboss sieht am ernsthaftesten aus«, befand Dante mit dem üblichen verdächtigen Schmunzeln. »Unter dem Mantel sieht man deine Muskeln nicht, keiner wird ahnen, dass du den Zug zerlegen kannst.«

Jin seufzte und fügte sich. »Wonach genau suche und was mache ich damit, wenn ich es gefunden habe?«

»Hör zu.« Yuri zeichnete mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft und verzierte ihn mit einer Art Pentagramm in der Mitte und seltsamen Schnörkeln in jedem der imaginären Felder. »Es sieht wahrscheinlich irgendwie … so aus. Kann mehr Ecken haben. Frag nicht, was das bedeutet, ich hab keine Ahnung. Er hat den Bannkreis irgendwo drauf gemalt, mit Kreide, mit Kohle oder sogar mit Blut, je nachdem, was der Typ noch so in seine Reisetasche gepackt hat. Ich glaub nicht, dass er den Zug präpariert hat, wann hätte er das machen sollen, also prüf die Schienen. Wenn du das Siegel findest, dann unterbrich den Außenring an zwei Stellen. So viel weiß ich. Dann funktioniert der Rest auch nicht mehr. Wie wenn man Wörter aus einem Satz rausnimmt, der dann keinen Sinn mehr ergibt.«

»Den Außenring unterbrechen … womit?«

»Naja, mit was du willst. Mach eine Lücke in die Linie, wenn’s geht, oder mal drüber. Nur mit Wasser geht’s nicht, Wasser ist wie flüssige Luft. Neutral. Du kannst Blut nehmen. Oder drauf pinkeln.«

»Sehr witzig.« Jin überlegte, und sein Blick fiel nach unten auf seinen halbleeren Becher mit dem dünnen, inzwischen kalten Kaffee.«

»Ja, gute Idee!«, sagte Yuri. »Kaffee ist sogar eine Droge, das sollte wirken.«

Jin verkniff sich den Einwand, dass britischer Kaffee aufgrund dessen, dass er fast nur aus Wasser bestand, eigentlich wirkungslos sein müsste. Sicherheitshalber öffnete er noch das Päckchen mit Kondensmilch und kippte den Inhalt dazu; das sollte genügen, um die chemische Zusammensetzung des Siegels ganz sicher zu stören. Dann nahm er die Tasse, stand auf und ging zur Zugtür, die auf Knopfdruck vor ihm aufglitt.
 

Der Regen hatte so gut wie aufgehört. Die beiden Zugbegleiter, die in ihren grünbraunen Windjacken bei der Lok im Gras knieten und auf die Gleise starrten, sahen irgendwie ertappt aus, als sie Jin kommen sahen.

»Tja, tut uns leid«, sagte der eine etwas beschämt. »Alle Maschinen sind okay, aber wir kriegen im Moment die Lok nicht zum Laufen.« Dieses Statement erklärte nicht, warum er und sein Kollege hier draußen hockten, also fügte er hinzu: »Wir haben die Zentrale schon angerufen, die schicken Hilfe, aber das kann jetzt dauern.«

»Ausgerechnet hier im Niemandsland«, ergänzte der andere. Beide wirkten zerknirscht; vermutlich waren sie die technischen Supervisors dieses Zugs, und dass sie das Problem nicht finden konnten, bereitete ihnen ernsthaftes Kopfzerbrechen.

»Und was ist mit den Schienen?«, fragte Jin.

Der Erste hob fragend die Augenbrauen. »Was soll das mit den Schienen zu tun haben, wenn die Lok nicht startet?«

Jin überlegte, wie er sie vertreiben konnte. Er blickte über die Wiesenfläche, die sich in allen Ockertönen bis an den Horizont erstreckte. »Wo genau sind wir – und wohin kommt man von hier?« Schließlich war offensichtlich, dass er Ausländer war und sich nicht auskannte.

Der Zweite antwortete eifrig: »Das hier ist das Dyfi National Naturreservat. Wenig Besiedlung, aber da hinten gibt’s einen Pfad – einen Fußweg zur Landstraße, etwa eine halbe Meile. Sie können auch auf den nächsten Zug warten, die Cambrian Coast Line fährt nach Pwllheli … aber das hilft nicht so viel, wenn Sie nach Aberystwyth wollen.«

Den Namen des anderen Bahnhofs hatte Jin nicht verstanden, aber er nickte kühl und sah sich dorthin um, wo der Pfad sein sollte. Ironisch war der Umstand, dass jetzt, da er nicht im Zug war, die Lok problemlos starten würde – doch das wussten die Beiden nicht.

»Ähm«, begann der Erste wieder, dem seine offensichtliche Ratlosigkeit und Untätigkeit immer peinlicher wurde, und er nahm seine Mütze vom ergrauenden Schädel und knetete sie in den Händen, »wir rufen am besten noch mal an und machen Druck, damit es hier bald vorangeht … Eine Doppelschicht haben wir schließlich auch nicht geplant …« Er lächelte versöhnlich. »Genießen Sie derweil doch ein bisschen die Natur … Wenn man Glück hat, sieht man ein paar seltene Vögel.« Er nannte keine Arten, wahrscheinlich, weil er keine blasse Ahnung von Vögeln hatte.

Beide erhoben sich und versuchten dabei würdevoll und arbeitsam auszusehen, ehe sie wieder vorn in die Lok stiegen. Durch das kleine Fenster sah Jin im Führerhaus die Silhouette der Lokführerin, die mit verschränkten Armen und ärgerlicher Miene dasaß und geradeaus starrte.

Gut so, niemand beachtete ihn mehr.

Jin versuchte, an der Lok vorbei den Schienen weiter zu folgen, und stellte fest, dass das nicht ging. Er kam nicht weiter als bis zur Nase des Triebfahrzeugs und musste auf gleicher Höhe stehen blieben, als wären seine Füße festgenagelt. Irgendwie erstarb jeder Wille weiterzugehen in dem Moment, als er vortreten wollte. Faszinierend, so ein magischer Bann – der nur auf ihn wirkte, auf sein Blut, sein chi.

Jin hatte keine Zeit, diese interessante neue Erfahrung weiter zu ergründen. Er ließ sich auf die Knie fallen und suchte das Gleisbett ab. Zum Glück war es nicht allzu schwierig, den Runenkreis zu finden; er befand sich in der Innenseite der rechten Schiene, winzig klein und mit einer haardünnen Linie gezogen – schwarz, im Rost kaum zu erkennen, wenn man nicht danach suchte. Wie ein mit Rauch fixiertes Spinnennetz.

In der Hocke kauernd kippte Jin großzügig den kalten Kaffee seitlich über den Bannkreis. Die schwarze Flüssigkeit versickerte im weichen Erdboden und nahm dabei, wie es aussah, ein Gutteil der Linien mit. Um sicherzugehen, streckte Jin die Hand aus, um den Kaffee auf dem Kreis zu verreiben.

Schlechte Idee.

Kaum berührten seine Finger den dunklen, nassen Fleck, da jagte ein Stoß durch seinen Körper wie ein Stromschlag. Jede seiner Muskelfasern füllte sich blitzartig mit so viel Schmerz, dass jede Reaktion im Keim erstickt wurde, alles erstarrte, alles verbrannte.

Im nächsten Moment merkte er, dass überall unter ihm Gras war, dass er zurückgeprallt sein musste. Kein Muskel gehorchte ihm, und sein Herz raste und stolperte.

Kontrolle!

Nein –

Er durfte sie auf keinen Fall verlieren –

Er musste sich jetzt unbedingt

Doch seine Machtlosigkeit schlug sich schon im nächsten Sekundenbruchteil folgenschwer nieder. Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt.

Dieser Bannkreis war zugleich eine Falle gewesen.

Akt VII - Der Gott aus den Sternen: 11-1

Er sah aus dem Zugfenster nach draußen in die langweiligste Landschaft, die er je gesehen hatte. Hügel mit Schafen. Wales sah wirklich genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte.

Leider stand der Zug jetzt, und sie warteten darauf, dass Jin die magische Blockade entschärfte. Dante fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, Jin das machen zu lassen; schließlich hatte die Aktion im Flugzeug bewiesen, dass er genau derjenige war, auf dessen energetische Signatur der Bann geeicht war, wahrscheinlich mit seinem Blut. Dante hatte genug eigene Erfahrungen mit magisch versperrten Zugängen, die sich nur dann für ihn öffneten, wenn er zuerst bestimmte Umstände schuf, die den Zauber brachen – wenn er dennoch versucht hatte, eine solche Sperre zu überwinden, dann hatte der Zauber ihn physisch angegriffen, sogar verletzt. Als die Stille nun anhielt, wuchs Dantes Bedürfnis, diese Sorge zu äußern.

»Sag mal, Hyuga … Kann es nicht sein, dass gerade Jin den Bannkreis nicht anfassen sollte?«

Yuri zögerte. Auch er sah mittlerweile beunruhigt aus. Dante glaubte keinen Moment daran, er könnte Jin aus Bosheit und mit Absicht nach draußen geschickt haben, damit der sich die Finger verbrannte. Das passte nun wirklich nicht zu ihm. »Hm«, machte Yuri unschlüssig. »Du meinst, weil er das Ziel ist? Hm … Eigentlich macht das keinen Unterschied.«

»Dir ist aber sicher aufgefallen, dass in dieser Zeit alles moderner ist als in deiner. Kann nicht auch Schwarzmagie moderner werden?«

»Hm.«

»Wie?«

»Keine Ahnung. Er soll ja gar nichts anfassen, er soll nur den Kaffee drauf gießen …«

»Und wenn das nun typisch englischer Kaffee ist, den man chemisch nicht von Spülwasser unterscheiden kann?«

»Schon gut, schon gut!« Yuri sprang auf. »Weißt du was, vielleicht hast du Recht. Ich geh gucken, okay? Ich geh gucken …«

Dante sah zu, wie Yuri sich widerwillig aus seiner bequemen Position auf der Bank hochrappelte. Gut, dann würde ja gleich alles in Ordnung sein.

Oder auch nicht.

Yuri hatte gerade seinen Daumen in den Druckknopf an der Tür gebohrt, die das Abteil öffnen sollte, da krachte plötzlich von der Seite etwas in den Zug. Die Erschütterung warf sie beide zu Boden, und der Lärm – vor allem das schrille Aufeinanderreiben von Metall – riss schmerzhaft an Dantes Trommelfellen.

»Oh, Scheiße!«, keuchte Yuri neben ihm und kämpfte sich auf die Füße »Ich glaub, wir haben ein Problem!«

Dante packte eins der Sitzpolster und riss es aus seiner Halterung, um es gerade noch rechtzeitig gegen die Zugwand zu pressen, als diese durch den nächsten Schlag polternd nach innen gedrückt wurde. »Raus mit dir!«, rief er Yuri zu, denn hier drinnen waren sie weder wehrhaft noch geschützt – und jede Verletzung, egal wie trivial, behinderte beim Kämpfen.

Yuri schlüpfte durch den offenstehenden Spalt der Abteiltür, deren zerstörte Automatik sie nicht mehr richtig öffnen oder schließen ließ, und Dante wand sich unter der gerissenen Wandverkleidung hervor und folgte ihm; mit der Rechten packte er dabei die schwarze Reisetasche, deren Tragegurt unter einem Sitz hervorlugte, und zerrte an ihr – und sie flog ihm leicht und leer entgegen, ein langer Riss klaffte in der Seite. Verdammt, wo waren die Waffen? Irgendwo im zerknautschten Großraumwagen verteilt? Das fehlte noch! Mit einem resignierten Seufzen ließ Dante die leere Tasche fallen und kroch aus dem Wrack.

Der Zug war an mehreren Stellen halb umgekippt. Devil Jin hockte auf dem Dach der Lok, die beiden schwarz befiederten Flügel um den Körper geschmiegt wie einen Umhang. Er freute sich offenbar, Dante zu sehen, denn eine Grimasse entblößte seine spitzen Zähne.

»Du bist immer noch dieselbe lästige Plage, Sohn von Sparda«, sagte er mit seiner zwietönenden Stimme, deren tiefer Hall in der umgebenden Erde zu vibrieren schien.

»Danke, das kann ich nur zurückgeben.«

Yuri schien nicht beleidigt zu sein, dass der Teufel ihn für ihn überhaupt nicht interessierte. Er rannte kletterte zwischen den vielen Einzelteilen herum, die aus dem Zug herausgepurzelt waren, und versuchte, irgendwas Nützliches hervor zu wühlen. Im Moment hatten sie buchstäblich nichts in der Hand.

Dante hielt Devil Jins Blick, ohne auf ihn zuzugehen, und sah aus den Augenwinkeln ein paar Gesichter hinter den Waggonscheiben. Keiner der Insassen traute sich heraus – gut, so konnte auch niemand den Dämon auf dem Dach sehen.

Yuri stieß ihn in die Seite und hielt ihm auffordernd das Doppelholster mit Ebony und Ivory hin. Hey, theoretisch ein phänomenaler Fund – doch Dante schüttelte unauffällig den Kopf und raunte: »Nicht geladen.« Natürlich nicht, wer transportierte denn geladene Pistolen?

Yuri schnaubte und warf die Schießeisen ins Gras. Devil Jin sah es und lachte, hoch und schrill. Gott, war dieses Lachen ekelhaft: Wenn Jin auch im Original so klang, war klar, warum er nie lachte.

»Du bist in einer schlechten Position, Mensch. Gleich werde ich all diese Seelen hier auf einen Schlag vernichten.« Der Teufel richtete sich auf, die Flügel langsam entfaltend, und das dritte Auge auf seiner Stirn begann rot zu glühen. »Und es gibt nichts, das du dagegen tun kannst.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Dante ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Siehst du, wie ich in Panik gerate?«

Neben ihm drückte Yuri sich weiter um den Zug herum, suchte die Umgebung ab. Devil Jin beachtete ihn immer noch nicht.

»Wie lange willst du dir noch Zeit lassen? Komm, zerstör den Zug, wenn du dich traust. Du langweilst mich.« Dante wusste, dass der Dämon diesen Moment des Dilemmas genoss und sein Innehalten als Provokation einsetzte. Devil Jin hatte genau verstanden, dass Dante nicht bewaffnet war und trotzdem die wehrlosen Menschen im Zug nicht im Stich lassen würde. Es war selten, dass Teufel so etwas wie List einsetzten – doch dieser hier kannte Menschen sehr genau. Denn er kannte Jin.

Doch wenn er zustieß, würde Dante nicht so hilflos sein, wie das Biest glaubte. Komm doch, du Dummschwätzer. Er würde Devil Jin mit bloßen Händen abwehren, wenn es nötig war.

Der Dämon taxierte ihn noch immer quälend ruhig. Der halb in Trümmern liegende Zug ächzte, wann immer der scharfe Wind über ihn hinweg fuhr.

Hatte Yuri inzwischen endlich irgendeine der drei Teufelswaffen, die sie dabei hatten, unter den Klamotten ausgebuddelt? Dante riskierte einen Seitenblick, mehr nicht –

– und doch reagierte Devil Jin sofort auf die Unaufmerksamkeit.

Sein glühend roter Laserstrahl brach aus dem dritten Auge hervor und hatte bereits ein Drittel des Zuges der Länge nach zerspalten, bevor irgendjemand reagieren konnte. Dante dachte nur noch daran, ihn zu zu stoppen, und er wollte losspringen und das Vieh von der Lok stoßen, ehe es den ganzen Zug in zwei klaffende, rauchende Schrotthälften verwandelt hatte –

– doch zu seiner Überraschung war Yuri einen Sekundenbruchteil schneller.

Sie sprangen beide, doch nur Yuri erwischte das Ziel. Und, das ließ sich nicht leugnen: Ein ernstgemeinter Schlag von Yuri war wirklich kein Spaß. Seine Faust traf nicht nur das Laserauge und beendete den glühenden Strahl sofort, sie brachte auch die Schädeldecke bis auf das Hirn zum Bersten, sodass es Blut und Knochensplitter regnete.

Einen Moment lang packte Dante der Schreck, weil er glaubte, dass dieser Hieb Jin getötet hatte; doch nachdem Devil Jin mit einem mörderischen Schrei, der den ganzen Zug durchschüttelte, zur Seite gestürzt war, spannte er jäh seine Flügel auf, noch bevor er den Erdboden berührte, und stieg wieder auf. Blut strömte ihm über Gesicht, Hals und Schultern. Dante konnte sehen, wie der offene Schädelbruch sich langsam regenerierte, wie jedes kleine Teil wieder an seinen Platz rückte und Haut die furchtbare Wunde wieder abzudecken begann. Doch das Heilen entzog dem Dämon alle Energie. Das war der einzige Grund, warum man Teufel überhaupt verletzte, ehe man sie sicher töten konnte: Sie heilten ihre Körper sofort – doch Heilen war teuer. Träge schwebte der Teufel neben dem Zug, eine lange Sekunde, die Dante, nun neben Yuri auf dem Dach, gerne mit irgendeinem wirksamen Nachschlag gefüllt hätte, um das Monster ganz und gar K.O. zu kriegen. Doch er hatte zu lange gezögert, als die Sorge um Jin ihn gepackt hatte, und nun war er mit jeder Reaktion eine Zehntelsekunde zu spät. Schon kam Devil Jin knurrend wieder zu sich. Yuris Angriff hatte nicht gereicht, ihn auszuknocken und Jin zurückzuholen; ein Zeichen dafür, dass Devil stärker wurde. Erbost schlug er mit seinen riesigen Schwingen, warf seinen Widersachern einen letzten Blick zu und katapultierte sich dann mit einem einzigen Flügelschlag so hoch in den Himmel, dass er kaum noch zu sehen war. Als winziger Punkt am Horizont verschwand er aus Dantes Sichtfeld.

»KACKE!«, tobte Yuri und machte einen harten Satz auf dem Lokdach, so dass es unheilvoll dröhnte und knirschte.

Dante ergriff wie aus Reflex seinen Arm. Nicht, dass das noch einen großen Unterschied machte, ob Yuri in Unbeherrschtheit irgendwas kaputt machte. »War schlecht für ihn, nicht auf dich zu achten«, stellte Dante fest.

»Ich hätte mehr draus machen können!« Yuri knirschte mit den Zähnen. »Was machen wir jetzt?«

»Wir folgen ihm später«, entschied Dante. Das hier war das Hinterland von Wales; es war kaum besiedelt, und Devil Jin war mit seiner Energie so ziemlich am Ende. »Er wird sich bald zurückverwandeln.«

»Woher willst du das wissen?«

»Teufelskräfte verbrauchen eine riesige Menge Energie, die ein menschlicher Körper nicht lange zur Verfügung stellen kann.« Er sprach aus Erfahrung. Sein Devil Trigger hielt auch nicht gerade ewig. »Wir werden ihn schon finden.«

Noch immer faszinierte ihn, wie kalkuliert Devil Jin mit seinem Laserstrahl gewartet hatte, bis sein Gegner den kleinsten Moment lang unaufmerksam war. Dante staunte: Dieser Teufel war nicht nur stark, nicht nur brutal, nicht nur grausam – er war fies. Das Ding ist ein richtiges Arschloch, dachte Dante bewundernd. So was war ihm lange nicht mehr untergekommen.

Als er geradeaus über das hügelige Land blickte, sah er ganz in der Nähe noch etwas Schwarzes im Gras liegen. Es war Jins Mantel. Natürlich. Jin schaffte es irgendwie immer, seinen Mantel zu retten. In der linken Tasche des Mantels fand er außerdem Jins Mobiltelefon. Sehr gut. Damit konnte man arbeiten.
 

Zusammen mit Yuri lief er den ganzen zerstörten Zug einmal von vorne bis hinten ab. Der Laser hatte sogar die Schienen geschmolzen, wo er sie berührt hatte. Der Gestank nach zerflossenem Kunststoff und versengtem Polster war überwältigend, überall schwelten Teile oder brannten offen mit rauchender Flamme. Glücklicherweise mussten sie nur wenige Menschen aus den Trümmern befreien; offenbar wollten nicht viele Fahrgäste an einem Dienstagvormittag nach Aberystwyth reisen. Bis Hilfe kam, dauerte es allerdings eine Weile. Der Nieselregen setzte wieder ein, als irgendwann auf der fernen Straße die ersten Sirenen ertönten und schließlich Polizei- und Rettungswagen über den grasbewachsenen Fußweg zu ihnen ins Niemandsland holperten.

Dante und Yuri standen bei den beiden Zugbegleitern, die konsterniert vor sich hin schwiegen und sich mit zitternden Fingern eine Zigarette teilten. Die anderen Menschen saßen oder lagen, stöhnten oder weinten oder waren apathisch.

Als die Fahrzeuge schon fast am Zug angekommen waren, beschloss Dante: »Wir haben keine Zeit für so was. Komm.«

Yuri reagierte schleppend. »Wie … Wir können einfach weggehen?«

»Dürfen nein, können ja. Wir haben unsere Pflicht getan und die Verletzten betreut, jetzt übernehmen die Profis und wir verschwinden unauffällig.« Betont ruhig setzte er sich in Bewegung, als wollte er sich nur noch etwas umsehen. Yuri zog er am Ärmel sanft mit sich.

»Hast du dich gerade unauffällig genannt? Roter Mantel, und so?«

»Die sind zu beschäftigt, um auf uns zu achten.« Dante nickte in Richtung einer kleinen Felsengruppe, einer von vielen, die scheinbar sinnlos verstreut die Eintönigkeit der Ebene durchbrachen. »Da vorne überlegen wir, wie es weitergeht.«
 

»Weißt du, wenn Sarris uns eine Falle gestellt hat, dann sind wir voll reingelaufen. Und dann weiß er jetzt bestimmt, dass wir in Wales sind«, eröffnete ihm Yuri, als sie sich hinter den Felsen ins Gras gesetzt hatten, komfortabel an den flechtenbewachsenen Stein gelehnt.

Dante war es gerade ziemlich gleichgültig, was Sarris wusste und was nicht. Er nahm Jins Handy aus der Tasche, scrollte ein wenig durch die Kontakte und fand schließlich, was er suchte.

Das erste Freizeichen erklang noch nicht einmal bis zu Ende, als Nina auch schon abnahm. »Was kann ich für dich tun, Jin?«, fragte sie in ihrer leidenschaftslosen Art.

»Jin ist nicht bei uns. Leider. Ein Zwischenfall, du kannst es dir denken.«

Nina stöhnte auf. »So viel dazu, dass ihr auf ihn aufpassen wolltet. Ihr seid hoffnungslos unfähig.«

»Wir müssen ihn aufspüren, bevor ihn jemand sieht«, insistierte Dante, die Beleidigung ignorierend. Schließlich wollte er etwas von ihr.

»Oh bitte«, schnaubte die Irin. »In Wales? Wer soll ihn sehen – die Schafe?«

»Kein Grund, schnippisch zu werden, Schätzchen. Du hast doch seine Leute im Griff. Finde ihn mit deinem Supercomputer und sag uns, wo er ist.«

»Ich kann ihn finden. Aber ganz Wales zu scannen wird dauern.«

»Wenn wir ihn vor dir finden, lassen wir es dich wissen.«

Nina war merklich gereizt. »Merk dir eins, Dante. Ich tue das jetzt für Jin, aber wenn du glaubst, du könntest mich zukünftig dazu gebrauchen, Dinge für dich zu suchen, dann liegst du falsch. Verstanden?« Sie schnaubte wieder. »Fangen wir an. Ihr sucht, ich suche. Wir hören uns.« Dann legte sie auf.

Schade, fand Dante. Nina konnte man nicht necken. Sie war kalt wie eine Tiefkühlpizza.

Zusammen mit Yuri machte er sich also zu Fuß auf den Weg quer über das Hügelland, immer in die Richtung, in die Devil Jin verschwunden war.
 

Es war leichter als erwartet. Zwar schien das gelbgrüne Meer endlos, bis auf gelegentliche Ansammlungen von Häuschen oder Höfen. Doch sie brauchten nur einer eindeutigen Spur zu folgen.

Und das war eine Schneise toter Schafe.

Überall dort, wo sich die Tiere zu etlichen auf den vegetationsarmen Kämmen tummelten, waren tiefe Krater in die Erde gerissen und das umgebende Gras versengt. Weißwollige, rotgetupfte Kadaver begleiteten jede dieser Visitenkarten. Der Dämon hatte sie im Vorüberfliegen getötet und liegen gelassen – aus Lust.

»Diese Panne hat genau einen positiven Aspekt«, merkte Dante an, »nämlich dass Jins Verletzungen durch das Attentat jetzt geheilt sein dürften.«

»Darüber freut er sich bestimmt ein Loch in den Arsch«, gab Yuri sarkastisch zurück.

Schließlich, eine gute Stunde später, fanden sie Jin am Rand eines Hochmoors kauernd und auf den sumpfigen Grund starrend. Dort stakste in einsamer Kranich umher, und Rohrkolben sangen leise im Wind. Jins Hemd war – natürlich – über dem Rücken zerfetzt, und er hatte die Arme um sich gelegt, als würde er frieren. Insgesamt bot er einen ziemlich mitleiderregenden Anblick.

Dante fühlte seinen Kummer beinahe am eigenen Leib. Das geschah nicht oft. Ohne ein Wort zu sagen ging er auf Jin zu, blieb bei ihm stehen und legte ihm den schwarzen Mantel über die Schultern. »Ich bewundere deine Fähigkeit, den immer schnell auszuziehen, bevor der Ärger kommt. Kann nicht mehr zählen, wie viele Mäntel ich schon kaputt gekriegt hab.«

Jin seufzte nur.

»Hey«, sagte Yuri, »hör auf durchzuhängen. Wir haben ein Date in Aberystwyth. Mach, dass du hochkommst.«

Jin gehorchte wortlos, aber als er wieder auf den Füßen stand, hob er den Kopf und sah die Beiden resigniert an. »Was ist passiert?«

»Was glaubst du?«, fragte Dante.

»Ich … habe den Zug zerstört.«

»Er war das. Du musst aufhören, immer ›ich‹ zu sagen, wenn du Devil Jin meinst.«

»Es ist ein Teil von mir, der das tut«, erwiderte Jin ungeduldig. »Aber lassen wir das.« Seine Stimme wurde wieder leise. »Wie viele Tote?«

»Keiner. Ein paar Verletzte. Gute Bilanz.«

Jin atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Es war schon schlimmer. Gut, gehen wir … wohin auch immer.«

Dante nahm das Handy aus der Tasche und hielt es ihm hin. »Du könntest uns eine Art Taxi holen.«

Jin hob eine Augenbraue. Er ahnte wohl, dass seine Gefolgsleute bereits informiert waren. Nach einem Seitenblick auf Yuri, der nicht zurückschaute, wählte er auf dem Telefon durch ein einziges Fingertippen eine Nummer – die zuletzt angewählte, vermutete Dante – und aktivierte den Lautsprecher.

Dante staunte nicht schlecht, als es nicht Nina war, die sich meldete, sondern Trish.

»Hey, was gibt’s? Neuigkeiten?«

»Du?«, fragte Jin, ebenfalls erstaunt.

»Jin! Sehr gut. Du bist wieder an Bord.«

»Moment mal«, warf Dante dazwischen. »Woher wusstest du, dass wir ihn verloren hatten? Und wieso hast du das Telefon von –«

»Nina ist noch hier«, antwortete Trish, als sei das völlig klar gewesen.

»Ach. Wirklich?«

»Sicher. Wir sind im Devil May Cry

»Und was bitte macht ihr da zusammen?«

Sie gluckste. »Ich weiß, was du denkst, was wir machen: Wir lackieren uns gegenseitig die Fußnägel. Nackt.«

Im Hintergrund hörte man Ninas tiefe Stimme freudlos auflachen. Jins Miene verriet, dass er seine Leibwächterin höchst selten lachen hörte und dass es gewöhnlich nichts Gutes bedeutete.

»Na fein«, lenkte Dante ein. »Frag sie, ob wir gewonnen haben oder ob ihre Leute Jin auch schon lokalisieren konnten.«

Trish gab das weiter; dann: »Sie sagt, die Frage könnt ihr euch selbst beantworten. In drei … zwei …«

In diesem Moment hörte Dante den Rotorenlärm eines Helikopters in der Ferne. Das zuerst noch dumpfe Geräusch kam rasch näher, und als er mit den Augen den Himmel absuchte, entdeckte er den kleinen Punkt am Horizont, der immer mehr zu einem Fluggerät heranwuchs.

»… eins.«

»Sag ihr, wir haben trotzdem gewonnen.«

»Dann lässt sie den Hubschrauber wieder abdrehen.«

Dante verdrehte die Augen. »Okay, okay. Wir bleiben genau hier stehen. Dürften nicht zu übersehen sein.«
 

Der Pilot gehörte nicht zur Tekken Force, wie Jins Privatarmee offenbar hieß, sondern flog eine kleine dunkelblaue Chartermaschine des Typs Bell 206. Er landete etwas verdrießlich auf dem Grasland und ließ die Rotoren laufen, während seine Passagiere an Bord gingen.

»Gibt keinen Landeplatz in Aberystwyth«, erklärte er knapp. »Ihr müsst den Rest der Strecke zu Fuß gehen.«

Wie sich herausstellte, meinte er mit dem ›Rest der Strecke‹ nur etwa fünfhundert Meter Straße, nach denen der Ort plötzlich mit einem kleinen Willkommensschild begann. Kurz nachdem sie ausgestiegen waren, hob der Pilot ohne jeden Gruß wieder ab, als sei er mit dieser Art von Kundschaft nicht recht glücklich. Dante fragte sich, wo Nina den Hubschrauber so schnell aufgetrieben und wie sie ihn hierher beordert hatte – aber manchen Dingen sollte man vielleicht besser nicht auf den Grund gehen.

Aberystwyth lag eingebettet in eine Bucht, den Cardigan Bay, und eine schmale Landzunge führte geradewegs in diesen hinein. Es war ein unerwartet weitläufiger Ort, und den Hafen erahnte man bereits von der Hauptstraße aus, so beschaulich lag alles nebeneinander. Unter dem wolkenverhangenen Himmel bildeten die Häuser feine, säuberliche Reihen, die einen Eindruck von Ordnung erweckt hätten, wären die Gebäude nicht so bunt zusammengewürfelt: Hohe, niedrige, schmale, ausladende, auffällige und unscheinbare Häuser waren scheinbar wahllos nebeneinander gesetzt; die meisten hatten bunte Fassaden in Pastelltönen, andere sahen aus, als wären sie am Zerfallen; wieder andere (in der Regel Industriebauten) brachten ein gewisses modernes Flair mit in die Mischung, das sich etwas deplatziert hervorhob. All das dominierte ein einziges Symbol: der rote Drache. Er begegnete dem aufmerksamen Beobachter überall, auf Schildern, an Brauereien, auf dekorativen Steinen und Bänken, sogar Hauswänden. Gegenüber der Bucht begrenzte die Ausdehnung der Stadt ein weiter grüner Hügel, dessen Kuppe ein Obelisk zierte. Im Ortskern ragten verschiedene Denkmäler auf und waren, wie auch die uralten Wände einer steinernen Burgruine, in eine parkähnliche Grünfläche eingebettet. Von fast jedem erhöhten Punkt musste das Meer zu sehen sein.

»Es sieht … anders aus«, befand Yuri nach einer Weile.

»Würdest du das Kloster wiederfinden?«, fragte Jin. Sie standen nun an einer Straßenkreuzung irgendwo in der Ortsmitte.

»Hmm. Vielleicht ist das gar nicht nötig, es ist bestimmt jetzt eine Sehenswürdigkeit oder so was, für die es Wegkarten gibt.« Bedeutsam fügte Yuri hinzu: »Man kommt überall zu Fuß hin.«

»Verstehe.« Jin sah sich um, und sein Blick blieb hängen. Auch Dante hatte das kleine Hinweisschild mit dem weißen i auf grünem Grund entdeckt.

»Was ist, machen wir einen Abstecher zur Touristeninformation?«

Jin nickte zustimmend. »Schließlich müssen wir auch irgendwo unterkommen.«

Das war so ziemlich das dringendste Problem. Sie hatten auf dem kurzen Weg bereits zu viele no vacancies-Schilder gesehen.
 

Das Canolfan Croeso, wie das Informationszentrum auf Walisisch hieß (wovon ein tannengrünes Schild mit weißer Schrift und – natürlich – einem Relief des roten Drachen zeugten), wirkte auf den ersten Blick ziemlich verwaist, wie auch der Großteil des Ortskerns. Doch die Tür war nicht verschlossen, und als die Drei eintraten, klappte eine junge blonde Frau im Strickjäckchen einen Katalog zu, der vor ihr auf dem Pult lag, und schob aufmerksam eine dunkel umrandete Brille auf der Nase zurück.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte sie vorsichtig.

Es war verständlich, dass sie misstrauisch war – bei einer Gruppe aus drei Männern in nicht eben unauffälligem Aufzug dachte man wahrscheinlich als erstes an die Mafia.

Dante übernahm die Antwort. »Zwei Dinge, Schätzchen. Erstens würden wir gern hier im Ort übernachten. Zweitens suchen wir das Kloster Nemeton. Oder was davon übrig ist.«

Das Mädchen protestierte nicht einmal dagegen, ›Schätzchen‹ genannt worden zu sein, sondern bückte sich und förderte einen Prospekt zutage, den sie hastig zu durchblättern begann.

Die hat wirklich Angst vor uns, merkte Dante und fand das ziemlich schade.

»Aberystwyth ist Moment leider überlaufen«, erklärte sie. Ein Umstand, der sich nicht gerade auf den Straßen widerspiegelte. »Es gibt hier noch Zimmer, soweit ich weiß.« Sie hielt ihnen den aufgeschlagenen Prospekt hin, die aktuelle Ausgabe von DARGANFOD Discover Ceredigion 2008 – Cardigan Bay & the Cambrian Mountains, und tippte mit dem Fingernagel auf ein Hotel in der Liste, das Coast Park. Ihr Finger zitterte ein bisschen. Armes Ding. Als Dante die Hand ausstreckte, drückte sie den Prospekt bereitwillig hinein. »Leider steht da drin nicht viel zu Aberystwyth«, brachte sie so gefasst wie möglich heraus, »deshalb glaube ich nicht, dass da ein Kloster erwähnt wird.«

»Moment mal«, mischte sich jetzt Yuri ein, der leider Gottes noch zwielichtiger aussah als Dante, und trat vor das Pult. »Keiner kennt das Kloster Nemeton? Es muss eine Ruine sein.«

Auf der Stirn der jungen Frau stand: Ich habe nie davon gehört, was ich gerade sehr bedaure. Ihre Rehaugen suchten einen Fixpunkt irgendwo über Yuris Scheitel.

Jin (dem nur noch eine Sonnenbrille fehlte, um als Yakuza durchzugehen, so steinern war seine Miene) fragte nüchtern: »Wer könnte etwas darüber wissen? Wen können wir fragen?«

Das Gesicht der Angestellten erhellte sich schlagartig. »Oh, ich – … da weiß ich was.« Wieder bückte sie sich, wieder tauchte sie mit etwas auf. Diesmal war es ein kleiner Ortsplan, auf eine Faltbroschüre gedruckt. Sie umkringelte eine Stelle darauf mit dem Kugelschreiber. »Ungefähr hier gibt es eine Kneipe, The Black Raven. Der Wirt kennt den Cardigan Bay ganz genau. Wenn er nichts weiß, dann gibt es dieses Kloster nicht«, behauptete sie.

Jin nahm ihr das Papier ab. »Danke. Wie heißt der Mann?«

»Rhys.« Sie wurde rot. Offenbar war ihr gerade aufgefallen, dass sie nur seinen Vornamen kannte.

Dante hatte das Wort nicht ganz verstanden; es klang wie Riis, aber so, als hätte sie das R ausgehustet. Seltsame Sprache.

Auch Jin sah ratlos aus, aber Yuri wiederholte mühelos: »Rhys. Ja, klar.« Angeber.

Das beunruhigte Mädchen sich selbst überlassend, kehrten sie dem Canolfan Croeso den Rücken. Jetzt regnete es wieder, stärker als zuvor.

Dante schlug im Gehen den DARGANFOD-Katalog wieder auf, damit sie das Hotel suchen konnten. Tropfen durchnässten das Papier, während die Drei geduldig der Straße folgten. Sie waren weit und breit die Einzigen. Bei solchem Regen blieben selbst Briten zu Hause.

Das Coast Park lag direkt an der Hauptstraße und war nicht schwer zu finden, aber irgendwie hatte Dante das Gefühl, dass sie hier nicht willkommen waren. Im Foyer unterhielten sich zwei geschniegelte junge Männer, die beim sich Öffnen der Tür sofort aufblickten und die Ankömmlinge neugierig beäugten. Zweifellos sollten die Blicke höfliches Interesse bedeuten, konnten das Misstrauen dahinter aber nicht verschleiern.

»Können wir helfen?«, fragte einer von ihnen und trat hinter die Rezeption. Er fragte nicht, ob sie bleiben wollten, und machte auch sonst kein Angebot. Sicher wollte er, dass sie verschwanden und das Regenwasser auf dem Parkett gleich wieder mitnahmen.

»Können wir hier übernachten?«, fragte Dante direkt, damit Jin gar nicht erst anfangen konnte, irgendwas viel zu Gestelztes zu formulieren.

»Eigentlich nicht«, war die genauso knappe Antwort. »Aber warten Sie. Ich weiß, wo Sie hin können.« Er tauschte einen Blick mit dem Anderen, der gar nichts sagte, und griff dann nach dem Telefon. Dann sprach er mit jemandem – auf Walisisch. Erst klang es beiläufig, dann zunehmend insistierend.

Dante stupste Yuri unauffällig an. »Was sagen die?«

»Denkst du, ich kann die Sprachen aller Länder, in denen ich war?«, murrte der zurück.

Sie warteten, bis der Portier auflegte und breit lächelte. »Gehen Sie die einfach die Straße runter bis zur Strandpromenade. Dort ist das Seaside. Direkt am Wasser.«

»Vielen Dank«, sagte Jin in seiner endlosen Höflichkeit.
 

»Wieso schicken die uns durch die Gegend?«, sprach Yuri die Frage aus, die auch Dante beschäftigte. »Warum wollen die uns nicht haben? Sehen wir so scheiße aus?«

»Vielleicht. Oder sie wussten, dass wir kommen.«

Sie hatten die Strandpromenade mit ihren dicht nebeneinander aufragenden Häuserfassaden schnell erreicht und gingen sie entlang. Der Wind zerrte an ihnen, und das Meer war grau und aufgewühlt. Wenn Dante sich umdrehte und hinter sich sah, waren dort nur schwarze, flechtenbewachsene Felsen, ebenso wie gerade voraus. Aberystwyth lag eingekesselt von Klippen mitten in der Bucht. Wahrscheinlich sah das sehr malerisch aus, wenn das Wetter besser war. Falls es hier jemals besser war.

Jin erspähte das Seaside zuerst, denn es war nur ein schmaler Eingang zwischen zwei pseudogriechischen Säulen. Der Laden war klein und schlicht und hätte einer Sanierung bedurft. Und er war – das fiel sofort auf, wenn man den ersten Fuß über die Schwelle setzte – leer. An der Wand hinter der in dunklem Holz gehaltenen Rezeptionstheke hing das Brett mit den Zimmerschlüsseln, und es fehlte kein einziger.

»Willkommen im Seaside!«, sagte plötzlich eine Stimme von oberhalb überschwänglich. »Schön, dass Sie hergefunden haben!« Ein leicht untersetzter Mann kam die hölzerne Treppe herunter, auf der jeder Schritt laut knarrte. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf und trug einen braunen Anzug, der an den Schultern etwas spannte. »Bitte entschuldigen Sie den Regen. Er ist britisches Naturdenkmal.« Sein Lachen war wider Erwarten irgendwie … nett. Trotzdem sah er aus wie ein Gangster. Dante war schon zu vielen Gangstern begegnet; er hätte nicht benennen können, was genau ihnen anhaftete, doch diesem Mann stand es auf der Stirn. GANGSTER. In Großbuchstaben.

Dante wollte eine dumme Bemerkung machen von wegen, dass der Laden ja offenbar genauso ausgebucht war wie alle anderen (sehr witzig), doch Jin grätschte ihm wieder dazwischen, indem er dem Empfangsherrn ziemlich knapp und kühl erklärte, wer sie waren und was sie wollten. Jin hatte sichtbar keine Lust mehr auf Verzögerungen.

Der gedrungene Herr nickte nur professionell und knetete dabei seine Finger, und am Ende des Kurzvortrags griff er, ohne jede weitere Frage, über die Schulter und zog aus einem Fach das übliche Formular hervor, ehe er mit der anderen Hand in ähnlich routinierter Bewegung drei Zimmerschlüssel vom Haltebrett pflückte.

Nachdem jeder von ihnen für einen der Schlüssel unterschrieben hatte, verschwand der Gangster-Portier wieder die Treppe hinauf und warf den Dreien ein vielsagendes Lächeln zu, als hätten sie soeben ein geheimes, sehr lukratives Geschäft abgeschlossen. Dann klappte oben eine Tür, und es war wieder still.

»Seltsamer Mensch«, befand Yuri.

Dante drehte den kleinen Schlüssel in der Hand – der Anhänger, auf dem ›34‹ stand, war aus blankem Metall und zu einer Sonne geformt – und steckte ihn in die Manteltasche.

»Was jetzt?«, wandte Jin sich an die Anderen.

»Schlafen und essen«, erklärte Yuri. »Oder essen und schlafen. Ich weiß noch nicht, in welcher Reihenfolge.«

Es überraschte Dante nicht, dass Jin nicht widersprach, denn auch der musste furchtbar müde und hungrig sein, nachdem auch noch Devil auf einen spontanen Besuch vorbeigekommen war. Schlafen und essen – oder umgekehrt – war genau das, was sie alle jetzt brauchten.

»Gut.« Jin schob seinen Schlüssel ebenfalls in die Tasche. »Dann verabreden wir, dass wir uns um vier Uhr am Nachmittag wieder hier treffen und uns auf die Suche nach dem Kloster machen. Wir sollten so wenig Zeit verlieren wie möglich, aber wir müssen uns ausruhen.«

Dem gab es nichts hinzufügen.

»Man sieht sich.« Dante drehte sich um, machte den Beiden ein lässiges Handzeichen und spazierte zur Tür hinaus. Er wusste schon, welche Reihenfolge ihm am besten passte.

Akt VII - Der Gott aus den Sternen: 11-2

11-2: YURI
 

Yuri schlief bis lange in den Nachmittag. Das Bett war großartig, außerdem hatte er das Gefühl, dass diese Droge, mit der seine Reisegefährten ihn nun schon zum zweiten Mal ins Aus geschickt hatten, ihm nicht besonders bekommen war.

Indes brachte die moderne Zeit mehr Luxus mit sich, als er für möglich gehalten hatte. Es überraschte ihn immer wieder.

»Wir haben Einzelzimmer?«, hatte er Jin ganz benommen gefragt, nachdem Dante sie allein gelassen hatte.

Der wirkte verwirrt. »Natürlich.«

»Wow! Das hatten wir nie. Haben uns zu acht in eins oder zwei gequetscht ...«

»Gab es wenigstens eigene Betten?«, fragte Jin ehrlich konsterniert.

»Nicht immer.« Jins Gesicht war unvergesslich.

Nun jedenfalls war es … spät. Yuri zog die Taschenuhr vom Nachttisch, doch wie immer war sie mit ihren lahm dahin kriechenden Zeigern keine Hilfe. Der Himmel war aufschlussreicher: Die Sonne stand tief, war aber noch nicht untergegangen. Also war noch etwas Zeit.

Sonnenschein war etwas so Seltenes in Wales, dass man es genießen musste.

Yuri streunte durch Aberystwyth und versuchte, sich an Orte zu erinnern; aber abgesehen von der ungefähren Anordnung der Straßen und Wege gab es nichts, das ihm bekannt vorkam. Es waren immerhin fast einhundert Jahre vergangen.

Am kleinen Hafen, wo der Fluss in den Atlantik mündete, traf er Jin, und sie gingen zusammen Essen. Mit Jin und Dante Essen zu gehen wäre schwierig gewesen, denn ihre Vorlieben schlossen einander aus: Dante liebte alles, was mit Käse überbacken war, und Jin hasste es.

Die Suche war kurz, denn der Stadtkern war nicht groß, und die wenigen Asiaten, die hier lebten, wussten genau, wo sie sich am ehesten zu Hause fühlten. Die kulturwissenschaftliche Tagung hatte noch einmal mehr Menschen in die Stadt gezogen, und das kleine, aber angenehm unaufdringlich eingerichtete asiatische Mittagslokal war ein gut besuchter Anlaufpunkt. Während Yuri und Jin erst einmal schweigend aßen (weil es nichts zu sagen gab), horchte Yuri mit einem Ohr auf das Radio in der Zimmerecke, das soeben die Lokalnachrichten verkündete. Wenig überraschend wurde, nachdem von dem Zugunglück berichtet worden war, vor einem wilden Tier gewarnt, das die Schafherden angriff – möglicherweise tollwütig –, und die Besitzer sollten doch unbedingt ihre Tiere gut bewachen oder besser gleich in Ställe sperren, bis die Schafmordserie aufgeklärt war. Kurioserweise war die Rede von einem offenbar schon bekannten Phänomen: dem ›Monster von Clarach‹. »Es ist der erste Hinweis darauf, dass dieses wilde Tier, das bislang als der Phantasie der Anwohner entsprungen galt, tatsächlich existiert. Die Ermittlungen werden zur Stunde intensiviert.« Interessant.

Ob Jin ebenfalls zuhörte oder nicht, war ihm nicht anzumerken. Er sagte kein Wort, bis er fertig war. Yuri, der schneller gegessen hatte, wartete geduldig, bis auch sein Gefährte die Stäbchen hingelegt hatte.

»Ich muss dich was fragen«, begann er dann. »Das macht mich schon lange neugierig. Also: Warum bist du zu Dante gegangen?«

Jin sah ihn ruhig an. »Warum?«

»Er ist Dämonenjäger. Hattest du keine Angst, dass er dich einfach … umbringt?«

Jin dachte nicht gern darüber nach, das war ihm anzusehen. »Vielleicht hat ein Teil von mir das sogar gehofft«, sagte er schlicht.

Yuri sah ihn erstaunt an. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte, und sie gefiel ihm nicht.

Jin erklärte sich nicht weiter. »Kann ich dich etwas zu deiner Fähigkeit fragen?«, wollte er seinerseits wissen.

»Klar«, erwiderte Yuri achselzuckend. »Nur zu.«

»Fürchtest du dich davor?«

»Oh, hmm …« Yuri tat einen Moment lang so, als hätte er etwas zwischen den Zähnen. Die Antwort war nicht ganz einfach. »… Früher mal. Heute nicht mehr. Ich hab meine Grenzen ausgetestet. Ich bin vorsichtig.«

Jin beobachtete ihn genau. »Aber … machst du es gerne?«

»Gerne? Nein, natürlich nicht!« Der Gedanke entsetzte Yuri fast. »So was macht man nicht gerne. Ich muss ständig um Kontrolle kämpfen. Bei schwächeren Monstern, deren Seelen ich gut kenne, macht mir das nicht so viel aus, aber bei stärkeren muss ich echt vorsichtig sein! Ich hab das einmal erlebt, bei einer Fusion zu verlieren. Macht mir heute noch Alpträume.« Ehrlich, wie er war, fügte er hinzu: »Also, das mit der Angst … Ich hab Angst, wenn ich merke, dass eine Dämonenseele stark ist und ich sie unterwerfen muss. Dann hab ich jedes beschissene Mal Angst, nicht mehr zurückzufinden, wie damals. Es ist das, vor dem ich am meisten Schiss habe.« Er zögerte. »Neben dem Mistelfluch, meine ich.«

»So geht es mir mit Devil«, murmelte Jin. »Ich muss befürchten, dass er mich irgendwann ganz übernimmt … und ich nie wieder an die Oberfläche komme.«

Yuri widerstand dem Drang, ihn zu fragen, wovor jemand mit so viel Kohle wohl sonst Angst haben konnte. Jin brauchte gar nicht so zu tun, als hätte er ihm eben etwas Intimes anvertraut, wenn er das Devil-Problem sowieso schon allen ins Gesicht geschmissen hatte. »Ja, das ist es«, sagte er diplomatisch. »Eigentlich genau wie bei mir.«

Da bekam Jins Blick wieder dieses Bohrende, das beim Zurückblicken fast wehtat. »Wie fühlt sich das an?«

»Was?«

»Fusionieren. Sich willentlich zu vereinigen mit einem … Monster. Tut das weh?«

Yuri schüttelte den Kopf. »Nö, am Körper nicht. Aber dein Hirn explodiert und deine Seele wird in viele kleine Teile zerfetzt und neu zusammengesetzt. Also, rechne dir aus, wie angenehm das ist. Tut Devil denn weh?«

»Ja.«

»Oh.«

»Ziemlich sogar. Am ganzen Körper.« Jin blinzelte nicht. »Ich wünschte nur, ich hätte auch genug mentale Stärke … um es zu beherrschen.«

Jins selbstkasteiender Ton wurde Yuri unangenehm. »Kräfte sind nie im Gleichgewicht«, versuchte er, etwas irgendwie Hilfreiches von sich zu geben, »und Fähigkeiten sind nie fair verteilt. Nie. Guck dir Dante an: Kann alles, aber faul wie ’n Hund.« Er fand das Beispiel exzellent.

Natürlich reagierte Jin nicht auf die Lästerei. »Darf ich noch was fragen?«

»Frag doch nicht immer, ob du fragen darfst, sondern frag

»Was glaubst du, was Azazel am ehesten anlocken würde? Ich meine … um ihn zu beschwören. Wie Sarris es vorhat.« Jin hielt kurz inne und präzisierte: »Er hat gesagt, Chaos wäre der Schlüssel. Trotzdem hat er es nicht geschafft, Azazel auf sich aufmerksam zu machen und ihm Form zu geben. Was, glaubst du, bringt so viel Chaos und Böses in die Welt, dass alles aus den Fugen gerät … und Azazel erscheinen muss?«

Yuri war froh, bereits mit der Mahlzeit fertig zu sein, denn dieses Thema schmeckte ihm nicht. So etwas fragte nur jemand, der wirklich keinen blassen Schimmer hatte. Düster antwortete er: »Weißt du das echt nicht?«

»Nein.«

»Krieg.« Yuri sah Jin in die Augen, doch dort war, wie immer, nichts zu lesen. »Ich weiß, wovon ich rede. Ich hab den Weltkrieg miterlebt.«

»Den Weltkrieg? Du meinst den ersten.«

»Kommen da etwa noch mehr?« Hoffentlich nicht, solange ich noch lebe!, dachte er bestürzt. »Aber hier in eurer Zeit gibt’s doch sicher keine Kriege mehr, oder? … Oder?«

Jin sah beiseite und wich aus: »Konflikte sind nicht auszurotten. So viel weiß ich.«

Yuri war bereit, das zu glauben. In Jins Familiengeschichte reichten die Wurzeln des Hasses tief. »Aber nichts rechtfertigt Krieg«, sagte er bestimmt. »Krieg stellt alles, was du bisher an Scheiße gesehen hast, in den Schatten. Glaub mir.« Noch heute konnte er das brennende Domremy vor sich sehen, ein Dorf voller Unschuldiger, hörte die Schüsse und das gefräßige Geräusch des Feuers, als es ganze Existenzen verschlang, roch brennendes Fleisch in der heißen, erstickenden Luft … Und das war nur ein so verdammt winziger Teil des großen Ganzen, das sich hinter dem kleinen Wort Krieg verbarg.

»Meine Mutter hat immer versucht, mich von allen schlechten Eindrücken fernzuhalten.« Jin drehte gedankenverloren eine Ein-Pfund-Münze in der Hand, die den walisischen Drachen zeigte. »Ich hatte auf Yakushima die friedlichste Kindheit, die man sich vorstellen kann.«

»Da ist also immer noch nichts außer Natur?«

»Kaum. Ich bin behütet vor allem Schlechten dort aufgewachsen.«

»Sodass die wirkliche Welt mit ihren ganzen Abartigkeiten wie ein Tsunami über dich reinbrechen konnte«, fügte Yuri an und konnte nicht verhindern, dass sein Ton leicht ätzend wurde. »Gute Arbeit, Mami Kazama. Damit hat sie dir keinen Gefallen getan.«

Jin funkelte ihn an. »Sie wollte mich davor beschützen, zu dem zu werden, was ich jetzt bin! Sie hat gegen Devil gekämpft, als er das erste Mal kam – «

»Ja, klar hat sie das! Mamis wollen immer nur das Beste. Aber mir hat auch keiner gesagt, was da in mir schlummert, bis es eben irgendwann rauskam! Und jetzt beherrscht es mein Leben. Und bei dir ist das genauso. Es beherrscht dein Leben.« Endlich hatte er es mal ausgesprochen. Das war fällig gewesen.

Jin sah ihn zweifelnd an. »Du kannst dich und mich nicht vergleichen.«

»Kann ich sehr wohl.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun?«

»Das, was ich auch tun musste. Akzeptiere es.«

Jin schüttelte den Kopf und schob ruckartig seinen Stuhl zurück. »Niemals«, sagte er brüsk. »Nur weil du aufgegeben hast, muss ich das nicht auch tun.«

»Ich habe nicht aufgegeben«, protestierte Yuri, aber Jin war schon um den Tisch herum und unterwegs zum Tresen, um das Geschirr zurückzugeben. »Ich habe mich überzeugen lassen …« Aber Jin hörte nicht zu, und Yuri war klar, dass er genauso gut mit dem Tisch hätte reden können.

Schweigend gingen sie durch den Ort zurück zur Seepromenade. Die Sonne sank langsam, und die ganze Bucht schien in einem grauen Dunst zu liegen, dem auch der strenge Wind, der an ihren Mänteln zerrte, nichts anhaben konnte.

Dante wartete auf sie an der Seebrücke. Obwohl er auf das Meer starrte und sich nicht umdrehte, bemerkte er das Kommen der Beiden und fragte: »Was ist, seid ihr bereit für die Kneipentour?«

»Wollten wir nicht das Kloster suchen?«, fragte Yuri und bemühte sein Gedächtnis, was genau sie besprochen hatten.

»Ja, eben. Hast du dem Schätzchen nicht zugehört? Wenn einer das Kloster kennt, dann der Wirt vom Black Raven

»Und wo ist das?«

»Ich habe es unterwegs gesehen«, meldete Jin. »Gleich neben der Brauerei.«

Welch günstiger Ort für eine Kneipe, fand Yuri. »Fein, dann gehen wir den guten Rhys jetzt mal besuchen. Und löchern ihn ein wenig.«
 

Neben der Brauerei schmiegte sich tatsächlich das urtümlich aussehende The Black Raven in eine Nische. Es war ein etwas heruntergekommen aussehendes, doppelstöckiges Haus, schmal und mit schlichter Fassade. Anscheinend hatte dieser Rhys sich hier eine Art Traum erfüllt und das untere Stockwerk zu einer Kneipe ausgebaut, über der er wohnen konnte. Das schwarze Schild am Eingang zierte ein goldener Löwe mit einer Axt in der Pfote. Ein hellblauer Pickup stand halb auf dem Gehweg.

Drinnen war es recht dunkel, aber die Luft war in Ordnung – wahrscheinlich, weil noch nicht viele Gäste da waren. Yuri zählte insgesamt fünf. Hinter einem Tresen aus längs geschnittenen, polierten Baumstämmen stand ein älterer Mann mit schon schneeweißem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und einem wallenden Vollbart, in dessen Spitze er eine grüne Perle gefädelt hatte. Auf seiner Nase saß eine Brille mit schmucklosem Metallgestell, und über dem weißen Hemd mit den hochgeschlagenen Ärmeln trug er eine hellbraune Wildlederweste. Während er ein Bierglas polierte, summte er eine Melodie vor sich hin und hörte auch dann nicht damit auf, als die Drei eintraten.

Yuri beschloss, das Reden zu übernehmen und sich mit ein bisschen Walisisch einzuschleimen. »Noswaith dda, guter Mann. Bist du Rhys?« Jin und Dante guckten ihn dumm an.

Der Wirt sah auf. »Ja, wer soll ich sonst sein?«

»Können wir dich um eine Information bitten?«

»Tja, da ihr Drei nur aus Muskeln zu bestehen scheint, wäre es wohl nicht klug, Nein zu sagen«, erwiderte Rhys ruhig. Seine Stimme war weich wie die eines Märchenopas. »Was wollt ihr wissen?«

»Äh – also, wir wollten dich nicht einschüchtern oder so …«

»Nicht? Warum steht ihr dann in der Tür, statt reinzukommen und euch hinzusetzen?« Er nickte zu einem freien Tisch an der holzgetäfelten Wand. »Ihr seht, es ist noch früh für mich. Kann ich euch was bringen? Ale, Stout, Cider?«

Yuri wollte gerade den Anderen mitteilen, dass walisischer Cider echt gut war, doch prompt musste Dante dazwischen holzen: »Gibt’s in Wales guten Whisky?«

»Nein, nicht wirklich.« Rhys kaute auf seiner fleischigen Unterlippe. »In Wales wurde die Whiskybrennerei Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufgegeben. Es gibt ein paar sehr junge Single Malts, aber ich würde jederzeit sagen, die da oben können das besser.« Er nickte zur Decke, wahrscheinlich Richtung Schottland. »Aber unser Cider hat es drauf.«

»Wir trinken Cider«, entschied Yuri über die Köpfe der Anderen hinweg. Er wollte keine Zeit verlieren.

Rhys ging hinter die Theke, nahm große Gläser aus dem Regal und befüllte sie mit einer fast provokanten Seelenruhe. »Also …«, begann er nachdenklich, »… was verschlägt euch Drei nach Aberystwyth? Einen Asiaten, einen Amerikaner und einen …« Er linste zu Yuri. »Was bist du, mein Freund?«

»Nur ’ne Promenadenmischung.« Yuri musste Rhys zugestehen, dass er offenbar ein guter Beobachter war, denn weder Dante noch Jin hatten bislang den Mund aufgemacht, um ihre Herkunft zu verraten. Nun gut, Jin war ganz offensichtlich Asiat, und wahrscheinlich zogen sich nur Amerikaner so schräg an wie Dante.

»Jedenfalls seid ihr ein auffälliges Trio. Um diese Zeit könntet ihr schön an der Uferpromenade sitzen, Sandwiches essen und Espresso schlürfen. Schließlich regnet es gerade mal nicht. Aber stattdessen kommt ihr zu mir und bestellt Cider. Muss wichtig sein, was ihr da wissen wollt.« Schmunzelnd stellte er die Gläser hin. »Zum Wohl. Ihr wisst, was man in Wales sagt? Iechyd da

Yuri sah gleich, dass das außer ihm niemand wiederholen konnte, also tranken sie alle kommentarlos den ersten Schluck. Na so was, der Cider war noch besser geworden in den letzten hundert Jahren!

»Das ist nicht übel«, befand Jin.

»Schmeckt wie Apfelsaft«, fügte Dante gönnerhaft hinzu.

Kurz darauf ließ Rhys seinen Blick einmal durch den Raum gleiten, seine Kunden auf neue Bestellungen abprüfend; dann, als niemand einen Wunsch signalisierte, zog er seine Schürze aus, der das Abwaschwasser einige feuchte Flecken beigebracht hatte, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu den Dreien. »So. Und jetzt, da ihr meine Gäste seid, lasst mich mal wissen, was ich für euch tun kann.«

Yuri hatte nur zu gut im Hinterkopf, wie seltsam sie bisher in Aberystwyth behandelt worden waren und wie schief man sie hier ansah. Also versuchte er vorsichtig zu sein. »Wir … interessieren uns für gruselige Geschichten«, erklärte er. »Nenn uns ein paar Freaks. Wir haben gehört, dass es hier ein Kloster gegeben hat, mit ’ner echt kranken, dreckigen Geschichte. Wir wollen uns die Ruinen ansehen.«

Rhys nickte wissend. »Das Kloster Nemeton.«

»Du kennst es! Na Gott sei Dank.« Yuri spürte ein aufgeregtes Kribbeln.Tatsächlich: Rhys wusste, worum es ging.

»Das Problem ist, dass es keine Ruinen mehr gibt. Das Kloster ist mehrmals bis auf die Grundmauern abgebrannt, die Ruine fiel immer wieder Brandschatzungen und Vandalismus zum Opfer. Am Ende war so wenig davon übrig, dass es nicht erhaltenswert war. Es gab nichts mehr, das man unter Denkmalschutz stellen konnte oder so. Ich kenne die ganzen Geschichten auch nur von meiner Großmutter, aber wie ihr euch denken könnt, lebt die auch nicht mehr.« Der Wirt zuckte entschuldigend die Schultern.

Yuri war maßlos enttäuscht. »Es gibt also nichts mehr … gar nichts mehr?«

»Kein einziges Steinchen.« Rhys schüttelte den Kopf.

»Kann man wenigstens noch die Stelle bestimmen, wo es gestanden hat?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Aber … ganz in der Nähe muss eine riesige Felsspalte im Boden gewesen sein! Wie eine Schlucht, quer durch die Ebene bis ins Meer!«

»Hmm, ja«, murmelte der Wirt und kratzte sich grübelnd das Kinn, »von diesem Spalt habe ich allerdings gehört. Es soll ihn bis etwas 1936 gegeben haben, aber es gibt keine Aufzeichnungen, die das irgendwie belegen. Meine Großmutter hat ihn manchmal erwähnt … sie nannte ihn ›Grube der Alpträume‹ und machte uns Kindern Angst damit, man würde uns reinwerfen, wenn wir nicht artig wären. Anscheinend wusste niemand, was dort unten war, aber man fürchtete sich davor. Also, tja, das wird wohl auch nur eine lokale Legende sein, mehr nicht.«

Yuri sah ihn etwas ratlos an. Dann fragte er hoffnungsvoll: »Gibt es jemanden, der uns zeigen könnte, wo dieser Spalt mal gewesen sein soll? Irgendjemand von damals wird doch noch lebendig sein?«

»Hmmmm …« Rhys schürzte die Lippen, zögerte.

»Was?«

»Ich fürchte, da wird sich niemand finden … Sicher gibt es noch Alte, die sich erinnern, aber man will da gar nicht hin, verstehst du. Die Leute aus Clarach meinen … also, die Dörfler von nebenan … Ich geb das nur so wieder, aber ich glaube nicht dran, ja? Die sagen, dort auf der Ebene lebt ein Monster. So, da habt ihr’s.« Er schien sich für den Aberglauben seiner Landsleute zu schämen. »Deshalb wird euch auch niemand den Ort zeigen wollen. Jedenfalls niemand, der schon mal da war.« Mit einem weiteren vehementen Kopfschütteln schob er seinen Stuhl zurück. »Tut mir leid.«

»Warte«, sagte Jin.

Rhys drehte sich zu ihm um.

»Seit wann gibt es die Berichte über dieses Monster?«

»Oh je. Lass mich überlegen … Ich erinnere mich, dass auch schon meine Großmutter es erwähnt hat. Sie behauptet, es wäre dann aufgetaucht, als … Ach, noch so eine dumme alte Geschichte. Es gibt eine urbane Legende über jemanden, der hier in Aberystwyth war, ein Mann, der einen Gott von jenseits der Sterne erschlagen haben soll. Tja, die Felsen sind ein unheimlicher Ort, vor allem bei schlechtem Wetter … Jedenfalls heißt es, dass dieser Mann hierher zurückkehrte, damals, und dass das Monster zu ihm gehört. Es soll verhindern, dass jemals ein Sterblicher ihn zu Gesicht bekommt. Der Held ist hierher zurückgekommen, um den Rest seiner Tage in der Einsamkeit des Cardigan Bay zu verbringen … Tja, und wenn er nicht gestorben ist, dann …« Rhys machte eine ratlose Geste.

»Schöne Geschichte«, bekundete Dante. »Das Monster beschützt also das Versteck dieses … wie hieß der Kerl?«

Rhys zuckte die Schultern. »Das weiß keiner. Man nennt ihn hier nur den Gottesschlächter.«

Yuris Kehle war wie zugeschnürt. Welch Glück, dass er deshalb nicht irgendein dummes erschrecktes Geräusch von sich geben konnte. Er hatte schon befürchtet, diesen einen Namen wieder zu hören – aber ganz bestimmt nicht hier, nicht jetzt.

Der Gottesschlächter, dachte er, schwindelig. Lange nichts von dem alten Knaben gehört …

Akt VII - Der Gott aus den Sternen: 11-3

11-3: JIN
 

Gottesschlächter.

Jin dachte einen Moment lang über das Wort nach. Es klang brutal, martialisch, wie Kriegsvokabular.

»Also müssen wir, wenn wir den früheren Standort des Klosters finden wollen, an einem Monster vorbei, das alle Fremden von diesem … legendären Krieger fernhält«, folgerte er.

Rhys schmunzelte. Er wirkte immer noch etwas beschämt. »Urbane Legenden, meine Freunde. Wie gesagt, es kann unheimlich sein da oben. Aber es gibt keine Überreste, von denen ich wüsste, auch keine unsichtbaren; das Kloster ist gründlich ausradiert worden. Kein Wunder, dass man es nicht erhalten wollte, wenn man seine Geschichte kennt: mörderische Kulte, Folter, grausame Experimente, Nekromantie, Spuk, blutige Rituale … Wer will schon damit was zu tun haben? Die Leute hier haben es schnell vergessen, so schnell, dass ihr heute keinen mehr zu fragen braucht. So funktioniert Verdrängung. Man spricht einfach nicht mehr über die unangenehme Vergangenheit.«

Je mehr Rhys sprach, desto mehr verspürte Jin den Wunsch, dieses Kloster zu finden. Auch wenn sie dort vielleicht weder die Émigré-Schrift noch die vierzehn Seiten finden würden: Irgendeine Spur zu diesen mächtigen Artefakten musste es geben, eine Spur zu – …

Er zuckte zusammen, als ihm klar wurde, was er gedacht hatte. Es war immer noch da, dieses Säuseln in seinem Unterbewusstsein, das er in manchen Momenten nur noch mühsam von seinen eigenen Gedanken unterscheiden konnte.

Macht. Auferstehung. Weck mich auf. Bring mich zurück ins Leben.

Dorthin würde der Weg vom Kloster führen. Falls sie die magischen Schriften fanden, musste Jin ihnen unbedingt fernbleiben. Oder …

»Na los, wir entmystifizieren das Ganze und finden den Gottesschlächter«, kam es gerade in munterem Ton von Dante, ehe er sich den Rest seines Ciders hinter kippte. Rhys war wieder hinter seine Theke getreten und polierte dort emsig ein Bierglas nach dem anderen.

»Äh«, sagte Yuri etwas dümmlich. Er sah irgendwie unglücklich aus, als hätte er soeben eine unbequeme Wahrheit erfahren, die ihn ratlos zurückließ. Jin wurde aufmerksam.

»Was ist?«

»Äh, nichts. Ja, das ist, was wir machen sollten. Dieses Monster suchen …«

Jin sah über den Tisch zu Dante, doch der hatte anscheinend nicht verstanden, was los war, denn er schaute nur mit unbewegter Miene zurück. Also wandte Jin sich mit mehr Nachdruck an Yuri: »Was weißt du über diesen Gottesschlächter? Bist du ihm begegnet?«

»Nö«, erwiderte Yuri versuchsweise, verdrehte dann die Augen und räumte ein: »Ja, doch. Kannte ihn aber nicht besonders gut.«

»Was war er? Ein Held?«

»Nicht wirklich. Er war schon eher ’n ziemlicher Blödarsch. Also, das mit dem Gott und so stimmt wahrscheinlich, aber er hat auch viel Mist gebaut.«

»Was zum Beispiel?«

»Er hat … Shanghai zerstört«, sagte Yuri ernst, und sein Blick war ungewohnt kalt dabei. »Es ist alles abgebrannt, weil er’s verkackt hat. Die ganze Stadt! So was kann man echt nicht Held nennen.«

»Ich bin jedenfalls gespannt darauf, den zu treffen«, ließ Dante gut gelaunt verlauten. Zweifellos glaubte er kein einziges Wort der alten Geschichten, die Rhys berichtet hatte. »Also, wenn ihr euren Apfelsaft austrinken würdet …«

»Mach mal langsam!«, versetzte Yuri und umklammerte seinen Cider. »Ohne mich kommt ihr da überhaupt nicht hin. Also lass mich austrinken!«

Jin hatte das Gefühl, Yuri würde nur versuchen, irgendetwas Unausweichliches hinauszuzögern. Ihm entging nicht das kaum merkliche Zittern der Finger, die ein so gut wie leeres Glas festhielten, als wäre es noch randvoll.
 

Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, bis alle Cidergläser leer waren. Danach standen sie wieder zu dritt an diesem sehr, sehr kalten und windigen Abend vor dem Black Raven, während die Dämmerung immer schwärzer über sie sank.

Jin war völlig klar, dass Nina und Trish jede ihrer Bewegungen verfolgten, vermutlich über das Signal seines Handys. Einen anderen Grund konnte es nicht dafür geben, dass die beiden Frauen immer noch zusammen hockten. Nina war weder eine liebenswürdige Person, noch war sie unbegrenzt loyal, und für eine spontane Freundschaft eignete sie sich genauso wenig wie Trish, die – was Jin nur vermuten konnte – schon aufgrund ihrer Herkunft ein gesundes Misstrauen gegenüber Fremden hegen musste. Nein, was die Beiden jetzt bildeten, war keine Clique zum Austauschen von Styling-Tipps oder Keksrezepten, sondern eine Zweckgemeinschaft zur Beobachtung derjenigen, für die sie sich verantwortlich fühlten. Der Gedanke war sowohl etwas unheimlich als auch sonderbar beruhigend.

»Wir müssen runter zur Seepromenade«, gab Yuri sich schließlich geschlagen. »Und von da … nach … Norden.« Er ließ die Schultern hängen, als er sich in Bewegung setzte.

»Du wolltest dahin«, erinnerte ihn Dante und folgte ihm. »Wir sind deinetwegen hier.«

»Jaja. Ich weiß.«

Jin ging den Beiden mit etwas größerem Abstand hinterher. Durch die stillen, schmalen Gassen rauschte eine weitere kräftige Bö vom Meer heran und ließ ihn fröstelnd seinen Mantelkragen hochschlagen. Die vom gelben Licht der Straßenlaternen beschienenen Gestalten seiner beiden Gefährten warfen scharfe Schatten, während sie lebhaft weiter diskutierten. Dante versuchte noch immer, Yuri weitere Details aus der Nase zu ziehen; dieses Gottesschlächter-Märchen interessierte ihn.

»Wie warst du in die Geschichte verwickelt?«

»Ich … hab den Typen verfolgt, der diesen Gott aus dem All beschwören wollte.«

»Hast du den Gott gesehen?«

»Nein.«

»Und hast du den Gottesschlächter gesehen?«

»Nur kurz. Von weit weg.«

»Wie sah der aus?«

»Wie schon? Normal.« Yuri antwortete so unverhohlen widerwillig, dass Dante auflachte.

»Glaubst du, der Kerl ist wirklich später hierher zurückgekommen? In dieses Nest?«

»Ach, Blödsinn. Wir finden keine Spur von ihm, vergiss es. Und ein Monster finden wir auch nicht.«

Vor ihnen eröffnete sich das befestigte Ufer mit seinen hohen Laternen und dem klobigen weißen Geländer. Autos parkten vor der Strandpromenade, hinter der sich schwach glitzernd das schwarze Wasser erhob, unruhig unter den ständig hereingehenden Meeresbrisen. Jin fand, dass das Meer bei Nacht eine noch stärkere Faszination ausübte, wenn nicht nur seine Tiefen, sondern auch seine Oberfläche kaum zu erspähen war, nur sichtbar gemacht durch die Reflexionen der zivilisierten Welt und ansonsten gegenwärtig durch seine Sprache, sein Rauschen und Brausen, das mal fern, mal nah, mal überall zugleich ertönte.

Yuri und Dante waren stehen geblieben und starrten mit windzerzaustem Haar und flatternden Mänteln in die horizontlose Finsternis. Yuri wandte den Kopf nach rechts, wo sich oberhalb des Stadtrands nichts als bewachsener Fels erhob – die Klippen des Cardigan Bay. Jeder vernünftige Mensch hätte sie darauf hingewiesen, dass ein Aufstieg auch bei Tageslicht zu dieser Jahreszeit nicht empfehlenswert war; im Dunkeln würde allzu leicht ein Fehltritt die Kletterpartie beenden. Doch Jin, Dante und Yuri waren weit davon entfernt, vernünftige Menschen zu sein.

Dante zückte seine Taschenlampe und schlug sie auf die Faust, um sie zum Strahlen zu bringen. Jin aktivierte die flashlight-Funktion seines Telefons. Zuckend huschten die blassen Lichtkegel über flechtenbewachsenen Stein und braunes Stechginstergestrüpp, als die drei dem mehr als unsicheren Pfad hinauf auf den Fels folgten. Ein verwittertes Warnschild auf Englisch und Walisisch (›PERYGL! Creiau’n syrthio!‹) versuchte vergeblich, sie aufzuhalten.

Während des Hinaufkletterns auf die Felsformationen froren sie erbärmlich. Die scharfen Winde, die von allen Seiten um sie tosten, rissen jede Wärme sofort von ihren Körpern fort, sodass sie trotz Anstrengung auskühlten.

»Hier sieht alles gleich aus«, stellte Dante nach einer Weile schweigenden und mühsamen Erklimmens fest.

Jin kämpfte mit dem heftigen Wind, der ihn immer wieder auf die Klippe zudrückte und ihm das Haar ins Gesicht peitschte. Selbst unter dem Mantel fror er so sehr, dass seine Glieder zitterten. Wie gut, dass er voll im Training stand; die Anstrengung des mühseligen Vorantastens im Dunkeln konnte ihn nicht so sehr ermüden, dass seine Bewegungen unachtsam wurden. Er hielt an, atmete tief durch und suchte mit dem Licht seines Handys die Felskuppe ab. Blassgelbe Gräser bogen sich dort unter der Gewalt der Böen, die immer wieder aus dem schwarzen Himmel niederfuhren.

»Wir sind gleich oben«, sagte Yuri. Er war dicht neben ihm.

Jin schüttelte sich, wie immer vergeblich. »Der Wind dreht ständig.«

»Oh ja. Als ich zum ersten Mal hier war, dachte ich noch, es wäre cool, von der Klippe zu pinkeln. Hab ich bereut.«

Jins nächster Schritt bot ihm auf dem nachtfeuchten Stein keinen Halt, und er zögerte. Über ihm und Yuri machte Dante soeben gewohnt lässig den letzten großen Schritt auf den Felskamm hinauf und blieb dort breitbeinig stehen. Viel zu sehen gab es sicher nicht für ihn; inzwischen war auch der letzte helle Streifen am Himmel undurchdringlicher Finsternis gewichen.

»Was siehst du?«, fragte Jin ohne große Hoffnung.

»Nichts. Kein Monster, keinen Gottesschlächter.«

»Da müssen tiefe Gräben im Boden sein, quer durch das Land«, sagte Yuri bestimmt und mühte sich, die letzten Meter hinauf zu krabbeln. »Der Schwimmer hing an einer Art Nabelschnur, als er aus dem Meer gestiegen ist …«

Dante leuchtete ihm mitten ins Gesicht, was ihn straucheln ließ. »Hyuga, du fängst jetzt aber nicht wieder mit diesem Gott-von-jenseits-der-Sterne-Zeug an?«

»Hey, hör auf damit! Guck mich nicht an, als wär ich ein armer Spinner. Ich wollte es auch nicht glauben, aber ich hab’s gesehen!«

»Also doch?«

»Ich hatte den Invokationstext in der Hand, das Buch von R’lyeh. Der Schwimmer war sein Thron …«

»Du weißt viel mehr über diese Nummer, als du zugeben willst. Warum?«

»Ich hab den Bösen gejagt! Sagte ich doch!« Yuri kam nicht weiter nach oben, da er nicht hochschauen konnte, ohne geblendet zu werden.

»Dabei warst du aber nicht sehr erfolgreich, wie’s aussieht, denn die Invokation hat ja funktioniert. Der Gottesschlächter musste kommen und dir hinterräumen, stimmt’s? Deshalb spielst du ihn runter. Von wegen Weltrettung! Er hat die Welt gerettet, nicht du, hm?«

Yuri stieß ein zorniges Keuchen aus, duckte sich und überbrückte den verbliebenen Abstand zwischen sich und Dante mit einem gewaltigen Hechtsprung. Das Manöver hätte schief gehen können angesichts der vielen unregelmäßigen Felskanten, doch die Katastrophe blieb aus. Yuri krachte mit vollem Schwung gegen Dante, und sie gingen auf der anderen Seite des Felsmassivs als Knäuel zu Boden.

Jin griff mit beiden Händen in das nasse Gras und kämpfte sich hangaufwärts. Mussten die Beiden sich gerade jetzt wie die größten Idioten benehmen? Musste ihrer beider Großspurigkeit sich immer wieder als passive Aggressivität manifestieren, bis es für einen von beiden unerträglich wurde? Jin zog sich am stacheligen Gewirr eines Ginsterbusches auf die Felskuppe hinauf, packte sein Handy und ließ dessen Lichtstrahl suchend über die andere Seite des Hangs kreisen. Der eisige Wind machte ihn beinahe taub. Schnell hatte er Dante und Yuri entdeckt: Sie lagen in einer Grasmulde knapp unterhalb, und nein, sie rauften nicht. Yuri hockte über Dante, der gerade einen Satz mit »… einfach nur ein kleiner Angeber« beendete.

»Hör auf mit dem Scheiß!«, fauchte Yuri ihm ins Gesicht. »Warum willst du unbedingt wissen, was mit dem Gottesschlächter ist? Er ist tot! Und ohne mich hätte er diesen Gott nie besiegt!« Er atmete ein paar Mal heftig ein und aus, dann stieg er von Dantes Brust. »Ich versteh schon«, setzte er nach, sich aufrappelnd. »Aber vergiss das. Er war nicht dein Vater, Dante. Der Gottesschlächter war nicht Sparda.«

Dante sagte nichts. Er sah aus, als wollte er es sich in der Mulde gemütlich machen.

»Er ist ein Mysterium für dich, oder? Ich meine deinen Vater. Meiner war auch eins für mich.« Yuri wandte sich ab.

Das war der Moment, in dem Dante hochschnellte und nun seinerseits Yuri unter sich begrub. Wieder rollten sie ein Stück den Hügel hinunter. Jin verdrehte die Augen und wusste gleichzeitig, dass es keinen Sinn hatte, die Kabbelei schlichten zu wollen.

Dante legte seinen Arm quer über Yuris Brust, ihn mühelos am Boden haltend. »Was weißt du kleiner Klugscheißer eigentlich über meinen Vater? Gar nichts. Ist mir egal, wann du welchem Gott oder Dämon in den Arsch getreten hast und was deine große Klappe sonst noch so ausspuckt. Interessiert mich nicht, wird mich nie interessieren. Du nervst. Ich fand mich immer anstrengend, aber du stellst mich glatt in den Schatten. Unsere Väter waren in keinem Bündnis! Sparda und ein Oberst der japanischen Armee? Vergiss es! Sparda hat die Menschen vor der vollständigen Versklavung durch die Unterwelt bewahrt und dafür Opfer gebracht, die du dir nicht vorstellen kannst. Was für Weltrettungen auch immer du dir oder deinem Vater zuschreibst, es ist Kinderkram.« Dante hatte in ruhigem, herablassendem Ton gesprochen, und jetzt nahm er den Arm gnädig beiseite und stemmte sich hoch.

Bitte, dachte Jin, lass Yuri jetzt nicht –

Doch natürlich stürzte Yuri sich sofort wieder von hinten auf Dante. »Wo war denn Sparda, als Dehuai das Dämonentor beschworen hat?«, rief er so zornig, dass seine Stimme sich fast überschlug. »Wo war er, als mein Vater seinen Verstand geopfert hat, um es aufzuhalten? Wo war er, als Albert Simon den Schwimmer aus dem Meer gerufen hat, als Thron für den irren Gott? Wo war er, als Rasputin und Kato mit ihren Seelenpakten die Welt in eine Hölle verwandeln wollten? Wo war er, als ich meinen Verstand geopfert habe, um den Seraphischen Glanz aufzuhalten? Mein Wahnsinn hat Alice das Leben gekostet, du – ! Du – !« Er bebte in ohnmächtigem Zorn wie ein Fieberkranker. »Dein Vater konnte die Menschheit vielleicht vor zweitausend Jahren beschützen! Aber kurz vor seinem Ende war er schwach. Er hat seine Kräfte aufgegeben, weil er keine Lust mehr hatte zu kämpfen. Hat sich hingesetzt, geheiratet und dich gekriegt, Ende vom Lied! Das ist die Wahrheit. Du weißt es!«

Dante hatte sich in keiner Weise gewehrt, während Yuri über ihm kauerte und ihn anschrie. Jetzt aber stieß er mit einem Mal beide Fäuste vor und Yuri mitten in die Leber. Der Jüngere kippte zur Seite, schwer getroffen.

»Ich hab verstanden. Halt die Klappe«, sagte Dante.

Er stand auf und machte einen großen Schritt über den im Gras liegenden Yuri. Dieser brauchte einen Moment, um sich von dem empfindlichen Treffer zu erholen.

»Habt ihr das geklärt?«, wandte sich Jin an den Teufelsjäger und konnte nicht verhindern, dass eine gewisse Abscheu dabei mitschwang. Das Verhalten der Beiden widerte ihn an.

»Von meiner Seite ja«, erwiderte Dante großzügig und zupfte einzelne Grashalme von seinem Mantel. »Hast du das Schild gesehen?«

»Welches Schild?«

»Na, das da.«

Jin drehte sich um und leuchtete geradewegs ins Dunkel, Richtung Binnenland. Das Licht wurde reflektiert von einem mintgrünen Ortsschild mit der Aufschrift Clarach. »Das ist das Nachbardorf«, entsann er sich.

»Wir sind richtig«, stöhnte Yuri von unterhalb. Er lag noch immer an Ort und Stelle.

»Kommst du?«, rief Dante ihm zu. »Ich hab dich nicht schlimm getroffen.«

»Ach, geh doch sterben.«

»Weißt du, um mich zu besiegen, bräuchte man schon den Gottesschlächter. Aber wir haben ja nur dich.«

»Archhh … Sagt das ernsthaft jemand, der ein Bild von Mutti auf dem Schreibtisch hat?«

Jin, der es nicht mehr aushielt, ließ Dante und Yuri zurück und brach im Licht seines Handys allein Richtung Clarach auf. Der dünne, sich windende Pfad war schnell gefunden, doch er machte den Abstieg nur mäßig leichter. Jin interessierte gerade nicht, ob die Anderen ihm folgten; sie würden einander spätestens bei dem Dorf wieder treffen.

Wenige Schritte später jedoch blieb Jin abrupt stehen. Sein Lichtstrahl war über das karge Gestrüpp am Wegrand gewandert und hatte dabei eine horizontale Steinkante gestreift, die nicht in diese desolate Landschaft passte. Er folgte ihr mit dem Licht aufwärts, bis der Schein auf die zum Sockel gehörende Steintafel traf, die halb verwittert und von Flechten bewachsen neben dem Pfad aufragte. Sie war zweigeteilt: Die rechte Seite trug einen kurzen eingravierten Text, die linke ein Flachrelief. Jin wandte sich zuerst dem Text zu, beleuchtete ihn und las: Im September 1913 errettete ein Held die Menschheit vor der Vernichtung. Wales wird den Gottesschlächter niemals vergessen. Dann glitt sein Licht nach links auf das Bildnis. Beim Betrachten des Reliefs weiteten sich seine Augen; es war eine einfache Darstellung, doch er hatte nie etwas Vergleichbares gesehen: Oben war eine unfassbar widernatürlich aussehende Kreatur platziert, deren elongierte Gliedmaßen Jin nicht klar zuordnen konnte; eine Art Reif oder Korona umgab den verzerrten Körper, der in zahlreiche unsägliche Ausläufer endete. Unterhalb war eine menschliche Gestalt zu erkennen, die triumphal eine Faust in die Luft reckte, als hielte sie einen unsichtbaren Schild in der Hand, um das fremde Wesen abzuwehren, welches dräuend und widerwärtig über ihr schwebte.

Jin wurde bei dem Anblick beinahe übel. Er konnte seine Reaktion nicht erklären.

»So«, sagte jemand neben ihm, und Jin zuckte zusammen, sah aber sofort, dass es nur Dante war. »Ich hab kein Denkmal. Schade.«

Yuri schloss von der Seite auf und betrachtete die Tafel, nur um sich sofort schaudernd und mit sichtlichem Ekel wieder abzuwenden. Jin erwartete einen Kommentar von ihm, doch Yuri blieb stumm.

Auch Dante trat zurück. »Na gut. Da lang geht’s weiter. Wir müssten gleich da sein.«

Als Jin sich von dem nun wieder im Dunkeln liegenden Relief abwandte, kam ihm plötzlich eine Erkenntnis. Er wusste, was es mit dem Gottesschlächter auf sich hatte. Und genauso wusste er, dass Dante diese Wahrheit nicht schmecken würde.

Ohne etwas zu sagen, setzte er sich wieder in Bewegung, um den beiden Anderen durch Gras, Ginster und Schwärze nach Clarach zu folgen.

Akt VIII - Das Monster von Clarach: 12-1

12-1: YURI
 

Yuri war immer noch angefressen. Warum ließ er sich eigentlich so ärgern? Er wusste es besser. Dante wusste gar nichts. Und ich werde ihn nicht erleuchten, dachte Yuri finster.

Je näher er dem Dorf kam und damit auch der Stelle, an der sich der Eingang zu den Neam-Ruinen befand, desto unwohler wurde ihm. Was war dran an Rhys’ Geschichte, dass der Gottesschlächter hierher zurückgekommen war? Wie bitte sollte das möglich sein?

Ein anderes mögliches Szenario kam ihm in den Sinn: Sackgasse. Sie waren hier, in Wales, hatten die lange Reise von Amerika nach Großbritannien angetreten und sich bis zum Cardigan Bay durchgeschlagen, und nun fanden sie hier keine Ruinen, kein Monster, keinen Gottesschlächter, keinen Roger, keine Émigré-Schrift, keine Seiten – sondern schlicht nichts. Waren sie womöglich umsonst hierher gekommen? War Sarris nach fruchtloser Suche längst wieder abgereist?

Stolpernd erklomm er die letzte Anhöhe. Der Mond gab mittlerweile ein bleiches Licht her, das durch den Wolkenschleier über das Land kroch, und unten in der Talsenke fiel es auf eine sehr regelmäßig aussehende Ansammlung von Häusern. Kleine, niedrige Häuser, alle gleich zur See ausgerichtet, mit weiß getünchten Fassaden und – wahrscheinlich – minzegrünen Dächern.

»Das ist dann wohl Clarach«, sagte Dante neben ihm.

Oh, wirklich? Yuri hatte schon wieder Lust, ihn zu schlagen.

Jin war noch hinter ihnen, seine Schritte raschelten leise im winterwelken Gras.

»Ich rechne dir hoch an, dass du Jin verziehen hast«, sagte Dante unvermittelt. »Zum Glück bist du doch nicht so ein Arschloch, wie ich befürchtet hatte.«

»Warum sagst du mir das jetzt?«, murrte Yuri, der nicht wusste, ob das ein Kompliment oder ein Vorwurf sein sollte. Natürlich war er kein Arschloch, und natürlich war seine Sympathie für Jin und dessen Schicksal schnell zurückgekehrt.

»Nimm’s einfach zur Kenntnis.« Dante übernahm wieder die Führung und begann den Abstieg. Das Licht seiner Lampe wies den Weg.

»Leck mich doch«, murmelte Yuri, mit wenig Inbrunst. Seine Anspannung war schon wegen dieser Wanderung groß genug. Er wusste, irgendwo hier musste der Grabstein von James O’Flaherty stehen – und wenn er da war, dann war er wie ein Anker in Yuris altes Leben, wie ein Beweis dafür, dass seine Vergangenheit real war und nicht nur ein verwaschener Traum – denn genauso kam es ihm vor, seit er das moderne Wales betreten hatte, wie ein alter Spuk, den er sich eingebildet hatte. Wenigstens etwas musste noch so sein wie damals. Unverändert. Nur die Hinweise auf den Gottesschlächter gaben ihm Hoffnung. Wäre auch das verschwunden und vergessen, hätte er längst wieder begonnen, an seinem Verstand zu zweifeln.

Während er bemüht achtsam den Felsen hinunter stakste, stets bedacht, seine Fersen haltsuchend in den weichen Boden zu drücken, schaute er verstohlen nach rechts und links. Er war der Einzige von ihnen ohne Lampe; er würde an O’Flahertys Grab vorbeilaufen, wenn er nicht aufpasste. Also blieb er aufmerksam, bis sie unten angekommen waren.

Der Grabstein war nicht da. Yuri fand ihn nicht, obwohl er ein wenig von dem geraden Weg, den Dante vorgab, abdriftete. Überall nur Grasbüschel und Stechginstergestrüppe, in die er unversehens hineinrannte. Sie passierten Clarach und die Küste mit einigem Abstand, und da war noch immer nichts.

»Also langsam musst du uns sagen, wie wir weitergehen sollen, Hyuga«, raunte Dante zu ihm herüber. Zwar konnten sie von hier aus wohl kaum jemanden aus dem Schlaf reißen, doch die Nachtstille gemahnte zu leisem Verhalten.

Yuri fühlte sich verloren. Na toll, was hatten sie denn erwartet? Rhys hatte ihre Hoffnung darauf, dass die Klosterruinen eine Art Sehenswürdigkeit sein könnten, zerstört. Wenn alle Hinweise vernichtet worden waren und sie hier nichts weiter nachliefen als einem alten Märchen über den Gottesschlächter und sein Wächter-Monster, dann konnten sie wahrhaftig lange suchen. Vor allem nachts.

Doch Yuris Ratlosigkeit hielt nur einen kurzen Moment vor.

In dem Moment, als der Mond das kleine Dorf an der nahen Küste mit seinem dunstigen, spinnwebartigen Licht überzog, ertönte aus der entgegen gesetzten Richtung ein tiefes Grollen. Erst klang es dumpf und abgehackt, dann lauter und klarer, als stiege es aus dem Erdboden empor wie Dampf. Es schwoll an, ließ den Felsen unter ihren Füßen vibrieren und den Schlamm aus den zahllosen Ritzen quellen.

Da kommt also Rhys’ Monster, dachte Yuri und stierte angestrengt in das undurchdringliche Dunkel.
 

Clarach lag stockduster zur Linken. Schwarze Wellen, unsichtbar von hier aus, liefen brausend auf den Fels auf und rollten zurück, unfähig, das Dorf zu erreichen.

Einer der Nervenpunkte der Welt, erinnerte Yuri sich an Rogers Worte. Dieses Kloster lag auf einem Nervenpunkt der Erde …

Zumindest Jin war anscheinend nicht entgangen, dass Yuri beim Gehen nach etwas Ausschau zu halten versuchte, denn er hatte das Licht seines Telefons rechts vom Weg entlang streifen lassen, um ihm eine Hilfe zu sein; aber Yuri hatte einfach nicht gefunden, wonach er suchte, und er fand es auch jetzt nicht, während er weiterhin ratlos dastand und in die Nacht spähte, dem Landesinneren zugewandt.

Gerade als Jin zu ihm aufschloss, hörte er das Knurren wieder. Es war plötzlich da, undefinierbar nahe und entsetzlich laut. Das kann kein Tier sein, schoss es ihm durch den Kopf. Das Geräusch versetzte ihn rasch in Alarmbereitschaft: Von einer Sekunde auf die andere hörte das Frieren auf, peitsche heißes Blut in seine Zehen und Fingerspitzen.

Er nahm die Fäuste hoch, mehr ein Reflex denn eine willkürliche Handlung. Jin neben ihm tat es ihm gleich. Der Einzige, der sich nicht rührte, war Dante; er schaute einfach in die Gegend und wartete.

Aus der windzerrissenen Finsternis schälte sich ein Umriss, so groß wie ein Gartenschuppen. Er tauchte langsam aus dem Nichts auf, als wäre er vorher gar nicht da gewesen, und glitt mit anschwellendem Knurren auf die Drei zu; lange, schlanke Beine trugen den Leib, doch die Tritte waren völlig geräuschlos, als berührten sie den Boden nicht.

Yuri erkannte die Konturen. Es war ein Wolf, unmissverständlich – so groß wie fünf seiner Art, mit geisterhaften Augen ohne Iriden und wächsernem, farblosem Fell. Erst als er näher kam und das Mondlicht ihn benetzte, leuchtete sein Körper auf – er war weiß, wie frisch gefallener Schnee, nur seine Augen waren schwarz umrandet und seine Stirn trug eine schwarze Zeichnung, die wie eine Mischung aus Gabel und Halbmond aussah. Er blieb mehrere Meter entfernt stehen, den Kopf gesenkt, immerfort drohend.

Yuri war fasziniert und entsetzt zugleich. Dieser Wolf war …

»Ist – ist das ein Dämon?«, rief Jin ihm leise zu. Er kannte sich nicht aus, für ihn konnte die Erscheinung alles sein – anders als Yuri hatte er von Schutzgöttern und Erdgeistern vermutlich nur in Geschichten gehört, aber nie einen gesehen.

Yuri bekam den Mund nicht auf. Er hatte die Hände sinken lassen, und ihm war klar, dass er etwas … dumm aussah.

Dante gluckste. »Da haben wir also das Monster von Clarach. Nett. Aber wir können es uns sparen, dagegen zu kämpfen. Es ist nur ein Schatten, ein Geist.«

»Woher willst du das wissen?«, zischte Jin.

»Ich hab eine Art Radar für Dämonen.«

Yuri hingegen kannte diesen Wolf sehr gut. Sie musterten einander; der Geist griff nicht an, stand nur dumpf grollend an ein und derselben Stelle, und seine weiße Rute pendelte wie die einer nervösen Katze. Im Mondlicht glomm er wie Biolumineszenz.

»Es scheint, als würde er uns wirklich von einem bestimmten Ort fernhalten wollen.« Jin wagte sich einen Schritt vor, als versuchte er, hinter dem Wolf irgendetwas auszumachen, aber dort war nichts. Nur Nacht.

Yuri stand noch immer da wie ein Idiot. Zwei rivalisierende Empfindungen prügelten sich in ihm. Dieser Wolf war ein Freund, aber er war auch ein Geist

»Dann müssen wir wohl doch an ihm vorbei. Kommt ihr?« Dante sah über die Schulter und setzte sich gemächlich in Bewegung.

Jin folgte ihm vorsichtig. Yuri sah sie an sich vorbeigehen, aber er selbst blieb, wo er war.

»Yuri hat Angst vor Gespenstern«, hörte Dante zu Jin sagen. »Hat er mal erzählt.«

Ja, Scheiße, das stimmte.

Jin drehte sich nach ihm um. Yuri starrte geradewegs an ihm vorbei.

Der Wolf sah Jin und Dante näherkommen und zog die Lefzen hoch. Sein Nackenfell sträubte sich, die Krallen gruben sich in den Schlamm, bereit zum Vorstoß.

Akt VIII - Das Monster von Clarach: 12-2

12-2: JIN
 

Jin fühlte plötzlich ein seltsames Zögern in den Gliedern, eine Art … Hemmung, die nicht aus ihm selbst kam. Langsamer werdend sah er zu, wie Dante unbehelligt weiterging, obwohl er völlig unbewaffnet war. Drohend entblößte der Wolfsgeist seine blanken Zähne, bis das Zahnfleisch schillerte.

»Wartet!«, kam es plötzlich von hinten.

Yuri schien sich gefangen zu haben. Er stürmte an Jin vorbei auf den Wolf zu, fast in ihn hinein.Die riesenhafte Kreatur fuhr zurück, fiel auf die Hinterläufe und reckte verblüfft den Kopf vor. Die Ohren stellten sich auf, und eine leuchtende Zunge glitt aus dem Maul, wie um die Luft zu prüfen. Erwartungsvoll schaute Yuri zu ihm auf. Der Geisterwolf reckte die Nase vor und schnupperte an ihm, sog so tief die Luft ein, dass Yuris Mantel flatterte. Und dann, ohne jede weitere Drohgebärde, erhob sich das Tier wieder, kehrte der Gruppe den Rücken und trottete davon.

Jin traute seinen Augen nicht. Der Geist lud sie ein – er wollte sie führen!

»Kommt«, sagte Yuri über die Schulter, »es ist sicher. Er bringt uns hin.«

Dante schaute erst zu Yuri, dann zu Jin. Im Gegensatz zu Jin war er kein bisschen beeindruckt. »Er hat dich also erkannt?«

»Ich glaub, er ist ein Wächter«, erklärte Yuri, während sie dem Wolf in einigem Abstand folgten. »Er hält jeden von den Ruinen fern.«

»Außer dir.«

»Ja … scheint so.«

»Woher wusstest du, dass er auf dich so reagieren würde?«

»Das war nur … geschätzt. Also, er sieht Blanca sehr ähnlich, dem Wolf, der mich und meine Freunde damals begleitet hat. Roger kennt ihn.«

Das war eine Implikation, verstand Jin. Yuri wollte nicht zugeben, dass er sich trotz aller Unwahrscheinlichkeit weiterhin an die Hoffnung klammerte, Roger Bacon könnte sich noch irgendwo hier verstecken. Roger Bacon – ein gelehrter Franziskanermönch, der mit Schriften und sogar Statuen geehrt worden war und dem Yuri so aberwitzige Ideen, Erfindungen und Errungenschaften zuschrieb, dass es einem die Haare sträubte. Nicht dass es nicht möglich wäre, älter als hundert Jahre zu werden und dabei hochaktiv zu bleiben – Jins eigene Vaterlinie bewies das –, doch über ein halbes Jahrtausend? Jahrhunderte lang allein in Wales, in einem selbstgebauten Haus, angefüllt mit Kuriositäten? Das gehörte in ein Kinderbuch, bestenfalls. Er wusste, was Yuri finden würde: nichts. Im schlimmsten Fall würden sie auch dieses Manuskript nicht finden, das Sarris so verzweifelt suchte. Aber womöglich war das auch besser so.

Andererseits … Diese Erscheinung, der sie gerade folgten, der geisterhafte weiße Wolf war real. Und seine Existenz ging offensichtlich auf einen mächtigen Zauber zurück, wer auch immer ihn gewoben hatte.

Einige Minuten folgten sie der Kreatur schweigend durch nasses, gelbes Gras. Dann, irgendwann – nichts an der Umgebung hatte sich sichtbar verändert – hielt der Wolf plötzlich an, schaute nach oben … und verwandelte sich binnen Sekunden in ein humanoides Biest mit ledrigen Schwingen, das von der Finsternis fast verschluckt wurde. Wie eine Traumgestalt hob es sich vom Grasboden empor und flog mit langsamen Flügelschlägen davon, hinein in die Nacht, und war nur einen Moment später verschwunden.

Die Anderen blieben stehen.

»Und jetzt?«, fragte Dante.

Zögernd schaute Jin sich um. Er ließ sein Licht einmal im Kreis um sich her schweifen, doch es traf auf nichts als leere Luft. Der eisige Küstenwind bestürmte sie von allen Seiten, trug aber nur Stille heran.

»Ist ja prima gelaufen«, kommentierte Dante. »Er hat uns ins Nirgendwo geführt.«

Jin richtete das Licht seines Handys auf den Boden. »Nicht unbedingt.«

Rund um die Drei herum wies die Wiese großflächige Lücken auf, wo das Gras fehlte und nur dunkle, aufgeweichte Erde starrte. Möglicherweise wurde diese Erde gelegentlich hin und wieder bewegt, sodass sich kein Bewuchs festsetzen konnte …

Als Jin den Kopf hob, war Yuri schon neben ihm, und wie auf ein geheimes Zeichen hin begannen sie, fest auf die freien Stellen zu stampfen. Unter ihnen hallte es – dumpf, kaum vernehmbar.

»Hier«, meldete Yuri.

»Hier auch.«

»Hops weiter! Irgendwie muss man doch reinkommen!« Yuri sprang und landete hart, einmal, zweimal.

Dante sah ihnen perplex zu. »Könnt ihr mir sagen, was ihr da macht?«

»Da ist ein Hohlraum unter der Erde«, antwortete Jin gehorsam.

»Und ihr glaubt, wenn ihr da rumspringt, tut sich die Tür auf? … Nicht, dass ich nicht absolut für direkte Wege und radikale Methoden bin, aber …«

Den Rest des Satzes konnte Jin nicht mehr hören, denn sein Ziel war erreicht. Er hatte sich Yuri beim Springen angeschlossen, und ihre Sprünge hatten sich unwillkürlich synchronisiert – da, mit einem Mal, gab der Boden unter ihnen nach. Er öffnete sich einfach an der Stelle, wo sie standen, als hätten sie das Dach dieses unterirdischen Raumes mit Gewalt zum Einsturz gebracht. Der Fall war länger als erwartet, aber nicht allzu schlimm; die Wände waren sehr nahe, sodass sie aufrecht fielen und auf den Füßen landeten. Zwar prallten sie beinah aufeinander, als sie unten ankamen, aber dort war nichts als weiche, trockene Erde, die die Wucht abfederte.

Yuri richtete sich auf, lachte und schüttelte sich Erde aus dem Haar. »Hahahaha! Wie ulkig ist das denn! Sie haben überirdisch alles platt gemacht – aber nicht unten drunter!« Schon tauchte er in die Finsternis ab, die sie umgab, die Hände vorgestreckt. Das spärlich einfallende Mondlicht half nicht. »Hier muss ein Gang sein. Jin, leuchte mal!«

Jin gehorchte zögernd und fühlte sich wie in einem schlechten Film. »Sei vorsichtig. Das hier könnte etwas völlig Anderes sein. Vielleicht ein Nuklearwaffenendlager.«

»Ein was? Leuchte mal da hin – ja, siehst du? Da geht’s lang. Bleib hinter mir.«

Yuri folgte dem Licht, das sich in dem abzweigenden Gang verlor. Jin blieb stehen. Sein Mund war ganz trocken. »Was ist mit Dante?«

»Der kommt schon nach. Sobald er seine Eier wiedergefunden hat.«

»Und was –« Er musste schlucken, obwohl überhaupt kein Speichel da war. »– he, warte – was erwartet uns da? Kann es wirklich noch so sein wie damals, als du hier warst?«

»Wenn du’s genau wissen willst …« Yuris Stimme klang bereits dumpf, wie durch einen schweren Vorhang. »… Uns erwarten halbverfallene Bauwerke einer Kultur, die älter ist als die Menschheit. Und die deinen Verstand überfordert.« In der Ferne erklang ein leises Rascheln. »Aber erst mal kommt nur eine feuchte Grotte, nicht gefährlich. Also komm schon!«

Jin legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Ihr Absturz hatte ein unregelmäßig ovales Loch verursacht, das schwach leuchtend über ihm hing. Er streckte die Hand mit dem Licht spendenden Telefon vor und folgte Yuri. Schon nach wenigen Schritten auf dem trockenen Sand hörte er, erschreckend nahe, jäh den Klang einer heiseren, sichtbar wenig beanspruchten Stimme: »Wer oder was hat sich hierher verirrt? Ich hoffe für euch, ihr seid Gäste mit guten Absichten … Hee, hee, hee!«

Akt VIII - Das Monster von Clarach: 12-3

12-3: DANTE
 

»Heeeeey!« Dante konnte nicht glauben, dass die beiden seine Rufe so hartnäckig ignorierten. Kein gutes Zeichen. Wieder rief er in das Erdloch: »Ist es so spaßig da unten, dass ihr nicht antwortet?« Und, etwas weniger vorwurfsvoll: »Alles in Ordnung bei euch?«

Immer noch keine Antwort. Mann. Was konnte da unten sein? Spitze Pfähle? Treibsand? Zombies? Er hätte etwas hören müssen. »Ich will mich nicht in ein Erdloch quetschen. Meldet euch oder ich gehe und lasse euch hier.« Er schnaubte unwillig. Der Wind frischte auf und pfiff ihm um die Ohren, beißend und betäubend.

Natürlich würde er nicht gehen. Er dachte nicht einmal darüber nach. Stattdessen ließ er sich neben dem düster starrenden Erdloch auf die Knie nieder. Erde und kleine Steine von den Rändern stürzten bröckelnd ab, als er versuchsweise sein Gewicht darauf lehnte.

Ein Stein jedoch fand irgendwie seinen Weg nach oben, wie es schien – jedenfalls traf ihn wie aus dem Nichts ein kleiner Kiesel an der Schläfe.

Sofort fuhr Dante hoch. Eine Hand an der Hüfte, wo sich unter anderen Umständen sein Pistolenhalfter befunden hätte, starrte er ins Dunkel, auf eine weitere Attacke lauernd. Die kam nicht – aber dafür ein provokantes »He, du!« von … irgendwo.

Dante ließ sich keine Reaktion anmerken. Bewusst langsam ließ er den Blick um sich schweifen, sah aber nur bleich beschienenes Grasland, durch das mit langen Fingern die Winde fuhren.

Dann – wieder ein Steinchen, diesmal von der anderen Seite. Blitzschnell drehte er sich um. Wieder umsonst. Niemand war zu sehen.

»Komm schon raus, Feigling.«

»Niemals. Geh weg.«

»Vergiss es. Ich hab hier zu tun.«

»Womit? Was suchst du hier? Dieser Ort ist verflucht. Hier spukt’s! Hee, hee, hee!«

Was für ein nervtötendes Kichern. Noch eine Erscheinung, wie der Wolf? Aber Geister warfen nicht mit Steinen; das machten nur lästige Nervensägen. Gab’s hier etwa Leprechauns, kleine Streichspieler, wie in Irland?

»Du klingst wie ein kleiner irrer Opa, der Kinder erschreckt.«

»Dein Urteil gefällt mir.«

»Hältst du mich die ganze Nacht auf?«

»Woher weiß ich, dass du hier nicht etwas findest, das … nicht gut für dich ist? Ich halte dich auf, bis du gehst.«

»Dann ist heute ein schlechter Tag für dich. Da unten sind zwei Freunde von mir.«

Darauf folgte Stille. Eine kurze, grüblerische Stelle. Dann sprach die Stimme in höflicherem Ton zu ihm: »Beende bitte folgenden Satz für mich: ›Die Willensfreiheit haben viele im Munde …‹ Na?«

»›… im Geiste aber wenige‹«, führte Dante das Zitat zu Ende und fügte sarkastisch hinzu: »Gern geschehen, kann ich sonst noch irgendwas für dich tun?«

Es kicherte wieder. Dieses Kichern machte Dante allmählich aggressiv.

»Non hai freddo là fuori, amico mio?«, kam es spitzfindig aus dem Nichts.

Dante seufzte. Er verstand einigermaßen Italienisch, doch sein aktiver Wortschatz passte auf einen Bierdeckel. »Abbastanza, Klugscheißer.«

»Hee, hee, jaja!«, lachte der unsichtbare Beobachter. »Dachte ich mir. Komm runter, Dante, stell dich nicht an wie der erste Mensch!«

Bevor Dante sich wundern konnte, brach auch unter ihm plötzlich der Erdboden ein. Er hatte den Rand überstrapaziert – oder doch nicht? Egal, jedenfalls ging es nun ein gutes Stück abwärts in völliger Finsternis, ehe er – wie immer – auf den Füßen landete.

Und sich eingestehen musste, dass er keine Ahnung hatte, wo er war.

Akt IX - Leben aus dem Tod: 13-1

13-1: YURI
 

Yuris Herz flatterte wie ein Vogel im Käfig. Er versuchte, Jin das nicht merken zu lassen, ging kühn voran – doch sogar seine Füße zitterten bei jedem Aufsetzen, und er befürchtete, seine Knie könnten plötzlich unter ihm nachgeben und ihn wie ein Gummihuhn zu Boden gehen lassen.

Roger war hier.

Er war weder tot noch weg, er war hier, und Yuri war auch hier, im oberen Teil der Neam-Ruinen, im Jahr 2008. Es erschien ihm jetzt so unglaublich, dass er sich nicht erklären konnte, warum er überhaupt all diese wilden Hoffnungen gehegt hatte. Roger hier zu treffen, zur völlig falschen Zeit, in dieser Welt, wo nichts mehr so war, wie Yuri es kannte, schien undenkbar. Und doch war dieser Wunschtraum wahr geworden, allen schlechten Vorzeichen zum Trotz.

Verraten hatte dies bereits das Monster. Rhys’ Berichten zufolge suchte es diese Gegend schon seit Jahrzehnten heim und vertrieb Neugierige von diesem unterirdischen Tunnel, dem Yuri und Jin gerade folgten. Und seine Gestalt …

Er konnte sich nicht gedulden. Er wurde schneller. Stolperte ins Dunkel, obwohl Jin und sein Licht nicht so schnell folgen konnten. Sein Herz hämmerte ihm in der Kehle.

Der sandige Gang machte eine Kurve, die Yuri um ein Haar verfehlt hätte, und dahinter erschien ein schwaches, orangefarbenes Licht. Der Tunnel mündete in einen Raum.

»He, Jin!«

»Schrei nicht. Ich bin hinter dir.«

Als sie in den Raum stürzten, war er voller Kerzen. Sie flackerten in jeder Ecke und zwei weitere in hohen Gläsern auf dem einfachen Tisch in der Mitte. An den Wänden waren Nischen, in denen mehrere Zentimeter hoch das Wasser stand, und feine Tropfen rannen über den Stein, der die Kaverne begrenzte. Wie der Tisch waren auch die vier hölzernen Stühle stark wassergeschädigt. Doch für all diese Details hatte Yuri nur sehr kurzfristig Aufmerksamkeit übrig, denn an einem der kurzen Enden des Tisches, dem Tunneleingang zugewandt, saß Roger.

Und Yuri stand da und starrte ihn an.

Dicht hinter ihm blieb Jin stehen und sah ihm über die Schulter. Irgendwann kamen auch Dantes schwerere Schritte dazu, begleitet von dem sarkastischen Kommentar: »Der letzte Ort, an dem ich Wasser erwartet hätte.« Dann hafteten alle Blicke auf Roger.

Yuri wusste, was die Anderen sahen: ein Männlein, kaum größer als ein achtjähriges Kind, gehüllt in Kleidung, die einst nobel gewesen war, nun aber an einen zerfallenden und eingestaubten Kostümfundus erinnerte, mit einem Gesicht, braun und zerfurcht wie ein zu scharf gebackenes Landbrot, aus dem wie zwei glitzernde Kiesel die Augen hervorblinkten. Ja, Roger sah einer Mumie nicht unähnlich – schließlich hatte er den Tod betrogen.

»Gebt mir ein Zeichen, wenn ihr mich genug angestarrt habt und wir zum Thema kommen können«, sagte der kleine Mönch mit seiner meckernden Stimme und glitt von dem Stuhl, der viel zu hoch für ihn war.

»Roger …«, begann Yuri schwach.

»Hee hee, da staunst du, Junge! Wie fandest du mein Monster?«

»Ähm – also. B-Blanca und Amon ...«

»Ganz recht. Ich musste etwas wählen, das du erkennst. Und das dich erkennt.«

»Mich erkennt …«

»Du hast keine Vorstellung davon, wie lange ich auf das Zeichen gewartet habe!«, fuhr Roger auf, und plötzlich, ohne Vorwarnung, begannen seine leuchtenden Augen genauso so triefen wie die Wände. »Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, dass es jemals so weit ist! Ich glaubte, alles wäre für die Katz, meine Wahrscheinlichkeitsrechnung, mein Wissen über die Zukunft … Wo bei allen Höllen warst du bloß?!«

Ohne es zu merken war Yuri in die Knie gegangen und schloss nun die Arme fest um die kleine, nach Mottenkugeln riechende Gestalt, die ihn umklammerte wie ein Koala. »Aber Roger, äh, wieso … wusstest du, dass ich komme …?«

»Aaaach … Ich wusste es eben«, schniefte Roger leidenschaftlich, der Frage ausweichend. »Reden wir nicht darüber … Wir haben Anderes zu besprechen.« Er richtete sich wieder auf, nahm Haltung an, strich sein Jackett glatt – oder das, was davon übrig war – und verkündete feierlich, an die ganze Gruppe gewandt: »Willkommen in meinem Reich, im Fundament des Klosters Nemeton!«

Yuri sah zu Jin, zu Dante und dann wieder zu Roger und verschränkte die Arme vor der Brust: »Du wohnst also jetzt hier, genau über den Neam-Ruinen, die voll von Monstern und bösen Kräften sind?«

Roger winkte ab. »Das ist sogar noch schlimmer geworden, seit sie die Erdspalte geschlossen haben. Wo die einst verlief, das werdet ihr nicht gesehen haben – ihr werdet es auch bei Tageslicht nicht sehen. Der einzige Weg zu den Ruinen und wieder raus führt durch meine Höhle. Und ich bin durchaus in der Lage, diesen einzigen Zugang gründlich versiegelt zu halten.« Er wandte sich um und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Kommt schon, wir wollen nicht auf der Türschwelle stehen bleiben, eh? Da am Tisch ist Platz für uns alle. Setzt euch. «

Yuri setzte sich begeistert auf den knirschenden Stuhl rechts von Rogers Platz, wo dieser nun auch wieder hinauf kroch, nach anfänglichen Schwierigkeiten behände wie ein Äffchen. Jin setzte sich zögernd Yuri gegenüber und Dante sich auf den verbleibenden Platz, mit dem Rücken zum Eingang der Grotte.

Roger klatschte einmal in die Hände, schaute dann ärgerlich nach oben und wiederholte die Aufforderung: »Komm schon, du blödes Ding! Ich habe dich jahrzehntelang extra für diesen Besuch vorbereitet!«

In der Decke über ihnen – Yuri hatte sie für weiteren lehmbeschmierten Fels gehalten – öffnete sich eine kleine Klappe, und eine Art mechanischer Arm fuhr herab, an dessen Haken der Henkel einer Keramikkanne hing. Roger nahm die Kanne ab und stellte sie hin, und der Kran fuhr wieder hoch; kurz darauf purzelten aus der Klappe der Reihe nach vier kleine Tassen heraus, die nur deshalb nicht zu Bruch gingen, weil das Holz der Tischplatte durch die ständige Feuchtigkeit so aufgeweicht war.

»Ich weiß, ich war schon mal besser«, murmelte Roger. »Aber seit der Fluss hier alles zu unterhöhlen begonnen hat, ist man nirgends mehr vor dem Wasser sicher.«

»Du meinst den – Ystwyth?«, mutmaßte Yuri. Schließlich hieß der Ort Aber-Ystwyth.

»Ach Quatsch! Der Ystwyth ist nur ein Bächlein. Der Fluss, den ihr oben sehen könnt und der hier ins Meer mündet, ist der Rheidol.« Roger begann, aus der Kanne in jede Tasse eine dampfende schwarze Brühe einzuschenken. »Ihr denkt wahrscheinlich, wir Briten könnten keinen Kaffee kochen? Dünn wie Wasser, eh? Es wird Zeit, dass ihr eure Meinung ändert.«
 

Der Kaffee explodierte geradezu im Hinterkopf. Yuri stellte die Tasse schnell wieder hin, doch hinter seiner Stirn blieb eine Art Vakuum zurück. Jin, ihm gegenüber, sah allerdings so zufrieden aus, wie jemand aussehen kann, dessen Gesicht keine Muskeln dafür hat.

»Also«, hustete Yuri, an die Anderen gewandt, »damit wären wir am Ziel der Expedition … Wir sind da, wo wir hin wollten … bei meinem alten Freund Roger Bacon.« Eigentlich hätte es weit feierlicher klingen sollen.

Dantes Kommentar fiel spröde aus, wie immer. »Ich hab mal ein Bild von deiner Statue vor der Universität von Oxford gesehen«, sagte er zu Roger. »Da siehst du größer aus.«

»Deine Höflichkeit ist legendär, Dante«, sagte Roger mit einem Lächeln, das seine immer noch voll funktionsfähigen Zähne entblößte. »Jaja, von dir habe ich gehört, Sohn von Sparda. Aber …« Sein Blick wanderte nach rechts, zu Jin. »… Wer bist du, mein Junge?«

In seinem üblichen Tonfall, der sich irgendwo zwischen unglücklich und teilnahmslos ansiedeln ließ, antwortete Jin: »Ich bin Jin Kazama. Ich freue mich, dir zu begegnen, Roger Bacon.«

Yuri stieß ihn an. »Dass du dich freust, kauf ich dir nicht ab.«

»Doch, ich freue mich«, bekräftigte Jin ruhig.

»Dann sag das mal deinem Gesicht.« Verdammt noch mal, dieses langersehnte Treffen hatte sie alle ihrem Ziel viel näher gebracht – vor allem Jin sollte wirklich dankbar dafür sein, dass sie hier früher angekommen waren als Sarris! Und immer noch machte der ein Gesicht wie ein Stück Holz. Yuri unterdrückte ein Stöhnen.

Indes schien Roger auf dem Namen herumzukauen. »Kazama … Hmmm. Nun gut … Ihr seht, ich bin nicht ganz darauf vorbereitet, dass ihr zu dritt seid. Aber es ist gut so, wie es ist.«

»Ich hatte Angst«, platzte Yuri heraus, »dass du … nicht mehr hier sein könntest. Dass du in der Zwischenzeit …« Er bremste, da sich sowieso jeder denken konnte, wie der Satz weiterging. »Jedenfalls bin ich wahnsinnig froh, dass du noch lebst.«

Roger lachte meckernd. »Ich bitte dich! Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, war ich schon über siebenhundert Jahre alt! Glaubst du, ein knappes weiteres Jahrhundert macht mir viel aus?«

»Aber es hat sich so viel verändert auf der Welt! Findest du nicht? Oder … sitzt du wirklich immer nur hier unten, ohne rauszugehen?«

»Dummer Junge. Natürlich nicht! Erinnerst du dich nicht, dass ich sogar auf dem Mond war?«

»Ähm. Das mit dem Mond hab ich dir ehrlich gesagt nie abgekauft, Roger.«

Das Männlein zuckte die Achseln – wobei ein paar Gelenke laut knacksten – und gab zurück: »Papperlapapp, ist eh Schnee von gestern. Reden wir lieber über den Grund eures Besuchs. Denn obwohl ich mir denken kann, wie sehr du in dieser Zeit hier nach Dingen suchst, die du kennst –« Seine leuchtenden Augen ruhten wissend auf Yuri, der wusste, wie leicht er für den Mönch zu lesen war. »– seid ihr nicht nur meinetwegen hier. Nein. Ihr seid auf irgendeiner Mission, ihr Drei. Zuerst muss ich dich fragen, Yuri … Hast du die Taschenuhr noch?«

Die Taschenuhr. Yuri hatte kaum noch an sie gedacht, und nun fragte Roger ausgerechnet danach? »Oh … ja.« Er zog die Uhr aus seiner Tasche und starrte sie an wie das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland. Es war seltsam, wie der Zeiger über das helle Ziffernblatt kroch; zu langsam, als dass man zusehen konnte, und doch unermüdlich. Er hatte bereits ein gutes Stück geschafft, etwa die Hälfte auf dem Weg von elf Uhr nach zwölf Uhr. Unaufhörlich tickte das Ding, wie ein eifriger Arbeiter, und erreichte dabei fast nichts.

»Pass gut auf sie auf«, sagte Roger bedeutsam. »Wenn sie jetzt noch läuft, egal wie schnell – dann … brauchst du sie möglicherweise noch.«

Yuri erwiderte den festen Blick. Rogers Augen waren endlos tief, das Alter in ihnen reichte Äonen zurück, Jahrhunderte, die er überwunden hatte, in einem verbotenen Ritual, das so schrecklich war, dass er jedes Hilfsmittel, mit dem man es hätte wiederholen können, vernichtet hatte. Das letzte Geheimnis des Émigré-Manuskripts würde mit Roger sterben – wenn er jemals starb.

»Wonach sucht ihr bei mir?«, fragte Roger eindringlich. »Ist es das, was ich denke?«

»Ja … und nein«, antwortete Yuri vorsichtig. »Ja, wir suchen die Émigré-Schrift … Nein, wir suchen sie nicht für uns. Und nicht nur sie. Was wir noch dringender in Sicherheit bringen müssen, sind die vierzehn fehlenden Seiten aus der letzten Abschrift der Tafel von Dschaizan. Und ich weiß, dass du die bei dir haben musst. Irgendwo hier.«

Roger schaute Yuri einen Moment lang nachdenklich an; dann entschied er: »Über solche Dinge reden wir lieber im Wohnzimmer. Kommt mit.«
 

Yuri hatte geglaubt, die Höhle, in der sie saßen, wäre das Wohnzimmer. Immerhin stand ein Tisch darin, um den sie versammelt hockten wie beim letzten Abendmahl. Aber schon war Roger wieder unterwegs und öffnete eine andere morsche Tür im schummrigen Dunkel.

Dahinter war die Luft etwas weniger feucht. Noch immer war es warm und windgeschützt, aber Yuri hatte nicht mehr das Gefühl, dass überall an seinem Körper Wasserdampf kondensierte.

Roger entzündete einen Kandelaber; er war mit sechs langen weißen Kerzen bestückt und erhellte flackernd eine deutlich größere Grotte, an deren gegenüber liegender Wand eine Reihe befremdlich aussehender Gerätschaften (dieser Anblick erweckte in Yuri so etwas wie heimische Gefühle) sowie ein paar unbeschriftete Fässer aufgestellt waren. Genau in der Mitte befanden sich ein zerschlissenes, in Weinrot bespanntes Sofa und, gegenüber, ein ebensolcher Sessel.

»Nicht sehr wohnlich«, kommentierte Dante.

»Sieht doch fast aus wie bei dir«, gab Yuri trocken zurück.

»Erinnere mich daran, dich nie wieder reinzulassen.«

Roger kletterte in den Sessel und schickte seinen Besuch auf die Couch. Jin setzte sich als Letzter in die verbliebene Lücke zwischen Dante und Yuri. Wie immer schien ihm die Nähe unangenehm zu sein. Yuri hatte keine Erklärung dafür, warum das so war.

Roger knetete seine kleinen braunen Hände, vom einen zum anderen blickend. »Also«, begann er etwas widerwillig. »Wie kommt ihr ausgerechnet auf die Tafel von Dschaizan?«

»Es gibt zwei Abschriften von ihr«, fasste Dante die Chose zusammen. »Die eine ist in der Unterwelt verschollen, die andere ist bei dir. Das behauptet zumindest dieser Kerl da.« Er nickte über Jin hinweg zu Yuri, aber Yuri machte sich nicht die Mühe, zurückzusehen.

»Sehr richtig«, bestätigte Roger ohne zu zögern. »Aber das beantwortet meine Frage nicht.«

»Wenn ich es richtig verstanden habe«, begann Jin vorsichtig, und Rogers Knopfaugen richteten sich auf ihn, »dann gehört sie trotz ihres Potenzials nicht zu den drei verbotenen Schriften des Vatikans.« Oho! Erstaunlich, wie viel Jin sich gemerkt hatte. Diese Sachen interessierte den wohl wirklich.

»Richtig«, bestätigte Roger. »Diese drei verbotenen Schriften sind das Émigré-Manuskript, der R’lyeh-Text und Von unaussprechlichen Kulten. Die Dschaizan-Tafel gehört nicht dazu. Wozu auch? Niemand kann sie lesen. Die wenigsten wissen überhaupt, wer sie lesen kann. Was glaubt ihr denn, wer oder was die Schrift –«

»Dämonen«, fiel ihm Yuri triumphierend ins Wort.

Rogers verblüffter Miene war anzusehen, dass er ihn hierin unterschätzt hatte. »Ach! Und wie hast du das herausbekommen?«

»Von einem Dämon.« Yuri wies in Dantes Richtung. »Seine Freundin wusste das. Zufällig.«

Roger sah alarmiert aus. »Das ist kein sehr gesundes Wissen, Yuri! Wer sucht diesen Text, den ihr aufzuhalten versucht? Rückt schon raus damit!«

Einen Moment lang schwieg die Runde. Roger hatte sie längst durchschaut; es war nicht nötig, ihn hinzuhalten.

»Ein … Mann«, setzte Yuri unbeholfen an.

»Ein Mann?«

»Er will damit …«

»Ja? Einen Dämon beschwören, völlig klar – und welchen

»Ähm … Azazel.«

Roger seufzte und ließ die Stirn in seine Handfläche sinken. »Auch das noch! Azazel, sagst du …«

»Warum ist es wichtig, welchen Dämon er haben will?«, drängte Yuri. »Ich weiß, Azazel ist sehr alt und mächtig, aber er kann doch nicht mächtiger sein als Asmodeus, Astaroth und Amon …«

»Doch, Yuri! Azazel ist der Grund, warum ich die Abschrift an mich genommen habe!«, fauchte Roger, sichtlich in Aufruhr. »Mit jedem anderen Dämon könnte man fertig werden! Das heißt, jemand wie du! Oder Dante! Dieses Ritual an sich ist nicht annähernd so gefährlich wie die Dämonentor-Invocatio, die du kennst – jedenfalls, wenn es um irgendeinen Dämon geht. Die einzige Ausnahme ist Azazel! Wenn jemand herausfindet, wie er zu beschwören ist …«

»Dann?«

»Nun ja … Azazel ist nicht zu besiegen … für … euch
 

Die Stille wog schwer wie Blei. Yuri widerstand der Versuchung, etwas zu sagen; es gab nur eins, das er hätte sagen können, und das wollte er nicht, weil es dabei um Jin ging. Lieber wartete er das unangenehme Schweigen ab.

Schließlich stellte Dante fest: »Du bist schon der Zweite, der mir sagt, dass ich Azazel nicht besiegen könnte.« Er klang etwas beleidigt, aber auch fasziniert. »Wo bitte steht denn, dass ich das nicht kann? Das würde ich wirklich gerne wissen.«

»Yuri könnte es auch nicht«, seufzte Roger. »Die Überlieferungen sprechen da eine klare Sprache. Azazel kann nur getötet werden durch seine eigene Saat

»Die zwei dunklen Sterne«, murmelte Jin und erwiderte Rogers durchdringenden Blick mit nichtssagender Miene.

Yuri hielt weiter die Klappe. Niemand weihte Roger in das Wissen ein, dass Jin anscheinend derjenige war, der Azazel töten konnte – wenn es denn wirklich stimmte.

»Auf jeden Fall müssen wir das Ritual verhindern«, sagte Yuri beharrlich. »Das siehst du doch ein, Roger. Dieser Typ weiß wirklich alles darüber – er könnte Azazel beschwören, wenn er den ganzen Text von der Tafel kriegt.«

»Ist der Text denn alles, was er will?«, hakte Roger lauernd nach. »Du hast vorhin die Émigré-Schrift erwähnt.«

»Ja …« Yuri fühlte einen Stich im Herzen. Er wusste, warum. »Die will er auch. Damit will er seine Tochter wieder zum Leben erwecken. Die gleiche Geschichte wie immer: Jemand ist tot, ein Zurückgebliebener ist verzweifelt, und …« Er stockte, und Jin sah ihn scharf an. Yuri biss sich auf die Lippe, bis sie blutete. Verdammt. Nachdenklich fuhr er mit der Zunge über die Stelle und sagte nichts mehr.

Dante übernahm: »Wir wissen nicht mal, warum er überhaupt Azazel erwecken will. Ich nehme mal an, du kannst hier Licht ins Dunkel bringen. Was hat Azazel mit einem toten Mädchen zu tun?«

Roger schaute sie der Reihe nach fragend an. Seine Miene drückte höchste Verwunderung aus. »Euch ist also gar nicht klar, warum es gerade Azazel ist, den er erwecken will?«

Ratloses Schweigen antwortete ihm.

»Ihr wisst nicht, was Azazel tun kann?«

»Nein, Roger. Erleuchte uns«, bat Yuri etwas beschämt.

»So!« Roger klatschte laut in die Hände. »Na, dann will ich das mal tun.«

Akt IX - Leben aus dem Tod: 13-2

13-2: JIN
 

Jin spürte erneut diese unterschwellige Übelkeit sich in seiner Magengegend ausbreiten. Er wusste, dass nicht der Kaffee schuld daran war. Etwas in ihm reagierte auf Azazel und alles, was mit ihm zusammenhing, und begann sich in ihm rastlos hin und her zu wälzen. Die Anspannung kroch bis in seine Zehen- und Fingerspitzen, während er wie im Traum zuhörte, wie Roger das Geheimnis um Azazel und die Dschaizan-Tafel lüftete.

»Ich habe diese Schrift an mich genommen«, begann der kleine Mönch, »weil man damit Azazel erwecken kann. Azazel ist, wie ihr vielleicht wisst, der Dämon der Sünde; er kann erst dann diese Welt betreten, wenn ein einzelner Mensch so viel Böses über die Welt gebracht hat, dass der Dämon nahezu unbesiegbar ist. Wird Azazel beschworen, wird er die Welt versklaven.«

»So weit, so banal«, erwiderte Dante unbeeindruckt.

»Sei nicht so geringschätzig! Ich sagte doch, du kannst es nicht mit ihm aufnehmen, obwohl du ein Halbblut bist! Das ist aber noch nicht alles. Yuri!«

Yuri sah hoch. »Äh, ja?«

»Warum sind alle bisherigen Versuche, mit dem Émigré-Manuskript einen Verstorbenen wieder zum Leben zu erwecken, so katastrophal gescheitert – obwohl das Buch das nötige Wissen enthält, um Leben aus dem Tod zu erschaffen

Yuri sah aus wie ein Schüler, der unerwartet zu einem schwierigen Thema befragt wurde und nun angestrengt nach der Antwort suchte . »Moment – es braucht Bosheit dazu … und dafür muss man eine ganze Menge Morde begehen … zweihundert, oder so …«

»Ja?«

»… und die Rituale in der Anleitung sammeln diese Bosheit und kanalisieren sie …«

»Weiter?«

»… und damit ruft man die Seele des Toten von jenseits der Tore der Zeit und füllt sie in das Gefäß – also, den Körper … und schief gegangen ist es immer, weil … die Bosheit das Gefäß übernommen hat, wenn eigentlich Wille die Seele daran hätte binden sollen.«

»Richtig.«

Yuri sah Roger unverwandt an. »Es ist aber nicht immer deshalb schief gegangen.«

»Nein«, erwiderte das Männlein. »Dieses eine Mal, auf das du anspielst, waren Wille und Bosheit im Gleichgewicht, sodass die richtige Seele ins Gefäß geführt und gebunden wurde. Dass es trotzdem nicht funktioniert hat, lag an einer Bagatelle. Das brauche ich dir nicht wieder und wieder zu erzählen, Yuri. Oder?«

Jin beobachtete fasziniert den intensiven Blickwechsel zwischen den beiden alten Gefährten. Es war offensichtlich, was passiert war, obwohl Roger und Yuri es mit Absicht nicht beim Namen nannten: Sie selbst hatten das Wiedererweckungsritual durchgeführt … oder es zumindest versucht. Sie hatten die primäre Fehlerquelle eliminiert, welcher sämtliche vorherigen Versuche im Laufe der Geschichte anheim gefallen waren, und waren dennoch gescheitert.

Yuri bestätigte diese Annahme, als er leise sagte: »Wir haben kein sabberndes, untotes Monster erschaffen.«

Ein weiterer Moment drückender Stille verging. Dann sagte Dante ruhig: »Die Aussicht ist also, dass Sarris mit diesem Ritual aus seiner Tochter einen blutrünstigen Zombie macht.«

»Ja«, seufzte Yuri. »Die Leiche als Gefäß für die Seele zu benutzen ist nicht richtig. Man muss stattdessen die Bosheit einsetzen, um einen völlig neuen Körper zu erschaffen. Nur dann funktioniert es. Theoretisch.«

»Und um Bosheit zu sammeln, braucht man Menschenopfer.«

»Ja.«

»Viele.«

»Verdammt viele! Am besten unverbrauchte Seelen, wie … Kinder.«

»Verstehe.« Dante stützte das Kinn auf die Faust. »Und du und Roger, ihr habt das … wie gemacht?«

Yuri zuckte zusammen. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass dieser Umstand so schnell ans Licht kam. »Wir – wir haben natürlich niemanden ermordet. Das war auch nicht nötig. Ich bin Harmonixer, ich bin selber ein Gefäß, das sich ständig mit Bosheit füllt. Hier.« Er zog sein Amulett mit dem leuchtenden runden Stein aus seinem Kragen hervor. »Negative Energie der Monster, die ich töte. Seelenenergie. Davon hatten wir genug. Und trotzdem … Unser Gefäß war am Ende nicht … perfekt. Es hat der Belastung nicht standgehalten.«

»Und hier«, setzte Roger sanft ein, »kommt Azazel ins Spiel. Azazel als Dämon der Sünde absorbiert Bosheit von überall, bis er davon stark genug geworden ist, um in unserer Welt jenseits des oneirischen Tores zu erscheinen. Dann – vom Verursacher dieses vielen Bösen heraufbeschworen, mithilfe der Dschaizan-Inschrift – kann aus ihm Bosheit gezapft werden, so viel und so kontrolliert, dass damit das Ritual der Wiedererweckung gelingen kann. Azazels reine Präsenz versorgt seinen Beschwörer mit genau der benötigten Menge Bosheit, sodass kein Ungleichgewicht mit Wille entstehen kann. Und dann … tja, dann hätte euer Widersacher als erster Mensch dieser Welt eine vollständige, korrekte und aller Natürlichkeit zuwider laufende Erweckung eines Toten durchgeführt.«

Wieder Stille.

Jin bemerkte, dass er den Atem angehalten hatte, und ließ ihn vorsichtig entweichen. Das also war Sarris’ großer Plan – das steckte hinter seinem beharrlichen Bemühen, an Azazels Kräfte heranzukommen. Die Frage dabei war … »Wenn Sarris Azazel auf unsere Welt holen und benutzen muss, um seine Tochter wiederzubeleben … Was hätte er von diesem Triumph, wenn Azazel danach die Menschheit versklavt?«

Roger faltete die Hände hinter dem Rücken. »Das würde ich gerne von euch wissen. Ihr kennt diesen Mann besser als ich.«

Jin öffnete den Mund und schloss ihn wieder, und Dante sah ihn argwöhnisch an: »Hör mal, Kazama, dass du das noch nicht erkannt hast, kauf ich nicht. Yuri würde ich glauben, dass er so schwer von Begriff ist, aber nicht dir.«

»Und sogar ich hab’s gerafft«, schloss sich Yuri an. »Du willst es nur nicht wahrhaben.« Damit wandte er sich an Roger: »Sarris hat es auch auf Jin abgesehen. Wegen genau dieser Sache. Erst hat er Dante verfolgt, weil er glaubte, Dante könnte Azazel töten, wenn der Plan durch ist. Aber inzwischen weiß er, dass das nur jemand mit dem Teufelsgen tun kann – mit Azazels Saat. Bitte, das ist er. Jin hat das Teufelsgen.«
 

Auf Yuris Erläuterung hin zog Roger die Stirn kraus; dann rutschte er vom Sessel und ging in seinem seltsam watschelnden Gang auf Jin zu, um dicht vor ihm stehen zu bleiben und ihn eingehend zu beäugen. Jin fühlte sich merkwürdig; gewöhnlich mochte er es gar nicht, derart kritisch inspiziert zu werden, doch der Blick des uralten Mönchs war dabei nicht hart, nicht stechend, nicht verurteilend – nur wach, aufmerksam und alles erfassend. Jin brauchte diesen leuchtenden Augen nicht auszuweichen.

»Du bist von Azazel berührt? Bist du sicher?«, fragte Roger vorsichtig.

»Ich bin sicher.«

»Hast du … ein Mal?«

»Ja. Devil hat es mir auf den Arm gebrannt.« Ohne auf die Aufforderung zu warten, streifte Jin den Mantel von der linken Schulter, öffnete das Hemd und legte seinen Oberarm frei, auf welchem scharf umrissen das schwarze Zeichen saß, das sein Schicksal bestimmt hatte.

Roger betrachtete es nachdenklich. »Du bist also einer von nur zwei Menschen, die theoretisch in der Lage wären, Azazel zu vernichten. Die beiden Schwarzen Sterne … Wer ist der andere?«

»Mein Vater«, murmelte Jin, während er sich wieder anzog. »Er hat es mir vererbt.«

»So! Interessant. Aber dein Vater ist doch ganz sicher kein Kazama, eh?« Roger zog wissend die Brauen zusammen.

»Er ist ein Mishima.«

»Ah. Ich verstehe.«

»Roger, hör auf, uns hinzuhalten!«, beschwerte sich Yuri. »Hast du die Abschrift der Dschaizan-Tafel? Wie können wir dafür sorgen, dass der Irre sie nicht kriegt?«

»Indem ihr hierbleibt und sie beschützt, vielleicht?«, gab Roger staubtrocken zurück. »Also wirklich, was wollt ihr machen? Sie mitnehmen?«

»Du musst doch zugeben, dass wir sie besser beschützen können als du! Selbst mit deinem Trugbild. Der Typ hat Ahnung von so was, er wird dich finden!«

Roger brummte unglücklich. »Ich sehe ja ein, dass ihr die besseren Wächter für diese Schriften seid – da nun wieder jemand hinter ihnen her ist und sie benutzen will … Also gut, ich hole euch die Abschrift der Tafel … und das Émigré-Manuskript.« Mit gebeugtem Rücken wandte er sich von ihnen ab und durchmaß die Grotte mit schlurfenden Schritten, bis er vor einem quadratischen Umriss im Erdboden stand, den Jin erst jetzt beim Hinsehen als eine Falltür erkannte. »Ihr wartet hier auf mich, verstanden? Und Yuri …«

»Ja?«, erwiderte Yuri, die Hände artig im Schoß, als könne er kein Wässerchen trüben.

»… Kein Rumstöbern in meinen Möbeln nach Dingen, hast du gehört?«

»Alles roger, Roger.«

»Na schön. Etwas Geduld bitte.«

Die Falltür öffnete sich mit lautem Quietschen, aber sie schien, als der alte Mönch sie anhob, nicht schwer zu sein. Sand und Staub rieselten von ihr herab, doch darunter war sie nur aus dünnem, modrigem Holz. Roger kroch durch die Luke und stieg murmelnd hinunter; sein fast kahler, brauner Kopf verschwand unter dem Fußboden.

»So, das kann dauern!«, befand Yuri, sobald ihr Gastgeber nicht mehr zu sehen war, und sprang von der Couch. »Suchen wir uns was zum Zeitvertreib …« Er beugte sich über seine Ecke des Sofas und schob eine Hand in die Spalte zwischen Sitz- und Rückenpolster, vergeblich tastend. »… Nein, hier nicht. Jin, Dante, nehmt mal eure Ärsche hoch …«

Jin gehorchte geistesabwesend und betrachtete die kalksteinernen Wände der Höhle. Das hier war kein bizarrer Traum: Roger Bacon hatte acht Jahrhunderte mit all ihren Katastrophen überlebt und sich hier, zwischen dem Fundament eines niedergebrannten Klosters und den Ruinen einer uralten vormenschlichen Kultur, ein Refugium geschaffen, hartnäckig wie ein lebendes Fossil. Seine kuriosen Erfindungen mussten ihm das Leben hier unten erträglich machen, aber wie, bei allen Göttern, überdauerte er? Einsam, isoliert vom Rest der Menschheit, am Leben gehalten durch die Folgen eines schwarzmagischen Experiments fristete er hier ein trostloses Dasein, bei dem all sein Wissen, seine Fähigkeiten und seine Intelligenz ihm wenig nützten. Was tat er hier den ganzen Tag, Jahr um Jahr, wartend auf … was? Jemanden, der ihn entdeckte? Dass das passierte, wusste er bestens zu verhindern. Hatte er wirklich diese lange Zeit nur auf Yuris Rückkehr gewartet? Hatte er sie vorhergesehen, mit irgendeinem Zauberspruch? Wie hatte er sich die Zeit vertrieben in all den untätigen Jahrzehnten des Wartens auf etwas, das vielleicht niemals passierte? Was tat ein umfassend und hoch gebildetes Universalgenie wie Roger Bacon, während …

»… Aaaah, hab ich dich!«, triumphierte Yuri und zog aus der Polsterritze eine etwas abgegriffene, aber ziemlich zeitgenössisch aussehende Zeitschrift hervor. »Ich wusste es, die Shanghai Angels gibt es noch! Aber – meine Fresse, bei denen hat sich ganz schön was getan …!«

»Lass mal sehen«, verlangte Dante und hatte das Magazin schneller in der Hand, als Yuri es an sich drücken konnte. Wie immer waren sämtliche physikalischen Gesetze seine Verbündeten. »Aha! Ein Abo. Ich dachte mir schon, dass dein Freund Roger zu diesen alten Säcken gehört.« Er blätterte ein wenig. »Naja. Ganz nett.«

»Jetzt sei kein Arsch und gib es zurück!«, quengelte Yuri.

»Wo genau ist der Unterschied zu den Ausgaben aus deiner Zeit?«

»Ähm. Naja, damals waren die … nicht sooo groß. Zeig doch mal … Ja, so vielleicht. Aber das da –«

»Wow, das hab ich auch noch nie gesehen …«

»Tut das nicht weh?«

»Keine Ahnung.«

»Wie findest du die

»Oh, hallo! Ja, das passt zu dir, was?«

»So ausgefallen ist das nun auch nicht …«

»Du versuchst gerade, einen wirklich zweifelhaften Geschmack zu verteidigen. Dünnes Eis.«

»Sagt der Richtige.«

Jin hörte ihrem Geschäker unfreiwillig zu, während er dem Sofa den Rücken zuwandte. Da hatte er die Antwort darauf, was einsame alte Genies bei Langeweile taten.

Er sah sich genauer um. Etwas an der gegenüberliegenden Wand, wo all die absonderlichen Geräte standen, erregte seine Aufmerksamkeit. Es sah aus wie ein … Laufband, sehr in die dunkelste Ecke gedrückt, an den Seiten begrenzt von zwei großen hölzernen Rädern, deren Speichen staubbedeckt und teils gebrochen waren. Lange schwarze Drähte, daumendick, führten von dieser primitiven Energiequelle zu drei mannshoch aufragenden Ständern, schlangenhaft gewunden wie moderne Stehlampen und mit knospenartigen Verdickungen auf den Spitzen, die zur Erde gerichtet waren. Irgendwie vermutete Jin hinter diesen Objekten keine Lichtquellen; zwar sahen sie aus wie scharfe Laserstrahler, die sich auf einen gemeinsamen Punkt ausrichten ließen, doch ihr Zweck erschloss sich dem Betrachter nicht – jedenfalls nicht in dieser Umgebung.

Yuri rief leise nach ihm. »Jin? Hey, willst du auch mal reingucken?«

»Nein«, antwortete Jin geistesabwesend.

Prompt fragte Dante: »Kriegt ihr Japaner wirklich Nasenbluten, wenn ihr nackte Brüste seht?«

Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich glücklicherweise, als Roger schnaufend aus der Falltür herausgeklettert kam und dabei einen kleinen Jutesack über der Schulter trug.

Yuri warf das pornographische Magazin im Handumdrehen über die Schulter, und Jin erhaschte noch einen Blick darauf, wie Dante es schnappte und ebenso schnell wieder im Polster der Couch verschwinden ließ.

Leider blieb das Manöver erfolglos.

»Ihr Rotzlöffel!«, keifte Roger und warf sein Bündel von sich. »Kann ein armer alter Mann nicht mal seine Privatsphäre haben?«

»Du hast hier mehr Privatsphäre, als gesund für dich ist«, gab Yuri frech zurück. »Jetzt zeig schon her, hast du alles gefunden?«

»Pah, finden. Ich muss nicht suchen, wenn ich weiß, wo alles ist.« Das Säckchen hinter sich her schleifend, tapste Roger o-beinig zu der Gruppe. »Hier. Das hier kennst du.« Er griff in den Beutel, holte ein Bündel aus Lumpen heraus und entfaltete es beinahe feierlich. Was Jin in seinen Händen sehen konnte, war etwas Helles – etwas, das nicht wie ein Buch aussah. Ungeduldig streckte Yuri die Hand aus, doch Roger ignorierte die Geste; als Yuri dann versuchte, ihm den Schatz aus den Händen zu ziehen, gab der Mönch ihm einen Klaps auf die Finger.

»Diesmal nicht, du Rüpel! Ich weiß, dass du drauf auspassen kannst, aber diese Zeit hier ist nicht deine.« Yuri schwieg verblüfft, und Roger drehte sich nach links um – zu Jin. »Ich denke, du solltest die Émigré-Schrift verwahren, Jin Kazama.«

Wie in Trance nahm Jin den Kodex in beide Hände. Er war nicht eckig, sondern kunstvoll zurechtgeschnitten – zu einem menschlicher Schädel. Ein Schädel aus lateraler Sicht, flach. Die einzelnen das Hirn umgebenden Partien waren ebenso fein in das weiße Leder geprägt wie die Zähne, der Kiefer- und Wangenknochen, die einzelne Augenhöhle. Jin hatte den erschreckenden Eindruck, dass es wirklich Knochen war, über den seine Finger strichen; so fest und bleich war das Material, das den Buchdeckel bildete. Auf ihm stand, in griechischen Buchstaben, der Titel:
 

Εμιγρε
 

»Es ist nicht das Original, wie du vielleicht weißt«, erklärte Roger, »sondern eine Abschrift, die ich selbst für den Papst angefertigt habe, weil das alte Manuskript zerfiel. Während ich es studierte und seinen Inhalt anwendete, wurde ich zu dem, was ich jetzt bin … ein überdauerndes Wesen, zwar vor dem Tode geschützt, doch nicht vor dem Alter. Immer mehr zerfalle ich zu Staub und Asche, während ich nicht sterben kann. Deshalb … habe ich die Seiten, die diesen Ritus beschreiben, nicht mit in diese Kopie übertragen. Doch es spielt keine Rolle – dieses Dokument ist trotzdem das mächtigste und gefährlichste der Welt. Pass mir ja gut darauf auf!«

Jin nickte langsam und starrte weiter den schrecklichen Einband an. Hiermit also waren bis zum Zweiten Weltkrieg die schlimmsten Verbrechen der Menschheit ermöglicht worden … Und nun hatte man es in seine Hände gelegt. Jin schwor sich, dieses Buch notfalls mit dem Leben zu verteidigen. Behutsam schob er es in die Innenseite seines Mantels und schloss den feinen Reißverschluss.

»Und zu guter Letzt«, nahm Roger den Faden wieder auf, »habe ich hier die Seiten, die ich aus der Abschrift der Tafel von Dschaizan entfernt habe. Natürlich hätte ich es gleich sein lassen können, sie überhaupt zu übertragen, wie bei der Émigré-Schrift auch – aber im Vergleich mit der anderen Ausgabe, die später mit Harley Warren vom Erdboden verschwand, wäre das aufgefallen. Also erlaubte ich mir, die an Azazel adressierten Seiten später herauszutrennen. Hier sind sie.« Er fischte eine kleine Schriftrolle aus dem Jutesäckchen und reichte sie – nicht Yuri, der schon wieder beide Hände danach ausstreckte, sondern Dante, der unbeteiligt daneben stand.

»Och Mann …«

»Ich?«, fragte Dante und entfaltete träge seine Arme, um die Seiten entgegen zu nehmen. »Auch gut … Aber warum? Ich bin nicht der Richtige, um auf Wertvolles aufzupassen.«

»Du kannst die Seiten noch weniger lesen als ein Mensch«, erwiderte Roger zufrieden. »Du kannst sie dir nicht mal allzu genau ansehen. Habe ich nicht Recht? Du bist ein Halbblut, und dein Hirn kann sich nicht entscheiden, ob es die ungeometrischen, aber harmlosen Runen sieht, die wir Menschen sehen, oder die Bedeutung dahinter … die ein Dämon lesen kann.« Er kicherte sein Ziegenkichern. »Ich stelle es mir nicht angenehm vor.«

»Ich werde versuchen, nicht draufzukotzen«, versprach Dante großmütig und suchte nach einer geeigneten Tasche irgendwo in den Tiefen seines Dusters.

»Moment mal, stopp«, ging Yuri auf einmal dazwischen. »Wartet. Wieso reden wir hier überhaupt darüber, die Seiten mitzunehmen und zu verstecken? Wir sollten sie gleich vernichten.« Er nickte nach dem blakenden Kandelaber. »Da! Lasst sie uns verbrennen. Dann haben wir’s hinter uns. Niemand wird Azazel beschwören – nicht heute, nicht morgen, nicht in hundert Jahren. Also?«

Dante zuckte die Schultern und hielt ihm das Seitenbündel hin. Roger zögerte, unschlüssig. Yuri nickte, nahm die Rolle an sich und wollte sich damit entschlossen auf den Weg zu den Kerzen machen.

Ehe er darüber nachdenken konnte, war Jin vor ihn getreten. »Nein. Warte.«

Yuri stoppte, sah ihn fragend an. »Warum nicht?«

»Tu es nicht jetzt schon. Vielleicht brauchen wir die Seiten noch.«

»Und wofür?«

Jin wusste es selbst nicht; er wusste nur, dass er diese Seiten auf keinen Fall brennen sehen wollte. Diese Hast war plötzlich über ihn gekommen und war ihm selbst unverständlich. »Wir wissen, dass Azazel so oder so in unsere Welt treten wird, mit oder ohne Einladung. Sarris hat das gesagt, und auch Zafina hat das gesagt – die Prophetin, die mich umbringen wollte, zum Wohle der Menschheit.«

»Das hast du erzählt«, bestätigte Yuri widerwillig. »Du und dein Vater seid diejenigen, die das auslösen werden, wenn nicht einer von euch vorher stirbt.«

»Ich muss mir überlegen«, sagte Jin fest, ihm direkt in die Augen sehend, »ob ich die Prophezeiung wahr werden lassen und warten will, bis Azazel von selbst erscheint, irgendwann … oder ob ich ihm zuvorkomme.«

Yuri erwiderte seinen Blick verständnislos. »Sekunde mal, Jin. Was redest du da? Du erzählst die ganze Zeit allen, dass du deinen Vater töten willst. Das würde Azazels Erscheinen verhindern, oder? Schlägst du gerade ernsthaft vor, dass wir Azazel beschwören, damit du ihn herausfordern und vielleicht töten kannst? Sag mal: Hackt’s bei dir irgendwo?«

Jin presste die Lippen zusammen. Er konnte es nicht leiden, wenn man so mit ihm sprach, doch bei Yuri tolerierte er es notgedrungen. Sein Einwand war ernst gemeint gewesen, und er war berechtigt. Devil war Azazels Saat. Jin war klar geworden, dass Azazels Vernichtung ihn mit großer Wahrscheinlichkeit von dem Teufelsgen befreien würde. Das war es, was er wollte. Diese Chance gab er nicht so einfach auf.

Einen Moment lang starrten sie einander an, und Jin las in Yuris Gesicht, das wie ein offenes Buch vor ihm lag, die Erinnerungen an all den Horror, den er erlebt hatte – fast immer verursacht durch mächtige Schriften, die Verzweifelten, Fehlgeleiteten und Wahnsinnigen in die Hände gefallen waren. Yuri tat ihm leid, doch Jin konnte nicht aus seiner Haut. Er würde nicht zulassen, dass diese letzte Passage der Dschaizan-Abschrift vernichtet wurde.

Es war Roger, der schließlich eingriff. »Yuri, Jin hat vielleicht Recht. Ich weiß, du warst damals schon dafür, auch die Émigré-Schrift zu verbrennen. Aber … wenn es so leicht wäre, hätte ich alle Schriften, die ich für potenziell gefährlich halte, selbst längst zerstören können. Wozu Seiten entfernen, wozu Bücher verstecken? Du weißt, warum wir das tun … Weil Geschriebenes Macht hat. Diese Texte existierten lange vor uns, wir wissen nicht, wer sie wirklich geschrieben hat und zu welchem Zweck solch furchtbares Wissen überliefert werden sollte. Und weil wir uns nicht anmaßen können, das zu wissen, sollten wir nicht so leichtfertig darüber entscheiden, welche Kenntnisse und Errungenschaften der Menschheit wir unwiederbringlich dem Vergessen überantworten.«

Yuri senkte den Kopf. »Aber …«, protestierte er schwach.

Jin zog die Seiten aus seinem erschlafften Griff und gab sie Dante zurück, der sie einsteckte mit dem Kommentar: »Bleiben wir also beim alten Plan.«

»Wie ihr wollt«, gab Yuri sich geschlagen, zuckte die Achseln und wanderte ein paar Schritte in der Grotte auf und ab. »Dann sollten wir jetzt mal durchspielen, was eigentlich passieren würde, wenn Sarris mit seinem Plan durchkommt. Jetzt, da wir endlich wissen, was er wirklich vorhat.«

»Lass uns das morgen machen«, lehnte Dante den Vorschlag ab. »Es ist nach Mitternacht. Wir haben unsere heutige Mission erfüllt, nämlich deinen Freund Roger gefunden und die Texte sichergestellt. Hat alles geklappt, schnell und gründlich, wir sind da mindestens mit Rang A durchmarschiert, wenn du mich fragst. Also lass uns morgen wiederkommen, wenn es hell ist und wir wieder munter sind. Okay?«

Jin vermutete, dass Dante entweder müde war oder sich langweilte; wahrscheinlich letzteres. Hoffentlich würde er gut auf die Seiten Acht geben. Jin war mit Rogers Wahl, wer sie haben sollte, nicht sehr zufrieden, aber er selbst hatte seinen eigenen Verwahrungsauftrag zu erfüllen, und das war das Émigré-Dokument – das widerwärtigste Buch, das er je gesehen hatte. Hoffentlich würde Sarris es niemals, niemals finden. Daran mussten sie morgen arbeiten.
 

Roger begleitete sie hinaus in die unverändert kalte, feuchte und windige Nacht. Wieder froren sie erbärmlich, als sie im Dunkeln die Strecke nach Aberystwyth zurücklegten, schweigend und ohne Umwege. Jin fühlte sich so matt, als wäre er den ganzen Tag gelaufen. Noch dazu sahen sie alle aus, als hätten sie sich eine Schlammschlacht geliefert (nicht nur Dante und Yuri, bei denen das zutraf), denn aus dem Loch wieder herauszuklettern hatte ihre Kleidung noch schmutziger werden lassen, als sie durch den Sturz in die Höhle bereits gewesen war.

Das sah auch der Nachtportier des Hotels, als er ihnen mit seinem zwielichtigen Lächeln öffnete. »Willkommen zurück, meine Herren. Sie scheinen eine spannende Nacht hinter sich zu haben.« Er wies nach der Treppe und wünschte ihnen einen erholsamen Schlaf.

Jin war sicher, dass sie als auffälliges Männertrio den Hotelbetreibern ohnehin nicht geheuer waren. Da den Dreien allerdings noch niemand Schwierigkeiten bereitet hatte (ganz im Gegenteil – nur hier waren sie aufgenommen worden), gab es keinen vernünftigen Grund, die Integrität dieser Einheimischen in Frage zu stellen. Womöglich bespitzelten sie sie … doch wenn schon. Zu holen gab es nichts, das Außenstehende interessierte.

Jin schob die Émigré-Schrift vorsichtshalber unter sein Kopfkissen, ehe er sich schlafen legte. Zwar konnte er sich auf seine Instinkte und Reflexe auch im Schlaf verlassen, aber nach Rogers Mahnung war er nicht bereit, auch nur das kleinste Risiko einzugehen. Mit Yuri und Dante hatte er sich zum Frühstück verabredet, und dort würde sich zeigen, wie viele Gäste das Seaside wirklich beherbergte.

Eine Zeitlang starrte Jin noch auf das Mondlicht, das grau durch die Vorhänge fiel. Darin erschienen die weißen Laken so fahl wie der Schädeleinband, der das abstoßende Buch zusammenhielt.
 

Der nächsten Morgen kündigte einen weiteren nasswinterlichen Tag an.

Jin trat vor die Tür seines Zimmers, sich noch einmal vergewissernd, dass das Émigré-Manuskript sicher in seiner Manteltasche lag, und hielt im Korridor Ausschau nach den anderen. Dante erschien nur zwei Minuten später und begrüßte ihn mit einer knappen Geste. Die Spitzen seines silberweißen Haars waren noch feucht.

»Wo bleibt denn der kleine Spinner?«

»Ich weiß nicht.« Jin sah sich um. »Ich klopfe mal bei ihm.« Es erschien ihm nicht unwahrscheinlich, dass Yuri noch schlief.

Auf das Türklopfen meldete sich niemand. Auch nicht, nachdem Jin und Dante sich lauter und ausdauernder bemerkbar gemacht hatten.

»Scheint nicht da zu sein«, stellte Dante fest.

»Aber wo ist er dann?« Jin war ratlos. Yuri war wohl kaum so viel früher wach gewesen, dass er nicht mehr auf die Anderen warten konnte. Das passte nicht.

Dante ließ seinen Blick über den Boden schweifen und fragte dann: »Was ist denn das da?«

»Was?«

»Das Stück Papier unter deiner Tür.«

Erstaunt wandte sich Jin nach seiner Zimmertür um und sah, worauf Dante mit der Schuhspitze zeigte: Dort lugte tatsächlich eine weiße Ecke hervor. Beim Hinausgehen war Jin also glattweg über einen Zettel getreten, ohne ihn zu bemerken – so viel zu seinen Instinkten. Nachdenklich schloss er die Tür auf und hob das Papier auf. Es war zweimal gefaltet und enthielt tatsächlich eine Nachricht. Jin war sofort klar, dass es einen Moment dauern würde, sie zu verstehen: Yuri hatte auf Japanisch geschrieben, konservativ von oben nach unten und die Spalten von rechts nach links. Der kurze Text stand fast ausschließlich in Hiragana – glücklicherweise, denn wo Yuri mutig Kanji gesetzt hatte, waren es die alten, die seit der Schreibreform im Jahr 1945 nicht mehr in Gebrauch waren und die Jin nur bedingt lesen konnte. Überhaupt gab es zahllose Schreibfehler, doch das war nicht verwunderlich, wenn man wie Yuri multilingual aufgewachsen war und das Schriftsystem nicht tagtäglich verwendete.

Im Wesentlichen teilte der Text Jin mit, dass Yuri in der Tat schon zu Roger aufgebrochen war, um mit ihm über Zeitreisen (wahrscheinlich hieß es das) zu sprechen. Er habe eine Idee, wie er zurück nach Hause käme, und zwar mithilfe von Rogers … irgendwas (Jin konnte diese Zeichenfolge bei aller Mühe nicht deuten, es standen auch keine Zusatzzeichen dabei). Erstaunlich war für Jin, dass Yuri für den Namen jin das korrekte Kanji geschrieben hatte, nämlich 仁; unterzeichnet hatte er mit seinem eigenen japanischen Rufnamen uru. Er war jetzt also weg, weil es etwas gab, das er unbedingt mit Roger besprechen wollte – vielleicht wirklich nur seine anstehende Heimreise ins Jahr 1915, vielleicht aber auch etwas, das er einfach nicht im Beisein der Anderen mit Roger diskutieren wollte.

Jin beschloss, ihm nicht sofort zu folgen. Was auch immer Dante zu der Nachricht sagen mochte, sie würden Yuri in Ruhe lassen und erst, wie geplant, nach dem Frühstück zu Rogers Versteck aufbrechen.

Manche Dinge musste man sich selbst überlassen.

»Gehen wir frühstücken«, sagte Jin.

Akt IX - Leben aus dem Tod: 13-3

13-3: DANTE
 

Dante fühlte sich übergangen. »Hey, nicht so schnell. Was hat er geschrieben? Zeig her.«

Gut erzogen, wie er war, hielt Jin ihm den Zettel hin. Dante nahm ihn, erblickte das japanische Gekritzel und schüttelte den Kopf. »Übersetzen, bitte. Danke.« Er drückte Jin das Papier wieder in die Hand.

»Es ist nichts Unerwartetes«, erklärte Jin. »Er schreibt, dass er schon früh zu Roger gegangen ist, um mit ihm zu sprechen. Verständlich, sie haben sich sehr viel zu erzählen. Ein Wort kann ich nicht lesen; jedenfalls glaube ich, dass es nur ein Wort ist, es könnten auch zwei sein.«

»Ihr macht euch noch tot mit eurer komplizierten Schrift«, war Dantes wenig rühmliches Urteil.

Sie schlenderten den Korridor hinunter in Richtung Speisesaal.

»Wenn es ein traditionelles englisches Frühstück gibt, kommst du klar?«

»Sicher«, murmelte Jin.

»Sind tausend Kalorien auf einen Schlag nicht zu viel für dich?«

»Ich weiß, warum du gehaltvolle Nahrung schätzt«, sagte Jin zu Dantes Überraschung. »Dein Energiebedarf ist höher, deshalb kannst du essen, was immer du willst, Fett und Zucker. Du brauchst das sogar.«

»Gut erkannt.«

»Ich bin nach Devils Ausbrüchen auch immer furchtbar schwach und kurz danach sehr hungrig.«

Dante ertappte sich wieder einmal dabei, dass er Jins Umsicht bewunderte. Das war jemand, der sich seine Gedanken machte, aber weise die Klappe hielt, wenn er nichts zu sagen hatte. Davon könnte man sich hin und wieder eine Scheibe abschneiden.
 

Anderthalb Stunden später – nach Pancakes mit Honig und Blaubeeren, zu denen nicht mal jemand wie Jin Nein sagen konnte – marschierten sie wieder über die gelbgrün bewachsenen Felsen entlang der Küste. Es herrschte unwalisisches Sonnenscheinwetter, kleine weiße Fetzenwolken zogen schnell über ihren Köpfen dahin. Alles sah freundlich aus, selbst die steinige Einöde aus Gras, und der Weg war leicht zu finden. Neben ihnen schlugen die wilden grauen Wellen an die Klippen. Möwen kreisten in der Gischt und jagten sich gegenseitig ihre Fänge ab.

Wieder zog die Kälte von allen Seiten an ihnen und hielt die Wärmeproduktion ihrer Körper in vollem Gange, doch diesmal kamen sie besser damit zurecht, da sie mit frisch gefüllten Treibstofftanks aufgebrochen waren. Heiß und energiegeladen peitschte das Blut durch ihre Adern, während sie kletterten.

»Ich frage mich«, begann Jin, nachdem sie eine Weile schweigend bergauf gegangen waren, »warum Yuri sich so ziert, seine Fusionskräfte einzusetzen. Er hat das nicht einmal getan, seit er hier ist. Warum ist es so belastend für ihn, und warum hat er solche Angst davor?«

»Kannst du dir das nicht denken?« Dantes Meinung nach hatte Yuri diese Gründe mehr als deutlich gemacht. »Bei uns beiden, dir und mir, ist der Teufel ein Teil von uns. Ich bin mit dämonischem Erbgut geboren, du mit irgendwas Ähnlichem. Yuri aber nicht. Er kann diese Verschmelzung zwar herbeiführen, aber sie ist für seinen Körper extrem unnatürlich. Die wenigsten Leute überleben es lange, wenn ein Dämon von ihnen Besitz ergreift. Yuri macht genau das mit Absicht, und dafür muss er seine psychische und physische Abwehr mit Gewalt unterdrücken. Und dann muss er das Vieh auch noch kontrollieren … Will mir nicht ausmalen, wie unglaublich erschöpfend und gefährlich das ist.«

»Aber er hat offenbar auch eine genetische Exposition für diese Fähigkeit. Sein Vater hatte dieselben Kräfte.«

»Und weißt du, was aus seinem Vater wurde?«, versetzte Dante, der nicht verstand, worauf Jin hinauswollte. »Hat er’s uns gesagt? Nein. Aber du bist kurz vor dem Durchdrehen, weil ein Teufel deinen Körper okkupiert – also tu nicht so, als hättest du hier den großen Durchblick. Klar sind bei dem Kerl ein paar Bretter lose, aber bisher hat er seine Teufelskräfte wenigstens immer im Griff. Was man von dir nicht behaupten kann, Kazama.« Dante hatte das nicht aggressiv gesagt, aber ein gewisser herablassender, vorwurfsvoller Ton ließ sich nicht vermeiden. Jedenfalls verfehlte die Zurechtweisung ihre Wirkung nicht, denn Jin sagte nichts. Wie so oft. Jin sagte eine Menge nichts, wenn man mit ihm zusammen war, und wenn er dann mal etwas sagte, waren es meistens kluge und besonnene Worte. Jetzt allerdings … »Eins ist seltsam«, fuhr Dante friedlicher fort. »Yuri ist von uns allen der emotionalste. Er hat seine Gefühle nicht gut im Griff und ist impulsiv … Aber das Böse in sich zu beherrschen, damit hat er keine Probleme. Bei dir ist es genau umgekehrt.«

»Wie du meinst«, erwiderte Jin wenig verbindlich.

»Vielleicht solltest du nicht immer alles runterschlucken, sondern auch mal was rauslassen.«

»Danke für den Rat, sehr hilfreich.« Es klang sarkastisch.

Sie erreichten den Erdspalt, in den sie in der Nacht zuvor eingebrochen waren. Roger hatte ihn nicht zu tarnen versucht; vermutlich bestand keine Gefahr, dass ein Spaziergänge sich in dieser Jahreszeit hierher verirrte.

Dante ging vor dem Eingang auf die Knie und spähte hinunter. »Gibt’s vielleicht eine Möglichkeit, uns diesmal nicht dreckig zu machen?«

»Gute Frage«, seufzte Jin. »Meine saubere Kleidung geht zu Ende. Wie kommt Roger raus und rein?«

Sie hoben beide den Kopf und starrten über die Ebene.

Man könne die Spalte nicht sehen, hatte Roger gesagt, auch bei Tageslicht nicht … Sie sei in einer größeren geologischen Restaurierung geschlossen worden … na schön. Dante stand auf und trottete durch das bleiche Gras. Er stellte sich vor, wie das Land unter einer extremen Kraft aus dem Meer entzwei brach, um das bösartige außerirdische Material entweichen zu lassen, das jahrtausendelang in den Neam-Ruinen unter der Erde geschlummert hatte. Als er sich umdrehte und zur Küste sah, entdeckte er die Stelle schnell, an der der Fels gebröckelt war; auch mit modernsten Mitteln war ein solcher Schaden nicht zu kaschieren. Von dort aus verlief der Spalt irgendwo unter Sand und Rasen. Dante rief sich vor Augen, wie sie in der Nacht dem Trugbild des riesigen Wolfs gefolgt waren, der Yuri zu Roger geführt hatte. Er hatte sich auf dem Spalt bewegt, wie ein Freizeitpark-Boot auf einem Magnetkabel … Dante schaute zu Boden und ging diesen Weg ab, sein Gedächtnis bemühend. Jin, das sah er aus dem Augenwinkel, beobachtete ihn reglos und behielt ihn im Auge. Hier hatte der Wolf angehalten, hier verlief die unsichtbare Trennlinie …

Okay, das war Bullshit. Hier war nur das Loch und sonst nichts.

Als Dante sich umdrehte, war Jin weg. Er entdeckte seine schwarz gekleidete Silhouette mit dem markanten Haarschopf halb auf dem Rückweg den Fels hinauf. Da wurde ihm klar, was Jin vorhatte. Er gab ihm im Geiste einen Daumen hoch und folgte ihm.

Bei Tageslicht erschienen alle Wege viel kürzer als nachts im Dunkeln, und so erreichten sie sehr schnell jene Stelle unterhalb der letzten Anhöhe, an der das kleine Denkmal für den Gottesschlächter stand. Dante umfasste den steinernen Pfeiler mit beiden Händen und lehnte sein Gewicht dagegen; der Pfeiler kippte zurück, und der flache Sockel entpuppte sich als mit Erde und Gras bedeckte Falltür, unter der sich ein Treppenabgang auftat, der mit ebenmäßig gehauenen Stufen in die Tiefe führte.

»Da haben wir Rogers Eingang.« Dante klopfte mit dem Fingerknöchel gegen den umgeklappten Pfeiler, der innen hohl war und damit gerade leicht genug, um sich bewegen zu lassen. »Aber er musste uns ja durch den Dreck kriechen lassen, der Sack.« In Wirklichkeit war ihm Dreck ziemlich egal, er kam in seinem Job mit ganz anderen Arten von Schmutz in Berührung – auch solchen, die unangenehmer rochen und sich schwerer aus der Kleidung waschen ließen.

»Jedenfalls reichen die Tunnel, die er bewohnt, offenbar weiter als erwartet. Hoffentlich verirren wir uns nicht.« Und damit kam Jin Dante zuvor, zog seinen Mantel fest um den Körper und betrat als Erster die sandigen Stufen hinunter ins Gewölbe.

Akt X - Blut des Teufels: 14-1

14-1: YURI
 

Yuri war direkt über die Treppen gekommen. Seit er wusste, dass Roger noch hier lebte, war ihm klar, dass das alberne Gottesschlächter-Denkmal einen Eingang zur obersten Schicht der Ruinen markierte. Diese durchzogen den Untergrund so weitläufig, dass er nicht einmal erahnen konnte, wohin ihre Ausläufer reichten.

»Roger?«, rief er vorsichtig ins Dunkel. Er hatte kein Licht, doch das machte nichts. Die steinernen Wände sandten hier an manchen besonders dünnen Stellen ein schwaches, kaltes Glosen ab, das ihn führte. »Roger, ich bin’s, ich muss mit dir reden.« Hoffentlich reichte der Tunnel nicht hinunter in die Ruinen. Dort wollte er nie wieder hin. »Roger!«

»Hör auf zu schreien! Lauf weiter, immer der Nase nach. Ich hab schon Kaffee aufgesetzt!«

Na bestens, explosives Gebräu fehlte jetzt noch.

Yuri lief weiter den Tunnel hinunter und verfiel unwillkürlich in Laufschritt. Wieder pochte sein Herz wie am Abend zuvor; es gab so vieles, das er mit Roger besprechen musste, so viel Vertrauliches und auch Heikles. Er hoffte, dass Jin die Nachricht richtig deutete und ihm Zeit gab. An Dante wäre solche Mühe wohl verschwendet gewesen.

An einer Kante mit drei niedrigen Stufen stolperte er und fiel beinahe der Länge nach auf die Nase. Zu seinem Erstaunen stand er genau vor einem viereckigen Loch, in das von der Decke ein Seil herabführte. Darunter befand sich der schon bekannte Raum mit der weinroten Couch, auf der sie gestern gesessen hatten.

Yuri fand Roger im Zimmer daneben, dem Eingangsraum. Dort saß er an dem hohen Tisch, vor sich zwei dampfende Tassen, und bastelte an etwas herum, das Yuri über seine Schulter hinweg als eine Art Verbindungsstück für verschiedene Kabel erkannte.

»Ach, es hat keinen Sinn«, murmelte Roger. »Selbst wenn ich wieder alle Zuleitungen frei bekomme, fehlt mir immer noch die Energiequelle.«

Yuri setzte sich ihm gegenüber. »Roger, wir müssen reden.«

»Allerdings. Bist du allein?«

»Ja.« Er war etwas nervös. »Ich … vermute, es ist egal, ob ich hier bin oder woanders, wenn es um den Fluch der Mistel geht, nicht wahr? Du siehst, ich stecke wieder in meinem alten Körper von 1913, bevor ich verflucht wurde. Als Schonfrist. Aber das wird mich nicht retten, oder?« Wieder einmal hob er automatisch die Hand, um unter dem Mantel seine Brust zu betasten, wo er keine verheilende Wunde vom Einstich des Silberdorns fand. Dummer Reflex.

Roger betrachtete ihn nachdenklich, die Hände gefaltet auf dem Tisch. »Sagen wir mal … Ich vermute, es wird dich nicht retten, wenn du an einem Ort weiterlebst, an den du nicht gehörst.« Sein runzeliges Gesicht lag in Sorgenfalten. »Du weißt, wie du hierher gekommen bist?«

»Kato hat mit dem Émigré-Manuskript die Zeittore geöffnet. Um von der Steinplattform zu entkommen, mussten wir … es uns wünschen. Und ich …«

»Ja?«

»… ich musste mich entscheiden. Zwischen Frieden … und Glück.« Innerlich zögerte er. Aber ja, das war der Deal gewesen … oder?

»Erinnerst du dich wirklich?«, hakte Roger nach.

»Ja, klar tu ich das!«

»Hör mir jetzt gut zu, Junge.« An seiner Miene erkannte Yuri, dass er ihm gleich etwas ziemlich schwer Verdauliches mitteilen würde. War jemand gestorben, einer seiner alten Freunde? Schließlich wusste er nicht, was aus ihnen geworden war, nachdem sie alle verschwunden waren … Roger atmete tief ein. »Yuri, in meiner Realität – der, die ich erlebt habe – bist du nach diesem letzten Kampf gegen Kato hierher zurückgekommen, nach Wales. Ich fand dich an der Klippe stehend, im Herbst von 1918, dem Jahr, in dem der Krieg endete. Du hattest keine Erinnerungen … und keine Seele.«

Yuri wurde kalt. Seine Fingerspitzen waren plötzlich gefühllos, sein Hals trocken. »Wie – ich … Der Fluch hat …«

»Ja.«

»Es war … nichts von mir übrig?«

»Nur dein Körper. Du hast gelebt, du hast dich bewegt, du hast gesprochen … aber du warst nicht mehr du selbst.«

»Was … aber … Ich meine, ich wusste, dass das passieren würde, ich hatte keine Wahl, ich konnte nicht länger dagegen kämpfen … Aber das, das ist … mein Alptraum«, schloss er kläglich. Kummer und Entsetzen schnürten ihm die Kehle zu. Es war also wirklich passiert, das Schrecklichste, was passieren konnte, das Ende – er war zu einer leeren Hülle geworden, vor dem, was er so sehr fürchtete…

»Der Fluch der Mistel hatte deine Seele verschlungen, und mit ihr alles, was dich ausmacht!«, brach Roger plötzlich aus. »Du wusstest es, wie konntest du das nur zulassen, wie konntest du? Ich musste dich hier isolieren, Yuri, bis an dein Lebensende! Ich ließ dich in dem Glauben, du wärst mein Sohn …«

»Sohn … Und das hab ich dir abgekauft …« Es wurde immer trauriger.

»Was blieb dir anderes übrig? Ich habe es dein Leben lang bedauert … Dafür hast du nicht die Welt gerettet, nicht für das Schicksal eines seelenlosen Geschöpfes ohne eigenes Leben! Und Alice –«

Yuri fuhr zusammen. »Alice? Sie hatte ich auch vergessen?«

»Natürlich.« Roger schüttelt betrübt den Kopf. »Mit deiner Entscheidung hast du alles aufgegeben, was du hattest. Das Wertvollste. Dich selbst.«

Yuri fühlte sich wie erschlagen. Seine Entscheidung auf der Steinplattform war vollkommen falsch gewesen … Frieden hatte er gewollt, nichts als Ruhe, wenn er schon aufgeben musste … Und Frieden hatte er bekommen, endlosen Frieden, zu einem unsäglichen Preis. Oft hatte er sich ausgemalt, wie es sein mochte, seelenlos durch das Nichts zu driften, in einer belanglosen Umwelt, die ihm nichts geben konnte … Doch es gab nichts mehr, das driften konnte. Und nichts mehr, das Alice’ Andenken bewahrte.

»Yuri.« Roger griff über den Tisch nach seiner zitternden Hand und legte seine kleinen braunen Finger darum. »Du bist jetzt hier, weil dies deine Chance ist.«

»Meine Chance …?«

»Darauf, deine Entscheidung zu korrigieren. Du siehst, deine Wünsche können den Lauf der Zeit beeinflussen.«

»Aber – ich weiß gar nicht, warum ich hierhergekommen bin …« In Yuris Hirn ratterten die Räder, dass es fast schmerzte. »Was soll ich machen? Wie kann ich verhindern, dass der Fluch der Mistel mich ausradiert? Es trifft mich doch so oder so! Was tue ich dagegen?«

»Es gibt eine ganz einfache Antwort darauf«, sagte Roger ruhig und zog seine Hand weg. »Nur so viel: Jetzt bist du hier, weil du Zeit gewonnen hast. Nimm die Taschenuhr … Na los!«

Yuri fuhr in seine Hosentasche und zog die Uhr hervor.

»Sie funktioniert, hast du gesagt.«

»Äh, sie … sie ist auf Zwölf gesprungen, aber seitdem bewegen sich die Zeiger nur ganz langsam. Sie läuft, aber sie zeigt nie die richtige Zeit an.«

Roger nickte eifrig. »Gut. Dann zieh zu, dass du in deine eigene Zeit zurückkehrst, bevor der Zeiger wieder bei Zwölf ankommt. Sonst, fürchte ich, wird der Fluch schneller sein als du.«

Schneller sein … »Verstanden«, brachte Yuri hervor.

Roger nickte, und die Furchen in seinem Gesicht glätteten sich ein wenig. »Nun, als nächstes möchtest du wahrscheinlich wissen, wie deine Rückreise zu bewerkstelligen ist.«

»Ja … Ja, darüber habe ich schon nachgedacht. Ich habe gesehen, dass du ihn noch hast … also, den Teleporter.« Yuri war nicht entgangen, wie Jin dieses Ding angestarrt hatte, das da im Nebenraum an der Wand aufgetürmt lag, das Laufband mit den drei gespenstischen Strahlungsemittern. Funktionstüchtig sah es allerdings nicht aus, ganz so, als wäre es ewig nicht verwendet worden.

Etwas hilflos hielt Roger das Kabelverbindungsstück hoch, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Es ist einiges nicht ganz in Ordnung damit, und die Energiequelle ist auch ein Problem, aber grundsätzlich habe ich den Teleporter noch, ja. Ich denke, wir könnten die Probleme irgendwie lösen, zumal wir zu viert sind … Also ja, natürlich kann ich dich zurückschicken. Aber sollte ich dich schon zurückschicken? Auf der Uhr ist noch etwas Zeit. Und mir scheint, du sollst hier noch etwas lernen.«

»Lernen? Du glaubst also, dass ich … nicht umsonst hier bin?«

»Natürlich! Du hast dich dem Fluch ergeben, Yuri – ist das wirklich das, was du willst? Denk darüber nach!«

Yuri senkte den Blick auf die vor sich hin tickende Taschenuhr. Roger hatte Recht, er musste handeln. Musste den Arsch hochkriegen und etwas unternehmen. Noch immer war er erschüttert über das Ergebnis seiner Entscheidung. Frieden bedeutete Kapitulation. »Wenn die Sache hier erledigt ist – werde ich dann wissen, was ich zu tun habe?«

»Herrje, was weiß ich.« Roger hob die Achseln. »Ich bin nicht du. Ich kann dir nur einen Stups in die eine oder andere Richtung geben. Lösen musst du das Problem selbst.«

»Kato hat gesagt, wir müssten beten.« Yuri starrte weiter auf die Uhr, doch sie verschwamm vor seinen Augen. »Wir müssten uns wünschen, einen neuen Platz auf der Welt zu bekommen.«

»Und du siehst, es hat funktioniert. Auf die eine oder andere Weise.«

»Aber ich habe mir nicht gewünscht, in einem fremden Land und in einer fremden Zeit zu landen, wo nichts so ist, wie ich es kenne! … außer dir.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Roger mit scharfem Blick. »Aber augenscheinlich hast du dir insgeheim gewünscht, dass dir jemand sagt, was du tun musst.«

»Aber niemand sagt mir, was ich tun muss! Nicht Dante, nicht Jin – nicht mal du!«

»Yuri!«, fuhr Roger auf und sprang auf die Sitzfläche seines Stuhls, um sich weiter über den Tisch beugen zu können. »Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, dass sich jemand vor dir hinstellt und dich instruiert, wie du dem Fluch entrinnst und Alice zurückbekommst!«

Als diese Zurechtweisung einsank, wurde Yuri plötzlich ganz ruhig. Endlich schien sich sein Inneres nicht länger hin und her zu winden, sondern begann sich zu fokussieren. »Also geht es wirklich darum. Es geht um Alice.«

»Worum sollte es in deinem Kopf denn sonst gehen?«, erwiderte Roger ärgerlich. »Man sollte meinen, du kennst dich allmählich!«

Der Zug, dachte Yuri und erinnerte sich. Im Zug nach Aberystwyth war er wieder einmal zu Alice gelangt, wie damals kurz vor dem alles entscheidenden Kampf gegen Kato. Bis heute wusste er nicht, ob diese Begegnungen auf einer gewissen Ebene real gewesen waren oder nur Wunschträume; er hatte beschlossen, dass das nicht wichtig war. Er hatte etwas gelernt aus diesen Klarträumen, nur das war entscheidend. Er hatte etwas Wesentliches über sich selbst erfahren. Und was er in diesem zweiten Traum – in dieser Zeit, unterwegs mit Jin und Dante – über sich selbst erfahren hatte, war, dass er Alice hätte retten können. »Ich muss zurück«, murmelte er. »Roger, ich muss … irgendwie zurück. Nicht nach 1915, sondern … 13.« Er blickte an sich herab. »Ich habe doch mein jüngeres Aussehen. Ich stecke in meinem Körper von damals und sehe aus wie Psychopath – und als ich so aussah, hat Alice noch gelebt.« Ohne dass er es wollte, füllten sich seine Augen mit Tränen. »Ich muss irgendwie zurück. Kannst du mich dahin zurückschicken – zu dem Zeitpunkt, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin?«

»Nein«, war Rogers klare Antwort.

Yuri kniff die Augen zusammen und ließ zu, dass ein paar Rinnsale ihren Weg nach unten fanden.

»Aber du hast erkannt, was du willst.« Wieder tätschelte Roger Yuris schlaff auf dem Tisch liegende Hand. »Also reiß dich zusammen und denk nach! Lass dir einmal in deinem Leben vom Schicksal etwas beibringen!«

Mehr als ein schwaches Nicken brachte Yuri nicht zustände, während seine Wangen immer nasser wurden.

Akt X - Blut des Teufels: 14-2

14-2: JIN
 

Das dumpfe, auf und ab schwellende Leuchten der Steinwände gefiel ihm nicht. Es wirkte unwirklich und bedrohlich, es erinnerte ständig daran, was hinter diesen dicken Mauern schlief. Yuri hatte gesagt, dass die Neam-Ruinen vom Bösen durchtränkt waren. Wer wusste schon, welche natürlichen Barrieren mächtig genug waren, es fernzuhalten?

Dante, der hinter ihm her trottete und sich leidenschaftslos umschaute, zeigte keinerlei Anzeichen von Stress. Sicher war er schon an ganz anderen Orten gewesen, Orten, die Jin sich nicht mal aus seinen Alpträumen kannte. Wie gern wäre er so abgebrüht wie Dante und Yuri; dann würden ihn nicht all diese Zweifel umkreisen wie Nachtgespenster.

Drei niedrige Stufen ließen den Tunnel in eine Sackgasse münden, in der ein kurzer Strick nach unten führte. Als professionellem Sportler bereitete der Abstieg Jin keine Mühe, und seine Sohlen setzten federnd auf dem Felsboden auf. Befriedigt nahm er zur Kenntnis, dass der Raum, in dem er nun stand, der mit der vertrauten Sofagarnitur war.

Leise watschelnde Schritte kündigten Roger Bacon an. Er schien auf den Besuch gewartet zu haben und trat gebückt und mit friedlichem Lächeln an Jin und Dante heran.

»Willkommen zurück, hee hee.«

»Wo ist Yuri?«, wollte Jin wissen.

»Sitzt am Tisch vor seinem Kaffee.« Der Mönch zeigte keinerlei Absicht, sie dorthin zu führen; stattdessen schob er Jin und Dante mit einer Geste näher an die Rückseite der Grotte, wo all die langsam einstaubenden Geräte lehnten. Jin bemerkte jetzt, dass die beiden großen Räder des Laufbands zwar ziemlich lädiert aussahen, jedoch die Fläche, auf der gelaufen wurde, blank und frei von Staub war. »Ich muss euch etwas erklären«, seufzte Roger. »Kommt noch etwas näher … Also, dass Yuri hier in dieser Zeit gelandet ist, das ist kein Zufall. Ich habe ihm gerade mitgeteilt, wie es mit ihm zu Ende ging, nachdem er dem Fluch der Mistel zum Opfer gefallen war … Ihr könnt es euch sicher vorstellen. Ich habe ihn bis zu seinem Tod hier betreut, jede Minute. Und es war … die schrecklichste Zeit meines Lebens.« Er hielt kurz inne, rieb sich die Hände, und sein kleiner Körper ächzte unter einem tiefen Atemzug. »Yuris Ende als seelenlose Hülle hat mir das Herz gebrochen. Darum … habe ich ihm die Taschenuhr geschickt.«

Jin verstand nicht. »Du hast sie ihm geschickt … Wie meinst du das?«

»Yuri hat diese Uhr früher einmal in der Lotterie gewonnen. Ich war selbst oberstes Mitglied, hee hee! Nun, sie hat ihm im Kampf geholfen, da sie durch die Experimente, die McNab an ihr vorgenommen hat, Dinge in ihren natürlichen Rhythmus zurück lenken kann. Als Yuri nach der Erfüllung des Fluchs hier strandete, hatte er sie noch bei sich, und ich nahm sie an mich. Und dann … begann ich selbst mit Experimenten.«

»Das heißt – du hast ...«

»Ich habe Jahre damit zugebracht«, stöhnte Roger, ihm ins Wort fallend, »und jeden Tag wurde mein Wille, diesen Zauber zu vollbringen, dadurch befeuert, Yuri sehen zu müssen, wie er sinnlos vor sich hin vegetierte. Ich manipulierte das Innenleben der Uhr so lange, bis ich hoffen konnte, dass mein Plan funktioniert. Dann versah ich sie mit einer Notiz und schickte sie hiermit, mit meinem Teleporter –« Er strich bedeutsam mit der Hand über eines der gebrochenen Räder. »– an mein jüngeres Ich im Jahr 1915. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Yuri bereits und wusste, was er für mich und den Rest der Welt bedeutet. Als mein jüngeres Ich – vorbereitet durch meine Nachricht – wieder mit Yuri zusammentraf, nutzte es die nächstbeste Gelegenheit, um die Taschenuhr in Yuris Besitz durch die von mir bearbeitete auszutauschen, ohne dass er es merkte. Aus diesem Grund passierte nach seinem Kampf auf der Steinplattform nicht das, was ursprünglich passiert war … Er wurde nicht zu mir teleportiert, um hier seine Seele zu verlieren, sondern … nun ja.«

»Stattdessen landete er bei mir«, stellte Dante fest, »viele Jahrzehnte später. Und was, wenn ich fragen darf, sollte das?«

»Ich bitte dich!«, gab Roger leicht gekränkt zurück. »Glaubst du, es war eine einfache Aufgabe? Ich konnte die Wirkung des Zaubers auf der Uhr nicht testen, ich hatte keine Garantie dafür, dass es funktioniert – und die Details, die konnte ich erst recht nicht vorprogrammieren! Keine Technik, nur Versuche! Als mein Plan endlich ins Werk gesetzt war, begann Yuri bereits alt und müde zu werden. Ich nahm immer wieder Haare und Blut von ihm und webte den finalen Zauber über Monate hinweg. Es war ein mühsames, endloses Arbeiten … Doch endlich weiß ich, dass es die Schinderei wert war.«

Jin staunte über diesen Liebesbeweis des alten Mannes. Roger hatte sich nicht gelangweilt, während er all die Jahre in Wales festgesessen hatte; stattdessen hatte er Yuri, bis hin zu dessen Tod, beschützt und verzweifelt an dessen Rettung gearbeitet. Yuri hatte ein besseres Ende verdient … und Roger hatte es mit all seinem Herzblut möglich gemacht.

»Es hat nicht alles so geklappt, wie ich hoffte«, räumte Roger ein. »Mein Ziel war, dass in dem Moment, da Yuri in den Zeitstrom gerät, der Zauber ausgelöst wird und ihn wegbringt – und zwar in die Zukunft, natürlich, aber wie weit genau, das konnte ich nicht festlegen, nur dass es nach seinem tatsächlichen Tod sein sollte. Was das wohin betrifft: Ich plante, dass der Teleport Yuri zu einer Person schickt, die er kennt. Nach so vielen Jahren konnte das nur ich sein, alle anderen sind ja längst tot! Aber ich wartete und wartete, und er kam nicht. Mein Trugbild, das ihr draußen gesehen habt, sollte ihn erkennen und abholen. Nichts passierte! Ich hatte schon beinahe aufgegeben, die ganze Unternehmung erschien mir nur noch wie ein ferner Traum … Nie hätte ich damit gerechnet, dass er jetzt mit zwei neuen Freunden hier auftaucht. Nach so langer Zeit.« Er blinzelte etwas Feuchtigkeit weg, die seine Augen noch stärker glitzern ließ. Dann wandte er sich an Dante. »Mein Zauber hat ihn nicht zu mir, sondern zu dir gebracht. Und ich verstehe nicht, warum.«
 

Jin fand Yuri im Nachbarraum, wo er mit hängenden Schultern am Tisch saß, tief über eine unberührte Kaffeetasse gebeugt.

»Was ist?«, sprach Jin ihn ruhig an.

Im gleichen Moment sah er, dass er sich besser nicht hätte bemerkbar machen sollen. Yuri wandte sich nur halb zu ihm um; er war tränenüberströmt, gab aber keinen Ton von sich. Abwesend hob er den Arm, um sich mit dem Ärmel über die Nase zu fahren, und drehte sich wieder weg.

Jin stand wie angewurzelt. Beinahe wäre er sogar einen Schritt zurück gegangen. Mit den Emotionen Anderer konnte er nichts anfangen; sich selbst erlaubte er so wenig zu fühlen und diese Gefühle zu zeigen, dass seine Empfindsamkeit dafür im Laufe der Jahre immer mehr verkümmert war. Gewöhnt war er an offene Feindseligkeit, an Zornausbrüche und rohe Aggressivität; Tränen überforderten ihn. Für Japaner gehörte es sich nicht, Anderen den eigenen Kummer aufzubürden.

Yuri wusste das sicher. Er sagte nichts und ignorierte Jin, bot ihm damit an, seine Distanz zu wahren und wieder wegzugehen. Jin allerdings fühlte sich seltsamerweise nicht im Recht damit. Zwar behagte ihm die Situation nicht, aber er beschloss sie zu akzeptieren. Nur ein Moment des Sammelns, dann würde er sich damit auseinander setzen.

Yuri hörte nicht auf zu weinen. Von seiner Nasenspitze tropfte es in die Tasse, so tief gesenkt hielt er den Kopf, um bloß nicht aufsehen zu müssen. Jin trat neben ihn, mit höflichem Abstand, und so behutsam wie möglich fragte er: »Weinst du?« Es war eine ziemlich überflüssige, rein distanzorientierte Frage.

Yuri zog ärgerlich die Nase hoch. »Soll ich lieber sagen, ich hätte was im Auge?«

»Was ist passiert?«

»Ich … ich hab sie vergessen.« Er fuhr sich mit dem Ärmel quer über das Gesicht; es half nicht viel. »Ich hab sie wirklich vergessen! Verdammt.« Ein hilfloses Schluchzen.

Jin bedauerte, dass er mit den dummen Fragen fortfahren musste. »Wen?«

»Alice.«

Wieder dieser Name. Schon oft hatte Yuri ihn ausgesprochen, aber nie mit einer so von Schmerz durchtränkten Stimme. Jin erinnerte sich, dass sie seine Freundin gewesen war, die nach einer langen gemeinsamen Reise durch Terror, Gewalt und unirdischen Schrecken gestorben war – für ihn.

»Wie konnte ich das zulassen, oh Gott, wie konnte das passieren?« Yuri schlug mit der Faust auf den Tisch, und Kaffee schwappte über den Rand der Tasse. »Verdammt! Ich liebe sie mehr als alles auf der Welt, daran ändert nicht, dass sie seit zwei Jahren tot ist! Aber wenn sie dort … jenseits des Lebens … auf mich wartet, und ich sie einfach vergessen habe … dann wartet sie dort für immer …« Er presste die Hände auf die Augen und sog ein paar Mal tief und angestrengt den Atem ein, als würde er um Fassung ringen. Dann endlich gab er auf und ließ sich mit dem ganzen Oberkörper auf die Tischplatte sinken, das Gesicht auf den Armen.

Jin sah beiseite. Sie ist erst gestorben, als alle Gefahren überwunden waren, entsann er sich. Yuri und Alice haben gemeinsam die Welt gerettet und sind dann mit dem Zug in ein neues Leben aufgebrochen, das sie in Frieden zusammen leben wollten. Sie hatten in der Bahn nach Zürich geschlafen, aneinander gelehnt; und als der Zug angekommen und Yuri erwacht war, hatte er sich sicherlich gewundert, wie tief Alice schlief. Bis er merkte, dass ihre Haut kalt war und sie nicht mehr atmete.

»Du hast ihr Grab selbst ausgehoben, sagtest du.«

Yuri wimmerte leise.

»Und sie mit dem Mantel, den du jetzt anhast, hineingelegt.«

»Mmmmmh.«

Jin betrachtete ihn stumm. Sich vorzustellen, was Yuri durchlitten hatte, war für ihn kaum möglich. Er hatte nie geliebt, hatte es nicht gelernt, und entsprechend begrenzt war sein Horizont; doch jetzt spürte er Mitleid in sich aufsteigen, ungewohnt und unerwartet. Seit dem Verrat seines Großvaters hatte ihm nichts mehr weh getan, nichts mehr seinen Panzer durchdrungen; doch Yuri um seine grausam verlorene Liebe weinen zu sehen, weckte in Jin eine vage Erinnerung an seelischen Schmerz, die ihn erstaunte. Dante hatte Recht gehabt: Yuri verfügte über eine extrem starke Psyche, und nur das befähigte ihn, beim Verschmelzen mit Monstern die Oberhand zu behalten. Ohne diese mentale Stärke musste jeder normale Mensch dem Wahnsinn anheim fallen.

»Yuri. Du weißt, dass Andere …« Jin sprach nicht weiter, sondern setzte neu an: »Woher … nimmst du die Kraft?«

Seufzend hob Yuri den Kopf, wischte sich erneut die Nase ab und erklärte mit belegter Stimme: »Es gab viele Momente, in denen ich es nur zu gern beendet hätte, glaub mir. Vor allem am Anfang … Aber wenn ich das tue, ist Alice umsonst gestorben. Sie hat meine Bürde auf sich genommen, das Böse, das meine Fusionsfähigkeit aus den Toren des Todes heraufbeschwört. Wo ich zu schwach war, hat sie mich beschützt. Nur deshalb lebe ich noch. Nur deshalb kann ich noch kämpfen und meine Kräfte weiter einsetzen. Ich kann ihr Geschenk nicht wegwerfen.«

Jin schwieg nachdenklich. Er wusste nicht, was die richtigen Worte waren, hatte verlernt, wie man jemanden tröstet. Seine Mutter hatte es ihm mit ihrer Liebe beigebracht, doch er hatte vergessen, wie es sich anfühlte. Seit er fünfzehn war, hatte auch ihm nie wieder jemand Trost geschenkt. Und er hatte nie wieder geweint.

»Ich muss es verhindern«, presste Yuri zwischen den Zähnen hervor. »Ich darf nicht zulassen, dass der Mistelfluch alle meine Erinnerungen verschlingt.«

Seine Entschlossenheit erstaunte Jin. »Und wie? Wie willst du es aufhalten?«

Yuri schaute zurück, Zorn und Kummer in den nassen Augen. »Ich … habe allmählich eine Ahnung.« Damit stemmte er sich hoch und schob den Stuhl hart hinter sich zurück. Er ging an Jin vorbei, die letzte Träne energisch wegwischend, und verschwand im Nebenraum, wo Roger und Dante warteten.

Zögernd blieb Jin sitzen. Er blickte ins flackernde Licht der vielen Kerzen, die an jeder Wand brannten. Dass Yuri Züge verabscheute, war kein Wunder; der Moment, in dem er Alice’ Tod feststellte, war zweifellos wie ein Alptraum, den er immer wieder durchleben musste, wenn er nur das Rattern der Räder spürte.
 

Als Jin ins Wohnzimmer trat, standen alle Drei etwas verloren herum und sahen aus, als hätte er sie bei irgendetwas erwischt. Er vermutete stark, dass sie über ihn gesprochen hatten.

Eine Spur zu auffällig deutete Roger auf das seltsame Gerät an der Wand, das Jin schon am Vorabend fasziniert hatte. Das Laufband mit den Rädern – sicherlich ein primitiver Motor – war nun über eine Art Adapter verbunden mit den drei schlangenhaft gewundenen Strahlern.

Yuri drehte sich zu Jin um. »He, äh – meine Nachricht hast du anscheinend gefunden?«

»Ich … ja.« Strenggenommen hatte Dante sie gefunden.

»Konntest du alles lesen?«

»Nur ein Wort nicht.«

»Schon klar. Ich wollte ›Zeitreisegerät‹ schreiben, oder so was Ähnliches.« Yuri nickte zu dem Ungetüm. »Es ist natürlich noch keins. Es ist nur ein Teleporter, der nicht funktioniert.«

Jin kannte durchaus ein Wort für ›Zeitmaschine‹ und wusste auch, wie man es schrieb, aber zu Yuris Lebzeiten war die Vorstellung von so einem Wunderding vermutlich noch reichlich begrenzt gewesen, abgesehen von H. G. Wells’ Roman. »Damit willst du also zurückreisen.« Die Konstruktion sah alles andere als vertrauenerweckend aus.

»Wir, äh, arbeiten daran, Roger und ich.«

»Reden wir über dich, Jin«, nahm Roger das Wort und winkte ihn einladend näher. »Willst du auch einen Kaffee? Du magst meinen Kaffee, nicht wahr? Eh?«

Zuweilen erwies es sich als unvorteilhaft, dass in Jins Welt immer die japanische Höflichkeit siegte. Er fragte sich, wie viele Tassen dieses batteriesäureartigen Gebräus er noch heil überstehen würde.
 

Es fühlte sich an wie ein Verhör, als sie schließlich einander wieder gegenübersaßen und alle Augen auf Jin gerichtet waren. An einer Seite des Tisches lagen lose Zettel, von Rogers zittriger Hand bekritzelt, und ein Bleistift mit abgenagtem Ende.

»Hast du auf die Émigré-Schrift aufgepasst?«, erkundigte sich Roger.

Jin holte das schädelförmige Buch aus der Mantelinnentasche und legte es auf den Tisch.

»Ah, guter Junge. Ich denke, es dir wegzunehmen sollte für euren Gegner nicht so einfach sein. Nun … Er braucht dich für das Ritual, wie es scheint, oder glaubt zumindest, deinen Teufel – Devil – als Lockvogel für Azazel nutzen zu können, an den er nicht herankommt.«

»Ist das denn möglich?«, fragte Jin.

»Denkbar. Ich weiß aus dem Gedächtnis nicht allzu viel über Azazel, aber ihn zu beschwören stellt den Ausübenden vor einige Hürden, wenn ich mich recht entsinne. Also … Wir sollten möglichst bald herausfinden, ob Devil Azazels Erscheinen beschleunigen kann, um Bosheit zur Verfügung zu stellen.« Wieder einmal furchte sich Rogers Gesicht. »Du kennst Devil sicherlich recht gut … Weißt du, ob er die Fähigkeit hat, die Kräfte anderer Personen … abzuzapfen?«

Jin erzitterte innerlich. »Ja … Das kann er. Er tut es, indem er seinem Gegner die Hand auf den Scheitel legt. Auf diese Weise kann er auch das chi blockieren.«

»Hm«, machte Roger.

»Ich habe es bei meinem Vater gesehen. Er und Devil sind eins … Er kann den Dämon kontrollieren.«

»Pah!«, spuckte Yuri. »Das ist keine echte Kontrolle. Das ist ein Bündnis. Man nennt es Seelenpakt. Es bedeutet nichts Anderes, als dass er seine Seele aufgegeben hat, um die Macht des Dämons zu nutzen. Er ist doch böse, oder? Ganz egal, was deine Mami versucht hat.«

»Ja«, bestätigte Jin mit zusammengezogenen Brauen. Zum ersten Mal hörte er, dass das, was zwischen Kazuya und Devil passiert war, ein bekanntes Phänomen war. Seelenpakt.

»Auch du könntest einen eingehen«, bemerkte Roger harmlos. »Wenn du dich ganz mit der Entität, die dich besetzt, vereinigst, stehen dir ihre Mächte zur freien Verfügung.«

»Und was ist der Preis?«

»Das ist eben der Punkt«, erwiderte der Mönch lächelnd. »Der Preis sind Tod oder Wahnsinn oder beides, wenn du scheiterst. In jedem Falle verlierst du deinen Willen, für das Gute zu kämpfen.«

Jin schüttelte den Kopf. »Es würde ohnehin nicht funktionieren. Ich bin ein Kazama, das Blut meiner Mutter stößt Devil ab.«

»So?«

»Und nicht nur Devil kann einem Menschen die Kräfte entziehen. Auch das Monster, das meine Mutter verschleppte und tötete, hatte diese Fähigkeit.«

»Ach.« Aufmerksam beugte Roger sich vor. »Was für ein Monster war das? Und was wurde aus ihm?«

Jin hielt einen Moment inne. Das Thema darauf zu lenken war nicht seine Absicht gewesen; über den Tod seiner Mutter sprach er äußerst ungern. »Niemand hat je genau herausgefunden, was es war«, wich er aus. »Manche hielten es für eine aztekische Gottheit.« Er streckte die Hand aus, griff nach einem der losen Zettel und dem Bleistift und schrieb ein Kanji – 闘神 – auf, das er Yuri zuschob. »Kannst du das lesen?« Da es ein Eigenname war, waren die Zeichen der Vereinfachungsreform entgangen.

Yuri beäugte das Blatt. »Toshin«, las er. »Kampf…gott.«

»Es hat die Kräfte meines Großvaters in sich aufgenommen, um die Gestalt zu wechseln und sich weiterzuentwickeln.«

»Hat das deinen Opa getötet?«

»Nein.«

Bedeutsam warf Dante ein: »Du hast es erwischt, Kazama, richtig? Du hast dich an diesem Ding gerächt.«

Jin schaute angewidert zurück. »Toshin hat meine Mutter getötet. Ich habe ihn verfolgt und nach seiner Verwandlung erschlagen – das willst du doch hören? Ja, ich habe es getan, mit bloßen Händen.«

»Oh, gut.« Dante lehnte sich zurück. Dann, wie beiläufig: »Das macht dich dann wohl auch zu einem Teufelsjäger.«

»Ich lasse mich aber nicht dafür anheuern«, knurrte Jin.

»Das spielt keine Rolle. Du hast einen Dämon gejagt und ihn eigenhändig umgebracht, und jetzt machst du Jagd auf den nächsten – deinen Vater. Was ist der Unterschied zwischen dir und mir?«

»Ich tue es nicht für Geld.«

»Okay, das muss ich gelten lassen … Aber dein Motiv ist trotzdem das gleiche wie meins.«

»Rache.« Jin schluckte seinen Zorn hinunter. Er war wütend auf das Monster, nicht auf Dante, auch wenn dessen provokant-gleichgültige Haltung ihn ärgerte. »Toshin starb, bevor Devil in mir erwacht ist.«

»Und wie hast du es dann geschafft, diesen Kampfgott zu stellen? Ohne Teufelskräfte? Du bist nur ein Mensch, du hast nicht mal eine Waffe. Und dieses Ding hat offenbar viele wehrhafte Leute gefressen und ihre Kräfte absorbiert.«

»Ich war wütend.« Jin funkelte ihn an.

»Du warst Hulk, alles klar.«

Es hörte sich zwar so an, als würde Dante sich über ihn lustig machen, doch Jin wusste es besser. Der Teufelsjäger, Experte in seinem Fach, hatte keine Erklärung für Jins Triumph über Toshin, und das machte ihn misstrauisch. Wahrheitsgemäß erklärte Jin: »Ich habe eine Menge Hass in mir, Dante. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich bin selbst eine Art Monster … viel mehr ist von mir nicht übrig. Und ich habe das Teufelsgen.« Mit steifen Fingern zog er das Papier zu sich zurück und schrieb mit schnellen Strichen die Zeichenkombination デビルの血 darauf. »Wir nennen es so, aber ich weiß nicht mal, ob es wirklich ein Gen ist. Ich weiß gar nichts! Ich verstehe nichts von Genetik. Woher soll ich wissen, was das Teufelsgen wirklich bewirkt – außer dass Devil sich in mir einnisten kann?« Er hatte es satt, sich zu erklären. Wenn es nur möglich wäre, hätte er diesen Teil seines Erbguts längst eliminiert. Es interessierte ihn nicht, woher seine Kräfte rührten; sie konnten ihm gestohlen bleiben.

»Debiru … no chi«, las Yuri mit gefurchter Stirn. »Jin hat Recht. Das muss nicht ›Teufelsgen‹ bedeuten. Es kann auch ›Teufelsblut‹ heißen.«
 

Sekundenlang lag eine merkwürdige Ruhe über dem Tisch. Jeder schaute irgendwo anders hin; nur Dantes Miene zeigte – zum ersten Mal, seit Jin ihn kannte – so etwas wie offene Bestürzung. Schnell jedoch hatte er diese Entgleisung wieder im Griff und setzte einen Ausdruck forcierter Gleichmütigkeit auf, durch den der Argwohn hindurch schimmerte wie Licht vom Grund eines Teichs. Schließlich wandte er sich ruhig an Roger: »Wäre das theoretisch möglich? Dass Jin und seine Sippe zu, sagen wir, einem Hundertstel Dämonen sind – durch Einkreuzung von Teufelsblut?«

»Wie, ich denke, du glaubst mir nicht, dass es das gab?«, fragte Yuri spitz.

»Klappe, Hyuga. Es erscheint mir nur unwahrscheinlich. Würde bedeuten, dass Azazel zu irgendeinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte mal in eine menschliche Blutlinie reingewichst hat …«

»Wie dein Paps?«

»… und dass es deshalb heißt, Devil wäre Azazels Saat. Ich halte ihn eher für eine Art Fragment von Azazel, so wie Jins Dämon ein Fragment von dem ist, der seinen Vater besetzt. Aber das Teufelsgen … Wo das herkommt, ist schwer zu erklären.«

Jin starrte sie abwechselnd an, erschüttert. Die Vorstellung, womöglich dämonisches Erbgut zu haben, ließ sein Herz hart pochen vor Entsetzen. »Aber«, begann er schwach, »wenn Azazel die Menschenwelt nicht betreten kann, wie hätte er seinen … Samen … in …« Nein, das wollte er besser nicht zu Ende überlegen. Menschen und Dämonen – allein der Gedanke an eine solche Verbindung war ihm ein Gräuel. Auch Dantes Herkunft fand er abscheulich, er wollte nicht einmal daran zu denken. Er konnte nicht selbst in so etwas verstrickt sein!

»Eine gute Frage«, befand Roger. »In jedem Falle hat Devil einen eigenen Willen, er ist eine Entität, nicht nur eine Ausprägung ein und derselben Persönlichkeit, wie bei deinem Devil Trigger, Dante. Zumindest … glaube ich das.«

»Was soll das heißen, du glaubst das?«, bohrte Jin und konnte den drohenden Tonfall nicht unterdrücken. »Devil ist kein Teil von mir – er ist nicht mein Devil Trigger

»Vielleicht ja doch«, setzte Dante schonungslos obendrauf. »Vielleicht kommen bei deiner Transformation einfach nur unterdrückte Triebe und Instinkte an die Oberfläche. Du hast eine Menge unterdrückte Triebe, Kazama.«

»Ich – wie bitte?«

»Ich hab’s dir schon gesagt: Du schluckst alles runter und lässt nichts raus.«

»Ich …«

»Du zeigst nur dann Gefühle, wenn man dir richtig in die Eier greift.«

»Das reicht jetzt.«

»Und ich wette, du hast nie die Hand unter der Bettdecke, um mal nett zu deinem –«

»Ich sagte, es reicht!«, grollte Jin. Tief in seiner Kehle war ein kehliges Knurren aufgestiegen, das ihn so sehr erschreckte, dass sein Zorn augenblicklich verflog. Unter den alarmierten Blicken der Anderen zwang er sich zur Entspannung. Es stimmte … Dante hatte Recht: Er war nicht von sich aus aggressiv, er hatte sein Leben lang an einem ruhigen und ausgeglichenen Gemüt gearbeitet; doch Devil zehrte von Aufgestautem, von dem, was sich tief in Jins Innerem anballte – und das hatte er soeben demonstriert. Ihn zu provozieren konnte lange dauern, doch ihn beschämen, das war leicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ er den Atem entweichen, langsam und kontrolliert.

»Tut mir leid«, sagte Dante versöhnlich. »Ich bin auf deiner Seite: Ich glaube nicht, dass du echtes Dämonenblut und einen Devil Trigger hast.«

Jin merkte, wie sehr ihn dieses Gespräch anstrengte. »Es ist egal. Ich werde nie herausfinden, woher das Teufelsgen kommt. Ich habe es von meinem Vater, aber sein Vater hat es nicht.«

»Na gut. Weißt du irgendwas über die Frau deines Großvaters? Die Mutter deines Vaters, deine Oma?«

»Nein.«

»Dann endet die Spur dort«, stellte Roger fest. »Nur sie kann das Teufelsblut in deine Familie gebracht haben.«

»Können wir bitte aufhören, von Teufelsblut zu sprechen? Lasst uns bei den Fakten bleiben.«

»Nun, was auch immer der Ursprung des Teufels…gens sein mag, es ist eine genetische Exposition, die mächtige Dämonen augenscheinlich gerne nutzen, um ein Fragment ihrer selbst in Gottes Kreaturen einzupflanzen und so in der Menschenwelt wirken zu können. Nicht jeder Sterbliche willigt in einen Seelenpakt ein … Das Teufelsgen eröffnet die Möglichkeit, dies zu umgehen und trotzdem eine langfristige Verbindung sicherzustellen. Anders als eine temporäre Besessenheit, an der der Wirt zugrunde geht.«

Jin war müde. Er rieb sich die Stirn und fühlte sich, als würden die schweren Räder eines Tanklastzugs wieder und wieder über seinen Geist rollen. »Lassen wir das. Meine Situation ist nicht das Wichtigste; wir sind wegen Sarris hier. Er ist nicht hergekommen. Wir haben die Texte vor ihm in Sicherheit gebracht, wie wir geplant hatten.. Unser nächstes Ziel muss es sein, Yuri in seine eigene Zeit zurückzuschicken.« Er schaute über den Tisch in dessen Richtung, und Yuri fing seinen Blick auf. »Also lasst uns versuchen, diesen Zeittransporter wieder funktionstüchtig zu machen. Ich denke, wenn Dante und ich schon hier sind, können wir ebenso gut dabei helfen.«

»Hmm«, machte Dante. »Wir haben nicht unbegrenzt Zeit dafür, wie’s aussieht.«

»Meine Taschenuhr darf nicht bei Zwölf ankommen«, murmelte Yuri.

»Gut. Dann lasst uns anfangen«, sagte Roger und hopste von seinem Stuhl.

Akt X - Blut des Teufels: 14-3

14-3: DANTE
 

Über die Feststellung, dass Rogers magische Uhr Yuri nicht nach Wales, sondern fast vor seine Haustür transportiert hatte, musste Dante einen Moment lang nachdenken. Yuri hätte bei einem Bekannten landen sollen, und niemand im Jahr 2008 kannte ihn – außer Roger. Ein möglicher Grund für die Abweichung war – aber das erschien Dante einfach zu absurd –: Yuri hatte auf der Zugfahrt spekuliert, dass sein Vater, Oberst Jinpachiro Hyuga, ein Verbündeter Spardas gewesen sein könnte. Das an sich war lächerlich genug, und selbst wenn die Beiden mal irgendwo über denselben Teppich gelaufen waren, so musste das noch lange kein Grund dafür sein, dass ihre Söhne in irgendeiner Hinsicht in Verbindung standen. Dante fand Yuris Abenteuer zwar nicht uninteressant, zumal es darin irgendwie um die Historie des professionellen Teufelschlachtens ging, doch mehr Sympathie konnte er diesem kleinen ordinären Draufgänger einfach nicht entgegen bringen.

Als Jin dann ins Nebenzimmer gegangen war, wo Yuri ganz offenkundig allein vor sich hin brütete, stupste Roger Dante gegen das Knie. »Hast wohl geglaubt, du wärst der einzige Teufelsjäger, eh? Jeder Erdteil dieser Welt hat seine Dämonen, sie finden immer wieder Wege in unsere Welt, mit Toren oder ohne. Wo es Dämonen gibt, gibt es Jäger.«

»Ich weiß«, behauptete Dante und schaute auf Rogers kahlen braunen Schädel herab. Dann hörte er, wie Jin und Yuri im Nebenraum leise miteinander sprachen. Dass die rohen Wände Echos warfen, ließ sich nicht vermeiden. »Was hat Yuri?«

»Ach. Dies und das«, lavierte Roger. »Dass ich ihn hierher geholt habe, wenn auch indirekt, weiß er nicht. Er hat schon genug zu verdauen. Bis er weiß, was er zu tun hat, werden noch ein paar freundliche Kopfnüsse nötig sein.«

Dante lachte leise. Als ob das genug wäre.

»Jaja, da lachst du. Dass du ihn nicht trösten würdest, war mir klar! Dabei ist der junge Jin ziemlich … reserviert, nicht wahr? Ich glaube trotzdem, dass Yuri sich ihm noch am ehesten anvertrauen würde.«

»Yuri mag Jin anscheinend«, räumte Dante ein. »Er sieht in ihm eine Art Leidensgenossen. Jemanden, dem es genauso beschissen geht wie ihm.«

»Yuri ist äußerst loyal gegenüber Freunden«, nickte Roger. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sich mit der Aufgabe beschäftigen wird, Jin zu helfen.«

Dante betrachtete den kleinen türartigen Übergang in den Nachbarraum. Ja – leider war das ein Problem, mit dem sich seit einer Weile niemand mehr beschäftigt hatte. »Tatsache ist«, sagte er mit echtem Bedauern, »dass ich nichts für Jin tun kann.« Es war das erste Mal, dass er es aussprach – und auch sich selbst bewusst machte. In gewisser Weise war es eine Niederlage, aber er musste sie akzeptieren. »Ich bin Dämonenjäger. Ich kann Teufel töten. Ich kann auch Devil Jin töten, kein Problem. Aber Jin von ihm befreien – Devil töten, sodass Jin am Leben bleibt –, kann ich nicht.« Er senkte den Blick auf Roger, der seinerseits zu ihm aufsah. »Ich kann Jin nicht helfen«, wiederholte er und ergänzte dann vielsagend: »Aber Yuri kann es. Richtig?«

Roger nickte wieder. »Der Meinung bin ich auch. Yuri ist ein Harmonixer wie kein anderer. Die meisten von ihnen konnten nur eine einzige Verschmelzung eingehen, sehr wenige zwei oder drei … Aber Yuri hat keine natürliche Grenze, was das betrifft; das macht ihn einzigartig. Er ist weit stärker als sein Vater, er hat Teufel und Geister unterworfen, die in der Lage sind, dieser Welt enormen Schaden zuzufügen. Ich bin überzeugt, er kann auch den Dämon in Jin unterwerfen. Aber …«

»Irgendwas ist ihm im Weg«, beendete Dante den Satz. Man musste kein tausendjähriger Gelehrter sein, um das zu erkennen.

»Exakt. Aber nicht irgendwas. In Yuris Weg ist niemand anderes als Yuri.«
 

Auch über diesen Satz hatte Dante im Weiteren nachgedacht. Es gab keinen nervigeren Gegner als das eigene Ego; wie oft hatte er selbst sich schon blockieren lassen, vor allem dadurch, dass er Andere unterschätzte. Nun, bei Yuri war der Gegner nicht die Arroganz, sondern der Selbstzweifel. Aber daran konnte man arbeiten. Dante hatte fest vor, in dieser Hinsicht noch einiges aus Yuri herauszukitzeln.

Als Besagter sich schließlich wieder blicken ließ, wirkte er verheult und aufgelöst. Er trat schweigend zu ihnen (während Jin offenbar das Brüten übernommen hatte und drüben geblieben war) und versuchte krampfhaft so auszusehen, als wäre er bester Stimmung.

Dante tat gar nicht erst so, als ließe er sich täuschen. Wozu auch? »Alles in Ordnung?«, fragte er sanft.

Yuri hob eine Braue. »Oooh. Ist das der liebevolle Tonfall, auf den Trish so abfährt?«

»Das ist der liebevollste, den du kriegen kannst.«

»Wir haben geredet«, fuhr Yuri fort. »Ich bin ein bisschen durch den Wind, weißt du. Ich hab euch ja von Alice erzählt …«

»Hast du.«

»Du wirst bestimmt nicht fragen, aber ich sag’s dir trotzdem. Meine Fähigkeit … erzeugt Bosheit. Und wenn die Monster, die ich töte, sich in mir ansammeln …«

»Das hast du alles schon ausgebreitet. Du gehst auf den Friedhof und machst sauber.«

»Das ist aber nicht alles! Ich hab unter diesem Bösen in mir so sehr gelitten, dass ich mich beinahe von diesen Ängsten hätte zerstören lassen. Alice hat das beendet. Und dafür hat sie mit dem Leben bezahlt.«

Dante erinnerte sich, was er in Yuri gesehen hatte, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren; jetzt verstand er, dass der Moment, in dem Alice ihn gerade noch rechtzeitig gerettet hatte, derjenige war, in dem Yuri die wahren Schrecken der Hölle erfahren hatte. Genau dann hatte er in jenen Abgrund geblickt, dessen bloße Nähe gewöhnliche Menschen in den Wahnsinn trieb. Normalerweise erlosch ein gesunder Verstand bei der bloßen Berührung dieses unaussprechlichen Grauens wie ein winziger Funke in alles erstickender Dunkelheit; doch Yuri war mit abnormer mentaler Stärke gesegnet. Nur deshalb lebte er noch.

»Was hast du da unten zurückgelassen?«, fragte Dante.

»Meine Angst.« Yuri straffte die Schultern, nahm wieder Haltung an. »Sie ist noch irgendwo, ich spüre sie noch immer, bei jeder Fusion. Aber sie kann mir nichts mehr anhaben. Das hat Alice für mich getan.«

Erstaunlich, fand Dante, wie sehr Yuri mit sich selbst im Reinen zu sein schien. Es stand zu seinem gelegentlich recht unreifen Verhalten im Widerspruch. Dante musste sich eingestehen, dass der Verlust, den Yuri erlitten hatte, ihm großen Respekt abnötigte. Um ein Haar wäre es ihm selbst so gegangen, dass Trish ihr Leben für seines gegeben hatte. Es hatte ihm den Boden weggezogen, als sie, Mundus’ Angriff erahnend, für Dante in den Laser gesprungen war, um ihn abzuschirmen; sie wollte, dass er Mundus besiegte, ihre eigene Existenz bedeutungslos im Vergleich zu diesem höheren Ziel. Ihr Opfer hatte Dante tatsächlich die Kraft gegeben, die Schlacht zu gewinnen; doch Trishs vermeintlicher Tod war für ihn kaum zu ertragen gewesen, und das, obwohl er sie kaum kannte und sie ihn zudem kurz zuvor hinters Licht geführt hatte. Wie wäre es wohl, wenn er sie jetzt verlöre? Jetzt, da sie ein Teils seines Lebens war, eine Gefährtin bei vielen Kämpfen … Würde er das aushalten? Er begriff, dass Yuri es nicht aushielt. Hinter allem, was er tat, war die Sehnsucht nach etwas, das er im Leben nicht mehr finden konnte. Und trotzdem verwandte er weiter Zeit darauf, etwas zu tun, das – wenn auch nicht ihm selbst – Anderen half.

Dante beschloss, ihm einen weiteren Stups zu geben.

»Vielleicht«, begann er, »kannst du dann auch was für Jin tun. Du wärst sehr wohl in der Lage, ihm zu helfen, also streite das nicht ab.«

Anscheinend hatte Yuri damit gerechnet, dass man ihn irgendwann darauf ansprechen würde. Er brach sofort den Blickkontakt, ein Vermeidungsverhalten. »Geht nicht. Zu gefährlich.«

»Sei nicht albern. Du bist schon mit ganz anderen Monstern als Devil eine Fusion eingegangen.«

»Ja, eben!«, hielt Yuri mit einem Anflug von Verzweiflung dagegen. »Nur weil ich mich überschätzt habe, war Alice’ Hilfe überhaupt nötig! Deswegen ist sie tot, verstehst du? Ich hab den Kampf verloren, und das Böse in mir konnte mich überwältigen. Zwing mich nicht, das noch mal zu machen!«

A-ha, dachte Dante. Da lag das Blatt doch etwas anders. Ob ein Appell an seine Ehre Yuri womöglich aus dem Trauma-Modus rausholte? »Du hast selbst gesagt, dass Jin einfach nicht stark genug ist, Devil zu kontrollieren. Los, dann versuch du es. Sollte doch ein Kinderspiel für dich sein.«

Es funktionierte nicht. Yuri schüttelte so energisch den Kopf, dass sein Wühlmaushaar flatterte. »In dem Fall bin ich auch nicht besser. Ich kann das nicht.«

Dante taxierte ihn unfreundlich. Gut – dann eben eine noch härtere Gangart. »Du willst nur nicht«, behauptete er. »Du siehst Jin bloß als Leidensgenossen. Du weißt, dass er von Devil befreit werden könnte, und deshalb bist du neidisch. Weil du nicht dir selbst helfen kannst, willst du auch ihm nicht helfen. Richtig?«

Angesichts dieses unhaltbaren Vorwurfs wäre Yuri fast auf ihn losgegangen. Ihn hielt wohl nur die Tatsache zurück, dass Jin noch nebenan war und jedwede Auseinandersetzung zwischen ihnen mitbekommen würde. Also funkelte Yuri Dante nur an – aber hinter diesem Funkeln sah Dante in seinem Gesicht etwas erschreckend Hilfloses.
 

In dem Moment war Jin wieder dazu gekommen. Und da er völlig unempfänglich war, was die Emotionen Anderer betraf, merkte er auch nichts. Gut so.

Es folgte das reichlich dämliche Gespräch über Jins möglicherweise dämonische Abstammung. Dabei ergaben sich keinerlei neue Erkenntnisse, und Dante war dankbar, dass Jin diese abstruse Theorie ebenso ablehnte wie er selbst und stattdessen den Fokus auf Yuris Rückreise ins Jahr 1915 lenkte. Schließlich war Sarris nicht gekommen – obwohl er all die Fallen ausgelegt hatte, in die sie gegangen waren –, und wenn sie nicht umsonst hierher gekommen sein wollten, dann konnten sie genauso gut zu etwas nützlich sein.

»Hast du noch was anderes als Kaffee?«, fragte Yuri, als sie die Einzelteile des Teleporters, oder was auch immer das sein sollte, auf dem Steinboden auszubreiten begannen.

Dante betrachtete interessiert ein Kabel in seiner Hand. Er war kein Genie in Sachen Technik, seine Stärken lagen woanders; also wartete er einfach auf Anweisungen.

»Ich habe ziemlich viel Bier«, giggelte Roger. »Englisches Bier ist das beste! Den Automaten findest du rechts in der Wand – ja, einfach draufdrücken.«

Diese Höhle entpuppte sich immer mehr als ein Kuriosum aus genialen kleinen Konstruktionen. Yuri drückte eine Handfläche gegen die Steinwand links von ihnen, und eine hohe rechteckige Fläche, die sich vorher überhaupt nicht vom Rest der Wand abgehoben hatte, schwenkte herum. Auf der anderen Seite stand ein … Gerät, das auf zahllosen kleinen Knöpfen wild blinkte und mit vielen Kabeln irgendwo befestigt war.

»Du hast ihn noch!«, rief Yuri selig.

»Nimm dir, was du möchtest«, erwiderte Roger großmütig.

Dante sah zu, wie Yuri eifrig Knöpfe zu drücken begann, und fragte sich, woher er wusste, was er drücken musste. Offenbar war das eine von Rogers älteren Konstruktionen. »Ha!«, rief Yuri. Irgendwo klapperte es; dann Stille. »Och nö, immer dasselbe …Hast du an diesem Ding überhaupt nicht gearbeitet in all den Jahren?« Er schob seine Hand ins Ausgabefach, was wirklich lächerlich aussah. »Muss ich dir erst wieder eins draufgeben, du Kackding? Na schön!.« Yuri trat mit voller Kraft gegen den Kasten – was Roger in aller Seelenruhe hinnahm –, und daraufhin spuckte das Ding tatsächlich vier Flaschen Pale Ale aus, die unschuldig nacheinander in den Sand rollten.

Dante bemerkte anerkennend: »Ich sehe, du bist genauso versiert im Umgang mit Maschinen wie ich.«

»Gewalt löst bei so was immer das Problem«, erwiderte Yuri achselzuckend. »Willst du auch eins?«
 

Jin lehnte das Bier vorerst ab und war so ziemlich der Einzige, der wirklich ernsthaft an der Transportmaschine bastelte. Er schien gewisse technische Kenntnisse zu haben, etwa was Stromstärken, Zwischenschaltungen und Widerstände betraf. Sicher eine Begleiterscheinung seiner technisch ausgerichteten Schulbildung. Angeber.

»Wenn mein Antriebssystem, das allein mit Wasser funktioniert hat, den Zweiten Weltkrieg überlebt hätte, stünden wir vor diesem Problem nicht«, stellte Roger bekümmert fest, nachdem die Beiden tatsächlich (während Dante mit Yuri Ale getrunken und diverse Shanghai-Angels-Ausgaben durchgeblättert hatte) alle Kabelverbindungen wiederhergestellt hatten.

»Wie hast du den Apparat bisher betrieben?«, fragte Jin Roger.

»Ich bin auf dem Band gelaufen, was denkst du denn?«, gab der Mönch zurück. »Damit lässt sich eine Leistung von annähernd achtzig Wattstunden erreichen, wenn man eine Stunde ordentlich rennt! Was denkst du, warum ich so gut in Form bin?«

»Achtzig Wattstunden mit sechzig Minuten Laufen … Und wie viel brauchst du, um Yuri in den Zeitstrom zu schicken?«

»Mindestens zweihundertfünfzig Wattstunden«, seufzte Roger.

Dante hätte gern gefragt, wie Roger es dann geschafft hatte, die manipulierte Taschenuhr an sein jüngeres Ich zu schicken; aber Yuri, der zufrieden neben ihm saß, brauchte nichts darüber zu wissen.

Roger löste das Rätsel selbst: »Eine Zeitlang hatte ich drei abgerichtete Riesenhamsterratten, die für mich gelaufen sind: Lucy, Fred und Ragnild. Die haben was zuwege gebracht, sag ich euch! Mit den Dreien wäre es kein Problem gewesen. Für ein paar Essiggurken haben die alles getan!«

»Na klar«, winkte Yuri ab. »Essiggurken.«

»Stell mich nicht immer in Frage! Ich hab dir ja gesagt, die Energiequelle ist ein Problem. Anstatt faul zu sein, könntest du dir etwas einfallen lassen!«

»Ich denke scharf nach«, behauptete Yuri, obwohl zweifellos das Gegenteil der Fall war. Dante kippte den letzten Schluck Ale hinunter und stellte die leere Flasche nachdenklich beiseite. Er kannte theoretisch einen Weg, mehr Strom zu erzeugen, doch dieser involvierte Trish und eine Menge Alkohol. Tja, zumindest Ersteres befand sich gerade eine Idee zu weit weg.
 

Als es schließlich daran ging, das Gerät aufzustellen und die Emitter zu montieren, war die körperliche Kraft aller Anwesenden unentbehrlich. Zu viert schafften sie es in weniger als einer Stunde, das Laufband und die Strahler punktgenau zu platzieren (hierfür musste die Couchgarnitur an die Wand und ein Teil der anderen Geräte ins Nebenzimmer verschoben werden) und alle Schrauben und Zwingen so festzuziehen, dass sie nicht einmal Sparda wieder auf bekommen hätte. So weit, so gut – das Ding stand jetzt.

»Wir brauchen einen zusätzlichen Transformator«, sagte Jin endlich. »Es kann ein ganz einfacher sein, aber ohne geht es nicht.«

Es war schon Nachmittag und die Sonne auf der absteigenden Bahn, als sie gemeinschaftlich beschlossen, sich in Aberystwyth eine Stärkung zu gönnen. Roger, der sich – zu jedermanns Überraschung – in einen eleganten kleinen Frack gekleidet hatte, an dem nicht einmal ein Knopf fehlte, kündigte an, sie gern zu begleiten. Eifrig kletterte er hinter Yuri her, der leichtfüßig voran ging. Dante mutmaßte, dass die Einheimischen den Mönch für einen dressierten Affen halten würden.

Zumindest das war ein Irrtum.

Rhys’ Vorschlag folgend lautete der Plan, an der Seepromenade Sandwiches zu essen und Espresso zu trinken. Hierbei zeigte sich, dass Roger in Aberystwyth alles andere als unbekannt war. Im Gegenteil: Schon am Hafen grüßten den kauzigen Alten viele der Arbeiter, und als sie sich im Café Promenade niederließen, das von einer kleinen Anhöhe aus ein hübsches Panorama über den Cardigan Bay bot, begrüßte die Bedienung ihn mit einem freudigen: »Aaaach, Herr Gilbert, wie schön!«

Chapeau, dachte Dante. Roger hatte sich hier wirklich ein soziales Netzwerk geschaffen und pflegte mit Höflichkeit und Liebenswürdigkeit seine Kontakte. Von wegen isoliert. Ein kleiner bunter Hund war er. Und vor allem mit den Mädels verstand er sich prächtig.

Durch die große Fensterfront, an der ihr Tisch stand, blickten die Vier hinunter auf das Meer hinter dem betonierten Gestade. Der Horizont war dunkel von schweren Wolken, die sich dort zusammenballten.

Jin lenkte Dante von diesem Anblick ab, indem er fragte: »Wenn du nur zur Hälfte ein Teufel bist … warum bist du so viel mächtiger als reinblütige Dämonen?«

»Bin ich?«, erwiderte Dante gelassen.

»Stell dich nicht dumm. Du bist ihnen überlegen, und das ergibt keinen Sinn.«

Yuri, der soeben den letzten Schluck seines Kakaos (von dem die Bedienung behauptete, darin sei eine ganze Tafel Schokolade versenkt worden) hinter gekippt und sich den Milchbart abgeleckt hatte, warf ein: »Dohoch! Wisst ihr, was ein Liger ist? Ich hab mal einen in einem Mitternachtszirkus gesehen. Das ist eine Kreuzung aus Löwe und Tiger. Das Vieh ist sooo groß!« Zur Veranschaulichung breitete er die Arme aus. »Die Eltern sind beide normal groß für ihre Art, aber wenn man sie kreuzt, kriegt man sooo ein Monster. Das gibt’s in der Natur.« An seinem triumphalen Blick las Dante ab, für wie superschlau er sich hielt. »Na, dann wissen wir ja jetzt bescheid«, sagte er gnädig.

Roger wandte sich an Jin, der unverändert aus dem Fenster gestarrt hatte. »Wenn wir zurück sind … möchte ich dir etwas zeigen.«

Jin nippte an seinem Wasser – er war wohl der einzige Mensch auf der Welt, der seinen Espresso ernsthaft mit Wasser trank – und fragte: »Und was?«

»Geduld. Ich zeige es dir nachher.« Roger sah nicht besonders glücklich dabei aus. Nicht grundlos, denn wäre es etwas Erfreuliches, das er Jin zeigen wollte, dann wäre er sicher früher damit herausgerückt.

Nachdem sie ihre Zeche gezahlt hatten (Jin schien es okay zu finden, für alles der Goldesel zu sein), standen sie wieder draußen in der beginnenden Dunkelheit; diese Dunkelheit, das war jetzt offensichtlich, zog über das Meer immer näher heran. Während die Anhöhe, auf der sie standen, noch in schwindendem Sonnenlicht lag, war der Himmel über dem Wasser tiefschwarz.

»Na hallo!«, rief Yuri alarmiert. »Schnell, bewegt euch! Kann sein, dass uns gleich eine Regenfront in die Fresse fliegt!«

Das war keine Übertreibung. Als sie die Grasebene hinter Clarach erreichten, gerieten sie ins Rennen, weil der Regen dicht, nass und eisig auf sie niederzugehen begann. Schon nach wenigen Augenblicken waren sie trotz aller Schutzschichten bis auf die Haut durchtränkt und sahen nicht einmal mehr die Hand vor Augen. Gewöhnlich war Dante ziemlich abgehärtet, was Niederschläge betraf, und pflegte sich, wenn kein Unterstand da war, wie ein Gaul mit dem Rücken in den Wind zu stellen; jetzt aber mussten sie gegen die waagerecht einströmenden Fluten bergauf gehen, und er hatte Mühe, seine Augen mit der Hand abzuschirmen.

Roger huschte voran wie ein Karnickel und führte sie. »Hier!«, krähte er, angestrengt den Regen übertönend, und dann tauchte vor ihnen das Gottesschlächter-Denkmal auf, wo sich der sichere Eingang auftat.

So schnell wie möglich stolperten sie ins Trockene.

»Der Winter ist mir hier zu kalt«, jammerte Yuri. »Noch ein Grund mehr, warum ich hier nicht alt werden sollte!«

Sie schüttelten sich das Wasser aus den Mänteln und hängten diese über die Stühle am Tisch, um sie leidlich trocknen zu lassen. Rasch sammelten sich Pfützen unter ihnen.

»Wir haben schon den ganzen Tag für die Reparatur von diesem Ding gebraucht«, brummte Dante und betrachtete mürrisch den Teleporter, dessen Umrisse im Nachbarraum durch den Eingang zu sehen waren. Er hasste nasse Klamotten. Hoffentlich hatte sich die Arbeit wenigstens gelohnt.

»Es ist erst halb sieben«, gab Roger ungerührt zurück und schälte sich aus seinem triefenden erdbraunen Mäntelchen. »Also hör auf zu meckern. Wenn du eine Idee für den Antrieb hast, immer raus damit.«

Dante schnaubte nur. Mechanik war nun wirklich nicht sein Ding. Er reparierte Sachen meistens, indem er sie aus- und wieder einschaltete – oder herzhaft gegen sie trat. Das genügte in der Regel.

»Nun gut«, seufzte Roger. »Letzte Station für heute …«

»Du wolltest mir etwas zeigen«, erinnerte Jin.

»Oh! Ja. Natürlich. Warte hier.«

»Dürfen wir es auch sehen?«, fragte Yuri.

»Sicher, wieso nicht.« Wieder glitzerten Rogers Augen bedeutsam, als er das sagte.

Er kroch in seine Falltür im Boden, dieselbe, aus der er gestern die Handschriften hervorgezaubert hatte. Als er nun wieder herauskletterte, hielt er wieder ein Bündel an die Brust gedrückt; dieses reichte er feierlich – nicht Yuri, der wieder seine Finger dazwischen schob, sondern Jin; aber er schien dabei zu beabsichtigen, dass Yuri sehr genau sehen konnte, was darin war.

Jin schlug das fleckige Tuch zurück und enthüllte, was in seiner Hand lag: ein silberner Dorn, etwas länger als eine Faust, aus dessen Griffstück mehrere kleine, schwarz beblätterte Zweige rankten. Das Ding glänzte im Kerzenlicht wie poliert und warf Reflexionen an die Wände, die durch die Blätter gespenstische Zacken formten.

Yuris Reaktion war spektakulär. Er machte einen Satz nach rückwärts und rief entsetzt: »Was? Nein, Roger, bitte nicht – nicht das
 

Dante und Jin bestarrten beide perplex das Exorzismuswerkzeug. Es sah wirklich nicht freundlich aus, aber Yuris Abscheu dagegen ließ sich dadurch erklären, dass er selbst in den Genuss der Wirkung gekommen war. Schnell hatte Dante eins und eins zusammengezählt: Das hier war das Artefakt, das Yuri verflucht hatte.

»Die Heilige Mistel hattest du bei dir, als ich dich fand«, berichtete Roger ruhig.

»Ja, aber – aber …« Yuris Züge waren rundweg konsterniert, und er sah aus, als würde er gleich kotzen. »… w-warum gibst du es ihm

Jin hielt den Dorn in der Hand und strich fasziniert mit dem Daumen darüber. »Das ist doch offensichtlich.«

»Es ist ein unfehlbares Werkzeug zum Austreiben jedes Teufels.« Roger schien mit Yuris Bestürzung gerechnet zu haben. Er blieb völlig unbeteiligt.

Hilflos protestierte Yuri weiter: »Aber – aber das ist keine Lösung! Es ist – das gleiche wie ein Todesurteil!«

»Ich kann mein Leben nicht selbst beenden«, stellte Jin fest. »Devil würde mich immer zurückholen.«

»Und dann würdest du lieber auf deine Seele verzichten?«

»Wenn es nicht anders geht …«

»Aber das ist grauenhaft!« Yuri machte eine verlorene Geste nach der anderen und versuchte, dabei auf keinen Fall die Mistel anzusehen.

Dante bemitleidete ihn ein wenig; für Yuri war das, was er durch den Exorzismus erlebt hatte, der blanke Horror – Jin aber begegnete dieser Option erschreckend leidenschaftslos. Wenn er Devil damit töten konnte, war ihm alles andere egal, wie es schien.

»Jin!«, fuhr Yuri eindringlich fort, nun scheinbar etwas gesammelter. »Denk nach! Ich hab fast sechs Monate durchgehalten, bis der Fluch mich zerstört hat. Du hast doch auch einen starken Willen – was, wenn es bei dir genauso lange dauert und du in der Zwischenzeit einen anderen Weg findest?«

»Unwahrscheinlich«, entgegnete Jin eisig. »Mein mentaler Widerstand ist nicht halb so mächtig wie deiner.«

Zu allem Unglück sprang ihm Roger auch noch bei: »Er hat Recht, Yuri. Bei dir haben die vielen Seelen der Fusionsmonster einen Großteil der Wirkung abgepuffert und sind ausgelöscht worden, während deine eigene Seele nur langsam zerfressen wurde. Bei ihm wird es nicht derart lange dauern. Vielleicht nur Stunden. Vielleicht nur Sekunden. Wenn seine Seele nicht dagegen ankämpft …«

Yuri warf ihm einen kalten Blick zu. Es war offensichtlich, was er fühlte: Ausgerechnet Roger, der ihn zuvor noch wegen seines Schicksals bedauert hatte, fiel ihm in den Rücken. Warum hatte er Jin überhaupt die Mistel gezeigt, warum diese Möglichkeit zur Sprache gebracht? Dante, der den Streit unbeteiligt beobachtete, konnte sich darauf nur einen Reim machen: Roger hegte irgendwelche hintergründigen Pläne dabei – schließlich hatte er angedeutet, Yuri gewisse Denkanstöße geben zu wollen … Wenn das so war, dann hatte es brillant funktioniert. Jin verzog zwar keine Miene, aber die Aussicht, Devil auf diese Art hinzurichten, sorgte bei ihm sicherlich für Verzückung. Yuri hingegen war außer sich. Er mochte Jin, das war Dante ohnehin klar, und er wollte auf keinen Fall, dass der Andere das gleiche Ende nahm wie er selbst, das er so sehr fürchtete.

Einen Moment lang standen sich Yuri, Jin und Roger in einem konfrontativen Dreieck gegenüber. Dann ließ Yuri jäh die Schultern fallen und drehte sich auf dem Absatz um.

»Okay, bitte. Macht doch. Jin, wirf doch deine Seele weg und hab deine Ruhe! Was Anderes als Devil interessiert dich ja nicht, du kümmerst dich mehr um ihn als um dich selber – bitte! Aber ohne mich. Ich hör mir das nicht mehr an. Ich hau ab.« Im Vorbeigehen packte er seinen Mantel, und der Schwung riss den Stuhl um.

Dante sah Yuri nach und fand wieder einmal sein Temperament ziemlich sympathisch. Leider war Yuri (zumindest aus Dantes Sicht) nicht besonders furchterregend, wenn er angepisst war, sondern eher ein bisschen drollig. »Der beruhigt sich schon«, kommentierte er den rasanten Abgang.

»Es ist nicht seine Entscheidung. Das weiß er.« Jin betrachtete immer noch eingehend den fein ziselierten Dorn in seinen Händen.

»Zeig mir das mal«, forderte Dante und nahm Jin die Mistel ab, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Das Ding war schwerer als erwartet und die Oberfläche sehr kalt; entweder hatte Jin furchtbar kalte Hände oder die Kälte kam aus dem Inneren des Metalls. Die kleinen Zweige stammten von keiner echten Pflanze, sondern waren steif und leblos und wirkten irgendwie unirdisch. »Wie tötet man mit so was Teufel?«, fragte er. Das war etwas, das ihn wirklich interessierte. »Was ist das für ein Ding?«

»Man sagt«, antwortete Roger bedächtig, »der Kern sei eine Lebensform. Ein lebendiger schwarzer Kristall, der einst in der Unterwelt verbreitet war. Vielleicht ist es sogar eine außerirdische Substanz, wer weiß das schon? Angeblich ernährt er sich von dämonischer Energie und kann sie vollständig verzehren. Eine Art natürlicher Feind aller Teufel. Allerdings … In der Dämonenwelt scheint er nicht überlebt zu haben. Vielleicht haben sie ihn ausgerottet, weil er sonst sie ausgerottet hätte.«

Dante hatte die Unterwelt als einen schwer fassbaren, äußerst wechselhaften Ort kennen gelernt, an dem weder Zeit noch Materie denselben Regeln folgten wie hier. Dort gedieh eine andere Art von Leben. Eine halb lebendige, halb gegenständliche Kreatur, wie Roger sie beschrieb, hielt er nicht für ausgeschlossen; schon gar nicht, wenn sie vor Urzeiten aus einer gänzlich anderen Welt gekommen war.

»Es gäbe nicht diese Horden von Dämonen, wenn mehr von diesem Kristall übrig wäre«, fuhr Roger fort. »Vielleicht ist er das letzte Fragment seiner Art, konserviert in diesem Artefakt.« Roger deutete auf die Spitze, die auf Dantes Handschuh ruhte. »Ihr seht, wenn mit ihr zugestoßen und der Ring aus Blättern gedrückt wird, dringt nur dieses feine, nadelartige Ende in die Haut ein. Sie muss das Herz anstechen und den Fluch einimpfen.«

Wie eine Spritze, die ein tödliches Gift injiziert, dachte Dante.

»Wessen Herz auch immer mit dem Dorn verletzt wird, der nimmt einen winzigen Teil der Lebensform in sein Blut auf, und dort verdaut sie alles, was teuflisch ist. Manches schneller, manches langsamer.«

»Und auch manches, das nicht teuflisch ist, wie?«, merkte Dante an. »Zum Beispiel Seelen?«

»Gut erkannt. Es unterscheidet nicht zwischen menschlicher Seele und dämonischem Geist; wozu sollte es auch, gewöhnlich gibt es keine Menschen in seinem Lebensraum. Es verzehrt einfach. Unaufhaltsam. Wenn alles verschlungen ist, stirbt es – und lässt nichts zurück. Das ist der Fluch der Mistel.«

»Nett.« Dante stellte sich gar nicht erst unbeeindruckt. Noch immer erwärmte sich das Silber in seiner Hand nicht. Er drehte den Dorn und betrachtete die Spitze von nahem; dann prüfte er sie versuchsweise mit der Fingerkuppe. Beiläufig fragte er: »Würde irgendwas passieren, wenn man mich damit sticht? Ich bin ein Hybrid – also wahrscheinlich nicht?«

Roger sah zu, wie Dante mit der Mistel spielte, zog missbilligend die Brauen zusammen und erklärte: »Ganz im Gegenteil. Da du zur Hälfte ein Dämon bist, würde der Fluch sowohl deinen Geist als auch deinen Körper tilgen. Ein äußerst langsamer und qualvoller Tod.«

»Oh.« Dante hielt inne, dann zuckte er die Achseln und gab Jin die Mistel zurück. »Okay. Nein, danke.« Es gab heldenhaftere Arten zu sterben.

»Strenggenommen ist es eins der wenigen Mittel, um jemanden wie dich zu töten, Dante«, grinste Roger. »Mit deinen Fähigkeiten bist du so mächtig, dass dich niemand aufhalten könnte, wenn du es darauf anlegtest. Nur ein so starker Fluch, der einen Teufel vollständig zerstören kann, wäre dazu in der Lage, nicht wahr?«

Jin sinnierte: »Der Tod zerstört den Körper, lässt aber die Seele intakt. Der Fluch tut das Gegenteil.«

»Sehr richtig.«

»Du ziehst das nicht wirklich in Erwägung, oder?«, fragte Dante ihn skeptisch. »Dich mit der Mistel exorzieren zu lassen?«

Jin schwieg.

»Yuri aufzuscheuchen ist eine Sache, aber du willst das nicht ernsthaft durchziehen.« Dante hatte vollstes Verständnis für Yuris Horror vor dieser Maßnahme. Seiner eigenen Meinung nach war die Seele – die richtige Seele – das, was Menschen von Dämonen unterschied. Yuri wusste das auch, aber Jin offenbar nicht.

»Die Frage ist, wie man es macht«, wich Jin aus. »Ich habe keinen … Exorzisten.«

»Den brauchst du auch nicht zwingend«, erklärte Roger. »Es stimmt natürlich, dass Exorzisten darin geschult sind, ihren Willen genauso zu bündeln, dass ein Instrument wie die Mistel ihnen gehorcht … aber auch andere Menschen mit genug Willenskraft sind unter Umständen dazu in der Lage.«

»Ich verstehe«, murmelte Jin.

Dante legte die Stirn in Furchen. Er hatte geglaubt, bei der Präsentation dieser Möglichkeit wäre es einzig und allein darum gegangen, Yuri unter Druck zu setzen. Warum löste Roger das nicht auf? »He, Kazama, wie kann dir das irgendwas nützen? Wenn du alles vergisst und nutzlos durch die Welt kriechst, bist du ein gefundenes Fressen für alle, die dir ans Leder wollen.«

»Im Gegenteil. Sie werden jegliches Interesse an mir verlieren«, entgegnete Jin. »Allerdings …« Seine weiche Stirn legte sich in Falten. »… kann ich dann meine Mission, die Mishimas auszurotten, nicht zu Ende bringen. Dante …«

Der Teufelsjäger ahnte, was jetzt kommen würde. »Was?«

»Kannst du das für mich tun?«

»Deinen Vater und deinen Großvater umlegen? Vergiss es.«

»Bitte. Versprich es mir. Fordere, was du willst.«

Dante blieb ruhig, obwohl seine Aggressionsschwelle so gut wie erreicht war. »Nein«, sagte er. »Ich bin Dämonenjäger, kein Auftragsmörder. Kommt das bei dir irgendwie nicht an? Such dir wen anders.«

Jin fixierte ihn unausgesetzt mit seinen harten Augen; ein Verhalten, das vielleicht seine Gegner im Kampfring einschüchterte, aber nicht Dante.

»Es nützt nichts, mich so anzusehen. Ich ziehe nicht los und ermorde deine Sippe, egal wie niederträchtig die Typen sind. Dazu bin ich nicht da. Ich töte nur dann Menschen, wenn sie sich mit Dämonen verbündet haben. Oder deren Kräfte zum Bösen einsetzen.«

»Oh, gut«, knurrte Jin, »dann weißt du sicher noch, dass mein Vater einen Seelenpakt mit Devil geschlossen hat!«

»Schön, dass du dir das Wort Seelenpakt gemerkt hast. Hab ich je von deinem Vater gehört? Nein. Hat er schon versucht, die Menschheit zu versklaven? Nein.« Dante schnaubte, aber er entfaltete die Arme, um etwas weniger Abweisung zu vermitteln. »Jin, er ist dein Vater. Das ist deine Familie. Gibt es wirklich keinen anderen Weg für dich?« Abwartend sah er dem Jüngeren ins Gesicht – irgendwo musste doch da noch eine Regung sein –, doch Jins Züge wurden bei dem Wort ›Familie‹ bestenfalls noch kälter.

»Ich habe nie jemanden mehr gehasst als diese beiden Männer. Sie sind nicht meine Familie. Ich habe keine Familie mehr.«

Das war ein Statement. Deutlicher musste jemand wie Jin nicht werden. Vielleicht war es an der Zeit, ihm eine andere Perspektive zu eröffnen.

Unvermittelt sagte Dante: »Ich hab meinen Bruder getötet.«
 

Die Botschaft sank ein.

Jins bemüht entschlossene Miene durchlief ein Flackern. »Was?«, fragte er schwach.

»Meinen Zwillingsbruder«, fuhr Dante fort. »Vergil. Ich hab ihn getötet.« Ihm wurde klar, dass er diese Worte noch nie in dieser Reihenfolge ausgesprochen hatte. Ich hab Vergil getötet.

»Warum?«

»Er war ein Dämon geworden. Wurde verführt. Es gab keinen anderen Weg.«

Jin wandte den Blick nicht ab. Er hielt weiter seine dunklen, harten Augen auf Dantes gerichtet. Endlich sagte er: »Glaubst du, das erschreckt mich?« Sein mitgenommener Ton strafte die Worte Lügen.

»Es wäre schlimm, wenn nicht.«

»Ich habe meinen Urgroßvater aus dem gleichen Grund getötet. Heihachi hatte ihn unter Hon-Maru eingekerkert und verhungern lassen. Kannst du dir das vorstellen? Ein böser Geist nahm seinen Körper in Besitz und befreite ihn … Er war immer noch dort unten, niemand hatte jemals nach ihm gesehen!« Jin schrie ihn jetzt beinahe an. Dante ließ ihn. So laut zu werden war sehr ungewöhnlich für Jins verschlossenes Gemüt, und angenehm auch nicht. »Ich tötete ihn, weil er mich anflehte! Du hast keine Vorstellung davon, wie grausam meine Vaterlinie ist!«

Dante hielt weiter seinen Blick mit dem Rücken an der Felswand lehnend, die Arme verschränkt. Eine solche Enthüllung hatte er nicht kommen sehen.

»Du siehst also, wie leicht das geschieht«, fuhr Jin fort, wieder deutlich beherrschter. »Mein Vater verfiel dem Bösen, dein Bruder ebenso … Alle von ihrer dämonischen Seite aufgezehrt!« Er hielt inne, und dann wandte er sich plötzlich Roger Bacon zu. »Roger«, sprach er den Mönch an, »was wurde aus Yuris Vater? Warum wissen wir nichts über ihn?«

Traurig antwortete Roger: »Ich schätze, Yuri hätte es euch an dieser Stelle sowieso erklärt … Seinen Vater hat das Schicksal ereilt, dem er selbst nur knapp entgangen ist. Er ging eine Fusion mit einem Wesen ein, das er nicht beherrschen konnte, und musste von seinem engsten Freund vernichtet werden.«

Das war offenbar alles, was Jin hatte hören müssen. »Dann ist die Gefahr zu groß. Ich möchte nicht als ein Monster enden … wenn ich nicht schon eins bin.«

Seine Hand mit der Mistel hing unbeansprucht herab; nun hob er sie erneut vor die Augen. Dante konnte nicht leugnen, dass auch ihm der kalte Glanz des Werkzeugs ein gewisses leises Grauen einflößte. Yuri hatte Recht: Es war ein schreckliches Ende, seine Seele zu verlieren – fühlen zu müssen, wie sie zerfressen wurde. Doch Jin hatte keine Optionen. Devils Reflexe waren zu stark, selbst betäubt mit Traumkraut würde er alle verfügbaren Kräfte freisetzen, um seinen Wirtskörper am Leben zu halten. Jin würde nicht warten, bis es zu spät war – bis er so viele Leben genommen hatte, dass jemand wie Dante kam, um das zu beenden, was er selbst nicht bewerkstelligt hatte. Er würde rechtzeitig die Entscheidung treffen.

Sinnierend starrte Dante auf die Mistel. Er hatte erwartet, Jin mit seinem Anstoß in eine andere Richtung zu bewegen, doch das hatte nicht funktioniert. Und da er nicht tun wollte, worum Jin ihn bat – die Mishimas beseitigen –, würde Jin wohl jemand Anderen finden, der das tat. Auch auf die Gefahr hin, dass er sich der Zuverlässigkeit dieser anderen Person nicht gewiss sein konnte.

Wenn Kazuya Mishima, oder wie Jins Vater hieß, wirklich einen Seelenpakt geschlossen hatte …

»Hey!«, hallte plötzlich Yuris Stimme schneidend von nebenan herüber. »Leute! Kommt her, schnell! Ich glaub, mich tritt ein Pferd!«

Jin sah Dante und Roger an, unschlüssig.

Schließlich fragte Dante ohne große Begeisterung: »Was ist?«

»Seid ihr taub?«, ereiferte sich Yuri von drüben. »Bewegt eure Ärsche! Er war hier, verdammt! ER WAR HIER!«

Akt XI - Gottesschlächter: 15-1

15-1: YURI
 

»Er hat den Sturm genutzt«, murmelte Roger. »Der Regen hat seine Spuren auf dem Weg verschwinden lassen. Und unsere Sinne geschwächt.«

Großartig – das war genau das, was Yuri auch dachte. Sie standen versammelt vor dem Teleporter, und er umklammerte den kleinen Notizzettel, den er soeben an genau dem Punkt aufgesammelt hatte, auf den die Emitter ausgerichtet waren. »Ich glaube, ihr braucht einen stärkeren Motor«, las er vor. »Möchtet ihr tauschen? Dann kommt runter. Wir treffen uns am Tor. Bitte lasst uns kooperieren. Aidan.« Er hatte Lust, das Papier in der Faust zu zerknüllen, bis es durch ein Knopfloch passte.

»Das heißt, er hatte während unserer Abwesenheit Gelegenheit, deine ganze Behausung zu durchsuchen«, folgerte Jin.

»Das hat er sicherlich getan«, jammerte Roger. »Nur gut, dass er nichts finden konnte – dank meiner Weitsicht!«

Yuri sah zu Jin, der eine Hand dorthin gelegt hatte, wo sich unter seinem Mantel die Innentasche mit der Émigré-Schrift befand. Dadurch, dass er sie am Körper trug, war sie für Sarris genauso unerreichbar wie die fehlenden Seiten der Dschaizan-Abschrift, die Dante seinerseits irgendwo versteckt hatte.

»Was meint er mit unten?«, fragte Jin und äußerte gleich einen Verdacht: »Die … Ruinen?«

»Wo sonst?«, knurrte Yuri. »Das heißt, er ist noch hier. Er ist am Tor – am Tor zu der Stadt, die das Fundament unter uns mal war.«

»Ich schätze, da ist es nicht gerade gemütlich?«, vermutete Dante.

»Du sagst es.«

»Was könnte er uns anbieten, um den Teleporter zu betreiben? Er kann nicht mal wissen, was das ist.«

»Es sei denn, er ist schon länger hier und hat uns belauscht.«

»Ausgeschlossen!«, krähte Roger. »Ich hätte jeden Eindringling bemerkt, solange ich hier war! Er kann euch höchstens gefolgt sein, irgendwie, und dann gewartet haben, bis wir weggehen …«

»Es spielt auch keine Rolle«, wandte Jin ein. »Er hat gesehen, dass das Laufband als Antrieb nicht genügt. Er sucht immer noch nach einer friedlichen Lösung und glaubt jetzt, er könnte uns etwas anbieten.«

Yuri beschloss, Sarris nicht den nächsten Schritt zu überlassen. »Los, kommt mit. Holen wir ihn uns. Da unten kann er nirgendwohin.«

»Seid vorsichtig«, bat Roger. »Du kennst diesen unheiligen Ort.«

»Eben.«

Er brannte nicht gerade darauf, den Anderen eine Führung durch die Neam-Ruinen zu geben. Auch jetzt noch fühlte er, wie das angestaute Böse in ihnen nach ihm rief. Und er glaubte, dass auch Jin und Dante für diesen Ruf empfänglich waren.

Trotzdem kletterte er als Erster durch die Falltür, die Roger über ihm offen hielt, ins Dunkel.
 

Die Finsternis währte nicht lange. Schon fiel ein dünnes Licht ohne sichtbare Quelle von oben in den Gang hinein. Auf der rechten Seite passierten sie einen kleinen zerkratzten Container; er war eindeutig menschengemacht und musste derjenige sein, den Roger als Versteck für die wertvollen Gegenstände nutzte, die er hier unter Verschluss hielt.

Danach wurde die Umgebung anomal.

Schon nach wenigen Schritten, bei denen Yuri die Anderen zu führen versuchte, erkannte er vage Umrisse vor sich, als die Wände zu leuchten begannen – erst kaum sichtbar, dann immer stärker. Als er das erste Mal hierhergekommen war, damals vor einer Ewigkeit, hatte er weite Bögen und Wölbungen erwartet, so höhlenartig wie Rogers jetzige Behausung unterhalb der Erdspalte. Doch nein – keine einzige Kante oder Linie hier wirkte natürlich. Wände und Böden waren aus leuchtenden Würfeln zusammengesetzt, die so symmetrisch schienen, dass es in den Augen schmerzte. Das kalte Licht, das aus der unbekannten Materie drang, durchwaberte den Tunnel wie Äther. Yuri bemerkte das Zögern der Anderen, als sie entdeckten, dass in der Ferne einige der Würfel beständig auf und ab schwebten, scheinbar sinnlos, doch in einem stetig gleichbleibenden Rhythmus, der keiner Energiequelle bedurfte. Ja, dieser Ort war … unirdisch. Und darin hatte er sich kein bisschen verändert.

Während sie zuerst nur hintereinander gegangen waren, ließ der Korridor ihnen bald genug Raum, um nebeneinander zu laufen. Yuri, der weiterhin führte, als wäre das noch nötig, beobachtete die ernsten, schwach beschienenen Gesichter der Anderen; er war sicher, dass sie mit der negativen Energie, die pulsierend aus jedem Spalt drang, weit mehr zu kämpfen hatten als er.

»Da ist das Tor«, sagte er leise und wies geradeaus. Seine Stimme klang, als müsste sie ein Echo werfen, doch es gab keins; es war, als fehlte ein Teil der Frequenz, wie er es von Funkempfängern kannte.

Sie sahen Sarris am linken der beiden schwarzen Pfeiler stehen. Seine Miene wirkte grotesk durch das An- und Abschwellen des Lichts, und ihr Ausdruck war nicht zu erkennen.

Yuri wurde langsamer, und auch Dante nahm etwas mehr Haltung an, als sie zu dritt gemessenen Schrittes ihrem gemeinsamen Widersacher entgegen traten.

»Wir haben uns eine Weile nicht gesehen«, begrüßte sie Sarris. Seine Stimme war dünn wie ein Faden. Er trug einen dunklen Anorak und an seinem Gürtel die Peitsche, ordentlich zusammengerollt.

Wie hast du uns gefunden?, dachte Yuri, aber eigentlich wollte er es nicht wissen, nicht wirklich. Es würde nur die Schwächen ihrer bisherigen Pläne aufzeigen. »Was willst du?«, fragte er, stellvertretend für alle Drei.

»Verhandeln.« Der blonde Mann sah ihm offen ins Gesicht.

»Okay, und was willst du haben?«

»Das Émigré-Dokument.«

»Warum nicht die fehlenden Seiten?«, fragte Jin.

»Weil ich die bereits habe.« Als Sarris behutsam die zusammengerollten Blätter aus der Tasche zog, war kein Triumph in seinen Augen, nur Müdigkeit.

Ein Aufkeuchen füllte die Stille.

Yuri war verwirrt. Wie konnte Sarris die Seiten haben? Das war unmöglich – eigentlich … Sein Blick wanderte zu Dante, und dorthin schaute auch Jin von der anderen Seite. Niemand konnte sich diese Wendung erklären; auch Dante nicht, wie es schien, denn er betrachtete Sarris angestrengt, und hinter seiner Stirn arbeitete es sichtbar.

»Okay«, sagte der Jäger schließlich, »sag’s mir: Was für ein Zaubertrick war das? Die Seiten waren in meinem Zimmer, und den Schlüssel hab ich in der Tasche.«

»Ach, Dante«, seufzte Sarris. »Ein Zauber war nicht nötig. Ich habe einen mächtigen Freund in dieser Stadt.«

Ach? Das erklärte vieles, wie Yuri einsehen musste: Die seltsamen Umstände ihrer Ankunft waren ihm noch bestens im Gedächtnis. Im Seaside den Schlüssel zu einem fremden Zimmer zu bekommen, war für den Kerl also kein Problem gewesen. Selbstredend war es auch Dantes Schuld: Hätte er die Seiten immer bei sich getragen, so wie Jin es mit der Émigré-Schrift hielt, wäre Sarris’ heimliche Suche erfolglos geblieben. »War ja klar«, murrte er.

Dante indes wirkte weder trotzig noch beschämt, nur … verblüfft. Zweifellos besaßen nicht viele Leute die Unverfrorenheit, ihn zu bestehlen. Mit so viel Frechheit von Anderen konnte er nicht umgehen.

»Ich gebe zu, leicht war es nicht, euch und diesen Ort zu finden«, fuhr Sarris versöhnlich fort. »Glücklicherweise verwies mich dieselbe Quelle, durch die ich auch von der Émigré-Schrift weiß, an das Kloster Nemeton. Für mich begann eine ziemlich mühsame Recherche, die sich aber gelohnt hat.« Er nickte in die Runde. »Ich brauche nur noch das Buch. Wahrscheinlich kann ich euch immer noch nicht dazu bewegen, es mir freiwillig zu geben?«

»Richtig«, bestätigte ihm Yuri.

»Sehr schade. Ihr wisst, dass ich nichts Böses will, und trotzdem bekämpft ihr mich wie einen Kriminellen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Aber gut, ich habe mich damit abgefunden. Deshalb biete ich euch eine Energiequelle für eure Maschine an.«

»Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was man mit der Maschine macht?«

Eine gewagte Frage. Wenn Sarris sie nicht ehrlich beantwortete, hatte er mehr über seine Gegenspieler erfahren als umgekehrt.

»Nun, ich … habe mich, wie ihr wisst, mit schwarzer Magie und ihrer Verbindung zu den Naturwissenschaften beschäftigt«, erklärte Sarris. Es wirkte authentisch, wie alles an ihm. »Euer Freund, der kleine alte Mann, kennt eine Methode, um immer weiter zu leben; er sieht aus, als müsste er längst tot sein, aber er hat den Tod überlistet, davon bin ich überzeugt. Er ist Gelehrter, nicht wahr, er kennt das Geheimnis des ewigen Lebens – und es ist weder Jungfrauenblut noch Phönixfedern. Habe ich Recht?« Er lächelte.

Yuri entspannte sich ein wenig. So war das also: Sarris hielt den Teleporter für eine Vorrichtung, die das Leben verlängerte. Gut, das durfte er gerne weiter glauben. »Was bietest du uns an?«

»Eine Teslaspule. Das Einzige, das archaisch genug ist, euer Laufband als Energiequelle zu unterstützen.«

… Hä …?

Eine Sekunde der Stille verging. Dann raunte Yuri, nicht sehr geschickt verhohlen, in Jins Richtung: »Teslaspule? … Was is’n das?«

Es dauerte einen weiteren Moment, bis Jin leise antwortete: »Das ist ein primitiver Transformator.«

Yuri traute sich nicht zu fragen, was genau ein Transformator machte. »Und wer sagt, dass wir das Ding nicht einfach nehmen und ihn hier unten verhungern lassen?«, schlug er stattdessen vor.

»Ist das eure Antwort auf das Angebot?« Sarris’ Stimme war ruhig und sachlich.

Das unausgesetzte Starren ihrer vier Augenpaare durchbohrte geradezu die Luft zwischen ihnen. Ihr Atem hing als weißer Nebel leuchtend vor ihren Gesichtern.

Plötzlich wandte Sarris sich ab. Er spannte beide Fäuste an und presste einen zischenden Laut durch Zähne und Lippen.

Yuri zuckte zusammen, als neben ihm Jin und Dante mit einem überraschten Aufstöhnen in die Knie gingen. Offenbar hatten sie Schmerzen, völlig unerwartete und heftige Schmerzen. Yuri spannte sich, erwartete, dass auch ihn gleich irgendein unsichtbarer Blitz treffen würde – aber nichts geschah.

Dafür ratschte es plötzlich neben ihm.

Jin presste jäh beide Hände auf die Seite seines Mantels, blitzschnell und doch zu spät; aus der aufgerissenen Innentasche, die nun als Fetzen herabhing, purzelte das Émigré-Dokument in die jahrhundertealte Asche auf dem Boden. Jin langte danach, doch das Buch sprang davon: Etwas Unsichtbares hatte es ergriffen und trug es in hohem Bogen aus seiner Reichweite. Auch Yuri grapschte einmal beherzt danach, doch das Buch war flink und sofort auf und davon. Jin starrte auf seinen eigenen sinnlos vorgestreckten Arm; Blut tröpfelte aus dem Ärmel. Was auch immer es war, es hatte ihn verletzt, auf eine Weise, die es ihm unmöglich machte, den Schmerz zu lokalisieren. Wie gelähmt blieb er kauern. Yuri griff nach seiner Schulter, doch Jin wehrte ihn mit dem unverletzten Arm ab.

Dante stand schon wieder von alleine und gab gerade ein leises Keuchen von sich, das eher Unwillen als Schmerz ausdrückte. Auch er war nicht aufmerksam genug gewesen. So viel zu den überlegenen Sinnen eines Halbdämons.

Indes streckte Sarris ruhig die Hand aus, und der schädelförmige Foliant, der bis eben um ihn herumgetanzt war, wurde von dem unsichtbaren Dieb hineingelegt. Yuri verstand die Welt nicht mehr.

Anders als Jin hatte Dante sich bereits auf die Suche nach der Wunde gemacht und zog den Mantel über der Schulter zurück, wo ein kurzer, aber tiefer Schnitt in der Unterseite des Oberarms das Fleisch aufklaffen ließ. Yuri erschauderte und sah, dass Jins Arm genauso zugerichtet war; das Blut begann bereits, den schwarzen Stoff in alle Richtungen zu durchziehen. Nun, Jins Mantel war ohnehin im Arsch.

Yuri blieb alarmiert. Er war von dem Angriff nicht betroffen, was er nicht verstehen konnte. Er hatte die Fäuste erhoben, doch für ihn gab es nichts abzuwehren.

»Ich glaube, mein Punktevorsprung vergrößert sich weiter«, stellte Sarris fest und winkte mild lächelnd mit dem verbotenen magischen Schriftstück. Etwas flirrte in der Luft neben ihm, links und rechts zugleich, und dann wurden auf seinen Schultern zwei kleine, äußerst hässliche Gestalten sichtbar. Es waren unterarmgroße Wesen mit dunkelroter, ledriger Haut, die rissig wirkte wie gesprungener Ton; je vier lange Gliedmaßen endeten in einzelnen, hakenförmigen Klauen, an denen Blut klebte. Ihre Münder waren klein, ringförmig und vorgestülpt, doch das Widerlichste an ihnen waren ihre Bäuche: Rund und annähernd durchsichtig ließen sie einen Teil der Organe inklusive der wild pochenden Herzen durchscheinen, wobei sie im unteren Teil mit leuchtend rotem Blut gefüllt waren wie Stechmücken nach einer guten Mahlzeit. Yuri hatte eine gute Vorstellung davon, wo dieses Blut herkam.

»Muss ich das verstehen?«, fragte Dante und betrachtete Sarris’ widerliche Diener mit einer gewissen Faszination.

Yuri stimmte ihm zu: Auch er begriff rein gar nichts.

Sarris stieß ein ungeduldiges Seufzen aus, erklärte dann aber ruhig: »Ihr habt auch eine Kopie des Henochbuchs mit hergebracht.« Oh, klar, sicher war es ihm beim Durchstöbern von Dantes Zimmer in die Hände gefallen. »Ihr wisst, dass ich Azazel nicht hier und jetzt beschwören kann.« Diese Information war neu, doch Yuri hielt in weiser Voraussicht den Mund und ließ Sarris weitersprechen. »Sehr schade, denn es würde sich so gut anbieten: Sollte irgendetwas schiefgehen – ganz gleich, was das sein mag –, dann könntet ihr einfach die Ruinen verschließen, so wie sie vorher auch verschlossen waren. Nichts von dem Bösen könnte diesen Ort verlassen. Eine Versicherung für euch.« Irgendwie ergab das schon Sinn, aber … »Aber es soll nicht sein. Das Henochbuch in deinem Zimmer, Dante, hat mir mitgeteilt, warum Azazel nicht erscheinen kann – noch nicht. Nun ist die Frage: Wer hat ihn in seinem Gefängnis in der Wüste eingesperrt?« Sarris’ Blick wanderte zwischen Jin und Dante hin und her. »Wer hat das Siegel geschaffen, das Azazel nicht überwinden kann? War es …« Seine Augen heften sich auf Dante. »… Sparda? Brauche ich Spardas Blut, um Azazel von seinen Ketten zu befreien? Oder war es womöglich Devil – seine eigene Saat, aus einer Rivalität und Missgunst heraus?« Jin hielt dem forschenden Blick Stand, während sich in Yuris Hirn das Puzzle gewohnt langsam zusammensetzte. »Tja«, fuhr Sarris fort, »das erfahren wir schon noch. Ich bin sicher, ihr möchtet das auch wissen; ich informiere euch dann. Danke für eure Zuarbeit.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ die Drei stehen. Gemächlich setzte er sich in Bewegung, jedoch nicht Richtung Ausgang, sondern geradewegs dem tieferen Schlund der Neam-Ruinen entgegen. Yuri, ungläubig, wollte sich gerade anschicken, ihm zu folgen, als die beiden blutsaugenden Teufel sich plötzlich von Sarris’ Schultern fallen ließen und noch vor dem Aufsetzen wieder unsichtbar wurden. Als zwei wabernde Nichtse stoben sie auseinander und zu den beiden dunklen Torpfeilern, die hoheitlich in der Düsternis aufragten. Im selben Moment, als Sarris das Tor durchschritt, spie die leere Luft an beiden Pfeilern einen dünnen Strahl Blut gegen das jahrhundertealte Material, um dann blitzschnell die Seiten zu wechseln und dort die Prozedur zu wiederholen. Sarris lachte leise, auf seine entspannte, angenehme Weise.

Im selben Augenblick schien bei Jin und Dante der Schmerz nachzulassen. Jin, der sich für einen winzigen Moment widerstrebend auf Yuri stützte, richtete sich wieder ganz auf. Der Arme hatte in letzter Zeit wirklich genug geblutet, fand Yuri.

Klare Sache: Sarris hatte die Torpfeiler mit Dantes und Jins Blut benetzt, und Yuri war völlig klar, was das bedeutete. Kommentarlos setzte er sich in Bewegung und folgte dem Mann durch die neu erschaffene Barriere. Ihn hielt sie nicht ab, sein Blut klebte nicht an den Pfeilern; an ihm war Sarris nicht interessiert gewesen, und deshalb konnte er sich noch frei bewegen.

»Hast du nicht was vergessen?«, rief er Sarris herausfordernd hinterher.

Ihr Gegner drehte sich halbherzig nach ihm um. »Wie dich?«, fragte er stirnrunzelnd. »Ich erinnere mich schon noch, dass du der Dritte im Bunde bist, Harmonixer. Du bist der Informant. Du hast dafür gesorgt, dass wir alle heute hier sind. Damit hast du viel für mich getan. Vielleicht sollte ich mich bei dir bedanken.« Er nickte ihm ernst zu. »Außerdem bist du ein guter Schläger. Das kann ganz nützlich sein, vermute ich.« Und er wandte sich wieder ab.

Ein guter Schläger? Yuri musste beinahe lachen. Für Sarris war er also uninteressant. »Dann stört’s dich ja nicht, wenn ich zurückhaben will, was uns gehört.« Und er lief los, zog an Sarris vorbei und stellte sich ihm in den Weg. Das bläuliche Licht wurde tiefer in den Katakomben schwächer. »Sei brav und gib’s zurück«, verlangte Yuri und streckte die Hand aus.

Sarris betrachtete ihn verständnislos. »Mach dich nicht lächerlich.«

»Ich kann mir das Buch auch mit Gewalt holen.«

Sarris schüttelte den Kopf und tätschelte die zusammengerollte Peitsche an seiner Seite. »Du weißt, wenn du deine Fähigkeit einsetzt und dir den Körper eines Monsters leihst, werden die Runen deine Kräfte absorbieren. Das hast du bei Dante gesehen, aber vielleicht nicht verstanden, deshalb wiederhole ich es. Sei nicht dumm, Harmonixer, und lass mich vorbei. Ich möchte niemandem wehtun.« Damit machte er wieder einen Schritt, im Versuch, sich an Yuri vorbeizuschieben.

»Und du weißt, ich kann dicht nicht abhauen lassen. Meine Bedingung ist, dass du die Émigré-Schrift zurückgibst.«

»Tut mir Leid.«

»Dann lässt du mir keine andere Wahl als –« Yuri wollte weitersprechen, noch während er mit beiden Händen nach Sarris’ Arm griff, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, doch noch ehe er zupacken konnte, fuhr er plötzlich mit einem verbissenen Aufschrei zusammen. Scheiße, tat das weh! Er hatte diese beiden Mistkröten ganz vergessen! Grimmig griff er mit der Linken über seine rechte Schulter und bekam etwas zu fassen. Das Vieh zappelte in seiner Faust, quietschte wie eine Ratte, ehe es plötzlich sichtbar wurde. Yuri ließ es nicht warten: Brutal drückte er den kleinen Schädel mit der ganzen Hand zusammen, bis er wie eine reife Frucht zerplatzte. Blut besprenkelte seine Brust und sein Gesicht – ebenso wie das von Sarris.

Kurzzeitig wirkte ihr Widersacher konsterniert, sein Gesicht unter den dunklen Spritzern fahl und verkniffen, die Lippen eine schmale Linie.

»Einen hab ich«, knurrte Yuri, »fehlt noch einer.«

Mit zitternder Hand entrollte Sarris die Peitsche an seinem Gürtel.

Yuri blieb stehen, doch sein Mund wurde trocken. In einem Tunnel nur mit den Fäusten gegen einen Bewaffneten kämpfen zu wollen, noch dazu mit einer solchen Reichweite, war schlicht lebensmüde. Die sieben Lederriemen – heiliger Mist! – würden unberechenbar an den engen Wänden abprallen, würden überall zugleich sein, einen vernichtenden Vorhang bilden; Yuri hätte keine Chance, Sarris überhaupt nahe zu kommen. Er würde sich hundertprozentig schwer verletzen oder Schlimmeres. Und doch konnte er Sarris nicht gehen lassen, nicht mit der Émigré-Schrift. Yuri befand sich im Zwiespalt zwischen zwei ziemlich aussichtslosen Situationen.

Wenn sie wenigstens zu zweit wären …

Aus dem Augenwinkel sah er, wie hinter den Torpfeilern Jin wie aus Reflex losrannte. Garantiert wusste er, dass er nicht weit kommen würde, und versuchte es trotzdem, unfähig, sich zurückzuhalten. Doch in Jins kurzem Sprint zu den beiden steinernen Säulen erkannte Yuri bereits über die Distanz hinweg, wie zwischen den Pfeilern ein widerwärtiges rötliches Licht waberte, ein träger Film, dessen Oberfläche hin und her suppte wie ein vergifteter Teich. Gerade noch rechtzeitig stoppte Jin davor; seine Schuhspitzen gruben sich in den Boden, ehe der bedrohliche Schein sich vor ihm aufbäumte und sich zu fünf Fingern formte, die sich um ihn zu schließen versuchten. Sofort war Dante hinter ihm, packte ihn am Kragen und riss ihn zurück. Der Angriff des handförmigen Gebildes ging ins Leere und löste sich wieder auf, doch das rote Schimmern im Toreingang blieb, jederzeit bereit, erneut sein Werk zu tun und jeden aufzuhalten, der durch den Zauber ausgesperrt war. Oh ja, Yuri kannte magische Barrieren. Und Dante offenbar auch.

Sarris wirkte voll zufrieden. Ermutigt stieß er vor, schwang mit einer geübten Drehung des Arms seine Geißel, die sich mit allen sieben Enden entfaltete wie ein Nesseltier seine Gifttentakeln. Bereits jetzt musste Yuri weit zurückweichen, um ihren Stichen zu entgehen.

»Deine letzte Gelegenheit zu gehen, Harmonixer.«

»Noch mal:

Dann hörten sie endlich mit dem Imponiergehabe auf. Yuri wusste, dass es jetzt hässlich wurde. Sarris kniff beinahe schmerzerfüllt die Augen zusammen und schwang die Peitsche in flachem Bogen, sich selbst vor ihr zurück duckend. Siebenmal krachte es, als die Haken auf das glühende Gestein schlugen. Yuri wurde nicht getroffen, weil er erneut auswich und Raum gab. Zu viel Raum. Verärgert über sich selbst gewann er diesen mit einem Satz zurück, während Sarris die Geißel wieder einholte, und hechtete unter dem nächsten Schlag hindurch, in der Absicht, Sarris mit vollem Gewicht in die Knie zu rammen. Drei der vier Schwänze trafen dabei seinen Rücken und brachten dem abgewetzten Leder des Mantels harte Schmisse bei, die ganz aufklafften, als die beiden Kämpfer aufeinander prallten. Sarris fiel ohne Halt in den Beinen nach hinten, Yuri rollte sich weg und rappelte sich auf, doch selbst in halber Rückenlage wuchtete Sarris die Peitsche noch ein drittes Mal hoch, und sogar dieser geringe Schwung verlieh den Dornen an den Enden vernichtende Kräfte. Ihr Aufschlag zerteilte Yuris Mantel ganz und das geliehene Shirt darunter gleich mit. Der Treffer ging bis auf die Haut, und das Geräusch war nicht angenehmer als der Schmerz, der ihn begleitete. Sich erneut mit einem Ächzen auf die Füße ziehend, wand Yuri sich frei von den Fetzen aus Stoff und fasernder Tierhaut und stolperte fast, ehe er wieder Stand fand. Scheiß drauf, er musste das jetzt aushalten, egal wie. Sarris war längst wieder unangreifbar.

Hektisch fixierte Yuri die nahen Wände, heftig atmend. Hoffentlich begriffen Jin und Dante, was er gerade wirklich zu tun versuchte. Er hatte keine Chance gegen Sarris in einem derart unfairen Kampf, nein. Er wollte nicht gewinnen, sondern suchte fieberhaft nach dem zweiten Teufel, dem kleinen blutsaugenden Monster, das irgendwo unsichtbar im Raum unherflitzte. Wenn es jemand tötete, egal wer, würde der Blutzauber, der Jin und Dante hinter der Barriere hielt, erlöschen.

»Du willst sie befreien«, erkannte Sarris. »Ich verstehe. Aber das wird nichts.«

Pah, dachte Yuri. Sarris wäre sicher überrascht zu hören, dass sie seine bisherigen schwarzmagischen Siegel mit so profanen Mitteln wie Kerosin und kaltem Kaffee außer Gefecht gesetzt hatten.

Sarris, der ein paar Meter rückwärts gekrochen war, richtete sich wieder auf. Noch wirkte er kräftig genug, um dieses Spiel weiterzuspielen – doch offenbar wollte er es gar nicht. »Der nächste Schlag«, sagte er beinahe verzweifelt, »könnte dein Fleisch bis auf die Knochen aufreißen.« Seine Stimme klang nass, als wäre seine Kehle blutig. »Ich bitte dich.«

»Dann tauschst du jetzt?«, fragte Yuri und rieb sich über die Schulter, wo einer der schwach blutenden Striemen verlief.

»Ich kann nicht aufgeben.«

»Tja, ich auch nicht.« Entschlossen ballte Yuri die Fäuste. Gott, was machte er hier? Selbst mit der Aussicht, die Anderen zu befreien, war es immer noch Wahnsinn. Fieberhaft suchte er weiter die Umgebung nach dem kaum merklichen Flirren ab, das den kleinen Teufel verraten würde; doch das Licht war zu diffus, das Flackern zu unstet.

Dante, hinten neben Jin stehend, blieb gleichfalls untätig. Er hatte eine Hand am Holster, griff aber nicht zu. Allerdings – und dies machte Yuri ein klein wenig Hoffnung – zuckte sein Blick nicht so ratlos hin und her wie der von Jin. Stattdessen schien er zu warten. Zu lauern.

Wieder maßen Yuri und Sarris einander unglücklich, doch kämpferisch mit den Blicken. Gleich würde Sarris Yuri mit der Peitsche deftig eins überziehen und dann in die Tiefen der Ruinen entkommen. Mit der Émigré-Schrift.

Yuri hoffte, dass Dante irgendetwas sah. Er hoffte, dass er selbst irgendetwas sah. Eine einzige verschwommene Bewegung irgendwo am Rande seines Blickfeldes, und er konnte darauf zeigen und »Dort!« schreien, und mehr brauchte Dante vermutlich nicht.

Doch nichts bewegte sich.

Sarris biss die Zähne zusammen und stürzte los. Yuri sprang ihm entgegen. Die Striemen schienen auf seiner Haut in Flammen aufzugehen, als er jeden Muskel seines Oberkörpers spannte, um die erwarteten Schläge irgendwie aushalten zu können.

Jetzt macht er mich kalt, dachte er. Jetzt erwischt er mich mit der ganzen Breitseite. Dann stehe ich nicht mehr.

Es würde ein vernichtender Schlag sein.
 

Das Echo des widerwärtigen Gesanges, als die sieben Dornen durch die Luft fuhren, verebbte. Es endete nicht abrupt, sondern ging einfach vorüber, als wären die Wände so weit entfernt wie in einem riesigen Tanzsaal, als gäbe es nichts, auf das die Enden treffen konnten, außer der leeren Luft.

Yuri stand still, die Augen krampfhaft geschlossen. Sein Körper brannte. Doch nichts tat weh.

Aus ihm strömte etwas nach draußen und drängte wieder hinein, alles gleichzeitig. Es war nicht an der Zeit für ihn, von Sarris’ Peitsche zerrissen zu werden. Nicht in dieser Zeit.

Langsam öffnete er die Augen.

Er hörte, wie Sarris vor ihm aufkeuchte, ungläubig. Dann sah er es: Die Geißelschwänze hingen in der Luft, und Sarris riss seltsam kraftlos wieder und wieder am Stiel seiner Waffe. Yuri sah das grelle Licht, das sein eigener Körper an die Wände warf, und den Schatten, der dazugehörte; ein Schatten mit zwei Paar Vogelschwingen, ein dunkler Seraphim, der drohend über Sarris und all seiner Bedeutungslosigkeit aufragte. Diese eine Seele, mit der Yuri so lange und hart gekämpft hatte – die ihn beinahe das Leben, die ihn Alice gekostet hatte – beschützte ihn. Es war, als wäre alles um ihn herum erstarrt. Die anderen Menschen in seiner Nähe waren nur kalte Körper; er war die Sonne, um die sich alles drehte, das heiße, fürchterliche Zentrum des Universums.

Der Moment schien endlos. Wahrscheinlich waren es nur Sekundenbruchteile, doch die Zeit stand unbeweglich im Raum wie ein zu Eis gefrorener Fluss.

Dann, endlich, konnte Yuri sich wieder bewegen. Er war maßlos müde. Leise seufzte er, und der Schatten verschwand; unirdische Flügel und schwarzes Licht zogen sich in seine harmlose menschliche Gestalt zurück und hinterließen einen halb entblößten Mann zwischen den Fetzen seiner Kleidung. Oh ja, er musste großartig aussehen. Yuri machte zwei taumelnde Schritte auf Sarris zu, der wie betäubt auf dem Boden saß und ihn anstarrte, bückte sich und nahm das schädelförmige Buch aus dessen Jackentasche. Sarris unternahm nichts dagegen. Er sah nur resigniert zu ihm auf.

»Na bitte, war doch nicht so schwer«, murmelte Yuri, während er mit der Émigré-Schrift im Arm langsam in Richtung seiner eingesperrten Gefährten trottete.

»Warte«, sagte Sarris schwach. »Du bist nicht nur ein Harmonixer. Was … bist du?«

Yuri blieb stehen, drehte sich zu ihm um und hob die Schultern. Er war so müde, er könnte auf der Stelle umfallen und einen halben Tag schlafen. »Such dir was aus«, murmelte er. »Ich hab schon viele Namen. Der Dämon von Domremy … das Monster vom Blauen Schloss … der Zerstörer von Shanghai …«

»… und der Gottesschlächter … nicht wahr?« Das sich verbreiternde Grinsen des geschlagenen Mannes war unheimlich. Sarris hatte keine Angst vor ihm; er war geradezu entzückt. »Das ist … Ich kann es nicht glauben! Du solltest nicht hier sein, aber du bist es doch! Du bist zurückgekehrt, und …« Seine Augen flackerten an Yuri vorbei dorthin, wo Jin und Dante standen. »Oh, ihr… ihr drei seid großartig. Ihr seid … ein Triumvirat. Ihr begeistert mich.« Sein Atem ging schwer. Mühsam versuchte er, sich wieder auf die Beine zu hieven, doch seine Glieder zitterten sichtbar. Er lachte: »Wie wahrscheinlich ist es, dass drei Männer wie ihr einander begegnen, in einer Zeit wie dieser?« Er gab auf und ließ sich wieder auf den Hintern fallen. »Es ist ein Wunder, ein –«

In diesem Moment hallte ein Schuss. Scharf pflügte das Geräusch quer durch die Grotte und ließ Yuri zusammenfahren. Auch Sarris zuckte, rotes Blut spritzte, und einen Wimpernschlag lang glaubte Yuri, Dante hätte ihn einfach erschossen – dann sah er, wie Sarris sich herumwarf und rückwärts kroch, während über dem altehrwürdigen Tor, das Jin und Dante aussperrte, das abstoßende Wabern wieder Gestalt annahm: Es bäumte sich auf, von einem ungehörten Schrei begleitet, und barst in rote, dampfende Fetzen. Der Zauber fiel in sich zusammen.

Yuri sah hinter sich. Dante drehte den Abzug der Pistole einmal um den Zeigefinger wie ein Westernheld, dann ließ er die Waffe verschwinden und wandte sich an Jin, der neben ihm stand und ihn anstarrte: »Kazama? Zeit zu gehen, oder?«
 

»Warum ist mir das alles nicht früher klar geworden?«, murmelte Sarris, als Dante und Jin ihn aufsammelten. Yuri war zu müde, um mitzuhelfen, und lehnte schwer an der fluoreszierenden Höhlenwand.

Sarris wirkte abgelenkt, unaufmerksam ob der jüngsten Enthüllung; zwar schien ihm klar zu sein, dass seine Widersacher drauf und dran waren, ihn hier in den Ruinen einzusperren, doch es schien ihn nicht zu interessieren – nicht im Moment.

»Wir lassen dich hier«, erklärte Jin ihm noch einmal in aller Deutlichkeit. »Wir schließen die Falltür hinter uns.«

A. nickte vage. »Ja, tut das nur. Ich habe diese Runde verloren, ich weiß.« Er furchte die Stirn. »Ihr müsst aber zugeben, dass der Plan … nicht so schlecht war.«

Niemand wollte zugeben, dass dieser Plan vermutlich aufgegangen wäre. Missmutig schob Jin das Émigré-Manuskript wieder in seine blutfleckige Innentasche, bemerkte dann wohl aufs Neue, dass sie zerrissen war, und klemmte das Buch stattdessen unter den Arm.

»Die ganze Zeit hast du so gut auf deinen Mantel aufgepasst und jetzt hat’s ihn doch erwischt«, bemerkte Dante, unangemessen amüsiert. Doch seine Miene wurde sofort wieder ernst, als er sich bückte und vom staubigen Boden einen anderen Mantel aufhob, nämlich Yuris, und ihn einigermaßen liebevoll zu einem Knäuel faltete, soweit es noch möglich war.

Yuri ließ die Wand los, nahm Dante das Bündel ab und bewegte sich schleppend auf das unheilige Tor zu. Langsam machten die Wunden sich auch bemerkbar. Ihm tat alles weh.

Sarris blieb hinter dem Tor zurück. Noch einmal maßen sie einander mit den Blicken, mit neuem Respekt auf beiden Seiten.

»Ich tue das für sie, das wisst ihr«, sagte Sarris leise. »Ich würde nichts hiervon tun, wenn es nicht nötig wäre … Hätte ich die Wahl, würde ich nur Gutes tun, wie früher. Jungen Menschen ein Vorbild sein …« Es klang matt, aber nicht besiegt. Er hatte noch nicht aufgegeben.

Dante kommentierte das Statement mit einer despektierlichen Geste. »Ich würde in meiner Freizeit auch lieber Vogelhäuschen bauen, aber die Brut gibt nun mal keine Ruhe.«

»Jin kann Azazel töten«, sagte Sarris schwach.

»Nein, kann er nicht.«

Yuri sah, dass Jin widersprechen wollte. Auch ihm gefiel nicht, dass Dante sich anmaßte zu wissen, was er tun konnte und was nicht. Aber Yuri sah ein, dass er es selbst nicht besser wusste: Er hatte Azazel noch nie gesehen, wusste kaum etwas über ihn, der Dämon war bisher nur ein formloses, kaum fassbares Konstrukt in seinem Kopf. Auch Jin sagte nichts.

»Was würdet ihr tun?«, versuchte es Sarris noch einmal, neue Leidenschaft in der heiseren Stimme. »Würdet ihr nicht genauso versuchen, einen Menschen, den ihr mehr geliebt habt als euch selbst, zurückzuholen? Und dabei etwas zu tun, das noch niemand getan hat? Zu zeigen, dass es möglich ist, Leben aus dem Tod zu erschaffen?«

Plötzlich hatte Yuri genug. Trotz seiner Schwäche fuhr er herum und schnappte: »Habe ich gemacht, du Idiot! Habe ich! Es funktioniert nicht! Du musst den Schmerz hinnehmen, verstehst du? Auch wenn du ihn nicht ertragen kannst, auch wenn er dich innerlich aushöhlt, egal wie viel Zeit du dir gibst, um zu vergessen – du musst damit leben

Sie starrten einander flammend an. Es war Yuri egal, was er preisgegeben hatte; Jin und Dante wussten bereits, dass er mithilfe von Roger und der Émigré-Schrift versucht hatte, Alice wieder zum Leben zu erwecken. Sie hatten das Ritual nach bestem Vermögen perfektioniert, und es hatte trotzdem nicht funktioniert. Es lag an Alice’ Seele, daran, dass sie diese Art von widernatürlichem Zauber verabscheute. Schlimmer noch: Das gescheiterte Ritual hatte es Kato erst erlaubt, die Tore der Zeit zu öffnen und das Schlimmste aus der Émigré-Schrift herauszuholen, das nach Rogers Revision noch darin zu finden war. Indirekt hatte Yuri sich selbst in diese Situation gebracht, in der er jetzt war. Seine Verbitterung erlaubte es ihm nicht, den Erfolg, einen verlorenen Menschen zurückzubekommen, jemand Anderem zu gönnen – nicht jetzt, noch nicht, egal wie die Bedingungen waren.

Er war der Erste, der sich von Sarris abwandte und weiter ging. Richtung Ausgang. Jin folgte ihm sofort, dann Dante. Zu dritt entfernten sie sich Seite an Seite von diesem Ort, den Yuri am liebsten nie wiedersehen wollte.

Immer noch rief Sarris ihnen nach. »Ihr drei seid keine Menschen! Ist euch das klar?« Seine Stimme klang jetzt noch heiserer, wie die eines Ertrinkenden. »Ja, ihr wisst es – das ist der Grund, warum das Karma euch zusammengebracht hat! Ihr glaubt, dass ihr Menschen seid, ihr gebt es vor, seht so aus, tut alles, um menschlich zu bleiben – doch ihr könnt es nicht vor euch selbst verleugnen! Was in eurer Brust schlägt, in euch allen, ist das Herz eines Dämons!«

Keiner von ihnen wurde langsamer. In Yuris Ohren wurde das Rufen allmählich leiser, der Schall, von zahllosen Oberflächen zurückgeworfen, floss immer mehr zu einem Brei zusammen. Herz eines Dämons war das Letzte, das er klar gehört hatte. Kann sein, dachte er lahm. Mir egal.

Dann hörte er doch noch etwas. Sarris brüllte ihnen aus vollem Halse nach: »JIN! Du kannst es nicht aufhalten. Du bist von Azazel berührt! Ihr werdet einander rufen!« Eine kurze Atempause, dann: »Habt ihr wirklich gedacht, ihr könntet das Monster einfach in Ketten legen? Ihr seid ja noch naiver, als ich dachte! Der Einzige, der dich erlösen kann, Jin, ist Azazel. Merk dir das! Azazel ist deine einzige Hoffnung!«

Die Laute waren kaum noch einzeln erkennbar, doch anscheinend hatte Jins auditives Zentrum sie bestens auseinander sortiert, denn über sein Gesicht huschte ein Ausdruck von Schmerz, ehe er seinen Schritt beschleunigte. Gleichzeitig erreichten sie die Falltür, und Dante, der der Größte von ihnen, stieß sie auf.

»Er kommt nicht um da unten«, sagte Yuri, fast entschuldigend. »Es gibt Zugänge zum Grundwasser, und wenn er weiter oben bleibt, frisst ihn auch nichts. Er wird nur vielleicht ein bisschen schlecht drauf sein, wenn wir ihn wieder rauslassen.«

»Was meinte er damit, er wüsste, dass er Azazel nicht hier und jetzt beschwören kann?«, fragte Dante mit gefurchter Stirn. »Er hat das Henochbuch bei mir gefunden – okay –, aber was sollte das Gerede über unsere Väter?«

»Das Henochbuch …« Jin rieb sich abwesend die Schulter, mit der er die Émigré-Schrift an den Körper drückte. »Sollten wir es Roger jetzt zeigen?«

Yuri ließ ein dünnes Lächeln sein abgekämpftes Gesicht erhellen. »Na klar. Wir zeigen ihm die Azazel-Passage, damit er sie für uns übersetzt.«

»Sarris geht davon aus, dass wir sie längst gelesen haben«, bemerkte Dante mit einem freudlosen Lachen, »dabei hatten wir keine Ahnung, wovon er redet.«

»Weil Übersetzen offenbar nicht deine Stärke ist.«

»Oh, mit dir müssen wir sowieso noch ein Wörtchen reden. Gottesschlächter

Yuri hatte befürchtet, dass ihn das noch verfolgen würde.
 

Jin drehte angespannt den Kopf beiseite, während Rogers ledrige Finger wie zwei Spinnen über seine bloße Schulter krabbelten.

»Ach, das sieht harmlos aus. Offenbar hat der Stich nur eine kleine lokale Unverträglichkeitsreaktion verursacht, wegen der Proteine im Speichel. Hat ganz schön wehgetan, eh?«

»Ja. Ich konnte Devil kaum zurückhalten.«

»Wie ist es jetzt?«

»Besser«, antwortete Jin ungeduldig. Yuri fragte sich, warum er Berührungen so unerträglich fand.

Er selbst saß schweigend und seinen Mantel umklammernd auf dem weinrot bespannten Sofa und hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Die roten Striemen, die Sarris’ Peitsche verursacht hatte, zeichneten sich hart auf seiner weißen Haut ab. Noch immer brannten sie dumpf.

Roger tätschelte Jins muskulösen Oberarm und lächelte nur flüchtig. »Tu etwas Spucke drauf und halt die Wunde sauber.« Er sah zu Dante, der mit verschränkten Armen vor der Zeitmaschine stand und sie anstarrte wie etwas, das alle Probleme der Welt lösen konnte. »He, Dante – dir geht’s gut, richtig?«

»Ganz wunderbar«, antwortete der Teufelsjäger. »Ich bin morgen wieder makellos wie ein Gott.«

Roger kicherte, und Jin begann, sein Hemd wieder zuzuknöpfen. Jetzt, da das Blut abgewaschen war, sah die kleine Bisswunde wirklich nicht schlimm aus, und auch seine älteren Wunden waren kaum noch sichtbar. Jin erhob sich aus dem Sessel, um Yuri Platz zu machen, doch Yuri fand keine Kraft, sich hochzuhieven, und blieb sitzen, wo er war. Roger schlurfte selbst zu ihm hinüber.

»Aaaach, was hast du nur wieder gemacht, Junge«, brummte der Mönch und schob den feuchten Lappen unsanft über die wunde Haut, sodass Yuri zusammenzuckte.

»Was ich immer mache«, biss er. »Solltest du wissen.«

»Du kannst dich nicht immer auf den Seraphim verlassen.«

»Sag du mir nicht, was ich kann und was nicht.« Yuri versuchte, den Mantel über die nackte Schulter zu ziehen, doch der Fetzen löste sich lautlos aus dem Knäuel auf seinem Schoß. Resigniert ließ er ihn fallen. »Ach, Kacke.«

Roger griff wieder nach seinem Arm. »Was macht dich so wütend?«

»Ich brauche diesen Mantel noch!«

»Um Alice darin zu bestatten?«

»Roger …«

»Glaubst du denn, du müsstest das noch einmal tun?«

»Sonst hätte ich ihn wohl nicht mehr.«

Yuri merkte, dass die Anderen an ihm vorbei sahen, als lauschten sie aufmerksam auf das Tropfen des Wassers in den Wänden.

»Ich näh ihn dir«, versprach Roger, »mit meiner selbstgebauten Nähmaschine.« Und dann ließ er Yuri los, zupfte ihm das Kleidungsknäuel aus den verkrampften Armen und watschelte damit ins Zimmer nebenan.
 

Endlich wandten Jin und Dante sich ihm wieder zu, und Yuri spürte ihre Blicke wie eine Last auf sich ruhen. Es fühlte sich an, als wäre er ganz nackt, nicht nur halb.

»Warum hast du uns nicht einfach gesagt, dass du der Gottesschlächter bist?«, wollte Dante berechtigterweise von ihm wissen. Während der Jäger einfach nur argwöhnisch aussah, wirkte Jin, der nichts ergänzte, hinter seiner starren Miene irgendwie verletzt. Beinahe tat es Yuri leid, nicht einmal ihn in sein kleines Geheimnis eingeweiht zu haben. Doch er wischte den Vorwurf beiseite und antwortete nur auf Dantes simple Frage: »Ich fand’s so ulkig, wie du mich die ganze Zeit unterschätzt hast. Dachte, ich spiel das noch ’ne Weile mit.«

»Du bist wirklich ein Idiot.«

»Na, du schaltest deinen Grips aber auch nur zum Pizza Bestellen an.« Er wollte sich nicht rechtfertigen, schon gar nicht vor Dante. Vor Jin vielleicht … aber nicht jetzt.

»Also bist du diese Legende, die hier noch spukt. Das warst du, den das Monster von Clarach jahrzehntelang beschützt hat – du, ohne Seele, ohne Erinnerungen und völlig wehrlos. Die Leute sollten bloß nicht rausfinden, dass ihr Held, der Gottesschlächter, zurückgekommen war und nicht mal mehr seinen Namen wusste.«

Yuri wich Dantes hartem Blick aus. So war es, das war ihm sofort bei ihrer Ankunft bei Roger klar geworden. Nach dem Sieg über Kato hatte sich Rogers ganzes Leben nur noch um Yuri gedreht.

Was habe ich ihm nur angetan …

»Yuri?«

Jins ruhige, dunkle Stimme ließ ihn den Kopf heben. »Was?«

»Wie sah er aus?«

»Wer?«

»Der Gott.« Jin musste nicht weiter ausführen, was er meinte.

Yuri blinzelte, als er versuchte, die Erinnerungen an diesen verworrenen, wahnsinnigen Kampf, der ihm jetzt wie ein ferner Alptraum erschien, wieder heraufzubeschwören. Was sollte er sagen? Tentakeln, Schlünde, Augen, und von allem zu viel? »Ich … kann’s nicht beschreiben«, antwortete er ausweichend. »Es war das seltsamste Geschöpf, das ich je gesehen hab.« Nein, er war nicht redegewandt genug, um in Worte zu kleiden, wie dieses Wesen nach der Beschwörung des R’lyeh-Textes von den Sternen heruntergestiegen war, grotesk und schauerlich wie nichts, das er je gesehen hatte, ersonnen in der fiebrigen Traumwelt eines Geistesgestörten. Seine Laute – sein fremdartiges Geheule, das aus verschiedenen Sphären zugleich hervorzuquellen schien – hätten ausgereicht, jedem normalen Menschen den Verstand zu rauben; und hätte Yuri nicht bereits ein Großteil ebendieses Verstandes eingebüßt, wer konnte sagen, ob er die Begegnung mit dieser astralen Perversität in geistiger Ganzheit überstanden hätte …?

»Yuri?«

»Äh … Stellt euch einfach vor, ihr seht in einen ganz tiefen, dunklen Brunnen, und da unten schwimmt irgendwas, was ihr nicht genau sehen könnt, und eure Phantasie erfindet alles Mögliche, was an diesem Ding dran sein könnte, und jeder kleine Wirbel im Wasser ist irgendein Teil davon.«

Nach dieser sehr inadäquaten Beschreibung fragte Jin dankenswerterweise etwas Anderes. »Und was war das, was wir gesehen haben?«, fragte er stattdessen.

»Oh, das war der Seraphische Glanz. Dehuai hat ihn erweckt mit der Umgekehrten Dämonentor-Anrufung. Er hat Shanghai bis auf die Grundmauern niedergebrannt.« Yuri merkte, dass ihm kalt wurde. Die Schrammen auf seiner nackten Haut juckten jetzt unter dem trocknenden Schweiß. »Lange vor mir hat mein Vater gegen ihn gekämpft und das gleiche versucht wie ich, nämlich ihn zur Fusion zu zwingen, um ihn zu kontrollieren. Hat genauso wenig funktioniert.«

»Und darum musste dein Vater von seinem besten Freund getötet werden«, schloss Jin, und Yuri hörte in seiner Stimme jene Bitterkeit, die er auch in sich selbst fand. Also hatte Roger den Beiden schon gesteckt, was aus Oberst Hyuga geworden war.

»Ja, richtig«, bestätigte Yuri und sah Jin direkt in die schwarzen Augen. »Denn Harmonixer verlieren mit jeder Fusion ein Stück geistige Gesundheit.«

»Und fallen irgendwann unweigerlich dem Wahnsinn anheim.«

»Ja.« Der Geist eines Menschen konnte eben nur eine begrenzte Menge an Grauen aushalten. »Und mit dem Seraphim ist mir haargenau das gleiche passiert wie meinem Vater. Nur hatte ich Alice, die mich von da unten zurückgeholt hat. Wäre sie nicht gewesen …« Es war nicht nötig, den Satz zu beenden. Sie wussten es doch längst.

Jin stand auf und durchquerte das Zimmer rastlos, ohne klares Ziel. Dante, der sich, an die Wand gelehnt, in Schweigen hüllte, folgte ihm mit dem Blick.

»Uns blüht doch dasselbe«, knurrte Jin, blieb stehen und starrte zu Boden. »Uns allen. Seht uns an! Wir sind Monster! Was haben wir je für die Welt getan?«

»Ich hab sie gerettet.« Yuri fand das Selbstmitleid unerträglich. Langsam reichte es mal. »Zweimal. Und der Typ auch.« Er nickte zu Dante. »Was hast du für die Welt getan?«

Jin schwieg grimmig und sah ihn nicht an.

»Schon klar, wenn du Devil beherrschen könntest, wärst du ein Superheld, richtig?« Wieder keine Antwort, aber Yuri erwartete auch keine. Milder fügte er hinzu: »Mit einem Teufel, der dauernd Amok läuft, kann man eben nicht arbeiten. Keine Sorge, wir schließen dich nicht aus unserem Kreis aus, nur weil du noch kein Weltretter bist.«

Von Dante kam ein leises Lachen.

»Ich mein’s ernst, Jin, ich hab dir das schon mal gesagt. Du wirst ihn irgendwann wieder kontrollieren … oder loswerden, oder was auch immer dir lieber ist. Du bist einer von den Guten. Es wird nicht damit enden, dass irgendein Dämonenjäger kommt und dich vom Himmel pustet.« Zumindest glaubte Yuri, dass Dante dies noch nicht auf seiner To-Do-Liste vermerkt hatte.

»Aber vielleicht soll genau das passieren«, erwiderte Jin, emotionslos wie immer. »Sarris hatte Recht. Dass wir Drei uns begegnet sind, ist kein Zufall. Es ist Karma.«

Yuri lachte spöttisch. »Stimmt, hatte ich ganz vergessen. Wir Dämoooonenherzen.«

»Ich hab ihn noch nie so viel Pathos kotzen hören. Der Typ legt nach«, war Dantes Beitrag dazu.

Yuri zuckte die Achseln. »Er ist besessen von seinem Plan, so was hab ich schon oft gesehen. Wir sind nun mal diejenigen, die ihn stoppen müssen. Erst mal haben wir ihn jetzt festgesetzt, das ist ein Anfang.«

»Mir gefällt trotzdem nicht, was er gesagt hat«, murmelte Jin.

»Und wieso hörst du dir das überhaupt an? Gerade dich hat er doch oft genug gepiesackt!«

Sie verstummten, als Roger aus dem Zimmer nebenan wieder bei Ihnen auftauchte. Er trug Yuris Shirt auf dem Arm. »Dein Mantel ist in Arbeit«, informierte er den Besitzer.

»Ach … Und womit nähst du den?«

»Mit Zwirn natürlich, eh, was Anderes hält nicht.«

»Und womit hast du das genäht?« Yuri nahm das noch etwas schweißfeuchte Kleidungsstück entgegen und betrachtete es verwundert; die Nähte waren fast nicht zu sehen.

»Mit einem Haar«, erklärte Roger.

»Was? Haar? Woher?«

»Sage ich dir besser nicht.« Roger kratzte sich den Nacken. »Nun, ich habe mir auch diese Peitsche angesehen … Eine schreckliche Waffe! Damit hätte man die Ketzer geißeln sollen, als … Nun, was soll’s. Die Runen darauf sind mächtig, sie gehören zu den ältesten, die noch bekannt sind. Und es sind auch Zeichen darauf, die sich auf der Tafel von Dschaizan finden.« Bedeutsam wedelte er mit seiner kleinen, altersschwachen Hand. »Das war kein Dummkopf, der die Waffe so präpariert hat.«

Dante nickte zustimmend, doch er sah dabei ganz woanders hin.

»Ich kann sie zerstören, wenn ihr das wollt. Ihre Macht brechen.«

Yuri sah weiter Dante an. Dies war seine Entscheidung, er war Sarris’ alter Bekannter.

Dante überlegte nicht lange. »Du meinst also, du kriegst sie so kaputt, dass sie keinen von uns mehr in den Finger beißt und Sarris sie auch nicht wieder reparieren kann.«

»Ich kriege sie kaputter, als du sie kriegen würdest«, bestätigte Roger.

»Dann mach es.«

Roger neigte den Kopf. »Ich werde mich gleich nachher darum kümmern.« Er räusperte sich gründlich, und Yuri wusste, dass er noch mehr zu sagen hatte. Sein alter Freund faltete die Hände auf dem Rücken und sah die Versammelten der Reihe nach an. »Hört mal zu, ihr Drei. Etwas solltet ihr euch bewusst machen. Ihr glaubt – und auch Aidan Sarris glaubt –, eure größte Gemeinsamkeit sei, dass ihre alle Drei Ungeheuer bekämpft und dabei dämonische Kräfte nutzt, die ihr von euren Vätern geerbt habt. Das ist, was ihr seht.« Seine spärlichen Augenbrauen hoben sich bedeutungsvoll. »Aber was ich sehe … sind drei depressive, tief traumatisierte Männer, die noch viel mehr als das Böse auf der Welt das Böse in sich selbst bekämpfen, weil sie wissen, dass es alles zerstören kann, was sie lieben. Das ist, was ihr teilt, verstanden? Nicht eure Kräfte, sondern euer Los. Das Schicksal, diese Welt zu beschützen und dafür zu bluten.«

Yuri fühlte sich merkwürdig leer. Das Rauschen des Flusses hinter der Wand schwoll in seinen Ohren auf und ab, übertönte das Atmen der Anderen, die ratlos und unzufrieden auf die feuchten Höhlenwände starrten. Was sollten sie jetzt tun? Sie hatten ihren Gegenspieler gefangen und eingesperrt. Yuri kannte die Ruinen gut und wusste, dass nur das Tor wieder nach oben führte – andernfalls hätte Sarris mit dem Eindringen nicht warten müssen, bis Roger sozusagen außer Haus gewesen war. Nein, er kam hier nicht weg. Aber was sollten sie nun mit ihm anfangen? Sarris hatte bereits gezeigt, dass er Wege kannte, um alles an sich zu bringen, was er für die Rituale brauchte, ganz egal wie oft sie ihm die Schriften wieder wegnehmen würden.

Nach einer Weile stellte Yuri schließlich fest: »Mann, ich brauch was zu trinken.«

»Tee?«, fragte Roger ohne große Hoffnung.

»Nein, was Richtiges.« Yuri zog das Shirt über den Kopf. Die seltsamen Nähte hielten. »Los, lasst uns zu Rhys gehen und uns einen auf die Lampe gießen.« Aus dem Augenwinkel sah er Dante zustimmend nicken, aber Jin schaute ihn düster an, also präzisierte er: »Betrinken, Jin. Saufen

Jin sah zurück, unbewegt wie immer. »Wird das irgendwelche Probleme lösen?«

»Nö. Das wird mich aber nicht aufhalten.«

»Von mir aus.«

Yuri hob die Brauen und suchte nach einer Spur von Sarkasmus in Jins Ton. »Echt?«

»Wenn ihr meint, dass Ablenkung uns gut tut, dann tun wir das. Aber vorher …« Sein Blick wanderte zu Dante, dann zu Roger. »… nehmen wir uns das Henochbuch vor.«

»Oh, gut«, stimmte Dante überraschend schnell zu. »Macht ihr das. Hier, mein Zimmerschlüssel.« Schon warf er das klirrende Ensemble aus Schlüsselring und Anhänger nach Yuri, der alle Reflexe aktivieren musste, um es im Flug zu fangen. »Ich erledige inzwischen noch was Anderes. Wir reden nachher drüber.«

»Äh, wie? Und was? Pizza?«

»So ähnlich. Bis dann.«

Yuri schaute einigermaßen verblüfft zu, wie Dante einen seiner typischen Abgänge machte und zum Ausgang der Höhle spazierte.

Jin sagte nichts, nur Roger zuckte schließlich die knochigen Schultern und sagte: »Auch gut, dann wollen wir uns das Buch mal anschauen. Wer von euch holt es mir?«

Akt XI - Gottesschlächter: 15-2

15-2: DANTE
 

Sarris saß auf der Erde, an einen der rußschwarzen Pfeiler des Torbogens gelehnt, als Dante den unangenehmen Weg zum Eingang der Ruinen zum zweiten Mal hinter sich gebracht hatte.

»Gut, du bist noch da.«

»Hast du etwas Anderes erwartet, Dante? Wohin sollte ich gehen?«

»Du hast keine Angst hier unten, oder?«

»Du ahnst nicht, mit was für Schrecken ich auf meiner Suche schon in Berührung gekommen bin. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Glaub nicht, ich hätte nicht alles darüber gelesen, was die Émigré-Schrift tun kann und schon getan hat.« Er sah ziemlich erledigt aus, bei näherer Betrachtung. Sein schütteres Haar klebte matt und wirr an der Haut, seine Lider waren noch schwerer, die Augen dunkle Spalten. Die Hände hielt er im Schoß gefaltet, als hätte man ihn beim Beten überrascht. Eher unwahrscheinlich.

Dante durchschritt das finstere Tor und setzte sich neben ihn – in gerade genug Abstand, dass ihre Ellenbogen sich nicht berührten. Dann zog er die braune Papiertüte unter dem Arm hervor, sehr vorsichtig, um dem Inhalt ja keine Gewalt anzutun.

»Was ist das?«, fragte Sarris sofort misstrauisch.

»Apple Pie.« Dante nahm die beiden liebevoll eingewickelten Kuchenstücke behutsam heraus, eins nach dem anderen. »Da ist ein Café an der Promenade, New York Style, das Honeycup. Hier, eins für dich. Keine Kuchengabeln, sorry.«

Sarris nahm sein Stück mit mildem Erstaunen entgegen und zog das Papier beiseite. Das Café hatte Apple Pie als seine Spezialität ausgegeben; jedes Stück war mit Zuckerguss bestrichen und mit Nussstückchen dekoriert. Dante wartete nicht, bis Sarris mit Starren fertig war, sondern brach eine Ecke von seinem Stück ab und steckte es in den Mund. Es war, wie erwartet, sehr süß und schmeckte nach mehr.

»Und … warum?«, fragte Sarris endlich.

»Als kleine Entschädigung dafür, dass wir dich hier unten eingelocht haben.«

»Das ist doch kaum eine Stunde her.«

»Süßes hebt die Stimmung, heißt es. Und Eis haben sie im Februar nicht.« Nächster Bissen. Die kleine Leckerei verschwand viel zu schnell, aber egal. Sie war nur ein Lockerungsmittel.

Vielleicht wäre Whisky genauso gut gewesen.

»Ich verstehe«, sagte Sarris. »Du willst also Antworten.«

»Nach all den Jahren, die wir uns kennen, verdiene ich die irgendwie, finde ich.«

Sein alter Bekannter zuckte die Schultern. »Sag, was du wissen willst.«

»Wie bist du in mein Zimmer gekommen? Als Einstieg zum Warmwerden.«

»Das war nicht schwierig. Der Bruder eines Freundes ist Nachtportier im Seaside

»Was für ein Zufall. Also hast du auch dafür gesorgt, dass wir ausgerechnet da landen.«

»Oh nein, nein.« Sarris leckte sich die Finger ab. »Das war reines Glück. Es stimmt, dass in Aberystwyth gerade eine kulturwissenschaftliche Tagung stattfindet und die Unterkünfte knapp sind. Wenn ihr woanders abgewiesen worden seid, dann vielleicht, weil ihr zu sehr wie Verbrecher ausseht.«

»Ich finde nicht, dass ich wie ein Verbrecher aussehe«, sagte Dante und kaute genussvoll das letzte Stück seines Kuchens.

»Ihr seht nicht einzeln wie Verbrecher aus, aber zusammen. Ihr seht … seltsam aus, so zu dritt. Touristen der verdächtigen Art.«

»Ich frage besser nicht, was genau das heißen soll. Nächste Frage.« Dante knüllte das zuckrige Papier zu einer Kugel zusammen und schubste es ins Dunkel. »Wie kommt es, dass du überall Freunde hast?«

Wieder lachte Sarris. »Das fragst du dich bestimmt schon länger.«

»Skull & Bones

»Oh Herr, dafür bin ich zu alt.«

»Was dann?«

»Sapientes Gladio

Dante ließ diesen Namen kurz nachhallen. Die Weisen des Schwertes? Sarris’ anschließendes Schweigen ließ darauf schließen, dass er vermutete, Dante hätte diese Worte schon einmal gehört. »Sagt mir leider gar nichts.«

»Interessant. Dann hat der Gottesschlächter euch nichts davon erzählt.«

»Wovon? Was macht die Truppe?« Verdammt, Yuri hatte also noch immer nicht alles ausgepackt. Dante würde sich beherrschen müssen, ihn nicht am Kragen zu packen und durchzuschütteln, wenn sie sich wiedersahen.

»Sapientes Gladio waren ursprünglich eine gewöhnliche Geheimgesellschaft, wie es Mitte des neunzehnten Jahrhunderts viele gab«, antwortete Sarris bereitwillig. »Sie versuchten, das verbotene Wissen der Welt zusammenzutragen. Auch Alchimie, Geisterkunde, Dämonologie. Schwarzmagie.«

»Verstehe. Ganz dein Ding.«

»Für mich war es ein Zusammentreffen mit Gleichgesinnten. Sie weihten mich nach und nach in all ihr Wissen ein, während ich kleine … Lernaufgaben erledigte.«

»Zum Beispiel?«

»Spionageaufträge hier, kleine Hexereien da.«

»Und ich hab mich immer gewundert, wieso du mehr Kundschaft hast als ich. Wahrscheinlich hast du manches von dem verursacht, was ich später wegräumen musste.«

»Gelegentlich«, antwortete Sarris mit offenem Lächeln.

»Und was haben die Typen mit Yuri zu tun?«

»Er hat Sapientes Gladio 1915 zerschlagen. Sie wurden damals von Rasputin geführt. Du weißt schon – dem Rasputin.«

Dante starrte auf die Stelle im Dunkeln, in die das Kuchenpapier gerollt war. Diese Geschichte wurde immer abstruser. »Und warum hat Yuri das gemacht? Einfach, weil der Typ böse war?« Das war ganz sicher nicht alles. Yuri scheute nicht davor zurück, Schurken in den Arsch zu treten, aber er war nicht selbstlos genug, sich zum Beschützer der Romanovs oder wessen auch immer aufzuschwingen.

»Unsinn«, sagte Sarris ernst. »Rache. Sie haben ihn verflucht.« Anders als Dante legte er sein klebriges Papier gefaltet neben sich. »Mit der Heiligen Mistel. Es war nur einer von vielen selbstauferlegten Aufträgen des Bundes, den Dämon vom Domremy zu vernichten. Es hat funktioniert. Aber er hatte noch genug Zeit, zurückzuschlagen.«

Das hatte Yuri zweifellos getan. Mit aller Brutalität.

»Sie haben auch seinen Freund Roger Bacon entführt, um ihn zu ködern. Das waren keine netten Leute, damals, nachdem Rasputin die Begründer besiegt und aus der Gesellschaft verbannt hatte, um diese für seine dunklen Zwecke zu nutzen. Die Herrschaft über Europa … Wovon träumen solche Männer eigentlich nachts?«

Will ich nicht wissen, dachte Dante. »Womit hat Yuri es geschafft, die sauer zu machen? Warum ihn ausschalten?«

»Weil er der Gottesschlächter war. Er hat denjenigen erledigt, den sie eigentlich verfluchen wollten, also war es eine Art … Strafe. Sie haben ihn jahrelang gesucht, nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, bis sie ihn in einem Dorf in Frankreich fanden, das er mit seinen Dämonenkräften vor der feindlichen Übernahme bewahrte.«

»Ziemlich hartnäckig. Muss sich jeder mit Dämonenkräften vor euch fürchten?«

»Nein, Dante. Was in den Siebziger Jahren aus der Asche von Sapientes Gladio wiederauferstanden ist – die Gesellschaft, der ich mich angeschlossen habe –, ist friedlich. Wir streben nicht nach der Weltherrschaft. Wir sammeln nur Wissen.«

»So? Du gehst aber nicht gerade verantwortungsvoll mit diesem Wissen um.«

»Ich weiß. Seit Selenas Tod haben sich Dinge geändert. Vorher war ich ein Anderer, ich … du weißt ja, wie ich war.«

Dante horchte auf. Der resignierte, fast reumütige Tonfall war in Sarris’ Stimme zurückgekehrt. Natürlich erinnerte er sich an den ernsten, vorsichtigen und rechtschaffenen Mann, dem er vor acht Jahren in der kleinen Kirche in Hallow Hills zum ersten Mal begegnet war. Kannte sich sehr gut aus mit Teufeln. Setzte keine Gewalt gegen sie ein, sondern stellte Fallen, studierte sie in ihrem Umfeld. Dante hatte dafür keine Geduld – und auch kein Verständnis. Er wollte sie nicht näher kennen, diese grausamen, emotionslosen Geschöpfe, die er von Geburt an über sein Leben bestimmen ließ. Hör auf, sie zu beobachten. Die Brut hat dir nichts zu sagen. – Weißt du das genau? – Wie nur irgendwas. Dämonen waren keine Menschen, keine Tiere, keine friedlichen Erdenbewohner, erst recht keine mit Moral. Sie konnten nur Leid zufügen, sonst nichts. Leg dir eine Waffe zu, hatte Dante Sarris geraten. Und mal deine Runen drauf, vielleicht hilft’s. – Ist schon in Arbeit. Ich kenne einen Spezialisten, der fertigt sie für mich. Tja, nun war klar, woher er diesen Spezialisten von damals kannte. Ich bin kein Typ für Schusswaffen oder Schwerter, weißt du. Steht mir auch nicht. Da musste Dante zustimmen. Was dann? Ein Streitkolben, eine Armbrust wie in Vampirfilmen, oder was? Eigentlich eine ganz nette Vorstellung. Eine Peitsche. Dante hatte aufgelacht. Wie Indiana Jones? – Nein, wie die Geißel Gottes. Ah. Schon klar. Kannst du damit umgehen? – Ich lerne es schon noch. Dante hatte nicht gezögert. Ich kann’s dir beibringen. Gibt keine Waffe, die ich nicht führen kann. Liegt mir im Blut. Zeig sie mir mal, wenn sie fertig ist, dann hol ich dir alles raus, was drin ist.

»Ich habe mich an alle Regeln gehalten«, sagte Sarris bitter, »und mir sogar meine eigenen geschaffen, so wie du. Meinen Moralkodex. Als Selena starb, habe ich alle Regeln aufgegeben. Wozu sind sie noch gut? Es gibt nur noch eins, das ich tun muss, und du weißt, was das ist.«

»Kannst du wirklich nicht ohne sie leben? Nie?«

»Nein, Dante.«

Wasser tropfte stetig in der Finsternis. Geometrische Formen schwebten leuchtend auf und ab.

»Wissen Sapientes Gladio, was du hier machst?«

»Nicht wirklich. Ich habe zwar alles Wissen, das ich brauche, von anderen Mitgliedern, aber noch werden sie das Puzzle nicht zusammengesetzt haben. Trotzdem ist es nur eine Frage der Zeit.«

»Und was machen sie dann mit dir?« Dante stellte sich ein dunkles Tribunal vor, in einer Grotte wie dieser hier, mit schwarz verhüllten Gestalten, die im Halbkreis um ein ehrwürdiges Richterpult herumstanden und Rechtsverse auf Latein herunterbeteten.

Sarris zuckte die Schultern. »Mich aus ihren Reihen verbannen, schätze ich. Aber was soll’s. Ich habe mir schon alles von ihnen genommen, was ich brauche. Wenn ich erst Selena wiederhabe –«

»Das Ritual wird nicht funktionieren, das weißt du«, unterbrach Dante ihn ohne Schärfe. Dieser Mann war einst so was wie ein Freund gewesen. »Yuri und Roger Bacon haben es versucht und sind gescheitert.«

»Sie hatten Azazel nicht.«

»Azazel verspeist dich mitsamt deiner lächerlichen Peitsche.«

»Nicht, wenn Jin ihn tötet.«

»Jin wird sich niemals zu deinem Werkzeug machen lassen. Er hat längst geschnallt, was für ihn dabei rauskommt.«

Sarris schüttelte den Kopf. »Unterschätze seine Verzweiflung nicht, Dante. Du hast meine unterschätzt – mach nicht denselben Fehler noch mal. Jin hat nur ein Interesse, und das ist, den Teufel in ihm zu töten. Azazel ist sehr wahrscheinlich der Schlüssel dazu. Jin weiß das. Und er ist nicht der moralische Leuchtturm, für den du ihn hältst. Hast du je von den Mishimas gehört? Sie sind eine uralte Blutlinie von Kriegern, heute Großmogule der Rüstungsindustrie. Sie sind verdorben – gierig, machthungrig, grausam und skrupellos.«

»Ja, Jin hatte über seinen Vater und Großvater einiges zu sagen.«

»Er hasst sie, aber er ist ihr Erbe. Kazama hin oder her, er kann genauso dreckig kämpfen wie sie. Er wird alles tun, um den Dämon loszuwerden, und wenn er dafür Unschuldige opfern muss, dann tut er auch das. Glaub mir, Dante. Ich würde ihm nur helfen. Ihm und Selena.«

»Du würdest vor allem dir helfen.« Dante stand auf und schüttelte etwas schimmernden Staub vom Revers seines Mantels. Irgendwie war der Apfelkuchen zu zuckrig gewesen und fühlte sich jetzt unangenehm im Magen an. Dass Sarris schlecht über Jin sprach, ging Dante gegen den Strich, obwohl er nicht wusste, warum eigentlich. Er selbst fand Jin auch nicht über die Maßen sympathisch – zu kalt und zu versteift –, aber er war doch kein Schurke, oder? Jin versuchte immer alles richtig zu machen. Er dachte nicht nur an sich.

Doch der Zweifel blieb.

Sarris schaute zu Dante auf, seine grauen Augen hart wie die Felsen, die hinter Clarach ins Meer ragten. »Danke für den Apple Pie, nette Geste von dir. Ich mochte immer dein faires Verhalten. So wollte ich auch sein. Aber manchmal muss man Altes zurücklassen und neue Ziele suchen. Du musstest das auch.«

Dante lehnte sich gegen den Pfeiler. »Irrtum, alter Freund. Ich mache immer noch das, was ich immer gemacht habe.«

»Willst du mir erzählen, dass du nicht depressiv geworden bist, nachdem du Mundus besiegt hattest? Den Mörder deiner Mutter?«

Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst, lag es Dante auf der Zunge. Er sagte es nicht laut, starrte nur auf Sarris hinunter, der den Blick nicht abwandte.

»Du hattest kein Ziel mehr im Leben, nichts, das du verfolgen konntest, nicht wahr? Leere, die dir den Lebenswillen geraubt hat. Das war offensichtlich. Deine Freunde sind nicht blind. Alleine nachts mit Whisky auf der Couch zu sitzen war nicht mal für dich normal. Tut mir leid, wenn ich das wieder raufhole, ich werde dich nicht drängen, es zuzugeben.«

»Glaub ruhig, was du willst«, entgegnete Dante ablehnend. »Wir sind nicht hier, um über mich zu reden.« Er hatte endlos viel Zeit auf seiner Couch verbracht – das war wohl der Grund dafür, dass sie heute nicht mehr besonders bequem war. Stundenlang auf die Wand gestarrt. Er kannte jede Maserung der Holztäfelung hinter dem Schreibtisch. Den Ventilator beobachtet, wie er völlig sinnlos seine Runden drehte. Hatte seine Freunde vernachlässigt, seine Aufträge schleifen lassen, sich um nichts mehr gekümmert. Wozu? Welchen Unterschied machte es, ob er vor die Tür ging und einem weiteren Teufel den Kopf abschlug oder auf seinem Sofa lag und sich fragte, wovon er die Stromrechnung bezahlen sollte?

»Und wie geht es dir jetzt?«, fragte Sarris unvermittelt.

»Hm?«

»Das hätte ich dich damals fragen sollen.«

»Oh, bitte.« Dante schüttelte den Kopf und stieß sich von dem Pfeiler ab. »Lassen wir das. Ich nehme an, dein Wissen über das alles hier –« Er machte eine Geste von einer Seite der Höhle zur anderen. »– hast du auch von diesem Geheimbund.«

»Exakt.«

»Gut, dann kann ich mir Yuri nachher vornehmen und ihm aufs Brot schmieren, wem wir den ganzen Mist zu verdanken haben.«

»Vorsichtig«, sagte Sarris sanft. »Sapientes Gladio sind sehr, sehr wehrhaft, das kannst du dir sicher denken.«

»Also kann ich von Glück reden, dass ich nicht auf eurer Abschussliste stehe?«

Sarris stand auf, etwas ungelenk, und rieb sich die Hosenbeine ab. »Ich glaube, du wärst genauso schwer zu töten wie der Gottesschlächter. Und da die Heilige Mistel als verschollen gilt, hätten wir nichts, um dir auch nur einen Kratzer beibringen zu können. Du brauchst kein Glück, Dante. Das hast du nie gebraucht.« Unerwartet spürte Dante Sarris’ tätschelnde Hand am Oberarm, die sich nach dieser freundschaftlichen Berührung sofort zurückzog. »Danke. Das meine ich ernst.«

Dante konnte und wollte sich für nichts bedanken. Mit einem schweren Atemzug setzte er sich in Bewegung. »Mach’s dir gemütlich.«

»Werde ich. Pass auf, dass ihr morgen früh im Seaside keine Nägel in eurem Porridge findet. Von hier unten kann ich euch nicht beschützen.« Sarris lachte.

»Also ist das doch eine Gangster-Absteige?«

»Oh ja. Ja.«

Dante bildete sich ein, das leise, traurige Lachen noch bis zur Falltür zu hören.
 

»Roger kümmert sich drum.«

»Oh, gut.«

Sie waren auf dem Weg zum Black Raven – endlich –, um Rhys auf den Sack zu gehen. Er hatte den Fehler gemacht, sie freundlich zu unterstützen; nun würde er das Gejammer über die verfahrene Situation in seiner Kneipe ertragen müssen.

Jin nickte. »Er kann Aramäisch lesen, aber es ist mühsam für ihn. Deine Kopie ist sehr eng gedruckt, also haben wir die vermutlich interessanten Seiten in einem Copyshop vergrößert.« Jin hatte sich ins Englische richtig eingelebt. Wörter wie ›interessant‹ gingen ihm glatt über die Zunge. Dante wusste, dass es ziemlich unfair von ihm gewesen war, Jins Sprachkenntnisse zu kritisieren; die meisten Japaner verstanden verdammt noch mal kein einziges Wort.

»Und im Copyshop hat sich niemand gewundert?« Dante drehte sich nach Yuri um, der ihnen hinterher trottete, weil die Straße zu schmal war, beide Hände in den Taschen seines leidlich genähten Mantels. In Ermangelung von weiterer Wechselwäsche trug er ein schwarzes Shirt von Jin – sie hatten die gleiche Größe, auch wenn Yuri weniger muskulös war – mit einem blassblauen Flammenmuster am unteren Saum, das unter dem Revers hervorlugte. Gut, dass Jin ihm kein Hemd gegeben hatte, fand Dante. Jins Hemden standen leider nur Jin.

Besagter sah auch jetzt geschniegelt aus wie immer. »Nein«, antwortete er, »warum? Das hier ist eine Universitätsstadt, hier beschäftigen sich Leute mit so etwas..«

»Vergesse ich immer. Ist so ein Nest hier.« In besserer Laune hätte Dante es eine charmante Kleinstadt genannt.

Sie bogen um die letzte Ecke, und das schwarze Schild mit dem goldenen Löwen kam in Sicht. Erneut fiel Dante der hellblaue Pickup auf, der an der Straßenseite vor sich hin rostete. Wofür Rhys den wohl brauchte, wenn er direkt neben der Brauerei wohnte? Er sah an dem Doppelstock-Haus hinauf – es war wirklich nicht gerade hübsch anzusehen –, und entdeckte, dass im oberen Stockwerk noch Licht hinter den Fenster brannte. Hoffentlich war Rhys überhaupt schon unten, um sie einzulassen. Sie waren ziemlich pünktlich.

»Was erhoffen wir uns noch mal hiervon?«, fragte Jin.

»Was Yuri sich erhofft, weiß ich nicht. Ich denke, wir sollten unbedingt runterkommen von diesem Misthaufen, auf den wir geklettert sind, und uns überlegen, wie es weitergeht. Sarris sitzt in den Ruinen fest, schön und gut. Hat Roger wirklich diese Tesla-Spule aufgetrieben? Wenn nicht: Wie feuern wir den Teleporter an? Indem wir eine Starkstromleitung anzapfen? Keine Ahnung.«

»Was passiert, wenn Yuris Uhr abläuft?«

Dante hob die Schultern. »Roger drückt sich nicht sehr klar aus, was das betrifft.«

»Glaubst du, dass er dann …« Jin furchte die Stirn. »… hier gefangen ist?«

»Kann sein.« Nicht, dass ihn diese Frage nicht auch schon beschäftigt hatte.

»Wer ist gefangen?«, fragte Yuri lahm von hinten. »Redet ihr über Sarris?«

»Nichts«, seufzte Jin, drückte die Tür der Kneipe auf und ließ die beiden Anderen vor ihm eintreten.

Der Schankraum war völlig leer. Frische dunkelrote Decken lagen auf den Tischen, auf ihnen Bierdeckel, die den roten Drachen zeigten. Nirgendwo ein einziger Fleck.

Rhys kam aus seinem Raum hinter dem Vorhang hervor. Er trug eine graue Weste und hatte eine andere Perle in seinen Bart geflochten. »Nanu? Es ist Punkt sechs, so pünktliche Kundschaft hatte ich noch nie. Prynhawn da, sucht euch was aus, ihr habt die Wahl.« Er wies auf die vielen freien Tische.

Gut, dass er nicht gefragt hatte, warum sie schon am Nachmittag mit dem Trinken anfangen wollten.

Sie setzten sich um einen der kleineren Tische, und dann starrten sie auf das Tischtuch.

»Cider?«, fragte Rhys anstellig.

»Keinen Apfelsaft«, stellte Dante klar.

»Oh. Es ist was Ernstes, oder?«

»Nein«, sagte Jin.

»Ja«, sagte Yuri.

»Verstehe. Was auch immer ihr gesucht habt, ihr habt es nicht gefunden. Jetzt seid ihr hier, um eure Probleme in billigem Whisky zu ertränken.« Er zwinkerte ihnen zu.

Dante lächelte schief. »In Whisky wird gar nichts ertränkt, schon gar nicht in billigem.«

»Wenn das so ist: Ich bin Wirt«, erklärte Rhys, als wäre das nicht hinlänglich bekannt. »Falls ich zuhören soll: Das kann ich gut. Ist Teil meines Berufs.«

Dante wusste, dass Yuri keine Probleme damit hatte, Rat zu suchen, dass aber Jin ihre gemeinsame Geschichte mit absolut niemandem teilen wollte. Für ihn war das Ganze zu persönlich.

Rhys drehte ein paar Flaschen in seinem Regal zurecht, sodass die Etiketten nach vorn zeigten, dann drückte er irgendwo einen Knopf, und aus den Lautsprechern in den Ecken begann Musik zu spielen. Altes Zeug von Johnny Cash.

Yuri hörte fasziniert zu – selbst diese Musik war neu und modern für ihn –, und Dante sagte: »Erinnere mich daran, dass ich dir mal richtige Rockmusik zeige, wenn wir wieder bei mir sind. Wirst du mögen.« Impliziert darin war, ganz bewusst, eine Art Angebot: Wenn das hier schiefging – wenn sie Yuri nicht in seine Zeit zurückschicken konnten –, dann war Dante bereit, ihm irgendwie auf die Füße zu helfen. Er hatte selbst erst kürzlich über diese Option nachgedacht. Mit Yuri ließ sich irgendwas anfangen, sollte er wirklich im Jahr 2008 gestrandet sein. Dante würde ihn nur so lange bei sich behalten wie nötig, aber er würde ihn in die Spur schicken. Das hatte der Kerl verdammt noch mal verdient, nach allem, was er durchgemacht hatte.

Yuris braunrote Augen blickten über Dantes Scheitel hinweg ins Nichts. »Wir werden nicht wieder bei dir sein«, sagte er, ein wenig abwesend. »Frag nicht, ich weiß es.« Er stützte das Kinn auf die Faust.

»Dante.« Jin richtete seinen gewohnt nichtssagenden Blick auf ihn. »Was hast du eigentlich gemacht, nachdem wir Sarris eingesperrt hatten?«

»Ich war im Café drüben«, antwortete Dante wahrheitsgemäß.

»Du warst bei ihm, als wir im Copyshop waren, oder?«

»Ja, danach.« Er hatte seine Erkenntnisse erst später teilen wollen, aber Jin musste ihn natürlich jetzt dazu drängen. Diesen misstrauischen schwarzen Augen entging kaum etwas. »Ich kenne ihn seit acht Jahren. Wir haben geplaudert.«

»Worüber?«

»Unter anderem über Yuri.« Dantes Blick wanderte zu dem Genannten, der beim Klang seines Namens aus der Trance auftauchte.

»Über mich?«

»Sapientes Gladio, klingelt da was?«

Yuri verzog das Gesicht. »Was ist mit denen?«

»Überraschung, es gibt sie wieder. Sarris ist Mitglied. Deshalb weiß er so viel, deshalb hatte er uns so viel voraus. Deshalb wusste er über den Gottesschlächter bescheid.«

Yuri lehnte sich zurück und streckte sich demonstrativ. »Na gut. Was soll’s.«

»Du kennst die Typen«, insistierte Dante. »Du weißt, was wir sonst noch von Sarris erwarten können, wenn wir ihn in die Ecke drängen. Welches Kaninchen er als nächstes aus dem Hut zieht.«

»Da gibt’s nichts aus dem Hut zu ziehen. Er kann nichts tun, solange wir ihn haben. Aber wenn wir wollen, dass er aufhört …« Und jetzt setzte er sich wieder gerade hin und legte die Hände auf den Tisch. »… müssen wir ihn wahrscheinlich töten.«

Über Jins Gesicht flackerte kurz ein Ausdruck von Bestürzung; für Dante jedoch kam die Feststellung nicht überraschend. »Ich bin kein großer Freund davon, Menschen zu töten«, erklärte er.

»Ich auch nicht.«

»Aber du hast es schon getan.«

»Ja. Genau wie du. Wenn ein Seelenpakt im Spiel war.«

An der Theke klirrte etwas leise. Rhys hatte Gläser auf ein Tablett gesetzt und stellte jetzt eine breite Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit dazu. Sie trug kein Etikett. Geübt balancierte er die Fracht an ihren Tisch und begann, sie abzuladen. »Ihr seid die interessantesten Kunden seit zwanzig Jahren, wisst ihr. Kaum jemand interessiert sich für Aberystwyths dunkle Geschichte, für das Kloster Nemeton oder für den Gottesschlächter. Ich teile jetzt diese verdammt alte Flasche mit euch, und dafür freue ich mich über Erkenntnisse eurer Nachforschungen. Auch wenn es nur kleine sind.« Dante sah, dass der Wirt sich selbst ein Glas mitgebracht hatte. Jetzt zog er sich einen Stuhl heran, was Yuri dazu bewegte, ihm Platz am Tisch zu machen.

»Wie kamst du zu deinem Ruf als Märchenonkel, Rhys?« Yuri war der Einzige, der diesen komischen R-Laut richtig produzieren konnte.

Rhys nahm die Flasche in Angriff, drehte an dem angelaufenen Metalldeckel herum. »Ach, das kam einfach. Ich hab Interesse daran, wie ihr.«

Dante lächelte milde in seine Richtung. Er kaufte das nicht mehr; nicht nach dem erleuchtenden Gespräch mit Sarris vorhin, bei dem er etwas serviert bekommen hatte, das er nie bestellt hatte. Ich hab viele Freunde hier. Nun, falls der Waliser plante, sie mit diesem überjährten Klaren dort etwas redseliger zu stimmen, so würde er damit auf Granit beißen.

Rhys gewann den Kampf mit dem Deckel und rieb sich die Hände an der khakifarbenen Hose ab. »So, dann sehen wir uns mal dieses Schätzchen an. Ein polnischer Wodka, ein Freund in Krakau hat ihn mir zum fünfzigsten geschenkt.«

»Und ausgerechnet wir dürfen ihn trinken?« Sogar Yuri stimmte diese Großzügigkeit misstrauisch.

»Eine gute Geschichte ist ihn wert«, erwiderte der Wirt fröhlich und begann, die Gläser zu befüllen.

Dante schaute zu, wie die wasserhelle Flüssigkeit in die Gefäße schwappte und ihren typisch stechenden Geruch ausströmte. Mit Wodka hatte er nicht viel am Hut, aber einer guten Herausforderung ging er nie aus dem Weg.

Jin schaute so unglücklich wie immer, wenn er mit Schnaps konfrontiert wurde. Irgendwie putzig. Wahrscheinlich sagte er sich, dass all die Opfer sich irgendwann auszahlen würden.

Yuri beäugte sein Glas wie den Heiligen Gral. »Als wir damals in Prag gestrandet sind, hab ich mich auch von einer der Einheimischen bequatschen lassen. Die hat mir schon vorher Angst gemacht, hatte einen Busen wie ein Eckschrank, soooo – und dann fragt sie mich, ob ich Wodka trinke, und ich Idiot sag auch noch Ja. Oh Mann, Wodka … mit eingelegten Gurken …« Er verzog das Gesicht, als bereute er die Erfahrung ernsthaft.

Rhys schob ihnen mit amüsiertem Ausdruck je eins der Gläser zu, doch unter diesem Vergnügen bemerkte Dante eine gewisse Wachsamkeit. Mit einer lässigen Geste bedankte er sich bei dem Wirt. »Na, dann eröffne ihn mal.«

»Iechyd da!«, sagte Rhys feierlich und leerte sein Glas, beinahe demonstrativ, als wollte er ihnen beweisen, dass der Wodka nicht vergiftet war. »Ah!«, meinte er. »Schön deftig!« Dann klingelte hinter seiner Theke das Telefon. Er hob entschuldigend die Hände. »Bedient euch selbst, ich bin gleich wieder bei euch.« Und er ließ die Flasche auf dem Tisch stehen und eilte zum Tresen.

Jin und Yuri sahen Dante an. »Wir sind ungestört«, stellte Yuri fest. »Also, gibt’s von dir auch eine Geschichte … ’ne Whisky-Geschichte?«

Dante lachte auf. Es gab die Whisky-Geschichte. »Chief Fordham und ich«, begann er, »waren uns von Anfang an nicht grün. Er macht keinen schlechten Job, aber mir traut er nur bis zum nächsten Türnagel. Ihr kennt mein Abkommen mit den Cops – das ich nicht mag, das mir aber eine Menge finanziellen Ärger erspart. Als Fordham mich zum ersten Mal angefordert hat, hatte ein Nest von Shadows die Party eines reichen Typen gecrasht. Er hat irgendwas aus dem Keller geholt, das da seit Urzeiten rumlag, die Viecher wurden aufgeschreckt, Party im Eimer. Wir standen also in diesem schicken, alten, völlig leeren Bierkeller. Fordham total verunsichert, gespannt wie eine Sprungfeder, bereit hochzugehen. Grunzt mich an, ich solle ihm jetzt zeigen, was ich für die Polizei wert bin. Ich hab ihn gefragt, was er gerne sehen möchte, ob er einen Wunsch hat, wie ich die Monster töten soll. Da ist er explodiert. Hat auf eine offene Flasche Scotch gezeigt und geblafft, wenn ich albern sein wollte, könnte ich ja mit der einen Hand kämpfen und in der anderen ein Glas Whisky halten.«

»Und du hast es gemacht«, stellte Yuri zufrieden fest. Er mochte anscheinend diese Art von Geschichten.

»Hab keinen Tropfen verschüttet. Wäre doch schade.«

»Was sind Shadows?«

»Die nerven. Man muss sie unter Dauerfeuer halten. Muss sie mit Blei durchsieben und ständig in Bewegung bleiben.« Er beendete die Erzählung, indem er Jin ansah. »Kazama, du bist dran.« Er und Yuri lachten beide, als Jin in milder Irritation seine buschigen Augenbrauen hob.

»Ich habe nichts zu erzählen.«

»Sicher?«

Jin schüttelte den Kopf.

»Trink schon«, ermunterte ihn Yuri, der sein Glas gerade geleert hatte. »Bevor er noch kalt wird.« Seelenruhig schenkte er sich nach.

»Meine Jugend ist uninteressant für euch«, wehrte Jin ab, als die Blicke weiterhin auf ihm ruhten. »Ihr wisst, dass meine Mutter mit mir auf Yakushima mitten im Wald lebte.«

Dante legte zwei Finger um das kalte Schnapsglas, überwand sich und trank den Inhalt in einem Zug aus. Er spürte, wie die scharfe Flüssigkeit durch seine Kehle strömte und eine brennende Spur bis in den Magen zog. Dann ein unaufdringlicher Geschmack nach … Mandeln? Jedenfalls nicht so schlecht wie erwartet. »Wo bist du zur Schule gegangen?«, fragte er Jin.

»In Kagoshima. Bis … Müssen wir darüber reden? … Später, als ich bei meinem Großvater wohnte, ging ich auf die von ihm gesponsorte Privatschule, die Mishima Polytechnical Highschool

»Schulen in Japan sollen grausam zu Kindern sein.«

»Diese ist es auch. Eine typische Reichenschule, nur Jugendliche aus vornehmen Familien.«

»Keine Freunde dort?«

»Dante«, sagte Jin beinahe säuerlich, »mein altes Leben war mir weggenommen worden. Meine Mutter fort, mein Zuhause zerstört. Ich hatte nichts außer dem Lernen. Also lernte ich. Ich war Einzelgänger, und Heihachi drillte mich im Karate-Stil der Mishimas. Den ich nicht mehr anwende«, fügte er mit Nachdruck hinzu. »Mich schinden war alles, was ich konnte. Für alles Andere war ich zu … leer. Ich hab nie viel gelesen, war nie kreativ. Ich wollte mich immer nur … fühlen, um mir klarzumachen, dass ich noch lebte.«

Dazu war Muskelkater allemal gut. Dante wusste das selbst; es war ihm fast etwas unangenehm, dass Jin so offen über sich gesprochen hatte. Jin schaute verkrampft in sein Wodka-Glas, dann nahm er es hoch und trank das Zeug. Nur ein leichtes, fast unsichtbares Schaudern begleitete den Moment danach. Kein Kommentar. Guter Junge.

»Im Kleiderschrank für den CEO der Zaibatsu«, fuhr Jin unvermittelt fort, unverhohlene Verbitterung in der Stimme, »gibt es eine Kaiserrüstung.« Sein Blick wurde noch finsterer. »Eine Kaiserrüstung

Dante grinste ihn an. »Und du hast sie nicht schon mal vor dem Spiegel anprobiert? Komm, gib’s zu.«

»Das ist nicht lustig«, presste Jin zwischen den Zähnen hervor. »Das ist … krank

»Bin voll deiner Meinung.« Yuri hatte sich gerade zum dritten Mal an der sich langsam leerenden Flasche bedient. Hoffentlich kannte er seine Grenzen.

»Was ist mit deiner Kindheit?«, fragte ihn Dante. »Da gibt’s doch bestimmt einiges zu erzählen.«

Yuri schnaubte. »Ich bin Waise, seit ich zehn bin. Wie stellst du dir chinesische Waisenhäuser in meiner Zeit vor? Dreckiges Wasser, schlechtes Essen und … ach, lassen wir das.« Auch er kippte sein Glas hinter, ohne eine Miene zu verziehen. Dann schaute er Dante herausfordernd an. »Lass mich raten, du warst wahrscheinlich schon als Krümel der Beschützer aller Schwachen, huh?«

Dante goss sich den zweiten Wodka über die Zunge und dachte nach. »Vielleicht. Wisst ihr, es gibt an jeder Schule den einen Burschen, der die Schwächeren drangsaliert, ihnen das Futtergeld klaut und ihre Schuhe aus dem Fenster schmeißt, solche Sachen. Wir hatten auch so einen. Ich hab ihm mal aus Versehen die Schulter gebrochen.« Um nicht selbstzufrieden auszusehen, nahm er schnell den nächsten Kurzen. Oh ja, das war die Zeit gewesen, in der er endlich wieder angefangen hatte, er selbst zu sein, nachdem der Rest seiner Familie verreckt oder verschwunden war.

»Wo bist du aufgewachsen?«, fragte Jin ihn ernsthaft. »Westküste, oder? Du sprichst wie die Leute von dort.«

Dante maskierte seinen Argwohn mit einem entspannten Lächeln. »Stimmt.«

»Warum lebst du jetzt woanders?«

»Brauchte damals ’nen Tapetenwechsel.« Mehr sagte er nicht. Sicher, er könnte jetzt erwähnen, dass ihn, nachdem er brav und undramatisch seinen Highschool-Abschluss gemacht hatte, sein Erbe eingeholt hatte. Einmal quer durch die Staaten. Geschäft angefangen. Ärger gleich am ersten Tag. Danke, Bruder. Laut sagte er: »Ich wollte nie Stress mit Menschen, ich wollte Stress mit Teufeln. Und als ich gerade mein schickes kleines Gewerbe eröffnen wollte, das ihr kennt, passierten ein paar unangenehme Dinge …« Ja. Diese unangenehmen Dinge waren Vergil. Vergil war passiert. Dante verstand Jins und Yuris Angst, selbst als Dämon zu enden, sehr gut – viel besser, als er je zugeben würde. Weil er gesehen hatte, was mit Vergil passiert war.

»Und deine Mutter …«, begann Jin.

»Oh, nein nein nein. Schlechtes Thema. Weißt du nicht, dass Trinken sentimental macht?«

Jin schloss den Mund. Dann goss er sich einen weiteren Wodka ein, kippte ihn und knirschte mit den Zähnen vor Abscheu. Tapferer Bursche. »Toshin schlug mich einfach nieder«, sagte er bitter, »und als ich aufwachte, war sie tot.«

»Na, sei doch froh. Ich saß in einem Schrank und konnte zugucken.« Dante schaute zu Yuri. »Und du?«

»Ich lag die ganze Nacht in ihrem Blut«, antwortete Yuri und schraubte eilig die Flasche auf.

»Wow, das kann ich nicht toppen. Cheers.«
 

Rhys kehrte zu ihnen zurück und bedachte den Füllstand der Flasche mit einem prüfenden Blick. »Da muss man sich ja beeilen, noch was abzukriegen.« Er schenkte sich nach. »Also, nun zu euch. Ich wollte nicht lauschen, aber ein bisschen von eurem Gespräch hab ich gehört.«

Lügner, dachte Dante und lächelte. Und ein schlechter noch dazu.

»Seid ihr alle Drei Dämonenjäger?« Rhys schaute sie der Reihe nach an. »Was sucht ihr hier in Aberystwyth? Das Monster von Clarach, war das die Wahrheit?«

»Nein«, sagte Jin mit eherner Miene. »Die Geschichte ist länger, aber wir können sie nicht vor dir ausbreiten. Versteh das bitte.«

»Oh, natürlich. Sicher.« Rhys hob entschuldigend die Hände. »Ihr wisst, ich bin nur daran interessiert, was an den alten Geschichten dieses Ortes dran ist. Habt ihr denn den früheren Standort des Klosters gefunden – oder ist das auch geheim?« Er lächelte vorsichtig.

»Wir haben alles gefunden«, bestätigte ihm Dante und fuhr fort, ihn herausfordernd anzulächeln. Allmählich entwickelte dieses Lächeln seine einschüchternde Wirkung, das konnte er an der Miene des Wirtes ablesen. »Alles, was wir finden wollten. Aber wenn wir mit dir darüber reden sollen, musst du den Anfang machen. Was hast du mit einem Mann namens Aidan Sarris zu tun?«
 

Die Stille wäre gut dazu geeignet gewesen, von außen unterbrochen zu werden, etwa durch einen eintretenden Gast, oder eine Bombe, die durchs Fenster fliegt. Doch nichts geschah. Draußen vor den Fenstern hatte es wieder zu regnen begonnen. Dante faszinierte der englische Regen: Er fiel so weich, so lautlos, dass es aussah, als siebe jemand Puderzucker über einen Kuchen. Dieser Regen platschte nicht, er rieselte. Federleicht schwebten die Tröpfchen dicht an dicht zu Boden. Nicht wie Fremdkörper. Nicht wie Eindringlinge. Sie waren einfach etwas, das zur Luft dazugehörte. Im Hintergrund sang Johnny Cash: »You can run ooon for a long time, run ooon for a long time …« Dante wandte sich vom Fenster ab und heftete seinen Blick wieder auf Rhys. »… Sooner ’r later, God’ll cut you down …«

Der Wirt hustete einmal kräftig, dann griff er wieder nach seinem Glas. »Okay, reden wir darüber. Ich bin nicht euer Feind. Diesen Part übernehmen schon Andere.«

»Du hast mir also nicht das Buch gestohlen, was?«

»Welches Buch?« Rhys blinzelte.

Dante musterte den bärtigen Mann mit den schiefergrauen Augen. »Eine Kopie des Buches von Henoch. Hat angeblich der Nachtportier sich geholt.« Tatsächlich war das Buch nicht gestohlen worden, sondern die hochwichtigen Dschaizan-Seiten; das Buch war vermutlich nur fotografiert worden, zweifellos die Stelle, die auch Roger als die entscheidende identifiziert hatte. Sarris kannte bereits den Inhalt über Azazel, kannte den Grund, warum er ihn nicht beschwören könnte. Wenn Rhys etwas mit dieser heimlichen Aktion zu tun hatte, würde er sich vielleicht verraten, wenn er über diese Ungereimtheit stolperte.

Der Wirt legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Sehe ich aus wie ein Nachtportier? Außerdem weiß ich nicht mal, wo ihr schlaft.« Er schenkte sich einen weiteren Kurzen ein. Rhys war ein mutiger Trinker, alle Achtung. »Und wozu hast du eine Kopie des Henochbuches? Meines Wissens hat das nichts mit dem Kloster oder dem Gottesschlächter zu tun.«

Dante beschloss, ihm diese Antwort schuldig zu bleiben. »Wir schlafen im Seaside«, sagte er stattdessen, und wie erwartet huschte über das wettergegerbte Gesicht ein amüsierter Ausdruck.

»Ach Gott, auch das noch. Wie seid ihr da gelandet?«

»Wissen wir nicht. Ideen?«

»Die waschen da Geld. Sicher werdet ihr in Cash bezahlen müssen.« Rhys gluckste. »Aber na gut. Die Zimmermädchen sind diskret, die werden euch in Ruhe lassen. Dass Gäste beklaut werden, ist mir komplett neu … Passt nicht zu denen. Die wollen keinen Ärger mit ihren oft, hm, schwierigen Kunden.«

Zu diesem Schluss war Dante ebenfalls gekommen, als er nach dem Gespräch mit Sarris erneut über diese überraschende Frechheit nachgedacht hatte. Ein Hotel, das Kriminellen Unterschlupf bot, legte sich wohl kaum mit diesen an. So wenig Dante auch darüber hinwegkam, selbst derjenige zu sein, in dessen Räume unverfroren eingedrungen worden war (so oft passierte das nicht) – er war wohl kaum der gefährlichste Gast, der je im Seaside aus- und eingegangen war. Da gab es Leute, deren Hand deutlich schneller am Griff der Waffe ankam, wenn es um ihre Privatsphäre ging.

Rhys versuchte indes nicht länger, sich aus der Affäre zu ziehen, sondern räumte ein: »Ich wusste, dass ihr kommen würdet. Aber mit dem Diebstahl deines Buches habe ich nichts zu tun, das müsst ihr mir glauben. Ich bin kein Freund von Aidan Sarris.«

»Aber du kennst ihn.« Dante strich mit zwei Fingern über sein Schnapsglas, dann nahm er es und trank es aus. Immerhin befand sich darin erst der vierte Wodka, und er wurde auch nicht leckerer dadurch, dass man ihn abstehen ließ.

Rhys nickte ergeben. »Zumindest weiß ich, wer er ist.« Schnell schob er hinterher: »Zwing mich bitte nicht, euch alles zu erklären. Wichtig ist erst mal, dass ich euch helfe.« Er schob sein Glas von sich. Schotten dicht. Drei hatte er mitgenommen – nicht übel. Er rieb sich über die gerötete Stirn und fuhr fort: »Wir suchen den Gottesschlächter, seit wir erfahren haben, dass er hierher zurückgekommen sein soll. Wir haben ihn nie gefunden, aber das Monster von Clarach muss eine Verbindung zu ihm haben.«

»Warum wollt ihr ihn denn unbedingt finden?«, fragte Yuri und überspielte seine Anspannung trotz steigendem Alkoholpegel ganz gut.

Rhys seufzte. »Das ist … kompliziert.«

»Du meinst, es ist geheim«, folgerte Dante, »und es heißt, dass ihr nichts Nettes mit ihm vorhabt.« Er konnte sehen, dass auch Yuri den Wirt jetzt ziemlich unwirsch ansah, und sogar Jin hatte seinen halb bemitleidenden, halb verächtlichen Blick aufgesetzt, den vermutlich nur Jin beherrschte. Die Beiden verabscheuten es noch mehr als Dante, wenn man sie anlog.

Rhys, der das offenbar bemerkte, schüttelte mehr als deutlich den Kopf, wobei eine lose weiße Strähne ihm ins Gesicht peitschte. »Nein, nein, nein. Mit dem Gottesschlächter haben wir gar nichts vor. Wir müssen ihn nur finden.« Er wischte sich über die Nase. Der Wodka wirkte immer besser. Wie nett: Anscheinend hatte Rhys sich wirklich selbst ins Bein gesägt bei dem Versuch, seine Gäste gesprächig zu stimmen. Schniefend räumte er ein: »Der Gottesschlächter hat etwas, das wir brauchen. Er muss es haben, weil es sonst keiner hat.«

Völlig unpassend kam Dante der Gedanke, dass Gottesschlächter ein toller Bandname wäre. Yuri könnte eine Death-Metal-Band so nennen, eine von denen, an deren unleserlichem Schriftzug man schon erkannte, welche Art von Musik sie machte.

»Und was wäre das?«, fragte er, unerfreut darüber, dem Wirt alles aus der Nase ziehen zu müssen.

Unvermittelt fing Rhys plötzlich an zu kichern. Er sah Dante an und zwinkerte ihm zu, als hätten sie eine gemeinsame Abmachung. »Ich glaube, das wisst ihr schon«, gluckste er. »Ihr wollt mir nur nicht sagen, was ihr gefunden habt.« Seine Penetranz nervte langsam. Gut, das musste man ihm lassen: Noch war er nicht geschlagen.

»Jetzt hör mal zu. Wir …« Dante brach ab und hielt inne. Etwas stimmte nicht. Auf der Tischplatte vor ihm schienen sich plötzlich kaum sichtbare, kleine Wirbel zu drehen, immer dort, wo er gerade hinsah. Als sein Blick zur Wand zuckte, um zu entdecken, dass sie ebenfalls kleine Wirbel formte, schien es, als folge das Bild seiner Kopfbewegung merklich verzögert. Das … nein, konnte nicht sein. Nicht nach vier Wodka, verdammt. Er konnte zehn trinken und es passierte nichts – und das hatte nichts mit Toleranz zu tun. Um Dante betrunken zu machen, brauchte es eine deutlich höhere Dosis oder gleich eine stärkere Substanz. Er schaute Rhys an; Rhys schaute zurück, sein vergnügtes Schmunzeln hatte einem ratlosen Ausdruck Platz gemacht.

»Alles im Lot bei dir?« Die Stimme des Wirts klang schon leicht undeutlich.

Neben Dante starrte Jin nicht minder fasziniert auf seine Hand. Seine Miene war friedlich, interessiert, keineswegs beunruhigt. »Ich … sollte aufhören«, stellte er fest, legte seine Hand wieder hin und beobachtete den Tisch, auf dem ein paar Tropfen Wodka verschüttet worden und ineinander geflossen waren. Eindeutig, bei Jin wirkte auch irgendwas. Dante kannte Jin nur in zwei Gemütszuständen: wütend oder apathisch. Jetzt wirkte er eher … verträumt, ungewohnt zufrieden mit sich und der Welt. Vielleicht war er gar nicht so versteinert … Vielleicht musste man einfach nur hin und wieder Alkohol in ihn hineintun.

Rhys schluckte unbehaglich, ein lautes Schlucken, das in der Stille klang, als würde ein Stein in einen Brunnen fallen. »Oh, Leute, das hab ich nicht kommen sehen … Und ich hab erst eine Dreiviertelstunde geöffnet … Den Abend kann ich vergessen … Muss das Schild raushängen …«

»Rhys«, wandte Yuri sich an ihn, diesmal sichtlich um die Aussprache bemüht, als strebe seine Zunge ebenfalls ein Eigenleben an, »echt mal, was hast du … uns da …?«

»Keine Ahnung? Das war schon so …« Der Wirt hob entschuldigend beide Hände, schob mit dem Hinterteil den Stuhl zurück und stand unelegant auf. »Wir … wir sollten das lassen, jetzt gleich.« Er nahm die etikettlose Flasche (indem er mit dem ganzen Arm über den Tisch wischte, ehe er sie packen konnte), schaffte es bis hinter die Theke und kippte dort den Inhalt ins Spülbecken. Dante hielt das für einen konsequenten Schritt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen: Hatte Rhys sie nun zum Reden bringen wollen oder nicht? Nicht, dass es funktioniert hätte.

»Hört mal«, rief Rhys von seiner Theke aus und machte Handbewegungen, die ein Abwinken sein sollten und wie Fliegen Verscheuchen aussahen. »Wir reden morgen darüber … wenn wir alle … also, wenn das vorbei ist.« Er tupfte sich die rote Stirn mit einem Spültuch ab. »Kommt einfach morgen früh her, wenn ihr reden wollt … Ich werde da sein.«

Dante achtete auf das leichte Kreiseln in seinem Kopf. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie nach dieser seltsamen Unterredung noch einmal das Vertrauen des Wirts suchen würden, und vermutlich wusste er das. Er ließ sie trotzdem gehen. Entweder war sein Urteilsvermögen eingeschränkt, oder …

»Also ich hab mir den Saufabend länger vorgestellt«, seufzte Yuri, »aber ich kenn meine Grenzen … Ich weiß nicht, was das da in der Flasche war, aber’s knallt.« Er schielte zur Theke. »Glaubst du wirklich, dass wir morgen wiederkommen?«

»Ich hoffe es für euch, ehrlich gesagt«, murmelte Rhys, schwer auf den Schanktisch gelehnt. »Denn ich helfe euch, aber Andere helfen euch nicht.«

Dante entschied, dass er davon genug gehört hatte. Rhys’ Geheimnistuerei half ihnen kein Stück. Es zeichnete sich sowieso ab, zu welcher Partei er gehörte – und was die wollte, lag trotzdem im Dunkeln.

»Ich bin weg«, meldete Dante, stand auf und kehrte dem Tresen den Rücken. »Vielleicht bis morgen, vielleicht nicht.« Zufrieden stellte er fest, dass trotz der visuellen Einschränkungen seine Koordination kaum gestört war und er vernünftig einen Fuß vor den anderen setzen konnte.

Er drehte sich um und sah, wie Jin, gerade aufgestanden, den Tisch losließ, kurz innehielt und dann nickte. »Schon gut«, sagte er zu Yuri, der bereit war, ihn an der Schulter zu packen. Sicher: Mit etwas mehr Schnaps intus hätten sie jetzt sicher ein Problem gehabt.

Dante wartete, bis die Beiden zu ihm aufgeschlossen hatten, dann schleppten sie sich hinaus in den feinen Salzstreuerregen. Johnny Cash sang, leiser werdend: »… ain’t no graaave can hold my body down …«

Auf einmal war Dante furchtbar müde.

Akt XI - Gottesschlächter: 15-3

15-3: JIN
 

Eigentlich hatte er daran denken wollen, noch vor der Rückkehr ins Hotel Roger zu fragen, wie weit er mit der Übersetzung gekommen war. Diese Sache mit dem Buch Henoch und Azazels Gefangenschaft war wichtig für ihn. Leider war es unmöglich, in diesem leicht vergifteten Zustand den Weg zu Rogers Versteck zu finden, und Jin war vernünftig genug, es nicht zu versuchen. Zudem war es ihm auch ein wenig egal, wie er sich eingestehen musste: Er hatte Mühe, sich zu fokussieren, ließ seine Gedanken immer wieder davon driften und sich durch jeden Außenreiz ablenken von woran auch immer er gerade denken wollte. Zum Teufel mit dem größten Laster der Ersten Welt, und zum Teufel mit Gruppenzwang und Höflichkeit. Wodka war etwas absolut Unnötiges, auf das er verzichten konnte.

Als er aufwachte, zeigte das schwach leuchtende Display seines Telefons ihm die Uhrzeit: sieben Minuten vor elf am Vormittag. Jin erinnerte sich, ins Bett gegangen zu sein, nur wie an einen Traum, aber offenbar hatte er jeden Handgriff so ordentlich und routiniert wie immer vorgenommen, denn nichts, das er vom Bett aus sehen konnte, lag am falschen Platz. Gut.

Nicht gut. Als er sich über die Schulter auf die Seite rollte, durchzuckte seine Stirn ein harter, messerscharfer Schmerz, der sein ganzes Gesichtsfeld mit einem roten Blitz erfüllte und ihn zwang, die Augen zuzukneifen. Einen Moment später ließ die Pein wieder nach, doch an ihre Stelle trat ein dumpfes Pochen, das ihm mitteilte, dass eine falsche Bewegung sie wieder auf den Plan rufen würde. Jin hielt einen Moment still. Er war nicht betrunken gewesen, zwar beeinträchtigt, aber weit entfernt von einem Rausch, auf den er sich nie eingelassen hätte. Er prüfte, ob ihm noch irgendetwas Anderes wehtat: Nein, glücklicherweise nicht.

Da er keine Wahl hatte, stand er auf. Die Kopfschmerzen bleiben, in wechselnder Intensität, aber alles Andere war normal, ihm war auch nicht übel, nicht einmal anders. Vielleicht also war es nicht der Wodka. Hoffentlich. Jin konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einen Kater zu haben.

Als er die Anderen auf dem Hotelflur traf – Dante war schon dort, Yuri brauchte ewig –, stellten sie fest, dass das Problem sie alle betraf.

»Ich kann mich nicht erinnern, je so einen Schädel gehabt zu haben«, murrte Yuri, »und ich hab schon mal viel mehr getrunken.«

»Bei mir sollte so was überhaupt nicht passieren.« Dante wirkte beinahe beleidigt darüber, von der Misere betroffen zu sein. »Rhys kann erzählen, was er will: Den Wodka hatte er nicht von einem Freund.«

»Dann doch wieder zu ihm?«, fragte Jin, da es ihm die einzige logische Konsequenz zu sein schien.

»Natürlich gehen wir zu ihm«, stimmte Yuri zu. »Und als erstes nageln wir sein Ohr an den Tresen.«
 

Niemand nagelte Rhys’ Ohr an den Tresen. Der Wirt kam ihnen zerzaust und offenkundig ungeduscht aus dem Hinterraum des Black Raven entgegen, dessen Eingangstür sperrangelweit offenstand.

»Oh, Josef und Maria«, klagte er, »das hab ich nun wirklich nicht verdient.« Er winkte die Drei schlaff heran, zu einem Tisch ganz nah am Tresen, dem einzigen, auf dem ein Tischtuch lag. »Ich bin einfach zu gutgläubig … Hier, bitte … Euch muss es genauso dreckig gehen wie mir.«

Jin musste im Geiste zustimmen. Schon in diesem Zustand im grellen Morgenlicht hierher zu laufen war nichts gewesen, das er wiederholen wollte.

»Ich vermute«, fuhr Rhys eine Spur zu eilig fort, »dass das eine Erstabfüllung war. Ihr wisst schon, das sind die schlimmsten. Mein Freund hat mir versichert, dass man von diesem polnischen Wodka keine Kopfschmerzen bekommt, aber –«

Es war hohles Geschwätz. Jin hörte sich dem Wirt ins Wort fallen: »Halt einfach den Mund.«

Sofort schloss Rhys selbigen. Dante und Yuri schauten Jin an, als entdeckten sie erst jetzt, dass er sprechen konnte. Jin nahm keine Notiz. »Was hast du uns gegeben und warum?«

Rhys’ Schultern sanken herab. Er schürzte die Lippen, wandte den Blick von Jin ab. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wurde mir so gegeben, wie es war. Ich sollte genau diese Flasche nehmen.«

»Und wer will das von dir?«, fragte Dante.

»Setzt euch doch erst mal«, seufzte Rhys. »Ich werde alles erklären. Ich habe ein Friedensangebot für euch aus Pennys Räucherei um die Ecke. Makrele – wenn ihr möchtet.«

Natürlich. Hier saßen sie, beschuldigten den Wirt, sie hintergangen zu haben, und statt mit der Sprache herauszurücken, bot Rhys ihnen Fisch an.

Dante lachte leise – genau die richtige Reaktion, fand Jin. »Wenn die Makrele besser ist als der Wodka«, erklärte der Teufelsjäger, »dann essen wir sie sogar … sobald du bestätigt hast, dass du zu Sapientes Gladio gehörst und ihr genau wisst, dass Sarris euch ausgelotet hat. Was habt ihr mit ihm vor?«

Rhys seufzte erneut. Sehr lang und laut. Dann bückte er sich hinter den Schanktisch, öffnete einen Kühlschrank und holte vier Bündel aus Brotpapier heraus, die er auf dem Tresen auszuwickeln begann. »Okay«, sagte er, auf die Makrele starrend, die er soeben befreite. »Ich hätte wissen müssen, dass ihr aufmerksamer seid, als ihr ausseht. Ja, ich gehöre dazu. Ja, es geht um Aidan. Aber dass ich euch vor ihm beschütze, ist nicht gelogen.«

»Du weißt nicht mal, wo er ist.«

»Ihr etwa?«

»Was erwartet ihn, wenn ihr ihn kriegt?«

Wieder ein Seufzen. Das nächste Bündel kam raschelnd an die Reihe. »Der Gottesschlächter war mit einem Artefakt verflucht worden, bevor er hierher zurückkam. Mit der Heiligen Mistel. Das ist ein –«

»Wissen wir«, fiel ihm Yuri ins Wort.

Rhys sah aus, als käme er einem Schweißausbruch immer näher. »Wir … müssen dieses Artefakt finden.«

»Ach!«, rief Yuri aus. »Das passt ja zu euch! Das war schon immer die Methode, mit Mitgliedern umzugehen, die der Gesellschaft nicht mehr in den Kram passen. Wer sich nicht mehr an die Regeln hält oder einfach nur zu mächtig wird … Ulkig, dass sich bei Rasputin keiner getraut hat. Das hätte allen viel erspart.«

Noch immer standen sie mitten im Raum, unweit der Tür; jetzt schlenderte Yuri als erstes an den betuchten Tisch und setzte sich. Jin schaute zu Dante, der deutete ein Schulterzucken an und folgte.

Als alle saßen, schien der Wirt sich etwas zu entspannen. Er verteilte die ausgenommenen und geräucherten Fische auf vier Teller – sie dufteten nach Buchenrauch – und reichte sie über den Tresen. Seufzend. »Hier. Das wird uns munter machen, Fett und Proteine helfen gegen den Kater.« Jin hoffte, dass das stimmte.

Als der Wirt sich zu ihnen setzte und nach einem der Teller griff, zog Yuri ihm diesen weg und schob ihm einen anderen hin. »Nur zur Sicherheit.«

»Oh, kommt schon!«, stöhnte Rhys. »Herrgott, ich hab mich mit dem Wodka selbst angeschmiert, wie viel kriminelles Geschick traut ihr mir zu? Ich bin Wirt, sonst gar nichts. Kein Zauberer, kein Giftmischer, und ein guter Täuscher auch nicht … Ich bin Sapientes Gladio beigetreten, um hinter die großen Zahnräder der Welt zu sehen. Nicht alle ihre Wege verstehe ich, nicht alle gefallen mir. Aber mit Abtrünnigen kennt man keine Gnade … Dazu ist unser gesammeltes Wissen zu kostbar.«

»Haben die damals auch schon gesagt.« Yuri schien nur leidlich versöhnt, als er seine Makrele zu entgräten begann. »Glaubt ihr, jemanden mit der Mistel zu verfluchen ist besser als ihn zu töten?«

»Zumindest gibt es keinen Mordprozess«, sagte Rhys vorsichtig. »Aber ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, wie genau der Fluch wirkt.«

Jin sah Yuri an und erwartete, dass dieser Rhys nun genauestens erklären würde, was der Fluch tat. Er zerfrisst deine Seele und verwandelt dich einen Zombie, oder so. Doch Yuri warf Rhys nur einen finsteren Seitenblick zu und pflückte mit den Fingern seinen Fisch auseinander, die rotbraunen Augen auf den Teller gerichtet.

Einen Moment kauten sie still vor sich hin. Jin mochte es nicht besonders, mit den Händen zu essen, doch dankbarer Weise löste sich das weiße Fischfleisch so widerstandslos von seinem Grätenskelett, dass es genügte, die Fingerspitzen zu gebrauchen. Es schmeckte wirklich gut. Jin war nicht sicher, ob er es sich vielleicht nur einbildete, doch das plagende, dumpfe Pochen des Kopfschmerzes schien bereits ein wenig nachzulassen.

Er ließ sich durch den Kopf gehen, was sie jüngst erfahren hatten: Der Geheimbund, den Yuri zu seiner Zeit bekämpft hatte, existierte noch – nein, wieder – und arbeitete mit denselben Mitteln wie damals; Sarris’ Mitgliedschaft erklärte die Leichtigkeit, mit der er Azazel, der Prophezeiung und dem Émigré-Dokument auf die Spur gekommen war. Erst jetzt hatten Jin, Dante und Yuri diesen Vorsprung aufgeholt. Jetzt hatten sie Sarris, und jetzt stellte sich die Frage, was sie mit ihm anfangen sollten. Naheliegend war, ihn der Instanz auszuliefern, die er für seine Absichten missbraucht hatte – doch Sapientes Gladio hatten Pläne für Sarris, mit denen nicht alle im Raum Anwesenden einverstanden waren. Dante nicht, und Yuri hatte durch den Exorzismus und die Verstümmelung seiner Seele ein so schweres Trauma davongetragen, dass er wohl nicht einmal einem Feind dieses Schicksal wünschte.

Aber du hast es für dich in Erwägung gezogen, oder nicht, sagte die dunkle Stimme, die immer häufiger in Jins Kopf zu ihm sprach. Würdest du es immer noch tun?

Wenn es auch DICH töten würde, dachte Jin, wer oder was auch immer du bist – dann jederzeit.

Er schloss die Augen, konzentrierte sich einen Moment und sah dann wieder den halb aufgegessenen Fisch an. Plötzlich und sinnlos hatte er Mitleid mit dem Tier, das halb skelettiert auf dem Teller lag; ein irrationales Gefühl, eins von vielen, die ihn letzter Zeit in ungeeigneten Situationen überkamen.

Viele schweigende Minuten später sagte Yuri unvermittelt: »Lasst es sein. Schließt ihn aus, was auch immer … aber macht nicht das mit ihm.«

Rhys betrachtete Yuri einen Moment lang aus seinen geröteten Hundeaugen. Dann stand er auf und räumte die Teller zusammen. »Du verstehst nicht«, fuhr er resigniert fort. »Wenn ihr Aidan kennt, dann wisst ihr, dass uns nichts Anderes übrig bleibt. Ihn zu töten wirbelt Staub auf und verstößt gegen unseren Kodex –«

Yuri schnaubte.

»– und ihn auszuschließen würde ihn nicht aufhalten. Nichts würde ihn aufhalten. Er hat nichts zu verlieren, nichts im Leben hat mehr eine Bedeutung für ihn, seit seine Tochter tot ist.«

»Ich weiß«, stimmte ihm Dante zu. »Ich kenne ihn ziemlich gut … Andernfalls hätte ich kein Problem damit, dass ihr ihm dieses Ding in die Brust rammt. Aber so, wie’s ist …« Wieder das übliche, gleichmütige Schulterzucken. Für Jin war es längst Dantes Markenzeichen geworden, diese desinteressierte Mir-doch-egal-Geste.

»Wenn euch nichts Besseres einfällt, solltet ihr die Entscheidung des Bundes vielleicht akzeptieren«, sagte Rhys, nun eindringlicher. »Verdammt, ihr müsst doch nicht zusehen! Sagt mir einfach, wo er ist, und –«

»Nein«, fiel ihm Yuri ins Wort.

Rhys kreuzte die Arme vor der Brust. »Euer Ernst? Warum seid ihr nicht vernünftig?« Er sah Dante an, doch der schüttelte lässig den Kopf. »Ich war nie gut in Vernunft.«

Er und Yuri schauten zu Jin.

Allmählich wurde es Jin lästig, dass die Beiden immer, wenn sie sich in etwas einig waren, seine Meinung suchten – oder eher seine Bestätigung, dass er dasselbe dachte wie sie, dass er nicht etwa auf die Idee käme, ihnen nicht zuzustimmen. Warum war ihnen der Schulterschluss in diesen ethischen Fragen so wichtig? Jin pflegte ein anderes Ethos als sie; er schlug sich nicht aus irgendeinem sinnlosen Prinzip heraus auf die Seite der Milde und Nachsicht; sein Leben hatten andere Regeln dominiert, Regeln, aus denen er sich diejenigen herausgesucht hatte, die ihm sinnvoll erschienen. Eine davon war, Vernunft über Emotionen zu stellen. »Ich denke«, sagte er bestimmt, »dass es das einzig Richtige wäre. Die Maßnahme würde ihn sowohl aufhalten als auch von seiner Trauer erlösen.«

»Diese Maßnahme würde alles in ihm zerstören, das trauern kann!«, fauchte Yuri in seine Richtung. Erwartungsgemäß.

»Und was bedeutet er dir? Du kennst ihn nicht.« Jin wusste, dass seine kühle, leidenschaftslose Art Yuri zur Verzweiflung brachte, doch jetzt hatte er keinen Beistand für ihn übrig.

»Ich kenne ihn aber«, erinnerte Dante. Seine blauen Augen funkelten Jin an, doch das wirkte immer weniger einschüchternd auf ihn. Etwas in Jin knurrte, provoziert durch die Geste.

»Hört bitte auf, euch so anzusehen«, beeilte Rhys sich. »Das gefällt mir nicht. Tut mir den Gefallen und besprecht euch, ob ihr Aidan verteidigen wollt – sinnlos, wenn ihr mich fragt, aber wenn ihr euch mit dem Bund anlegen wollt, bitte. Erwartet dann aber keine Hilfe mehr von uns.«

»Ihr habt mir noch nie geholfen«, murrte Yuri und stand auf. »Danke für den Fisch, aber von meiner Seite war’s das. Wir werden keine Freunde, Rhys.«

Jin war dankbar für die Ablenkung. Mit einiger Mühe drückte er den grundlosen Zorn wieder zurück in die Tiefen, aus denen er aufgestiegen war.

Kaum klüger als vorher, doch immerhin mit weniger Kopfschmerzen, verließen sie das Black Raven. Vor der Tür trennten sie sich grußlos und gingen jeder in eine andere Richtung davon.
 

Jin fühlte schnell, dass es ihm gut tat, nicht ständig mit Dante und Yuri zusammen sein zu müssen. Seinem einzelgängerischen Naturell nachgebend, unternahm er eine Wanderung außerhalb der Ortschaften und genoss seine Freiheit. Er ging nicht Richtung Clarach, nicht zu Rogers Höhle, weil er erwartete, dort entweder Yuri oder Dante zu begegnen. Sollten sie eben dort sein – es änderte ja nichts, wenn sie die Übersetzung vor ihm hörten. Sicher brachte Dante Sarris wieder etwas zu essen mit, diesmal wahrscheinlich Fish & Chips oder ähnlich Minderwertiges, bei seinem Verständnis von Kulinarik.

Für Jin stand fest, dass Sarris sein Mitleid nicht verdiente. Nicht nur, weil er ihn angelockt und ausgenutzt hatte wie so viele vor ihm, sondern auch, weil Sarris selbst kein Mitleid hatte. Mit seinen Anstrengungen, negative Energie für Azazels Befreiung bereitzustellen, hatte er in Kauf genommen, vielen Unschuldigen zu schaden, und sicher war Dante nicht immer rechtzeitig auf den Plan getreten, um hinter ihm aufzuräumen. Nein, Dante hatte sich Sarris nicht so entgegengestellt, wie es notwendig wäre; dazu war er zu bequem, zu initiativlos, zu gutmütig. Dante war nicht wirklich ein Rächer der Menschen: Das glaubte er zwar von sich, aber er tat nicht das, was nötig war.

Und Yuri genauso. Leider. Sein Idealismus war zwar bewundernswert, hatte ihm seine Feinde aber nicht vom Hals geschafft. Selbst nach fast hundert Jahren waren Sapientes Gladio noch immer auf seiner Fährte. So viel dazu, dass er sie zerschlagen hatte.
 

Nachdem Jin in den einen oder anderen Schauer geraten war (und ihn stoisch ertragen hatte), kehrte er um und folgte dem Küstenpfad durch ein Wäldchen zurück. Abermillionen von Fichtennadeln hielten den schlammigen Boden begehbar. Jin hörte keine Vögel; er hörte kein Rascheln in den Ginsterbüschen; über allem hing nur dieselbe gespenstische Stille wie über der Ebene bei Clarach, wo das Schloss des Sternengottes aus dem Meer gestiegen und mit seiner Nabelschnur zu den Neam-Ruinen das Fleisch der Erde aufgerissen hatte.

»Jin

Er blieb stehen. Die Stimme kam von hinten, und natürlich, er kannte sie.

»Was machst du hier draußen?« Etwas kraxelte über die nahen Felsen, und natürlich war es Yuri, der wohl meinte, seinen lädierten Mantel bei Kletterpartien weiter strapazieren zu müssen.

»Was machst du hier?«, gab Jin zurück, sich nach ihm umdrehend.

Yuri sprang von dem Felsen vor ihm auf den Weg und schüttelte trockene Ginsterstacheln aus seinem Mantelsaum. »Nachdenken.«

»Warst du bei Roger?«

»Ja.«

»Dann … hast du die Übersetzung?«

»Einen Teil davon«, nickte Yuri. »Den interessanten Teil.«

Jin fühlte sofort Beklommenheit in sich aufsteigen, eine Mischung aus Angst und Neugier. »Und? Was ist der interessante Teil?« Ungeduldig sah er zu, wie Yuri einen hellgrauen Umschlag aus der Hosentasche zog. »Wer hat Azazel eingesperrt?«

»Ich sag dir gleich, dass die Stelle nicht sehr aufschlussreich ist. Aber da ich gehofft hab, dich zu treffen, und du es bestimmt hören willst … Oh Mann, vor achthundert Jahren war Rogers Schrift aber besser! … Also.« Yuri entfaltete den in engen Linien handbeschrifteten Zettel und las feierlich: »Fesselt Azazel Hände und Füße und stoßt ihn in die Dunkelheit … Und macht eine Öffnung in die Wüste, was in Dudael ist, und stoßt ihn dort hinein. Und legt auf ihn raue und kantige Steine, und bedeckt ihn mit Finsternis, und lasst ihn dort für immer fortbestehen, und bedeckt sein Gesicht, dass er das Licht nicht sehen darf.« Er endete, faltete den Zettel wieder zusammen und schob ihn unter Jins fragendem Blick wieder in die Tasche.

Jin wiederholte im Kopf, was er gerade gehört hatte. »Aber das … hilft uns nicht«, stellte er fest. »Wo ist Dudael?«

»Irgendwo in der Wüste, anscheinend.«

»Was sagt Dante dazu?«

»Keine Ahnung. Hab ihn nicht gesehen.«

Sie betrachteten einander.

»Immerhin, bisher hatten wir nur vermutet, dass Azazel irgendwo eingesperrt ist und Sarris ihn deshalb nicht beschwören konnte. Jetzt wissen wir’s genau.«

»Deshalb das Chaos«, murmelte Jin. »Die Bosheit befreit ihn von seinen Ketten.«

»Ja. Er zehrt davon, und wenn er genug Kraft hat … Ende der Welt, und so.«

Frustriert wandte Jin sich ab und starrte auf den nadelbedeckten Boden. Alle bisherigen Mühen hatten sie nicht viel klüger gemacht, und für Yuri schienen Aussichten wie das Ende der Welt schon so etwas wie Routine zu sein – jedenfalls tat er so, und auch das ärgerte Jin.

Doch auch Yuri beschäftigte etwas, über das Jin schon gar nicht mehr nachgedacht hatte, denn nun platzte er heraus: »Warum zum Teufel hast du gesagt, es wäre in Ordnung für dich, Sarris mit der Mistel zu verfluchen?«

Der anklagende Ton prallte an Jin ab. »Weil es das ist«, antwortete er.

»Warum? Ich hab ja kapiert, dass es dir nichts ausmachen würde, deine Seele zu verlieren, aber warum wünschst du das Anderen?«

»Nenn mir eine Alternative, nur eine!«, fuhr Jin ihn an, härter als beabsichtigt. Yuris deutlich hörbare Enttäuschung war ihm unangenehm. Warum nur mussten Andere ihm immer ihre Erwartungen aufbürden? Weichherzigkeit half hier niemandem. Manchmal mussten Dinge eben getan werden – keiner wusste das besser als er.

»Wir müssen ihn überzeugen.« Yuri senkte den Kopf. »Jemanden, der nicht an einen Dämon gebunden ist, will ich nicht hinrichten.«

Jin verdrehte die Augen und stöhnte auf, eine ungewöhnlich deutliche Äußerung seiner Gefühle, die er sofort bereute. »Manche Menschen kannst du nicht überzeugen«, beharrte er. Das beste Beispiel war sein Großvater: Bei ihm war kein Dämon im Spiel – auch wenn er alles dafür tat, das zu ändern –, doch ein guter Mensch würde niemals aus ihm werden; Jin sah das in Heihachis Augen, wann immer sie sich begegneten. Falls in dem Mann jemals so etwas wie Güte gewesen war, dann war es lange gestorben. Genauso war es bei Kazuya. Und genauso war es bei Heihachis eigenem Vater. Manchmal fragte sich Jin, ob er selbst überhaupt noch gerecht und gut sein konnte, oder ob das nur eine Erinnerung an vergangene Zeiten mit seiner Mutter war, an die er sich klammerte. Schon jetzt war er nicht weniger hasserfüllt als die Mishimas. Es fehlte nicht mehr viel, und er wurde wie sie.

»Du versuchst es nicht mal, oder?«, schnaubte Yuri und trat nach einem Fichtenzapfen. »Hast du jemals jemandem eine Chance gegeben?«

»Zu viele.«

»Merkst du eigentlich, wie verändert du bist, seit Sarris mit diesem Ritual an dir rumgespielt hat?«

»Ja, allerdings«, grollte Jin. Sollte das ein Vorwurf sein? Es war Sarris’ Schuld, nicht seine. »Ich habe euch oft genug mitgeteilt, dass es mir seitdem nicht gut geht. Es ist, als hätte er eine Tür in mir aufgetreten, durch die noch irgendetwas Anderes mich besetzt außer Devil. Als wäre Devil nicht lästig genug!« Lästig war ein grobes Understatement, doch sein Ton sagte alles. Überhaupt gab er sich Yuri gegenüber sehr viel mehr seinen Empfindungen hin, zeigte sie ihm viel stärker als anderen Menschen seit langer Zeit. Yuri selbst hielt sich nie höflich zurück, und offensichtlich war Unhöflichkeit ansteckend.

Yuri kreuzte die Arme vor der Brust. »Es wäre besser für dich, wenn du deine innere Bosheit bekämpfen könntest, wie ich.«

»Ich schätze, vieles wäre besser, wenn ich ein bisschen mehr wie du wäre«, knurrte Jin. Er hatte es tatsächlich zugegeben: dass er glaubte, dass Devil für jemanden wie Yuri kein Problem war. Dass nur er, Jin, derjenige war, der den Anforderungen nicht genügte, der versagte, der nicht in der Lage war zu kämpfen.

Wieder griff die Dunkelheit nach ihm. Fester als vorher.

»Jin. Hey.« Yuri fasste behutsam nach seinem Arm. »Guck mich an.«

Jin riss sich los. »Das nützt nichts!« Er verkrampfte sich, kämpfte, die Fäuste geballt.

Yuri stand vor ihm, beobachtete ihn, verschränkte die Arme vor der Brust. »Und? Nützt das was?«

»Du … kannst mich doch aufhalten, wenn ich …«

»Ja«, antwortete Yuri unaufgeregt. »Sollte kein Problem für mich sein.«

Das zu hören erleichterte Jin ein wenig. Sie waren weit weg von jeder Spur der Zivilisation; es konnte nicht viel passieren. Yuri würde Devil Jin bremsen, schließlich war er der Gottesschlächter, oder nicht …

Der Moment dauerte unendlich lange, aber er ging vorüber.

Als Jin irgendwann die Augen aufmachte, stand Yuri immer noch da und schaute ihn an, ernst, aber nicht alarmiert. »Besser?«

Jin richtete sich auf und spürte Schweißtropfen seinen Rücken hinabrollen. »Es wird schlimmer«, murmelte er.

»Scheint so. Aber im Moment wird es vor allem dunkel«, bemerkte Yuri mit einem Blick Richtung Himmel. »Die Tage sind hier länger, aber … Egal, was hältst du von Abendbrot?«

Jin zögerte. »Vielleicht.« Bei Devils Putschversuchen war sein Magen stets das erste Organ, das sich selbst verpackte und so tat, als würde es nicht existieren. Seine Körpermitte fühlte sich an wie ein verriegelter Safe. »Hat Dante sich um Sarris gekümmert?«

»Keine Ahnung, was Dante macht. Im Hotel war er nicht.«

»Vielleicht jagt er Dämonen.«

»Der jagt höchstens Pizza. Lass uns irgendwas mit viel Sojasoße jagen.«

Jin willigte mit einem stummen Nicken ein. Bis sie wieder in der Stadt waren, würde er sich noch etwas stabilisieren können. Er fragte sich, ob Yuris Anwesenheit ihm über den Anfall hinweggeholfen hatte wie ein Placebo. Bei Dante hatte das nur am Anfang funktioniert, weil Devil vor Dante Angst hatte – oder eher vor Sparda, vermutlich –; seit dem Ritual wirkte Dantes Präsenz auf Devil – und Azazel? – eher aufstachelnd. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen lagen weiterhin im Dunkeln. Hoffentlich würde es nie nötig werden, sie zu prüfen.
 

Viel später fanden sie sich nach einem kurzen ziel- und wortlosen Gang in nächtlicher Dunkelheit an der Seepromenade wieder. Das Seaside lag irgendwo unweit vor ihnen, eines der wie an einer Schnur aufgereihten Gebäude, ihre Fassaden von gelbem Licht bestrahlt. Links von ihnen schlugen die schwarzen Wellen aufgebracht und schäumend gegen das betonierte Gestade. Der Wind fegte aggressiver denn je über ihre Köpfe, zerrte und drückte ihre Körper in diese und jene Richtung, sodass es kaum möglich war, geradeaus zu gehen. Kein Mensch war zu sehen, keine Möwen wagten sich in die abendlichen Aufwinde.

Jin lehnte sich gegen das Geländer und sah auf das Wasser. Weit reichte sein Blick nicht; alles lag in Finsternis. Schon rauschte die nächste Welle heran und überrollte die Befestigung, ihre Gischt peitschte an den Streben hoch und besprühte die Mäntel der beiden Männer mit Schaumflocken und dicken, nassen Tropfen.

Jin fror, aber er wich nicht zurück. Diese salzige Urgewalt hatte etwas Ungezähmtes an sich, das er immer gemocht hatte. Weit entfernt gegenüber sah er die andere Seite der Bucht, gelbe Lichter wie eine Perlenkette.

Yuri stieß ihn an. »Komm!«, rief er, um das Tosen zu übertönen, und zeigte zu dem langen Steg, der hinaus ins Dunkel führte. Holzplanken, ein steinerner Rand, eine kaum kniehohe Reling – alles andere als einladend bei dem Sturm.

Sie stapften den Steg hinunter bis zum Ende, wo sie so gut wie nichts mehr sehen konnten. Nun war das tobende Wasser überall um sie herum, umzingelte sie, brüllte sie an. Jin gab sich dem Gefühl hin, die an- und abschwellende Wucht des Atlantiks könne die Unruhe in seinem Inneren betäuben. Das Meer war unsichtbar in der Schwärze jenseits der nassen Planken, doch es war laut, ein alles übertönender Lärm, der den Geist durchbrauste und reinigte.

Eine Viertelstunde später waren sie zurück auf dem festen Ufer, mit Salzwasser bespritzt und so sehr durchgefroren, dass sie vor Frösteln kaum laufen konnten. Yuri sah nichtsdestotrotz seltsam zufrieden aus, und als sie einander wieder verstehen konnten, sagte er: »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Alice und ich hier gegen ein Monster gekämpft haben. Damals war das nur ein Ufer aus Kies und die Stürme so schlimm, dass fast jeden Tag Kinder ertrunken sind.«

»Alles Schöne in der Natur hat auch eine grausame Seite. Das ist kein Widerspruch, alles ist ein Ganzes aus zwei Teilen.« Das Meer führte diese Liste gnadenlos an. Jin beobachtete Yuris blasses Gesicht. »Wie … ich meine, womit hat Alice gekämpft?« Sich an die Beschreibungen erinnernd, stellte er sich die Frau zart vor, wie ein Porzellanpüppchen, delikat und ohne die Härte einer Kämpferin.

»Bibel«, sagte Yuri.

»Ah. Du meinst, sie hat Psalme rezitiert?« Jin stellte sich Psalme als das einzig Brauchbare an Bibeln vor. Die seitenlangen Genealogien waren es sicher nicht.

Yuri lachte. »Oh nein, nein. Sie hat damit zugeschlagen.«

»Bitte?«

»Sie hat sie den Monstern über den Schädel gezogen. Bibeln können echt schwere Bücher sein.«

Jin zog die Brauen zusammen, als vor seinem geistigen Auge das Mädchen mit einem Buch Dämonen zu verprügeln begann. Beinahe konnte er Dantes flapsige Bemerkung dazu hören. Offenbar war Alice genauso schräg gewesen wie Yuri; was für ein Paar sie wohl geworden wären, hätte das Schicksal nicht andere, grausame Pläne gehabt.

»Du warst nicht in einem Waisenhaus, oder?«, fragte Yuri unvermittelt.

Jin sah beiseite. »Ich war bei Heihachi.« Er würde ihn nicht seinen Großvater nennen, nie.

»Hat er dich geschlagen?«

»Nicht wirklich.« Doch, natürlich hatte er. Heihachi Mishima hatte Jin in Kampfkunst gedrillt, wie hätte er ihn nicht schlagen können, um ihn zu besserer Leistung zu zwingen? »Und du?«

»Ähm. Naja, man hat mich blutbeschmiert im Wald gefunden, während meine Mutter zerstückelt in unserem Haus lag, also … Viele hatten schon irgendwie Angst vor mir.«

Das war Antwort genug für Jin, mehr wollte er darüber nicht wissen. Er schloss wieder die Augen, und aus dem Schließen wurde ein Krampfen, und sekundenlang war alles dunkel, nicht nur das Meer jenseits des Lampenscheins. »Ich … muss dir sagen, dass … ich das nicht mehr lange aushalten werde.« Da, es war passiert. Er hatte eine Schwäche preisgegeben. Etwas, das er zuletzt als Kind getan hatte. »Es … wird jeden Tag stärker. Und ich bin … einfach müde.« Er verstummte, beschämt.

»Ist in Ordnung. Ich kenn das.«

»Ja, du«, brummte Jin, »deshalb kann ich es dir sagen, als Einzigem. Dante würde es nie verstehen. Er kennt keine … Angst.«

Yuri hob überrascht die Brauen. »Glaubst du wirklich? … Glaubst du wirklich, dass Dante nicht weiß, was Angst ist?«

»Woher sollte er es wissen? Oder es sich vorstellen können? Sag es ihm nicht, bitte. Ich hasse es, wenn er mich ansieht und für schwach hält.«

»Du hasst es, wenn irgendjemand dich für schwach hält«, versetzte Yuri. »Wir waren doch alle so. Dante auch. Er war krank, nachdem er den Mörder seiner Mutter zur Hölle gejagt hat … also seelisch, meine ich. Er war einfach im Arsch.«

Wohl kaum, dachte Jin und schnaubte abschätzig.

»Doch, ich bin sicher. Ich hab schon oft solche Typen gesehen. Er muss Angst kennen. Und übrigens …« Yuris Blick schweifte ab, zurück zum Wasser. »… kennt niemand Angst besser als ich.«

»Ja, ich weiß.« Jin hatte ihn nicht zwingen wollen, das zu wiederholen. Ein wenig bewunderte er, wie frei Yuri seine Empfindungen äußerte, aber es tat ihm auch leid.

»Es kommt darauf an, wie man mit Angst umgeht.«

»Ich bin nicht wie du.«

»Nein, zum Glück.«

»Du hast einen Gott getötet.«

»Ich hab ein Monster getötet. Wie du. Du hast Toshin getötet, weil er deine Mutter geholt hat.«

Jin erinnerte sich kaum noch an dieses Duell, das er in rotem Zorn gefochten hatte. Ogre, nachdem er von Heihachi gezehrt hatte. Diese stinkende, pilzüberwucherte Bestie mit verklebtem Fell und triefenden gelben Augen, die Salven von ölig glänzendem Speichel nach ihm spie, der in der Luft Feuer fing und heiße Schwälle nach sich zog, die noch im Flug die Haut versengten. Die klebrigen Klauen, der schuppige, wild schlagende Schwanz … Jin entsann sich nicht einmal, wie er das Leben dieser Kreatur beendet hatte.

»Hat die Rache dir geholfen?«

»Nein.« Es war die Wahrheit. »Dir?«.

»Natürlich nicht. Es hilft nie. Das lernt man schnell, aber es hält einen nicht davon ab, es wieder zu tun.«

Sie stapften weiter, gegen den Wind, noch immer mit dem Zähneklappern kämpfend.

Jin war klar, dass Yuri sein Vertrauen suchte. Es war offensichtlich, dass sie Leidensgenossen waren, und ebenso offensichtlich, dass Yuri sein Vertrauen verdiente. Und dennoch … obwohl Jin ehrlicher zu ihm war als zu Dante, oder zu irgendjemandem in den letzten Jahren, konnte er in Yuris Nähe nicht unbedarft sein, konnte keinen intimen Freund in ihm sehen. Jins Wesen war so zwiegespalten wie nie zuvor: Ein kleiner, zarter Teil von ihm, der sich nach dem Ausbruch aus der Einsamkeit sehnte, wollte mit seinen neuen Gefährten zusammen bleiben, sich mit ihnen anfreunden und ihnen vertrauen. Sie waren die Einzigen, die wirklich wussten, wie es ihm ging, und auch die Einzigen, denen Devil Jin überhaupt nichts anhaben konnte. Dieser Teil von ihm wollte die Reise mit Yuri und Dante für immer fortsetzen. Der andere, größere Teil jedoch war vernünftig und rational.

»Wir haben nicht mehr unendlich viel Zeit. Devil wird Azazel finden und befreien wollen, er wird Sarris’ Pläne vorantreiben, ich kann ihn immer weniger davon abhalten.«

»Sag mir nicht, dass wir ein Zeitproblem haben. Ich traue mich schon gar nicht mehr, auf die Taschenuhr zu sehen. Sie zeigt schon nach acht Uhr an.«

»Wo wir gerade von Zeit sprechen.« Jin sah wieder zum Meer, wo am Rande der Dunkelheit die weißen Schaumkronen aufblitzten. »Mir ist aufgefallen, dass Sarris’ Rechnung nicht funktioniert.«

»Hä, Rechnung? Welche?«

»Er hat Dante und mich angegriffen, weil er glaubte, unser Blut würde irgendeine Verbindung zu Azazel herstellen. Er hatte den Teil, den Roger übersetzt hat, schon vor uns gelesen. Blut als Band durch die Zeit – funktioniert das?«

Yuri nickte langsam. »Ja … Er sagte, dass entweder Sparda oder Devil Azazel versiegelt haben müssten. Deshalb diese kleinen Monster, die euch gebissen haben. Er hatte irgendein anderes Ritual damit vor.«

»Aber es passt nicht«, sagte Jin eindringlich. »Beide kommen nicht in Frage. Devil ist nicht Azazels Rivale, er ist so was wie sein Abkömmling, und er will ihn befreien. Wahrscheinlich existierte er zu dem Zeitpunkt von Azazels Gefangensetzung noch nicht einmal, sondern ist ein Fragment von ihm, das nicht an einen Ort gebunden ist. Dasselbe bei Sparda – er ist zu jung. Dante sagte, sein Vater hätte bei seiner Rebellion vor etwa zweitausend Jahren nicht nur Mundus verbannt, sondern auch andere mächtige Teufel mit hohen Rängen, aber im Buch Henoch sind viele Passagen deutlich früher datiert.«

»Also saß Azazel schon in seinem Loch fest, als Sparda aufgeräumt hat.« Yuri schob die Hände wieder in die Taschen. »Euer Blut hätte Sarris nichts genützt. Die Frage ist dann natürlich –«

»– wer Azazel eingesperrt hat«, endete Jin. »Wer war alt genug, mächtig genug, wer hatte Grund, ihn – …« Er brach ab, als ihm ein plötzlicher Anfall von Übelkeit die Kehle zuschnürte. Er presste die Hand auf den Mund, starrte auf den sandigen Stein unter seinen Füßen. Sein Herz pochte plötzlich schnell und hart wie ein Presslufthammer. Er hatte das Gefühl zu wissen, wer Azazel unterworfen hatte, wer ihn fernab von allem Licht in Ketten gelegt und lebendig in endlosem Sand verschüttet hatte, doch dieser Raum in seiner Erinnerung war leer; da war nichts, er wusste es nicht – aber … Devil wusste es.

Und Devil brannte darauf, es ihm zu sagen.

»Nein«, stieß Jin hervor, wandte sich ab, brachte mit hastigen Schritten Distanz zwischen sich und Yuri, um ihn nicht anzugreifen. Verdammt, vorhin hatte er es doch geschafft, Devils Drängen zu unterdrücken, vorhin im Wald – warum ging es jetzt nicht, warum war der Dämon in ihm plötzlich wieder so stark, als hätte ihn nichts und niemand jemals aufgehalten? Jin hatte nicht den Hauch einer Chance, und er wusste es.

»Halt ihn auf!«, presste er hervor, ehe sein Sichtfeld jäh heller und schärfer wurde, als hätte sich Nacht in Tag verwandelt – und dann kam der Schmerz. Wie immer erstickte er jeden Keim des Widerstands in seinem hellen Lodern.
 

Doch es war anders diesmal. Anders, weil etwas passierte, das sonst nicht geschah.

Jin war nicht fort. Er wurde nicht gänzlich verbannt in die Untiefen der Ohnmacht, aus denen er später erwachen würde, ahnungslos, was der Teufel angerichtet hatte. Diesmal musste er – und das war sogar schlimmer – wie ein ferner Beobachter von außen zusehen, wie auf seinem eigenen Körper brennend schwarze Linien aus der Haut traten, wie schmerzhaft Hörner aus dem Schädel und Flügel aus den Schultern brachen. Er wollte es nicht sehen, aber er hatte keine Augen, die er schließen konnte; alles floss an seinem entsetzten Bewusstsein vorüber, das sich nirgendwohin abwenden konnte.

Er sah Devil Jin die Flügel zusammenschlagen und sich hinauf in den Sturm katapultieren. Yuri stand unten, windzerzaust und die Fäuste sinnlos erhoben, den Himmel mit dem Blick absuchend. Da stieß Devil Jin auch schon wie ein Pfeil auf ihn nieder, warf ihn brutal zu Boden, begrub ihn unter sich. Er setzte eine Hand auf Yuris Brust – ein Gewicht wie ein Felsblock – und grinste auf ihn herab; ihre Gesichter waren kaum zwei Finger breit voneinander entfernt. Der schwarze Mantel, oder was davon übrig war, flatterte um seine feucht glänzenden Flanken.

Yuri versuchte, Devil Jin von sich zu stoßen. Jin fühlte seine Gegenwehr, fühlte eine schwache Verbundenheit zu seinem eigenen Körper, den ein Anderer kontrollierte.

Yuri hörte auf zu kämpfen und atmete mühsam gegen das Gewicht an. Sein Blick war trotzig. »Was willst du?«

»Ich sollte diese Gelegenheit nutzen, um dich loszuwerden«, zischte Devil Jin.

»Ach ja? Fällt aus.«

Jin sah die Szene von allen Seiten gleichzeitig. Die Bilder glitten mal in die Nähe, mal in die Ferne. Er sah, dass der seltsame Stein um Yuris Hals – das Periapt – schwach von innen gloste. Es hatte noch immer dieselbe tiefrote Farbe.

Devil Jin öffnete seine rechte Faust, und auf der Handfläche begann sich Energie zu ballen. Kleine Flammen, dunkelrot wie verfaulendes Blut, flackerten zwischen den Fingern und wuchsen langsam zu einem pulsierenden Ball aus Licht.

Jin fühlte Angst, die nirgendwo hin konnte. Kein Körper, der darauf reagierte, nur nackte Panik, die ungehindert in den Kosmos strömte und ihn zu überwältigen drohte. Es tut mir leid!, dachte er hilflos. Ich kann nichts tun! Ich kann nicht durchdringen! Er versuchte es noch einmal, doch alle Versuche gingen ins Leere. Es fühlte sich an, als wäre sein Geist in ein riesiges, nasses Handtuch gewickelt. Es geht nicht!

Dann durchfuhr ihn ein neuer Schauder, als Yuris Blick seinen traf. Er sah ihn. Irgendwie.

Keine Sorge. So leicht mach ich’s ihm schon nicht.

Was?

Wir versuchen es zusammen. Halt dich bereit.

Da begriff Jin, dass Yuri mit seinem Bewusstsein Dinge tun konnte, die Jin nicht beherrschte und nicht verstand. Es konnte keine echte Telepathie sein – es war bloß eine völlig andere Art, das chi einzusetzen, eine, für die normalen Menschen die Voraussetzung fehlte.

In das wachsende, faulige Licht getaucht, begann der Stein rot zu pulsieren wie ein schlagendes Herz.

Was soll ich tun?

Ich geb dir ein Zeichen.

Wirst du deine Fähigkeit einsetzen?

Ja, klar. Aber ich muss was aussuchen, das fliegen kann und leicht zu halten ist … Moment noch.

Beeil dich!

Devil Jin, tief über Yuri gebeugt, fletschte die Zähne. Seine Augen funkelten widerwärtig, auch das dritte auf seiner Stirn war geöffnet und flammte rot. Die explosive Masse an Energie in seiner freien Hand tobte, wartete nur darauf, befreit zu werden und vernichtend einzuschlagen.

»Stirb«, zischte der Dämon.

Jetzt!

Jin strengte sich an und kämpfte. Er wusste, dass er nicht körperlich etwas tat, es war allein sein Geist, der vorwärts drängte, der sich so sehr konzentrierte, dass alles Andere in die Ferne rückte. Er fühlte einen Ruck, einen Stoß – und dann sah er Devil Jin rückwärts fliegen, hart nach oben gestoßen, und mit heftigem Flügelschlagen die Balance zurückerobern. Eine zweite Kreatur folgte ihm: ein vogelähnliches Geschöpf mit drei Paar Flügeln in leuchtenden Farben, das ihm flatternd nachjagte.

Auf ihn, Grano!, rief Yuri, als hätte er soeben einen Hahnenkampf eröffnet.

Mitten in der Luft schlugen sie aufeinander wie zwei Kometen, während um sie herum die Winde peitschten.

Jin sah wieder durch Devil Jins Augen. Verzweifelte an der Machtlosigkeit, auf seinen eigenen Körper einzuwirken. Die Fußkrallen des bunten Vogelwesens brachten ihm tiefe Wunden bei, doch auch er selbst teilte heftig aus, als wären die schwarzen Federn Messerklingen. Über allem schwebte Devils Zorn, erfüllte Jins ganzes Sein, ließ ihn mit den Klauen um sich schlagen. Jin sah die schwere, blau leuchtende Gliederkette um seine Hüfte, die nirgendwo hinführte – sie war die Verbindung zu Azazel, dessen Sehnen nach Freiheit auf diese Weise Form angenommen hatte.

Devil Jins krallenbewehrte Faust schlug knapp am gefiederten Hals seines Gegners vorbei; der Vogeldämon schlug einen Haken und versetzte ihm einen Tritt in den Bauch, der sie weit auseinandertrieb und Jins Bewusstsein fast in rotem Schmerz erstickte. Devil Jin stieß sein bekanntes mehrstimmiges Geheul aus und gewann mit zwei kräftigen Flügelschlägen seine senkrechte Haltung zurück; dann streckte er drohend die Hand aus, und Jin wusste, was jetzt kam.

Lass dich fallen!, dachte er flehentlich. Lass dich fallen!

Grano zog die Flügel an und fiel, doch es war schon zu spät. Devil Jins telekinetische Kräfte – diejenigen, die ihm am meisten Energie raubten – ergriffen den Feind und schleuderten ihn nach rückwärts, hinaus über das Meer. Das gottähnliche Wesen überschlug sich zweimal und fing sich; die Wellen unter ihm peitschten hoch, spiegelten seinen Zorn und seine entfesselte Macht wieder. Devil Jin spürte es. Er zögerte.

Erst glaubte Jin, darüber froh sein zu können. Dann aber entschied Devil Jin sich für das Schlimmstmögliche, das er tun konnte – und das Riskanteste. Er preschte erneut auf Grano los und packte ihn, und obwohl dessen ausschlagende Klauen ihm tief in die Flanken drangen, presste er eine Hand auf die Stirn des Vogelgottes. Jin wusste, was das bedeutete, doch er war machtlos.

Oh, Scheiße, was ist das denn?! Aaaaahhhhh!!

Innerhalb eines Wimpernschlags sog Devil Jin mit einer einzigen mächtigen Anstrengung Yuris ganze dämonische Energie aus ihm heraus. Entsetzt sah Jin, wie sich die bunten Vogelfedern auflösten und Yuri wieder zu Yuri wurde, der in Devil Jins Griff zappelte. Dreißig Meter hoch über dem offenen Meer.

Devil Jin ließ ihn los.

Yuri stürzte aus seiner Pranke, doch sofort reagierte er und umklammerte im Fall Devil Jins rechtes Bein. »Ooooh nein, du Scheißer, vergiss es!« Und indem er seinerseits noch einmal alle verbliebenen Kräfte zusammenraffte, zog er sich gegen Devil Jins Widerstand blitzschnell an diesem hoch und bekam mit einer Hand einen Flügel zu fassen. Der Teufel knurrte und trat nach ihm, doch Yuri ließ die Angriffe irgendwie ins Leere gehen, hartnäckig wie eine Zecke.

Devil Jin strauchelte in der Luft. Jin spürte seine einsetzende Panik, als sie abzustürzen drohten.

Ich hab keine Wahl, sagte Yuri verbissen. Jin sah seine Augen kampflustig funkeln.

Tu es, antwortete Jin. Ihm war alles egal. Tu es. Ich vertraue dir.

Nein, tust du nicht.

Mit einem unflätigen Fluch schlug Yuri beide Arme um ihn, dann die Beine, presste dem Dämon dessen eigene Gliedmaßen an den Körper. Ein eiserner Griff, aus dem Devil Jins Wut ihn nicht befreien konnte. Kein normaler Mensch wäre dazu in der Lage, doch Yuri war kein normaler Mensch; er gab keinen Millimeter nach. Unfähig, mit den Flügeln zu schlagen, fiel Devil Jin vom Himmel.

Jin fühlte ein wildes Entsetzen über Yuris Stärke. Was gerade geschah, war zu unglaublich. Schlagartig fiel ihm wieder ein, wie Yuri vor Sarris gestanden hatte, der gerade ausgeholt hatte, um seine Peitsche auf ihn niederkrachen zu lassen. Wie Yuri den erstarrten Sarris betrachtet hatte, den Blick zugleich müde und irgendwie entrückt. Über ihm schwebten die sieben Dornen wie giftige Schlangen, die ihn nur zu gerne gebissen hätten. Und dann der Schatten … Im Grunde war es gar kein Schatten, eher eine Art Spirit, ein zweites Sein, das da über Yuri schwebte, etwas Unheiliges mit schweren, gefiederten Flügeln, das eine unsägliche Kälte und Grausamkeit ausstrahlte. Licht schwappte in Wellen aus der Erscheinung hervor, ein dunkles, irgendwie gefräßiges Licht, das alles in seiner Umgebung zu schlucken versuchte. Jin erkannte, dass das Wesen nackt war, reduziert bis auf die Grundrisse seines Seins; alles Andere hatte Yuri ihm genommen, als er es nach einem monatelangen Kampf mit seinem Geist niedergeworfen hatte. Jin wusste all diese Dinge instinktiv, als er das groteske und zugleich engelsgleiche Geschöpf ansah. Seine Augen wollten sich nicht lösen. Dieses Etwas war dazu gemacht, viele Meilen unter dem Meer zu schlafen oder in ewigem Schnee verschüttet zu sein. Es war nichts, das auf der Welt sein sollte.

Devil Jin brüllte vor Wut. Sie fielen als ein wild ringendes Knäuel, immer schneller durch die eiskalte Luft auf die aufgewühlte Masse des Meeres zu.

Jin war starr vor Entsetzen. Er sah die Schaumkronen näher kommen, das Wasser grau wie Fels. Dann schlugen sie ein. Lärm, Schmerz, dann nur noch alles überwältigende Kälte. Devil floh, und ebenso floh Yuris übermenschliche Kraft. Sie blieben als die zwei Männer zurück, die sie waren, als die Wucht des Falls sie tief unter die Oberfläche des Atlantiks trieb. Jin sah kein Licht über sich. Er fühlte nur noch, wie er rückwärts tiefer sank, Yuris Arme noch immer fest um seine Brust geschlungen. Die Kälte hatte alles betäubt, war wie flüssiges Eis in ihr Blut geströmt. Sie konnten sich nicht bewegen. Jin fühlte nichts mehr bis auf eine ganz schwach warme Stelle zwischen seinen Schultern, dort, wo Yuris Periapt sich an ihn drückte.

Akt XII: Aus den Tiefen - 16-1

16-1: JIN
 

Jin wusste nur noch, dass seine Muskeln gekrampft hatten wie unter Strom. Der Atlantik konnte nur drei oder vier Grad warm sein. Die Kälte hatte ihn und Yuri buchstäblich schockgefrostet.

Aber sie hatte auch die Dämonen vertrieben. Die beiden Wesen, die sich ihrer Körper bemächtigt hatten und dabei gewesen waren, einen Kampf auf Leben und Tod an Aberystwyths Kai auszutragen.

Jins Erinnerung an alles, was danach kam, war mehr als lückenhaft. Er wusste, dass sie irgendwann das Wasser wieder durchstoßen und ihre Lungen mit nicht weniger eisiger Luft gefüllt hatten. Jin hatte das befestigte Ufer gesehen – den im Licht glänzenden Sand vor der Promenade, irgendwo, zu weit entfernt. Dann war ein Schatten über ihm gewesen. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht, und dann hatten zwei Hände Jin unsanft an den Schultern gepackt und aus dem Wasser gerissen wie ein Fischadler seine Beute. Plötzlich war er am Ufer, wurde grob auf den nassen Beton geworfen, wo er unkontrolliert fröstelte wie im Fieber. Einen Moment später war Yuri neben ihm, genauso nass und kältestarr. Der Schatten, der sie gerettet hatte, stob geräuschvoll davon. Nichts als Kälte und Dunkelheit umgaben sie.

Später war Jin noch einmal ganz kurz zu sich gekommen, als er auf etwas Lärmendem lag, einer holpernden, dröhnenden Unterlage. Etwas lag über ihm, aber er wusste nicht was, da sein Leib nichts fühlte. An seinem Handgelenk war etwas Warmes – die Hand eines Menschen, mit festem, aber vorsichtigem Griff. Jin wähnte sich außer Gefahr, zumindest in diesem Moment. Dann versank alles wieder im Nichts.
 

Diesmal war sein Erwachen endgültig und stabil. Er schlug die Augen auf und sah … Dante. Was nicht allzu überraschend war, wenn Jin darüber nachdachte – wer sonst hätte sie schnell genug aus dem Wasser fischen und von dort wegbringen können? Der Teufelsjäger saß in einem grau bezogenen Sessel, die Hände hinter dem Nacken, und döste. Sein Mantel war über der Brust aufgeschlagen, das schwarze Shirt darunter hatte nasse Flecken. Meerwasser, höchstvermutlich.

Jin war schwindelig. Sein Körper fühlte sich wie ein Stein an, die Glieder lahm und schlaff. Er verstand, dass er Unmengen an Energie verloren hatte – erst durch Devils Übernahme und sein Kämpfen, dann durch die panischen Versuche seines Körpers, die Temperatur zu halten. Es war kein Wunder, dass er völlig am Ende war.

Er sah sich in dem Raum um: Sie waren nicht im Seaside, auch nicht in Rogers Versteck, sondern in irgendeinem Wohnzimmer. Die Wände waren in hellem Beige gestrichen, ein paar berahmte Druckereien mit Meeresmotiven zierten sie hier und dort. Eine kronleuchterähnliche Deckenlampe brannte über ihnen. Jin lag auf einem grauen Diwan, und als er vorsichtig den Kopf zur anderen Seite drehte, entdeckte er Yuri direkt neben sich. Sie lagen beide unter derselben riesigen braunen Decke und wärmten sich gegenseitig. Normalerweise wäre Jin so viel Nähe unangenehm gewesen, doch im Moment hatte er keine Kraft, sich daran zu stören. Immerhin lebte er noch, und jetzt musste er verarbeiten, dass er zuerst von Yuri und gleich danach offenbar von Dante gerettet worden war. Wie lebensunfähig er doch war, seit Sarris Azazel auf ihn aufmerksam gemacht hatte; zu viele Situationen seitdem, die ihn überforderten und Devils Gewalt aussetzten.

Yuri neben ihm stöhnte und rieb sich die Augen. »Oh, was für ’ne Kacke.«

Jin wandte sich wieder nach Dante um und bemerkte, dass dieser sie inzwischen beobachtete. »So«, sagte er nun, räkelte sich und kreuzte die Arme über dem Bauch. »Haben eure Mütter euch nicht beigebracht, dass man nach dem Essen nicht schwimmen geht?«

»Wir brauchen jetzt keine Sprüche«, murrte Yuri.

»Nein, ihr braucht Tritte. Ich hätte nicht übel Lust, das zu übernehmen. Was zur Hölle stimmt mit euch nicht?«

Jin war zu müde, um sich zu rechtfertigen.

»Halt bloß den Rand«, brummte Yuri. »Wir mussten eine Katastrophe verhindern.«

Dante gab einen abschätzigen Laut von sich, der wie »Tse« klang, und raffte sich träge aus dem Sessel hoch.

»Wo sind wir?«, stellte Jin diejenige Frage, die ihn gerade am meisten beschäftigte.

»Bei Rhys.«

»Bei Rhys?«

»Wo denn sonst, Superheld? Wo hätte ich euch hinbringen können? Zwei Dinge qualifizieren Rhys als den einzigen in Frage kommenden Komplizen: Er weiß bescheid. Er hat einen Pickup. Er wohnt nicht weit weg. Oh, das waren drei Dinge.« Dante streckte sich und trottete Richtung Zimmertür.

»Warte! Wo ist Rhys?«

»Na, arbeiten. Unten.«

»Wie hast du uns hierhergebracht?« Jin erinnerte sich an den Schatten, der ihn gepackt und an Land gestoßen hatte. »Hast du deinen … Devil Trigger benutzt?«

Dante schaute über die Schulter. »Ja, natürlich. Sei froh. Euch zusammen ins Wasser plumpsen zu sehen hat mir genug Adrenalin verpasst, ganz ohne Kampf.«

»Und dann hast du …«

»Dann bin ich zu Rhys, hab ihn in seinen Pickup geschmissen und ihn dazu gebracht, euch einzusammeln. Was glaubst du, wie viel Zeit man hat, bevor bei solchen Temperaturen jemand den Löffel abgibt?«

»Ich weiß es nicht«, gab Jin zu.

»Tja, ich auch nicht.« Dante zuckte die Schultern und verschwand durch die Tür.

Jin drehte sich wieder zu Yuri um, was ihn mehr Mühe kostete als erwartet. Zwischen ihnen war die Wärme konzentriert, weil ihre Körper immer noch heizten; Jin wusste, dass er sofort frieren würde, wenn es wagte, die Decke von sich zu schieben. Ihre müden Blicke trafen sich.

»Tut mir leid«, brummte Yuri.

»Du hast alles richtig gemacht.«

»Quatsch.« Er zog die Nase hoch, und es klang, als wäre noch reichlich Wasser darin. »Ich hätte wissen müssen, dass er das machen würde. Du hast uns gesagt, dass er das kann, wie Azazel. Und Devil Jin ist viel stärker geworden, er bekommt immer mehr Kraft von Azazel. Ich hab ihn unterschätzt.«

»Du bist nicht der Erste, dem das passiert.« Jin horchte in sich hinein und fand dort, voller Bitterkeit, das leise Drängen und Flüstern, von dem er wusste, dass es Devils Lauer war.
 

Dante kehrte mit heißem Tee zurück. Rhys musste ihn sofort nach ihrer Ankunft aufgesetzt haben, denn er hatte schon eine trinkbare Temperatur. Dennoch war Tee Jin noch niemals so heiß im Körper vorgekommen. Um einen Schweißausbruch zu vermeiden, musste er sich nun doch halb aus der Decke befreien und entdeckte mit mildem Erschrecken, dass er – natürlich – nichts anhatte, bis auf ein noch klammes Bettlaken, das um ihn gewickelt worden war. Dasselbe galt offenbar für Yuri, den das jedoch nicht im Mindesten zu stören schien. Er umklammerte seine Tasse wie einen rettenden Strohhalm, die Augen nicht von ihr abwendend.

»Was hat deinen Freund Devil denn diesmal auf die Palme gebracht?«, wollte Dante wissen.

Jin musste kurz darüber nachdenken, so sehr war der simple Grund für ihn schon wieder in die Ferne gerückt. »Es war die Übersetzung«, murmelte er. »Azazel ist gefesselt und vergraben. Deshalb kann er nicht gerufen werden. Wir haben uns gefragt, wer es getan hat. Sarris hatte deinen Vater im Verdacht …«

»Den hatte ich auch im Verdacht«, gab Dante zu. »Würde mehr Sinn ergeben als Devil.«

»Nein, keiner von beiden kommt in Frage. Es …« Jin zuckte zusammen, als ihn wieder ohne jedes Vorzeichen eine Welle von Übelkeit schüttelte. Er spürte Yuris und Dantes alarmiertes Auffahren und beeilte sich, sie zu beruhigen. »Nicht, es ist … in Ordnung«, sagte er und schluckte mühsam. »Er hat es mir gezeigt … Azazel hat … es mich sehen lassen.«

Und wie er das hatte. Erst jetzt erinnerte sich Jin daran, warum sein Widerstand gegen Devil so schnell und haltlos zusammengebrochen war. Wie Azazel seinen Verstand geflutet hatte mit Bildern, mit Visionen, mit Traumfragmenten, die so erschreckend waren, dass Jin sie sofort verdrängt hatte. Jetzt kehrten sie zurück. Er hatte alles gesehen.

Das Gefängnis. Ein Loch unter der Erde, Tausende Fuß tief, lichtlos. Urzeitwürmer krochen dort durch undurchdringliche Finsternis, Wesen ohne Augen und Ohren. Tote Körper zersetzten sich seit Jahrhunderten zu Ölen und Gasen, ihre Seelen glitten namenlos vorüber. Jin kannte keines dieser Geschöpfe, sie gehörten in ein präevolutionäres Äon, das die Menschheit nie entdeckt hatte; nichts, das dort unten lag, hatte jemals ein Mensch erblickt oder erträumt. Der, der Azazel dort hinuntergestoßen hatte, thronte über ihm in einem schwarzen Universum; ein Raum, der sich von Himmel und Erde trennte, in dem nur Sterne glühten und Staub umherwirbelte. Er hatte Flügel aus Marmor und trug ein Schwert so lang wie er selbst. Seine Stimme war ein Donner ohne jedes Echo. Jin sah auch, wo Azazel geboren war: eine schwarze Ebene in einer fernen Welt, wo Gebäude wie Pilze aus dem Boden wuchsen, schief und blasig, Geschwüre mit Aus- und Eingängen. Dampf schwebte zwischen ihnen wie ein giftiger Nebel. Nichts in dieser Welt hatte eine klare Form; keine Linie war gerade, keine schien auch nur in einer einzigen Dimension zu verlaufen; alles war halb hier, halb dort, verschwand und kehrte wieder. Diesen Ort zu sehen hatte Jin bis tief ins Mark mit Entsetzen und Ekel erfüllt. Die Luft roch so tot, so leer, wie ein Fetzen des Weltalls. Dies war die Unterwelt, die Hölle, die Welt der Teufel – ein Ort so wandelbar, fremd und widerwärtig, dass der bloße Anblick einem Menschen den Schweiß auf die Haut und die Panik in den Geist trieb. Schwarze Sonnen, weggefegte Welten … das Ende aller Dinge, der Stillstand aller Zeit …

Jin presste die Hände auf die Augen und würgte, ein krampfartiges, hilfloses Würgen, das nichts hervorbrachte. Zum Glück. Er stöhnte leise. Dies konnte nicht viel schlimmer werden; es nützte schon gar nichts mehr, sich vor Dante und Yuri zu schämen. Er hatte ohnehin jedes Gesicht vor ihnen verloren.

Yuri legte ihm eine Hand auf den schweißfeuchten Rücken. Es war keine willkommene Berührung, aber Jin ertrug sie.

»He, Jin … Wer hat es getan?«

»Mundus.«

Dantes Blick zuckte hoch. »Was

»Mundus hat Azazel versiegelt.«

»Wie – warum?«

Jin versuchte, die Informationen, die auf ihn eingeprasselt waren, in eine Ordnung zu bringen. Mundus war der Herrscher der Unterwelt – seines Teils der Unterwelt –, das wusste Dante selbst am besten. Doch … »Die mächtigen alten Blutlinien kämpfen um die Thronfolge, oder nicht?«

»Kann man so sagen … Den Herrscheranspruch zu vererben funktioniert nicht immer, eben weil es ständig Usurpatoren aus anderen Teufelsgeschlechtern gibt.«

»Azazel war Mundus’ Rivale«, sagte Jin. »Als er den Thron bestieg, hat Azazel ihn herausgefordert. Er war älter als Mundus, Jahrhunderte älter, und sein Anspruch war legitimiert. Er wollte, musste die traditionelle Thronfolge unterbrechen.«

»Nicht ungewöhnlich«, kommentierte Dante, aber Jin bemerkte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme.

»Sie kämpften drei Tage ohne Unterbrechung. Sie verwüsteten ganze Landstriche … Und schließlich besiegte Mundus Azazel am Fuße eines Berges aus Knochen. Er spießte ihn einfach auf ein herausragendes Rückgrat und brach seine Macht.« Jin befeuchtete sich die Lippen und merkte, dass sein Unterkiefer leicht zitterte, ohne dass er es verhindern konnte. »Damit hatte er seinen Herrscheranspruch besiegelt. Für dessen Aufsässigkeit verbannte er Azazel in sein Verlies unter der Wüste. Dort hatte Azazel viel Zeit, seine Kräfte zu erneuen, und nun … ist er endlich stark genug …«

»Verstehe«, sagte Dante.

»Tust du das? Du hast Mundus besiegt. Deshalb hatte Devil Angst vor dir. Aber seit er durch das Ritual mit Azazel verbunden ist, kannst du ihn nicht mehr einschüchtern. Im Gegenteil, deine bloße Nähe provoziert ihn.« Sie tat es auch jetzt. Jin hatte fortwährend an sich beobachtet, wie er unterbewusst immer wieder passiv-aggressiv auf Dante reagierte, ohne zu wissen warum. Er steuerte weiter dagegen – jetzt umso mehr, da er sich seinen grundlosen Groll auf den Dämonenjäger nun erklären konnte.

»Gut, wenn also ich in deiner Nähe gewesen wäre, hätte er alles daran gesetzt, mich ganz sicher kaltzumachen?«

»Oh, das wollte er mit mir auch machen«, warf Yuri träge ein. »Er weiß auch, wer ich bin.«

Dante lehnte sich wieder in den Sessel und kreuzte die Arme. »Also ist das ein Problem obendrauf. Nicht nur Sarris will Azazel beschwören, sondern Azazel lässt auch keine Gelegenheit aus, den Weg dafür weiter zu ebnen. Durch Devil.«

»Richtig … Wenn wir Sarris aufhalten, egal wie wir das machen, haben wir immer noch das Problem, dass Devil immer stärker wird. Und Jin langsam, aber sicher zu seinem, naja, willenlosen Gefäß macht.«

Jin zog die Decke fester um sich, obwohl ihm heiß war, fast unerträglich heiß. Was Yuri da so lapidar ausgesprochen hatte, war sein Alptraum, eine Aussicht, die er in die dunkelste Ecke seines Verstandes zu verbannen versuchte, weil er es nicht ertragen konnte, sie in vollem Licht zu sehen. Er begriff, dass es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab, dass genau das passieren würde, was sein ganzes Sein fürchtete. »Mundus wollte nicht riskieren, je wieder einer Bedrohung durch Azazel ausgesetzt zu sein«, sagte er mit bebender Stimme, unfähig, sich zusammenzunehmen. »Also versiegelte er ihn, genau wie Sparda es später mit Mundus tat. Aber … auch das stärkste Siegel bricht irgendwann.«

Dante nickte mit behutsamer Zustimmung. »Sicher … Sonst hätte Mundus nicht zurückkehren können.«

»Dein Vater erneuerte auch das Siegel um Azazel, als er Mundus einsperrte, und vernichtete alle Hinweise auf den Ort des Kerkers. Doch auch wenn die Fessel lange gehalten hat, wird sie brechen. Das war Zafinas Prophezeiung. Sie existiert nur, weil Kazuya und ich existieren. Versteht ihr, was das bedeutet? Azazel wird zurückkommen – einfach nur, weil es uns gibt! Er hat einmal versucht, die Macht an sich zu reißen, und ist an Mundus gescheitert. Aber wenn er die Welt der Menschen unterwerfen kann … was Mundus nicht geschafft hat … dann kann er die Unterwelt genauso leicht erobern.«

Dante schüttelte den Kopf und fragte verständnislos: »Warum reden wir überhaupt darüber? Wenn er das wirklich wagt, gibt’s ein Rückflugticket!«

»Sei nicht so anmaßend!«, versetzte Jin, weil es ihn wirklich ärgerte. »Du kannst ihn nicht töten, das weißt du. Du kannst ihn genauso wenig töten, wie du Mundus töten konntest.«

Dante ließ die eben noch erhobenen Arme sinken.

Yuri horchte auf. »Wie, du hast den Oberboss gar nicht getötet?«

»Es ist nicht möglich, ihn zu töten«, behauptete Dante. »Ich hab ihn zurück in die Verbannung geschickt, für die nächsten – ich weiß nicht – tausend Jahre.«

»Ach was?«

»Ich kann Azazel töten«, sagte Jin. Seine Stimme klang wieder fester, was ihn allerdings viel Mühe kostete. Im Grunde hatte er genauso viel Angst wie vorher.

»Wie kannst du dir da sicher sein?«, bohrte Dante. »Nur weil Sarris das gesagt hat?«

»Weil es die Wahrheit ist. Ich weiß es. Nur jemand mit dem Teufelsgen kann ihn besiegen. Und ich meine nicht versiegeln; ich meine vernichten

Dante musterte ihn unwillig, wie jemand, der gerade dazu überredet wird, sich eine richtig dumme Ausrede anzuhören. Schließlich ließ er die Schultern fallen und nahm seine übliche gleichgültige Haltung ein. »Okay, von mir aus. Dann sind wir ja in Sicherheit. Du erledigst den Job.«

Einen Moment herrschte brütendes Schweigen. Jin hielt seinen Tee in der Hand, ohne ihn zu trinken, weil ihm dafür einfach zu warm war. Nur der Umstand, dass er nicht mehr als ein Laken am Körper trug, hinderte ihn daran, die Decke ganz abzustreifen.

Schließlich, nach einem Seitenblick auf ihn, stellte Yuri die fällige Frage: »Sind unsere Klamotten okay?«

»Rhys wollte die in den Trockner schmeißen«, sagte Dante. »Was eure Mäntel betrifft, dazu muss ich nichts sagen, oder? Vielleicht hat Roger noch Zwirn. Mit Haaren wird das nämlich nichts.« Dante lächelte zufrieden und strich seinen eigenen über der Brust glatt. »Somit bin ich diesmal der Einzige, der in einem gepflegten und heilen Mantel aus der Sache rausgeht. Wer hätte das gedacht?«
 

Jin war einigermaßen beruhigt, als sein Mantel sich trotz einiger angerissener Nähte noch als tragbar erwies. Solange er nicht auf dem Thron der Zaibatsu Platz nehmen wollte, war diese rein optische Beeinträchtigung für ihn nur von sekundärer Wichtigkeit. Was Yuris Mantel betraf … Der sah nun keinesfalls besser aus als vorher, doch sofern es keinen weiteren Zwischenfall gab, würde er Yuri nicht in vollem Lauf von den Schultern rutschen. In krassem Gegensatz zum Zustand ihrer Kleidung war die Taschenuhr gänzlich unbeeindruckt: Wasser tröpfelte aus ihr, als Dante sie Yuri zurückgab, doch die Zeiger liefen, als wäre ihnen alles andere egal.

Weit schlechter ergangen war es den Seiten der Dschaizan-Abschrift. Jin zog die aneinander haftenden Folios auseinander, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie es um sie stand. »Man kann die Symbole noch erkennen … aber …«

»… der Dämon, den man beschwören will, braucht eine gute Brille?«

Jins Blick wanderte zum Émigré-Dokument, das als letztes noch auf dem Tisch lag. Auf wundersame Weise zeigte es keinerlei Anzeichen eines Wasserschadens: Das Leder des Einbands war glatt, nirgends aufgeschwemmt, obwohl es sicher niemand liebevoll mit Fett imprägniert hatte; die Seiten zeigten keine Wellung, keine einzige Unleserlichkeit; auch die verstörenden Abbildungen im schwarzseitigen Mittelteil waren gestochen scharf.

Nach kurzem Zögern schob Jin das widerwärtige Buch wieder unter den Mantel. »Gehen wir«, sagte er.
 

Rhys bewirtete Kunden in seinem Schankraum im Erdgeschoss, als die Drei, so vorzeigbar wie irgendmöglich, über die Holztreppe in den abgegrenzten Lagerraum hinter der Theke stiegen. Lärm erklang aus der Stube, vor allem das Gelächter junger, angetrunkener Leute. Sicher: Eine Tagung wurde von Nachwuchswissenschaftlern gerne als Kurzurlaub für diverse Zerstreuungen genutzt. Und was hatte Aberystwyth ansonsten zu bieten?

Dante zog den fleckigen Vorhang beiseite, der den Lagerraum abtrennte, und sie traten hinter dem Tresen vor und durchquerten den Raum zügig, um nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen als nötig. Dantes roter Mantel war allerdings ein Blickfang. Als auch Rhys ihn sah, schien es Jin, als würde der Wirt kurz zusammenzucken, ehe er das angedeutete, grüßende Nicken hastig erwiderte. Jin konnte nur mutmaßen, wie Dante ihn überredet hatte, mit dem Pickup zu Hilfe zu kommen.

»Hast du ihn bedroht?«, fragte er Dante, als die Tür hinter ihnen zugefallen war und sie im Regen standen. »Mit einer Pistole?«

Dantes Schulterzucken zeigte, wenn man genau hinsah, eine Mischung aus betonter Lässigkeit und Verlegenheit. »Ich würde gerne behaupten, ich mache das nicht, aber leider mache ich das«, war seine vieldeutige Antwort.

Sie trotteten durch den Nieselregen zum Seaside, die nächtlichen Straßen leer und lautlos bis auf ein gelegentliches, abnorm hallendes Klappern, das der Wind verursachte. Jin fühlte sich mutlos und erschöpft. Was passiert war, zeigte ihm, dass er sich – wieder einmal – falsche Hoffnungen gemacht hatte. Als er Yuri im Wald begegnet war, hatte er Devil erfolgreich unterdrückt – oder glaubte zumindest, das getan zu haben –, nur um kurz danach am Strand die Lektion erteilt zu bekommen, dass er mitnichten irgendeinen Widerstand gegen den Teufel leisten konnte. Yuri hatte ihn aufgehalten, jedoch nur mit einer äußerst radikalen Maßnahme, die sie Beide leicht das Leben hätte kosten können. Es stimmte: Devil war stärker geworden, deutlich stärker. Am Anfang hatte es noch genügt, ihn kräftig gegen eine Wand zu schmettern oder Ähnliches, um Jin das Bewusstsein und damit Devil die Kontrolle zu rauben. Nun aber ließ er sich nicht mehr gegen Wände schubsen.
 

Es war kurz nach drei Uhr nachts, als sie im Hotel ankamen.

Jin entdeckte einen versäumten Anruf von Nina auf seinem Telefon und beschloss, sich im Laufe des nächsten Tages bei ihr zu melden. Höchstvermutlich war es nur wieder einer ihrer Routineanrufe, um ihn zu fragen, wie es ihm ging, ob er vorankam und ob sie etwas für ihn tun konnte. Möglicherweise wollte sie ihm auch irgendetwas über die Firma erzählen; darüber wollte er nichts hören.

Er stellte sich ein Glas Wasser auf den Nachttisch. Nicht zum Trinken – denn in Britannien war sogar das Regenwasser gechlort –, sondern weil ihn das beruhigte; eine sehr, sehr alte Angewohnheit, seit man ihm beigebracht hatte, dass man an der Oberfläche eines Wasserglases die frühsten Anzeichen eines Erdbebens erkennen kann. Hier hatte er keine Erdbeben zu befürchten, doch trotzdem hatte diese ritualisierte Maßnahme eine versammelnde Wirkung auf ihn. Zu vieles, das ihm durch den Kopf ging und ihn aufwühlte, doch seine körperliche und geistige Energie war am Ende, und er konnte sich nicht damit beschäftigen. Dennoch hing sein Blick lange an den mondbeschienenen Gardinen vor dem Fenster und dem diffusen Schatten, den sie in das Zimmer warfen.
 

Am Morgen traf er die Anderen in der winzigen, natürlich leeren Hotellobby, im Gepäck auch wieder die Schriften, die ebenso wie Jin und Yuri ein unfreiwilliges Bad genommen hatten. Die vierzehn Seiten und das Émigré-Manuskript waren auf der Heizung leidlich getrocknet; letzteres war tatsächlich ohne jeden Schaden geblieben, die losen Pergamentblätter der Dschaizan-Kopie jedoch waren in einem katastrophalen Zustand, gewellt und verwaschen, die Symbole nur noch mühsam erkennbar.

»Vielleicht gibt sich das wieder«, kommentierte Dante sorglos. »Wir lassen sie bei Roger weiter durchtrocknen.«

»Bei Roger trocknet ja auch alles so toll«, brummte Yuri.

Gemeinsam traten sie den Weg zu Roger an. Jin ging voraus, die Schriftstücke sicher in den Taschen.

»Meine Gelenke fühlen sich alle an wie deine Türscharniere«, beklagte sich Yuri auf halbem Weg bei Dante, der das mit einem gönnerhaften Lächeln quittierte.

Jin drehte sich nicht um, musste aber insgeheim zustimmen: Auch sein ganzer Körper fühlte sich steif und wund an, jeder Schritt über das Grasland kostete Mühe. Es regnete nicht mehr, doch der Himmel war ein Brei aus Grautönen, der Boden aufgeweicht und nachgiebig.
 

Roger empfing sie mit einem mürrischen: »Wie schön, dass ihr euch auch mal wieder blicken lasst!« Er trug einen kleinen Morgenrock und bot, wie immer, keinen schönen Anblick.

»Bist du weitergekommen mit der Übersetzung?«, fragte Yuri. »Und wie geht’s Sarris?«

»Sicher, sicher, aber es gibt nicht viel, das wir nicht schon vorher wussten. Und unser Gast … von dem höre und sehe ich nichts.« Roger zuckte die Achseln.

»Du bist aber schon sicher, dass ihn nicht irgendwas da unten gefressen hat?«, erkundigte sich Dante mit zusammengezogenen Brauen.

»Jaah, jaah. Der ist kein Anfänger, der Mann … hat schon diverse Bannkreise angebracht …« Roger wies sie mit der Hand an den Teetisch und fuhr fort: »Im Buch steht nur noch, dass, wer Azazel auf die Erde holen will, zur Stätte seines Gefängnisses gehen und ein Oneirisches Tor erschaffen muss. Von zwei schwarzen Sternen ist dort nicht die Rede, auch nicht davon, dass irgendein Clan von Wächtern dort patrouilliert.«

»Zafina war … sehr überzeugend«, sagte Jin vorsichtig.

»Ja, so überzeugend, dass sie einen Killer für ihn mitgebracht hat«, stimmte Dante zu.

»Vielleicht bewacht sie Azazels Grab ja wirklich.«

»Dazu müsste sie wissen, wo es ist.«

»Wenn es wirklich die Pflicht ihres Clans ist, diesen Ort zu bewachen, dann weiß sie das sehr genau.«

Roger wedelte mit den Händen. »Da wäre eins noch zu ergänzen«, erklärte er, »nämlich dass Azazels Gefängnis nur dann zugänglich wird, wenn … tja, wenn Chaos und Leid auf der Welt groß genug geworden sind.«

In Jins Augen waren Chaos und Leid auf der Welt schon lange groß genug, auch ohne das bemühte Zutun von Sarris. Vielleicht aber hatte es seine Wirkung bereits getan: Wenn negative Energie Azazels Kerkergrab sichtbar machte, dann war es vielleicht schon geschehen – und deshalb war Zafina gekommen, um Jin zu töten. Um zu verhindern, dass Azazel aus den Untiefen von Mundus’ Verlies heraufbeschworen wurde. Wenn er nur herausfinden könnte, ob irgendwo in einer Wüste etwas Unbekanntes aufgetaucht war, irgendein anomales Phänomen, eine spukende Wanderdüne, oder – und ihm graute bei dem Gedanken – ein abstoßendes, unirdisches Gebilde wie diejenigen, die ihm Azazel in seinem Traum gezeigt hatte …

»Jedenfalls ist alles, was der Kerl vorhatte, vergebliche Liebesmüh, richtig?«, fasste Yuri für alle zusammen. »Azazel beschwören geht nur an seiner Grabstätte, nur da entsteht dieses Oneirische Tor.«

»Ja, weil Azazel sich nicht in der Unterwelt aufhält«, bestätigte Roger. »Und um ihm physische Form zu geben und den verbotenen Ort sichtbar zu machen, muss man die Welt mit Chaos überziehen.«

»Aber wie?«, hörte Jin sich fragen. »Das bisschen Unfug, das Sarris mit Dämonen getrieben hat?«

»Unfug? Der Typ hat mir ’ne Menge Ärger gemacht«, bemerkte Dante verstimmt.

»Mag sein, aber genügt das? Hat das Zafina und ihren Clan so nervös gemacht?«

»Nein, das warst du«, berichtigte Yuri. »Du und dein Vater, und dass ihr gekämpft habt. Sarris hat es noch nicht geschafft, Azazels Fesseln zu sprengen, das würdest du merken, meinst du nicht?«

Jin erwiderte den forschenden Blick finster. »Natürlich. Eben das meine ich. Sarris’ Mühen haben ihm nichts genützt, und das weiß er jetzt. Selbst wenn er herausfindet, dass es Mundus ist, dessen Blut er bräuchte, um einen Weg zu Azazel zu schaffen … Was bringt ihm das?«

»Ja, sein Plan B ist ’ne Sackgasse«, stimmte Dante zu.

»Also was müsste man tun, um wirklich so viel negative Energie zu erwirken? Woher kommt diese … Bosheit, die Azazel befreit?«

»Jin.« Yuri schüttelte den Kopf, seine Geduld sichtlich am Limit. »Wir haben darüber geredet, du und ich, und meine Meinung dazu kennst du.«

Natürlich erinnerte sich Jin an Yuris leidenschaftliches Statement bei ihrem gemeinsamen Abendessen vor kurzem. »Du hast Krieg gesagt.«

»Ich kann’s auch noch mal sagen, wenn du’s noch mal hören willst. Es gibt nichts, das schlimmer ist.«

»Krieg wäre wohl ein sicherer Weg zu diesem Ziel«, sagte Roger und faltete die dürren Finger auf dem Tisch. »Je größer, desto besser. Davon habe ich schon ganz, ganz viel gesehen – und du auch, Yuri, eh? Krieg ist eine sehr beliebte Methode, um viel Leid zu verursachen und dämonischen Aktivitäten den Weg zu ebnen.«

»Hör auf damit!«, sagte Yuri scharf. »Niemand braucht oder will Krieg, nicht in eurer Zeit! Mir reicht’s!« Er hatte beide Fäuste auf den Tisch geschlagen, doch jetzt schaute er sich um und zog die Hände auf seinen Schoß zurück.

»Was ist mit Menschenopfern im Allgemeinen?«, hakte Jin nach. Die Frage widerte ihn selbst an. Er wusste, welche Antwort er hören wollte.

»Menschen zu töten nützt rein gar nichts«, antwortete Roger. »Tote leiden schließlich nicht.«

Jin atmete still auf. Das war die gute Antwort. Zahllose Leben zu beenden war keine Notwendigkeit, noch nicht mal eine Option. Es ging ausschließlich um Verzweiflung, um Schmerz, um Angst – darum, die Welt aus ihren Fugen zu heben.

Das war sicherlich leichter. Viel leichter.

»Kommen wir zu unserem zweiten Problem«, wechselte Roger das Thema. »Der Transporter. Stellt euch vor: Es geht voran! Sarris hat tatsächlich Wort gehalten, ich habe eine Teslaspule in meiner Truhe gefunden!«

»So ist er leider«, murmelte Dante. »Hat mich noch nie belogen.«

»Ich verstehe. Jedenfalls können wir damit arbeiten. Nun brauche ich nur noch ein winziges bisschen Hilfe, um das Ding einzubauen. Ein alter Mann ist ja kein Dieselmotor!«

»Ah, okay«, sagte Yuri vorsichtig. »Also könntest du mich, wenn das funktioniert, zurückschicken …«

»Da wir die Émigré-Schrift haben, ja. Ich weiß, dass du meinst, hier noch was zu erledigen zu haben …« Roger sagte das beinahe feierlich, und Jin sah einen vieldeutigen Ausdruck in dem kleinen, zerfurchten Gesicht. »… aber du stehst auch unter Zeitdruck. Noch bin ich nicht fertig, aber wenn ich fertig werde, müssen wir bereit sein.«

»Okay«, sagte Yuri genauso ausweichend.

»Was, okay

»Okay.«

»Junge, Junge«, seufzte Roger.

Jin betrachtete die Beiden, sah den stummen Austausch von Blicken zwischen ihnen, und plötzlich drängte sich etwas übermächtig in sein Bewusstsein. Zuerst dunkel, dann immer klarer überkam ihn die Erinnerung an einen Traum, den er in der vergangenen Nacht geträumt hatte – einen, den er vergessen oder verdrängt hatte, der ihm erst jetzt wieder einfiel.

Da war ein Vogel gewesen. Ein Rabe, schwarz wie die Nacht, der mit langsamem Flügelschlag durch die Dämmerung flog. Ob es Morgen- oder Abenddämmerung war, schien nicht von Bedeutung zu sein; es war ein Zwielicht, das irgendwo zwischen Tag und Nacht herrschte, ein dünnes graues Band zwischen zwei breiteren Schichten, wie eine Straße zwischen Wald und Feld. Der Rabe kreiste über Jin, der sich selbst nicht fühlen oder verorten konnte, genau wie in dem Moment, als er Devil Jin und seinem Kampf gegen Yuri von außen hatte zusehen müssen; er wusste nicht, ob er selbst real war, oder ob wahrhaft ein Teil von ihm in diesem Raben steckte, dessen schwarze Flügel denen von Devil Jin so ähnlich waren. Nein, entschied er dann, der Vogel war nicht nur er. Nicht allein. Er war auch … Yuri. Das wurde ihm in dem Moment klar, als er Dante sah, der dort unten stand – auf Gras, auf Beton, ganz egal worauf – und den Raben mit seiner silbernen Pistole anvisierte. Sein Blick war seltsam gehetzt, ohne zu blinzeln auf den Raben gerichtet, als wäre es kein harmloses Tier, sondern eine reale Bedrohung, die er schnell zur Strecke bringen musste. Es wirkte so surreal: Er, Jin, war der Rabe, und Yuri war es auch, sie waren beide dieser Vogel, und Dante war im Begriff, sie zu erschießen. Einen Moment später fiel ein völlig lautloser Schuss, und Jin fühlte einen Schmerz, der seinen ganzen unsichtbaren Körper durchfuhr, und zugleich eine Art Taubheit und wilde Angst, die schlagartig verschwand, als der sterbende Vogel tot vom Himmel fiel. Ohne einen einzigen müden Flügelschlag segelte er leblos durch das endlose Zwielicht, bis er geräuschlos auf dem ungeformten Boden aufkam. Jin fühlte sich unendlich traurig, als wäre er es selbst gewesen, der den Raben getötet hatte, und sein Blick hing an dem kleinen dunklen Körper, aus dem langsam und stetig eine größer werdende rote Pfütze sickerte, leuchtend auf dem Dunkel.

»Kazama? Bist du noch on tour

Jin hob den Kopf und begegnete Dantes fragendem Blick. Auch Roger und Yuri musterten ihn interessiert. »Alles in Ordnung«, log er.

Niemand wirkte überzeugt, doch Dante fragte nicht weiter. »Gut, dann schlage ich Arbeitsteilung vor. Du bist fitter in Technik als wir, also …«

»Ich helfe Roger«, folgerte Jin.

»Exakt. Yuri und ich gehen mal runter und schauen, ob wir Sarris finden. Vielleicht kann er ein bisschen betreuten Ausgang bekommen.«

Jin nickte als Zeichen der Zustimmung. Sarris war nicht gefährlich, solange er weder eine Peitsche noch ein Messer noch irgendein apokalyptisches Schriftstück mit sich herumtrug. Womöglich gelang es ihnen am Ende doch, ihn etwas kooperativer zu stimmen, sodass er Sapientes Gladios Strafe entgehen konnte. Doch irgendwie hatte Jin starke Zweifel daran.
 

Die Teslaspule, die Sarris ihnen überlassen hatte, war voll funktionsfähig – sofern man bei einem derart simplen Konstrukt von Funktion sprechen konnte. Man konnte eher sagen: Sie war ordnungsgemäß zusammengesetzt und würde ihren Zweck erfüllen.

»Beim Propheten, wir haben es! Heureka!«, rief Roger triumphierend, als sie alle Teile korrekt verbaut und verknüpft hatten. »Wir haben es wirklich geschafft, dieses Ding wieder zum Laufen zu bringen! Fehlt nur noch ein Testlauf!« Emsig brabbelnd lief er um das Gerät herum.

Einen vertrauenerweckenden Eindruck machte es auf Jin noch immer nicht. Er hatte den Gedanken, was wohl mit Yuri geschehen würde, wenn sie nicht schneller waren als die Taschenuhr, noch immer nicht zu Ende gedacht. Dass Yuri im Jahr 2008 gefangen blieb, war der glimpflichste Ausgang; über andere mögliche Optionen weigerten sie sich alle nachzudenken. Ebenso war Jin bewusst, dass sein eigenes Problem immer mehr in den Hintergrund rückte. Nichts und niemand konnte verhindern, dass er immer mehr zu Devils Sklave wurde, wenn Azazel in seinem Kopf nicht zum Schweigen gebracht wurde. Doch davon war er, Jin, weiter entfernt als je zuvor, nun, da so viele andere Schwierigkeiten dringender waren.

Und doch: Falls er geglaubt hatte, dass Dante und Yuri nicht über ihn nachdachten, so hatte er sich geirrt. Das erfuhr er, als er sie aus den Ruinen zurückkehren hörte. Er selbst saß nach getaner Arbeit in der kleineren der beiden Grotten, nahe dem Eingang, am Kaffeetisch, während Roger Kaffee kochte, und starrte auf sein Mobiltelefon, das sechs entgangene Anrufe zeigte – vier von Ninas Handy, zwei aus dem Devil May Cry. Er steckte das Telefon wieder ein. Im sogenannten Wohnzimmer nebenan hörte er die Bodenluke quietschen und Dante und Yuri herausklettern. Sarris hatten sie nicht dabei; offenbar blieb er verschollen. Die Beiden schienen nicht damit zu rechnen, dass Jin still im Raum neben ihnen saß, nur durch die halboffene Tür von ihnen getrennt, denn sie redeten gut hörbar über ihn.

»… immer schlimmer«, hörte Jin Dante sagen.

»Wie, das fällt dir erst JETZT auf?« Yuris Ton klang gereizt. »Ich bewundere deine Ignoranz, ehrlich, ich wünschte, ich könnte das auch.«

Sie ließen sich auf der Couch nieder, dem leisen Quietschen nach zu urteilen.

»Du hättest es tun müssen, als Jin wieder zu Devil Jin wurde«, sagte Dante. »Es wird allerhöchste Zeit, begreifst du das nicht? Du lässt zu, dass es ihm immer schlechter geht.«

»Dante! Ich hatte ohne Fusion KEINE CHANCE gegen Devil Jin! Ich musste –«

»Aber du HAST Devil Jin besiegt.«

»Ich hab ihn ins Wasser geschmissen.«

»Das zählt.«

»Und mich dazu.«

»Hyuga, du weißt genau, dass du der Einzige bist, der an Jins Dilemma irgendwas ändern kann. Du bist doch sein Freund, oder nicht?«

»Ich hab keine Ahnung, ob es in Jins Welt so was wie Freunde gibt.«

»Du musst Devil für Jin unterwerfen. Er selber schafft es nicht.«

Yuri gab ein Geräusch zwischen Seufzen und Stöhnen von sich. »Nein, ich müsste es irgendwie schaffen, dass wir ZUSAMMEN Devil besiegen. Jin hat dieses Teufelsgen-Dings, nicht ich. Devil klebt an ihm wie 'ne Zecke. Ihre Seelen sind nicht trennbar.«

»Und das heißt?«

»Dass ich … nicht genau weiß, wie das geht. Ich meine … Ich hab es hingekriegt, dass wir miteinander REDEN konnten, als wir verwandelt waren. Das ist ein Anfang, aber …«

In seinem gewohnt gleichmütigen Ton sagte Dante: »Ich glaub, du hast nur Angst.«

Jin sah Yuri geradezu vor seinem geistigen Auge aufspringen, als er das entsprechende Geräusch hörte: ein protestierendes Hochschnellen der Federn im Polster. »Ich glaub, DU hast Angst!«, knurrte Yuri. »Du merkst selber, dass Devil ein zu starker Gegner sein könnte, und jetzt weißt du auch, dass du auf seiner Abschussliste ganz oben stehst. Dich zu töten würde Azazel als neuen Oberboss der Teufelswelt rechtfertigen, und du kannst ihn NICHT töten! Diesen Teufel steckst du nicht in deine Einkaufstüte, Mann! Er kann dich plattmachen. Schluck das!«

Dantes Stimme war auf so provokante Weise unbeeindruckt, dass selbst Jin einen Anflug von Ärger spürte. »Wow, du hast ja Hausaufgaben gemacht. Im Übrigen hab ich vor gar nichts Angst.«

»Ach, echt?«, fauchte Yuri. »Hast du Mundus getötet? Nö! Das konnte dein Vater nicht, das konntest DU nicht. Azazel ist also nicht der erste Teufel, den du nicht tot kriegst. Was sollen wir denn machen, wenn er kommt? Ihn versiegeln, mit … keine Ahnung, Fensterkitt?«

Als Dante nicht widersprach, nichts Anderes vorschlug, wurde Jin klar, dass die Beiden ihm noch immer die Fähigkeit absprachen, Azazel zu töten. Sie glaubten einfach nicht, dass Jin es konnte. Sie hielten ihn immer noch für schwach, dem Unheil ausgeliefert.

Die böse Stimme in Jin sagte: Genau das bist du doch auch. Oder nicht?

Da wollte er nicht mehr hören, wie die Unterhaltung weiterging. Er erhob sich lautlos – ein Ergebnis langen, unnachgiebigen Trainings seiner Körperbeherrschung – und entfernte sich Richtung Ausgang. Er hatte das Bedürfnis nach frischer und vor allem trockener Luft.
 

Nicht lange, nachdem er draußen vor dem Gottesschlächterdenkmal stehen geblieben war und einen weiteren Anruf von Nina ignoriert hatte, kam Yuri zu ihm.

Und fiel direkt mit der Tür ins Haus. »He, Jin, hör mal zu«, sagte er ziemlich gefasst, jedoch die Hände halb zu Fäusten geballt. »Ich will dir was anbieten. Das heißt …« Er schloss kurz den Mund und machte ihn wieder auf. »… ich will dir das nicht anbieten, aber alle Anderen wollen, dass ich dir das anbiete.«

Ohne Überraschung wandte Jin sich ihm zu. »Du musst das nicht tun.«

»Doch, ich fürchte, ich muss.«

»Ich will kein Opfer von dir«, sagte Jin kühl. »Ich will nichts haben, das mir jemand nicht freiwillig gibt. Du hast genauso viel Angst vor Devil wie ich.«

»Ja«, gab Yuri bereitwillig zu. »Devil macht mir Angst. Wir wissen nicht, was er ist, er wird immer mächtiger, ich kann ihn überhaupt nicht einschätzen. Und verschätzt hab ich mich schon einmal zu viel. Wenn es diesmal schief geht, dann … ist Alice nicht hier, um mich zurückzuholen.«

Ohne dass er es wollte, hatte Jin plötzlich wieder die Bilder aus seinem Traum vor Augen. Der Rabe, der sie beide war. Der durch dämmriges Halbdunkel flog, bis eine Kugel aus Dantes Pistole ihn in einer Wolke aus Blut zerplatzen ließ.

Vielleicht, dachte Jin, konnte diese Sache noch sehr viel schiefer gehen, als Yuri glaubte.

Er machte seine Ablehnung durch ein Kopfschütteln deutlich. »Nein. Ich will das nicht.«

Yuri wirkte verblüfft. »Ah … äh, sag das nicht meinetwegen, okay? Ich … will dir wirklich helfen. Wir könnten dran arbeiten. Ich müsste sowieso erst mal einen Weg finden, um –«

»Nein«, unterbrach ihn Jin. »Wir tun das nicht.«

Yuri blinzelte, immer verständnisloser. »Warum nicht? Für dich ist es beinahe die einzige Chance, wie’s aussieht.«

Sie hielten Blickkontakt. Jin hatte es stets vermieden, anderen Menschen so lange in die Augen zu sehen, doch gerade jetzt stellte sich die Abneigung dagegen sonderbarer Weise nicht ein. Yuri hatte weder Abscheu noch Verachtung für ihn übrig, keine Abwertung; er schaute einfach nur zurück, abwartend, aufmerksam.

Ich will es einfach nicht, dachte Jin.

Es war die Nähe, die ihm nicht behagte. Allein das. Devil war wie ein Verband über einer offenen Wunde, und wenn man ihn wegnahm, unter ihn sah, dann … war alles … nackt.

Devil war nur gekommen, weil Jin gelitten hatte. Heihachi hatte ihn gequält, Kazuya hatte ihn gequält. Devil hatte ihn beschützt. So sehr Jin ihn auch hasste, Devil war eine Mauer. Nahm man ihn weg, dann … wurde das wunde Fleisch sichtbar, das darunter eiterte. Und wenn das passierte, wäre Yuri so dicht bei ihm, dass er alles sehen konnte.

Und Jin hasste den Gedanken, dass irgendjemand alles sehen konnte.

Yuri musste all das in seinem Gesicht gelesen haben. »Oh Mann«, stöhnte er, »du wirst nie jemanden an dich ranlassen, oder? So kann dir keiner helfen!«

Jin sagte nichts. Es gab auch nichts zu sagen.

Mit resigniertem Seufzen ließ Yuri die Arme wieder fallen. »Gut, lassen wir das. Denk drüber nach. Oder nicht. Mir egal.« Er drehte sich um und ging, und auf der Steintreppe verschluckte ihn rasch wieder das Dunkel.
 

Jin folgte ihm in kurzem Abstand. Schon auf den letzten Stufen hörte er, wie Dante Yuri fragte, was Jin gesagt hätte. Yuri sagte es ihm. Jin blieb im Gang stehen; er war halb empört, halb perplex, wie schamlos sie schon wieder über ihn redeten, als wüssten sie nicht, dass er möglicherweise in Hörweite war.

»Ich WEISS es nicht, Mann. Ich hab keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Devil beeinflusst ihn, ganz sicher, aber … ich weiß nicht, ob er irgendwas … SCHLIMMES anstellen könnte.«

»Willst du meine Zwei-Cent-Gedanken dazu hören?«, fragte Dante, und dabei schien er sich ein wenig zu entfernen – allerdings nicht weit genug. »Jin wird am Ende machen, was Devil will. Dass er jetzt noch wie wild dagegen kämpft – geschenkt. Denk dran, welche Möglichkeiten jemand wie Jin hat: Er hat Kohle wie Heu. Und diese ganze Mishima-Firma.«

»Was ist das überhaupt für’n Laden?«

»Eine riesige, reiche japanische … Mafia, wahrscheinlich. Hat Einfluss auf verdammt viele Institutionen und unterhält eine eigene paramilitärische Delegation. So eine Art … Privatarmee.«

Jin schauderte. Woher wusste Dante diese Dinge? Er interessierte sich doch gar nicht für das, was um ihn herum passierte … oder doch?

»Die nennen es ein Imperium«, fuhr Dante fort. »Bisschen lächerlich … Er hat ’nen eigenen Thronsaal, und so.«

»Die spinnen alle«, brummte Yuri. »Du glaubst also, er hat keine Chance?«

»Nicht ganz«, erwiderte Dante. »Jin ist ein guter Kerl. Aber ich hab Zweifel, ob das am Ende ausreicht.«

»Unterschätz ihn nicht.«

»Genau DAS meine ich. Er hat Macht.«

Jin visualisierte Yuris Augenrollen. »Ja, aber … ehrlich? NEIN. Klar, seine Vaterlinie ist für’n Arsch, aber seine Mama war was Besonderes … vielleicht besonderer als meine oder deine. Ihr Schutz liegt noch auf ihm, sie hält ihn davon ab, böse zu werden. Jin ist … einfach ein armer Kerl mit einer Riesenkraft und einem miesen Schicksal.«

»Wie du, hm?«

Einen Moment lang war es still. Dann sagte Yuri fast drohend: »Und wie DU, wette ich.«

Dantes Auflachen klang eine Spur zu bemüht. »Lass mich da raus. Ich lauf nicht Amok.«

»Sicher?«

»Schließ nicht von dir auf Andere, Hyuga. Auch nicht auf Jin. DU hast die Willenskraft, deine Dämonenkräfte zu bändigen, du kannst es dir erlauben, auf deinem … heiligen Pfad frisch voran zu spazieren. Aber Jin –«

»– ist was? Eine tickende Zeitbombe?«

»Weißt du überhaupt, was das ist?«

»Jaha.«

»Wie auch immer. DU als Hamonixer hast ein geistiges Polster, Jin hat das nicht. Das ist der Punkt.« Etwas leiser fuhr Dante fort: »Schon mal drüber nachgedacht, dass Jin einer von diesen Schurken werden könnte, die du früher bekämpft hast?«

Yuri reagierte entsetzt. »Sag mal, hörst du dich eigentlich reden, du Spinner?«

Dante, für den keine Beleidigung jemals ein Grund zu sein schien, tatsächlich beleidigt zu sein, fuhr fort: »Er wäre kein Präzedenzfall für einen getretenen Hund, der bissig wird.«

»Auf eine Rolle als böser Herrscher steuert wohl eher sein Vater zu«, entgegnete Yuri, räumte dann aber zu Jins Missfallen ein: »Aber ich weiß, was du meinst. Erst sind sie Opfer, dann kriegen sie plötzlich Macht … und dann werden sie das, was die Gesellschaft sowieso schon in ihnen sieht …«

»Monster.«

»Ja.«

»Glaubst du, er könnte grausam sein?«

»Nicht Jin. Glaub mir … Egal, wie viel vom Vater drin ist. Jin ist … rein, im Innersten.«

»Hmm«, machte Dante, und die Skepsis, die in diesem Ton mitschwang, versetzte Jin in Alarmbereitschaft. »Solange es keine Anzeichen dafür gibt, dass – …«

Und da reichte es Jin. Er wollte nicht hören, was Dante jetzt sagte. Es konnte nichts sein, das gut für seine Ohren war.

Mit großen Schritten ging er weiter zum Höhleneingang, gab sich Mühe, seine Ankunft besonders deutlich zu machen. Dante und Yuri hatten immerhin den Anstand, ertappt auszusehen.

»Habt ihr wieder über mich geredet?«, fragte Jin und war selbst überrascht über die Kälte in seine Stimme, die im Gegensatz zu seiner üblichen bemühten Höflichkeit stand. Als die Beiden nicht antworteten, sagte er: »Aha. Verstehe«, wandte den Blick ab und ging an ihnen vorbei.

Dante war unverfroren genug, seinen angefangenen Satz laut fortzusetzen: »… dass Jins Persönlichkeit sich verändert, sollten wir ihm helfen. Hast du gehört, Kazama? Aber interessiert dich nicht, oder?«

Jin antwortete nicht. Am liebsten wäre er wieder hinaus ans Tageslicht geflüchtet, doch dafür war er auf dem falschen Weg. Im Nebenzimmer stand Roger verloren vor seiner Maschine und sah Jin mit großen, aufmerksamen Augen an.

Dann, mit einem Mal, fuhr eine Erschütterung durch den Boden.

Ein grollendes Beben schüttelte die Wände, Steine und Lehmbrocken hagelten von der Höhlendecke. Kleine Risse bildeten sich in der Erde. Jin sah zwei Teetassen vom Tisch fallen, während er sich an der Wand abstützte.

Nur zwei Sekunden später war der Spuk wieder vorbei. Jin ließ die Wand los, zog sein Handy aus der Tasche, um den Erdbeben-Alarm zu beenden – Zu spät, dachte er –, und fing Rogers Blick auf. »Was war das? Der Fluss?«

Der kleine Mönch war in die Knie gegangen und rappelte sich gerade wieder auf. »Nein«, ächzte er, »das … kam von unten.«

Unten.

Yuri und Dante kamen hereingestürmt. Sie analysierten die Lage innerhalb eines Wimpernschlags.

»Es wird warm«, bemerkte Yuri mit hochgezogenen Brauen.

»Hast endlich die Heizung angekriegt, Roger?«, fragte Dante den Mönch. »Wenn ja, was in aller Welt verheizt du hier?«

Jin roch es ebenfalls: verbranntes Holz, schmelzende Erde und den Rauch versengter organischer Substanz, der in der Nase stach. Der Geruch eines schweren Brandes.

»Hat keiner eine Ahnung, was da unten los ist?«, fragte Dante in die Runde, und Jin sah die ratlosen Blicke der Anderen.

»Wir gehen runter«, entschied Yuri. »Zumindest Sarris müssen wir finden und da rausholen.«

»Ihr habt ihn also nicht gefunden«, schloss Jin. An Sarris hatte er zuletzt keinen Gedanken mehr verschwendet.

»Nein. Aber wir waren auch nicht weit drinnen. Viele von den Lichtern da unten sind ausgegangen, wir wollten uns eigentlich eine –«

Wieder brach eine Erschütterung aus, und diese war heftiger als die vorausgegangene. Jin packte den Tisch, um sich aufrecht zu halten. Ein faustgroßes Felsstück krachte an seinem Ohr vorbei auf den Höhlenboden.

»Bald gibt’s von Sarris nicht mehr viel zu retten!«, kommentierte Dante über den Lärm hinweg.

»Der hat wohl zu tief gegraben!« Yuri schüttelte die Faust und schob seine Finger durch die Aussparungen eines seiner Schlagringe. »Ich geh vor, okay?«

Das Beben stoppte, und alle fanden wieder Halt. Yuri rannte an Jin und Roger vorbei.

Jin schickte sich an, ihm zu folgen, doch plötzlich lag Dantes Arm quer über seiner Brust und schob ihn zurück. »Stopp, Kazama. Sei vernünftig.«

Vernünftig? »Lass das.«

»Nichts da. Dein gehörnter Kumpel hat es zuletzt etwas übertrieben, meinst du nicht?«

»Dante!«, presste Jin zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lass mich los!«

»Wenn du artig hierbleibst.« Dante funkelte ihn an – lächerlich, dass er immer noch glaubte, das würde funktionieren.

»Lass mich los«, wiederholte Jin drohend.

»Sonst was?«

Da kam das Beben wieder, und diesmal riss es sie von den Füßen und marterte ihre Trommelfelle. Unwillkürlich kauerten sie sich auf dem Höhlenboden zusammen, bis die unerträglichen Sekunden vorüber waren.

Als das Donnern abebbte, schälte sich ein einziges Geräusch aus dem akustischen Wirrwarr hervor: Sarris’ Stimme. »Und IHR beschützt die Welt vor Teufeln? Da habt ihr schlechte Arbeit geleistet.«

Jin sah zwischen den Anderen umher. Alle schauten einander fragend an.

»He, Dante … Entweder hat dein Vater oder der Gottesschlächter hier was übersehen.« Sarris’ Stimme kam langsam näher – und zwar nicht von der Falltür aus, sondern aus der Richtung des Eingangs. Er war also bereits draußen gewesen, wie auch immer er entkommen war. Zusammen mit ihm nahm auch die Hitze zu, wurde unangenehm. Jin und die Anderen lauschten weiter angestrengt. »Da unten ist ein TOR«, verkündete Sarris triumphierend. »Oder nennen wir es lieber ein Loch. Ein Loch hinter einem Erdrutsch, aber dennoch. Ihr habt euch nie gewundert, woher die Dämonen kommen, die sich hier unten einnisten? Dieser Ort zieht sie an. Die Ruinen sind so voller böser Energie, sie LIEBEN es.«

»Roger«, wisperte Yuri. »Verarscht er uns?«

Rogers faltiges Gesicht war weiß wie die Höhlendecke. »Ich denke, es ist … möglich …«

»War es der Neameto, Roger? Damals, als der Schwimmer aufgestiegen ist, die Erde aufgerissen und dabei die Ruinen freigelegt hat … Könnte darunter …?«

»Kann sein«, murmelte Roger, »kann sein … Es waren schon immer viele Monster dort unten …«

»Und du hast dich nie gefragt, wieso?«

Dante unterbrach diesen unglücklichen Austausch. »Moment, versucht ihr uns gerade zu sagen, dass Sarris ein Portal in die Unterwelt ausgebuddelt hat? Eins von den vielen, die mein Vater alle mühsam eins nach dem anderen –«

Da ertönte wieder Sarris’ Stimme, diesmal ganz aus nächster Nähe. »Ich danke euch allen für eure Fürsorglichkeit. Das meine ich ernst. Aber meine Position kennt ihr, und meine Entdeckung hat das Blatt wieder etwas gewendet. Meine Sachen habe ich schon gefunden, vielen Dank – ihr habt ja alles ganz in der Nähe aufbewahrt, und obwohl man die Seiten nicht mehr so leicht lesen kann, werden sie dem Zweck noch genügen. Ich habe immer noch eine Chance, dass alles so kommt, wie ich hoffe.« Er trat zu ihnen ins Zimmer, die Wangen hitzerot und die Jacke voller Rußflecken. Er schaute drein, als besuchte er gute Freunde auf einen Drink. Jin wurde der Mann immer unheimlicher: So ruhig und vernünftig sich Sarris auch gab, es zeichnete sich immer mehr ab, dass er dem Wahnsinn verfiel. Nichts Anderes konnte es bedeuten, dass er inmitten von wachsender Hitze nach einer traumatisierenden Begegnung mit der Hölle mild lächelnd in Rogers Höhle stand. »Euch ist doch klar, was passiert ist? Die Neam-Ruinen sind Jahrmillionen alt, ihre Verbindung zur Unterwelt existierte seit Anbeginn der Zeit, bis Sparda allen Zugängen ein Ende setzte. Doch Albert Simon schickte den Neameto aus den Tiefen des Meeres ins Weltall, und das Aufbrechen des Felssaums legte alle tieferen Schichten wieder frei. Was macht schon das Bisschen Gras, das seitdem darüber gewachsen ist? Eine oberflächlich verheilte Wunde, unter der das Blut fault.«

»Ich mag deine anschaulichen Vergleiche«, sagte Dante, »aber für den Fall, dass es bei dir noch nicht angekommen ist: Azazel hockt in einem Loch unter der Wüste, unerreichbar für dich. So viel zu deinem Plan.«

»Ich muss nicht nach Dudael reisen und Azazel suchen«, erwiderte Sarris geschmeidig, und seine fiebrig glänzenden Augen richteten sich auf Jin. »Ich habe das, was ihr Devil nennt … und mit ihm und den vierzehn Seiten kann ich genug anfangen.«

»Oooh«, jammerte Roger von unter dem Tisch. »Du, du wirst doch nicht …«

»Azazels Geist, seinen Schatten, seine Seele. Das kann ich herauf beschwören – egal wo er ist. Und ihr habt nichts mehr gegen mich in der Hand.« Er griff in seine Jackentasche, zog ein allzu bekanntes Bündel loser Pergamentblätter heraus und winkte damit in die Runde. »In der Nähe eines Höllentors können diese verbotenen Seiten eine Menge anrichten. Ich bin überzeugt, dass ihr das gut überstehen werdet. Wir sehen uns nachher.« Damit nickte er noch einmal, nun wieder ernst und gefasst, und machte kehrt.

Jin wollte hochschnellen und ihm folgen. Doch schon brach das nächste Beben über die Höhle herein, schüttelte sie ein weiteres Mal von oben bis unten durch, und als Jin mit schmerzendem Genick zur anderen Seite blickte, sah er Dampf aus den Ritzen der geschlossenen Falltür quellen.

Dampf …

Der Fluss verdampfte.

Schon quoll neuerliche, alles versengende Hitze hinterdrein, das Holz begann sich schwarz zu färben, zerfiel vor seinen Augen zu spröden, schwarzen Splittern, und dann –

dann brach die Hölle los.

Akt XII: Aus den Tiefen - 16-2

16-2: YURI
 

Ich bin noch nie so schnell gerannt, ohne was zu sehen, könnte Yuri später erzählen.

Noch bevor sich die Höhlenkammern ganz mit dem heißen, beißenden Gemisch aus Wasserdampf und Rauch gefüllt hatten, waren sie geflüchtet, wie Füchse aus einem Bau, den ein Jäger ausräuchert. Yuri hatte Roger unter den Arm geklemmt wie einen Klappstuhl und war vorausgehechtet, blind, die freie Hand vorgestreckt. Wann immer seine Finger die Wand berührten, war sie tropfnass und heiß wie in einem japanischen Dampfbad.

Irgendwie hatte erwartet, dass jemand hinfallen würde. Es fiel doch immer jemand hin bei einer überstürzten Flucht, oder? Doch Dante und Jin waren nicht fürs Hinfallen gemacht, und er selbst hatte Glück, und schlussendlich fanden sie sich alle ohne verstauchte Knöchel im Freien auf dem Grasland wieder.

Dort zog der weiße Dunst bereits als gefräßige Nebelwand über die Ebene, die grau unter dem bezogenen Himmel lag.

Yuri setzte Roger ab und sah zu Jin; allmählich konnte er dessen streng reduzierte Mimik besser lesen: Jin war aufgeregt, ängstlich und verwirrt.

Dante stand wenig hilfreich in der Gegend und ließ seinen eisigen Blick sonstwohin schweifen, aber wenigstens hatte er es hingekriegt, im Abhauen sein Schwert wieder einzusammeln, das wie immer friedlich in Rogers Wohnzimmer an der Wand gelehnt hatte.

Aus dem Boden unter ihren Füßen schwoll ein neuerliches Grollen an. Immer stärker übertönte es das Rauschen der nahen See und der windgepeitschen Kiefern auf der Anhöhe.

Jin drehte sich hektisch Richtung Clarach, dann zum Höhleneingang, dann fuhr er wieder herum und fauchte: »Was ist das?«

Das hätte Yuri auch gern gewusst. Sarris war nirgends zu entdecken.

»Erfahren wir gleich«, sagte Dante, als kämen jeden Moment die Nachrichten im Radio. Sein Blick glitt zum Eingang, aus dem sie soeben geflohen waren, und Yuri sah, neben den stetig hervorquellenden schwarzen und weißen Wolken, ein Glühen darin heller werden.

Etwas kam von unten herauf.

Etwas, das Sarris mit den vierzehn Seiten durch das Portal geschleust hatte.

Das Grollen wurde stärker, schrie in ihren Ohren, schrill und sirenenhaft, als brüllte die Erde selbst vor Schmerzen, als das Monster sie zu durchbrechen suchte. Yuri sah Roger zu seinen Füßen im Gras kauern und leise jammern. Er hörte nicht, was sein alter Freund da von sich gab, doch es war unschwer zu erraten: Rogers Höhle enthielt sein ganzes Leben, seine Schätze, seine Relikte, seine Erfindungen, sein Heim, und –

Yuri fuhr zusammen, als Eiswasser wie aus einem ausgekippten Eimer über ihn strömte. Die Höhle enthielt den verdammten Teleporter.

»Ooooh!« Yuri hörte über den Lärm hinweg den kleinen überraschten Ausruf Rogers, der behände wie ein Äffchen auf die Füße sprang. Im selben Moment spürte er die Wärme unter seinen Sohlen.

Wir stehen ungünstig.

Die Vier stoben auseinander, kurz bevor unter ihren Füßen die Erde schmolz.
 

Tiere flohen aus ihren Behausungen. Als hätte der Rattenfänger von Hameln seine Flöte ausgepackt, öffneten sich Löcher und Ritzen im Erdreich, wo sie vorher nicht zu sehen gewesen waren, und spuckten Armeen panischer Kleinsäuger aus – Spitzmäuse, Wühlmäuse, Ratten, Maulwürfe, Bilche und anderes Getier, huschende graue Pelzknäuel jedweder Art, alles stürmte quietschend über die Ebene davon.

Die Luft war warm. Eigentlich sollte es hier draußen schrecklich kalt sein, doch der Boden unter ihnen strahlte so viel Wärme ab, als wäre es ein lauer Frühlingstag. Die Erde kochte immer stärker. Wie die Anderen starrte Yuri angespannt auf den dunklen Fleck, wo Schlamm und Steine sich vor Hitze verflüssigten.

Yuri rechnete mit etwas, das riesig war und brannte. Es gab genug Teufel, die riesig waren und brannten, und auf die Schnelle fielen ihm zehn oder zwölf ein, die in Frage kamen; doch das, was schließlich vor ihnen aus dem aufgeplatzten, magmaisierten Erdboden stieg, war keiner von diesen.

Den schlanken, unerwartet ebenmäßg proportionierten Körper umgab ein blendendes Licht, das über ihm waberte und schwankte wie eine Art leuchtende Zeltplane. Yuri erkannte vier Beine und ein weißgraues, zotteliges Fell wie das eines dreckigen, abgemagerten Eisbären. Die Schritte selbst erschienen lautlos, doch ein dröhnender Basston, der durch die Erde fuhr, begleitete sie. Das Ding sah die Männer, hielt auf sie zu; es bewegte sich gemächlich, groß wie ein afrikanischer Elefant, senkte den Kopf, das eine Art ausladendes Geweih trug. Yuri kniff die Augen zusammen, weil er zwei Auswüchse, die nach vorne aus dem Nacken ragten, in dem Gleißen nicht richtig sehen konnte. Er schaute kurz zu den Anderen, nur um sich zu vergewissern, dass sie noch da waren (ja, waren sie), und sah wieder, die Augen mit der Hand abschirmend, geradeaus.

»Es ist langsam«, stellte Dante neben ihm fest. Ein sachlicher Kommentar. Der Teufelsjäger hatte immer noch nichts in den Händen, eine steckte sogar in seiner Manteltasche.

Jin auf Yuris anderer Seite war so angespannt, als würde er gleich explodieren. Er stand stocksteif, starrte das Ding an und atmete schwer.

Yuri trug nach wie vor die Nachtvogelklaue. Wenn also keiner hier etwas unternehmen würde, war zumindest er bereit.

Die schaurig-leuchtende Gestalt blieb stehen. Jetzt konnte Yuri sehen, was da aus ihr herauswuchs: Arme. Ja, da wuchsen Arme aus seinem Hals, verdammt. Das Vieh erinnerte entfernt an einen Hirschen, doch sein Nacken war lang und verdickt, und nun erkannte Yuri diesen als eine Art zweiten Torso, wie bei einem Zentauren. Die Greifarme ragten daraus hervor, weiß behangene Bärenpranken, nur schlanker, mit gelbstichigen Klauen daran. Das, was über dem Körper hing und so intensiv strahlte, war kein Dach, sondern hochgetragene Flügel aus leise knisterndem, weißem Feuer.

»Endlich«, sagte das Ding.

Mit diesem einen Wort sah Yuri die Öffnung im Gesicht, ein Spalt, der, als er aufging, zwei Reihen Zähne entblößte, die wie Glasscherben aussahen. Gott, was war das denn für ein Maul? Es hatte wie ein Punkt ausgesehen, schien sich jedoch endlos weit öffnen zu können. Schlimmer allerdings waren die vier großen runden Augen: Rautenförmig auf der Stirn angeordnet, waren sie eben noch – zumindest glaubte Yuri das – giftig grün gewesen, mit winziger Pupille; doch nun rollten sie wie wild in ihren Höhlen, was schauerlich genug aussah, und dabei wurden die Augen rot, die schwarzen Punkte wuchsen sanduhrartig in die Länge.

Langsam reicht’s, dachte Yuri, und er spürte die enorme geistige Anstrengung, die dieser widernatürliche Anblick ihm abverlangte. Dämonen ließen Menschen wahnsinnig werden, und er spürte diesen Wahnsinn stärker an sich zerren, je abscheulicher das Monster war, dem er sich stellen musste.

Dante war immun dagegen. Er grinste das Hirschding an, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, und bemerkte: »Ha, endlich mal ein Geweih! Macht deine Hackfresse um Längen dekorativer!«

Nicht pöbeln, Dante, dachte Yuri, während er aus dem Augenwinkel immer noch Jin beobachtete, der einem Nervenzusammenbruch sichtlich näher kam. Das Vieh ist nur ein Ablenkungsmanöver, es soll uns beschäftigen, während Sarris sein Ritual an Jin wiederholt …

Doch Sarris war nicht zu sehen, ebenso wenig ein Ziegenschädel oder Blut oder Pergamentseiten oder irgendwas.

Der ekelerregende Hirsch, der die Drei weiterhin mit Wellen von schweißtreibender Hitze überflutete, zog drohend seine zwei Augenpaare zusammen, die nun wie riesige schwarze Käfer glänzten. Er schnaubte in Dantes Richtung und senkte den Kopf. Das Geweih, das Yuri bisher nur undeutlich gesehen hätte, präsentierte sich ihnen in voller Pracht, jede Hälfte so groß wie der Kuhfänger der Transsibirischen Eisenbahn. Die Stangen endeten in dunklen Spitzen und sahen aus wie abgestorbene Äste, an die sich schwarze Krusten wie Flechten klammerten. Aus ihnen quoll giftig-rotes, nach Schwefel stinkendes Sekret hervor, das von den Spitzen ins Gras tropfte und es dort in gelben Rauch aufgehen ließ.

»Ein Vierzehn-Ender«, sagte Dante bewundernd. »Wird sich gut an meiner Wand machen.«

Yuri war klar, das der Jäger den Dämon unbedingt auf sich fixieren wollte. Er sah zu Jin; dieser hatte sich noch immer kein Stück gerührt, aber es nahte der Moment, in dem er sich entweder abwenden und wegrennen – die normale menschliche Reaktion – oder seinen Schrecken überwinden und kämpfen würde.

Nun, Jin war kein normaler Mensch.

Der Hirsch röhrte wie ein Nebelhorn und stampfte mit einem gespaltenen Huf auf, dass die Erdklumpen aufflogen. So langsam seine Bewegungen auch aussahen, dahinter verbarg sich eine rohe, explosive Kraft. Er nahm Dante fest ins Visier, und dann –

– dann schlug er einmal mit den Feuerflügeln.

Er war nicht langsam.
 

Als das säuresprühende Geweih zwischen sie schlug, war Yuri erstaunt über seine eigene Schnelligkeit. Er und Jin waren nicht Ziel des Angriffs, waren ihm aber nur um Haaresbreite entgangen. Verdammt, dieses Biest war in der Lage, sich mit Lichtgeschwindigkeit vorwärts zu katapultieren!

Dante war natürlich schneller weggewesen als ein Insekt, das die Fliegenklatsche sieht. Der Vorstoß ging ins Leere – doch er blieb nicht unbeantwortet. Yuri und Jin kauerten im Gras wie gelähmt, noch unfähig, den Schrecken ganz zu verwinden, doch Dante kannte solche Bremsklötze nicht. Er preschte mit Rebellion an ihnen vorbei – ein unnatürliches Verhalten, das verstörend wirkte, fast so sehr wie der Dämon selbst.

»Yuri, ist … ist das – …?«, presste Jin angestrengt zwischen den Zähnen hervor.

»Nein.« Yuri kannte einige der höherrangigen Dämonen aus den vielen alten Büchern und Traktaten. »Nicht Azazel, auch nicht sein Geist.« Allmählich kehrte das Blut in seine Fingerspitzen und die Klarheit in seine Gedanken zurück; gut so, denn er hatte fest vor, sich auch ein Stück Hirschhaxe zu holen.

Sie sahen zu, wie Dante in seinem Gegenangriff einen senkrechten Schnitt in die Flanke des Monsters hieb, was es sich brüllend aufbäumen ließ. Es hatte Dante genauso unterschätzt wie umgekehrt. Die tellergroßen Augen rollten in ihren Höhlen und durchliefen ein weiteres Farbspiel; dann, mit einem einzigen Flügelschlag, sauste das Biest fünfhundert Meter weit weg, fast bis zur Klippe, und drehte sich wieder um; dort lauerte es nun in seiner ganzen wutschnaubenden Widerwärtigkeit. Das Gras zwischen ihm und den Dreien rauchte und schwelte. Es würde ein anstrengender Kampf werden.

Yuri sah zur Seite, und auf einmal war Dante wieder neben ihnen. Er warf ihnen einen auffordernden Blick zu und machte eine unmissverständliche Geste. »Hoch mit euch«, befahl er, nicht hektisch, aber eindringlich genug. »Ihr verpasst alles! Hyuga, häng nicht rum, mach mit. Da drüben ist Clarach.« Er nickte Richtung Anhöhe. »Wir sollten den Sack zumachen, bevor dem Höllenelch einfällt, was er da alles anstellen könnte. Plötzliche Freiheit bekommt denen nicht. Kazama? Du suchst Sarris. Der kann nicht weit weg sein, guckt sich die Show bestimmt von irgendwo an. Schnapp ihn dir, klar?«

Jin, der den Befehlston bekanntermaßen hasste, kam steif auf die Füße. Immerhin sorgte sein Ärger dafür, dass er seine Furcht vergaß. Yuri erwartete irgendeine Art von Protest von ihm – etwas darüber, dass er nicht der Laufbursche sein würde, während Andere kämpften –, doch Jin beließ es bei einem harten, missbilligenden Blick, ehe er sich umwandte und loslief. Tatsächlich schien er eine vage Idee zu haben, wo Sarris sich in Sicherheit gebracht hatte, denn er schlug gezielt den Weg Richtung Promenade ein.

Yuri, nun abwehrbereit wie Dante, sah sich nach Roger um und fand den kleinen Mann, der mit großen Augen erwartungsvoll zu ihm aufsah. Roger kannte seine Rolle. Sie tauschten einen Blick, und er hoppelte davon wie ein Häschen, blitzschnell im hohen Gras zwischen den Felsen verschwindend.

»Mal ehrlich«, begann Dante, als sie alleine waren, wobei er das Schwert neben sich in den Boden rammte und zu dem Monster hinübersah, das in einiger Entfernung schnaubend und stampfend auf sie wartete, »was bitte ist das da?«

Yuri hob die Brauen. »Das ist Furfur. He, ich hab doch einen Schlüssel Salomons in deinem Bücherregal gesehen. Liest du denn auch, oder ist der nur Dekoration?«

»Meistens schlag ich da erst hinterher nach«, entgegnete Dante achselzuckend. »Und, hast du noch steife Gelenke oder kann’s losgehen?«

»Von mir aus immer.« Trotzig hob Yuri die Fäuste, und die Nachtvogelklauen leuchteten kampflustig auf. »Aber ich glaub, der will zuerst ’ne Runde Fangen spielen.«

»Kann er kriegen.«

»Wir beide?«

»Doppelt hält besser.«

Und dann rannten sie los und nebeneinander her auf das Monstrum zu. Yuri wetzte die Klingen seiner Waffe gegeneinander, bis sie Funken sprühten, und Dante warf das Schwert wieder über die Schulter, wo es in die Magnetschlösser einrastete, und zog lässig seine Pistolen aus den Halftern.

Furfur sah sie kommen. Das Russisch Roulette seiner ekelhaften Augen ging wieder los. Diesmal glommen sie löwenzahngelb, und rote Adern schwollen darin an.

Er war bereit.
 

Jeder Kampf gegen einen hochrangigen Teufel erfordert eine bestimmte Strategie. Furfur machte keine Ausnahme. Ihn zu verletzen war an sich keine hohe Kunst – der Dämon hatte keinen Schild, keinen Panzer, der seine Flanken schützte –, doch es zu tun bereitete einige Probleme. Das Vieh war zu schnell. Offenbar vereinte das gleißende Flügelpaar Gleitschirm und Raketenantrieb: Es befähigte den Körper nicht nur zu den riesigen, flachen Sprüngen, sondern auch zu Drehungen, denen einfach unmöglich zu folgen war. Furfurs vier Augen schienen unabhängig voneinander sehen zu können, denn er behielt sowohl Dante als auch ständig Yuri im Blick. Gleich zu Beginn hatten sie versucht, ihn von beiden Seiten gleichzeitig anzugreifen, doch das genügte nicht; sie konnten keinen Kreis um ihn schließen, er brach stets zwischen ihnen aus und fuhr herum, sodass sie selbst Mühe hatten, rechtzeitig beiseite zu hechten. Das Gelände bot hier keine Begrenzungen, das Grasland erstreckte sich baumlos bis zu den Klippen. Yuri fragte sich, ob es damit vielleicht getan wäre: Wenn sie den Hirsch in den Atlantik stießen, würde das Meer womöglich sein weißes Feuer ersticken und die Sache beenden; doch irgendwie fürchtete er, dass diese einfach aussehende Lösung einen Haken hatte.

Clarach war noch nicht in Sicht. Es lag hinter der Anhöhe, und bisher hatten Yuri und Dante es mit kühnen Attacken verstanden, Furfur daran zu hindern, diese Richtung zufällig einzuschlagen. Tatsache war jedoch, dass sie ihre Technik ändern mussten, wenn sie diese Angelegenheit hier schnell beenden wollten.

Gerade hatte Furfur erneut das Geweih gesenkt und war auf Yuri zugeprescht – ein Schlag mit den Lichtsegeln, und die scharfen Äste befanden sich dort, wo Yuri eben noch gewesen war. Tatsächlich lebte er nur deshalb noch, weil er die rotierenden Augen und schlagenden Hufe des Hirschen nie aus den Augen ließ, kündigten sie doch stets seine Vorstöße an und schenkten ihm damit die rettende Sekunde.

Ich muss nur rankommen, dachte Yuri fieberhaft, als er sich aus dem gelb verödeten Gras hochstieß und dabei mit den Klingen Erdbrocken aus dem Boden riss. Die Augen sind so dicht beieinander, an der Stelle ist der Schädel dünn … Ein Treffer genau in die Mitte, und ich kann ihm das Gehirn verquirlen. Nett. Und Eischnee draus machen. Wirklich nett.

Dante hatte offenkundig längst denselben Gedanken gehabt, denn auch er zielte fast immer auf den Kopf; doch die Augenpartie war nun mal der Bereich, der Angriffe am allerehsten kommen sah.

Als Yuri zum gefühlt hundertsten Mal losrannte, um sich mit Dante auf gleiche Höhe zu Furfur zu bringen, protestierten seine Lungen brennend gegen die unausgesetzte Überforderung. Ausruhen ging nicht – war keine Option – das Ding kriegte ihn, wenn er nur zur falschen Zeit blinzelte.

Im Gegensatz dazu war Dantes Eifer noch ungetrübt. Sein teuflisches Erbe machte ihn fähig, endlose Anstrengungen auszuhalten. Er sprang und rannte immer noch wie ein Fohlen, stieß mit dem Schwert hierhin und dorthin, erwischte dabei ziemlich regelmäßig den zerzausten Körper, wenn Furfur sich herumwarf, und verpasste dem Hinterteil zusehends einen neuen Haarschnitt. Dennoch: Während er anfangs noch den Eindruck erweckt hatte, den Spaß seines Lebens zu haben, war seine Begeisterung über das fordernde Duell (Yuri konnte man nicht als Teampartner zählen, er war nur derjenige, der ständig aus dem Weg springen musste) rasch abgeklungen. Furfur hatte hier zu viel Raum, keine Begrenzung schränkte seine Bewegungsfreiheit ein. Auf diese Weise wich er leicht jedem Angriff aus. Sie kriegten ihn einfach nicht.

Es war nicht so, als hätte Yuri nicht schon über Fusion nachgedacht. Sie war das Mittel der Wahl, wenn der menschliche Körper an seine Grenzen stieß. Doch bisher hatte ein gewisser Stolz ihn davon abgehalten, weil auch Dante offenbar nicht daran dachte, seinen Devil Trigger einzusetzen.

Yuri erreichte seine Position, und er und Dante tauschten einen Blick. Wieder bildeten sie ein Dreieck mit dem lauernden Teufel, wieder würden sie auf ihn zuspringen, und wieder würde er weg sein und stattdessen mit seinem Geweih auf ihre Ärsche zielen. Bevorzugt auf Yuris.

Doch diesmal ließ Dante sein Schwert auf dem Rücken. Auch die Pistolen blieben drinnen (er hatte die Damen schnell wieder weggesteckt, als Furfur das Dauerfeuer mit seinem Geweih in eine Salve von Querschlägern verwandelt hatte), und es kam auch kein Signal zum Lospreschen.

»Was?«, rief Yuri über die Distanz hinweg, Furfur aus dem Augenwinkel beobachtend.

Dante kam ein paar Schritte näher. »Lass mich was versuchen«, sagte er noch im Gehen.

»Was versuchen?« Yuri schielte weiter nach Furfur, doch der wartete gierig und flammenumwabert dort, wo er war – wahrscheinlich erhoffte er sich etwas Abwechslung, doch wehe, wenn ihm die Auszeit zu lang wurde … Sie brauchten schnell einen Plan.

»Bisher klappt’s nicht richtig, ich brauch einen Moment Zeit dafür«, fuhr Dante seelenruhig fort. »Kannst du ihn ablenken?«

Ablenken? »Wie? Ich bin doch schon dauernd seine Zielscheibe!«

»Stimmt.« Dante nahm wieder das Schwert zur Hand, die Bewegung so beiläufig wie ein Griff in die Taschentuchpackung. »Aber er darf mich nicht ansehen.«

»Dein Ernst?«, stöhnte Yuri. »Wieso fus– … triggern wir nicht, dann können wir von oben –«

»Ist dir nicht aufgefallen, dass meine Kugeln geschmolzen sind, als sie diesen leuchtenden Wedeln zu nahe gekommen sind? Du kannst gerne losfliegen und mitten in die –«

»Nein, Mann, natürlich nicht!« Yuri knirschte mit den Zähnen. Er war der Erschöpfung nahe, nur deshalb sehnte er gerade seine dämonischen Kräfte herbei. Doch tatsächlich wusste er nicht, ob seine geistige Energie jetzt noch ausreichte, um einen längeren Kampf in Fusion durchzuhalten. Falls sich eben doch kein schneller Sieg abzeichnete.

»Also, würdest du freundlicherweise kurz den Köder spielen? Das Ding ist zu schnell für uns auf offener Wiese, aber ich kann es lahmlegen, wenn es mich nicht ansieht.« Dann veränderte sich Dantes herablassender Blick, wurde ernster und eine Spur weicher. »Ehrlich, spar deine Fusionskräfte. Ich fürchte, die wirst du noch brauchen.«

Yuri ergab sich. Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Du spinnst echt. Ich hoffe, dass dein Scheiß funktioniert, sonst bin ich nämlich tot.« Damit sprintete er los.

Dantes leise gelachtes »Blödsinn« hörte er nur noch mit einem Ohr.

Er hielt direkt auf Furfur zu, der ihn sofort mit giftgrünen, echsenartigen Augen ins Visier nahm. Das schwarze Loch, das sein Mund war, öffnete und schloss sich ein paar Mal, die beiden aus dem Torso ragenden Greifarme streckten ihre Klauenfinger. Würde toll werden, direkt in diese Umarmung zu rennen. Yuri beschleunigte; Furfur spannte sich, allmählich verwirrt über diesen sinnlosen Solo-Frontalangriff, doch noch immer zuckten zwei der abgrundartigen Pupillen hin und her zu Dante, der unbehelligt an Ort und Stelle stehen geblieben war, auf Rebellion gestützt.

Na gut, dachte Yuri, als die Hitze immer näher kam. Ein Versuch schadet nicht. Wenn ihn ein Schlag auf den Schädel nicht ablenkt, dann weiß ich auch nicht, was.

Er streckte die Klingen vor und holte aus, um Furfur im Sprung die Faust auf die Stirn zu schmettern.

Furfur sah es, jetzt vollends überrumpelt, und konnte nicht anders: Alle vier Augen richteten sich auf den Angreifer. Dann senkte er sein Geweih – und stieß vorwärts.

Ich bin tot, dachte Yuri, doch im nächsten Moment hielt die Welt plötzlich an.

Zumindest dachte er das. Denn als der Wimpernschlag vorüber war, war alles … anders.

Yuri war nicht tot, und Furfur war nicht länger im Begriff, ihn aufzuspießen, sondern lag im Gras. Jedenfalls kurz. Dann schnellte er hoch, flügelschlagend und vor Wut brüllend. Sein Hals blutete; ein tiefer Schnitt klaffte im Fell knapp über der Kehle, und rote Klumpen quollen daraus hervor.

Yuri wich zurück und stieß gegen Dante, der wie ein Baum hinter ihm stand.

»Oh, wow –«

Dante schubste ihn mit einer Hand wieder in die Senkrechte und sagte fast entschuldigend: »Ich hab das schon mal besser hingekriegt.«

»Was hast du gemacht?«

»Die Zeit angehalten. Aber nur kurz … Der Skill ist ganz schön eingerostet. Ich mach das einfach nie

Furfur stieß ein lärmendes Husten und Schnauben aus und verteilte sein nach Schwefel stinkendes Blut, das bei Berührung mit der Luft eine gummiartige Konsistenz anzunehmen begann, überall im Gras. Die Verletzung verwandelte seine vormals lautlosen Atemzüge in ein zähes Röcheln. Wütend senkte er wieder sein tropfendes Geweih. Seine Augen waren wieder schwarz, die Maulspalte stand offen. Seine Siegessicherheit war erschüttert: Die beiden Menschen, bis eben noch seine Spielzeuge in dieser neuen, herrlichen Welt ohne Wände, hatten ihn verwundet. Beim nächsten Treffer würde sich diese Verunsicherung in Angst verwandeln. Und Angst machte Dämonen zu den allergrausamsten Feinden.

»Kannst du das noch mal machen?«, raunte Yuri, ohne sich zu Dante umzudrehen.

»Nicht sofort. Das frisst ’ne Menge dämonischer Energie.«

»Dann lassen wir’s und hauen einfach drauf?«

»Klingt vernünftig.«

»Du rechts, ich links.«

»Von mir aus. Los.«

Und noch einmal versuchten sie ihre alte Strategie.

Diesmal trat Furfur sofort den Rückzug an, ohne Gegenangriff. Wenn er auch blutete und ächzte, seine glühenden Flügel waren intakt, und er war keine Millisekunde langsamer als zuvor.

Wieder kappte Dante mit weit ausholendem Schwerthieb ein ordentliches Stück Yeti-Fell aus der Kruppe, sodass eine faustgroße kahle, leicht blutende Stelle entstand. Die nackte Haut war teerschwarz. Yuri erreichte mit den Nachtvogelklauen gerade noch das struppige Fellbündel von Schwanz und säbelte ihn halb ab.

»Los, noch mal!«, befahl Dante.

Yuri keuchte und gehorchte. Sein Herz hämmerte wie eine Nähmaschine.

Erneut rannten sie auf die Flanken des Dämons zu, doch Furfur ließ sie gar nicht erst herankommen. Er schoss davon, als er sie kommen sah, und Yuri lief ins Leere, sah sich angestrengt nach ihm um. Mittlerweile war er so erschöpft, dass er trotz des warmen Schweißes zu frieren begann. Er hätte gleich zu Anfang fusionieren sollen. War doch klar, dass Dante die Kräfte eines Menschen nicht einschätzen konnte.

Der Jäger daselbst starrte ebenfalls auf die blutige Schneise, die Furfur hinter sich hergezogen hatte. Immerhin, wenn das Ding weiter so blutete – und die Spur wurde rasch breiter, wie es aussah –, dann …

»Pass auf, Hyuga!«

Plötzlich waren Licht und Hitze direkt hinter Yuri. Er fuhr herum und sah nur noch, wie Furfur, turmhoch über ihm aufragend, das gähnende Loch in seinem Gesicht öffnete.

Nicht nur öffnete; seine unsichtbaren Kiefer klappten auf, und dann hakte er sie aus wie eine Eierschlange. Mit einem Mal war der Spalt so riesig, dass ein Nilpferd hindurchgepasst hätte.

Nur dass kein Nilpferd da war.

Yuri riss den Arm hoch, als Furfur im Begriff war, das Maul über ihn zu stülpen. Die Klingen schlitzten in weitem Bogen irgendetwas auf, aber trotzdem schloss sich plötzlich Dunkelheit um ihn, eine feuchte, heiße, nach tiefstem Erdboden riechende Dunkelheit.

Er will mich wirklich fressen, dachte Yuri fasziniert. Das war eindeutig ein Verzweiflungsangriff, um den extremen Energieverlust durch die Wunde auszugleichen. Die Spielzeit war unterbrochen, jetzt wurde erst mal gegessen.

Schlagartig fielen ihm die Glasscherbenzähne wieder ein.

Er holte wieder aus – diesmal fuhr sein Knöchel an der wabbeligen Innenwand der Maulhöhle vorbei, was ihn schaudern ließ – und schnitt sich seinen Weg ins Freie. Elastisch wie die Haut auch war, sie schloss sich nicht schnell genug um Yuri, ehe dieser unter den hängenden, bluttriefenden Hautlappen hinweggetaucht war.

Jetzt hatte er wirklich gleich keine Power mehr.

In null komma nichts war auch Dante da und zog Furfur Rebellion über den Schädel – oder versuchte es, denn das Biest schoss röhrend davon, lediglich einen weiteren flachen Schnitt zwischen Kopf und Hals davontragend.

Yuri ließ sich rückwärts auf den Hintern fallen. Scheiße, er brauchte wirklich eine Pause.

Hinter ihm ertönte ein keckernder Laut, eine Mischung aus Husten und mitleidigem Lachen. »Ihr seid wirklich das schlechteste Team, das ich je gesehen habe!«, krächzte Roger, und Yuri verrenkte sich den Hals nach ihm. Ernsthaft, da kam Roger angehoppelt, mit seinem Hut und Gehstock, als wäre er gerade im Theater gewesen.

»Roger! Was zum –«

»Nanu!«, rief Dante aus, doch er schaute glatt über Roger hinweg. »Ist der schon zurück von seinem Auftrag?«

Yuri folgte seinem Blick und sah … Jin.

»Ich dachte, das wäre eine gute Idee, da ihr so katastrophal am Scheitern seid«, erklärte Roger und rückte seinen Hut zurecht.

Jin kam aus Richtung Aberytwyth über die Ebene gestürmt, als käme er zur Rettung aller unschuldig Verurteilten. Seinen Mantel trug er nicht, nur sein schwarzes Hemd, doch das war nicht der einzige Anhalt dafür, dass er vorhatte, in den Kampf einzugreifen: Seine Fäuste wären schon aus Kilometern Entfernung sichtbar gewesen, denn sie standen buchstäblich in Flammen.

»Oh«, sagte Dante, einigermaßen perplex.

Yuri bestaunte mit zusammengekniffenen Augen die flammenden Handschuhe, während Jin heranpreschte. Er erinnerte sich an den Namen, bevor Dante ihn aussprach.

»Er hat Ifrit.« Der Teufelsjäger wirkte ehrlich erstaunt. »Er rennt damit rum.«

»Du hast ihm die Dinger doch gegeben«, erinnerte Yuri.

»Neunzig Prozent von mir haben damit gerechnet, dass er sich die Finger verbrennt.«

»Manchmal bist du schon ein Arschloch, oder?«

Dante schaute zu Yuri, dann wieder zu Jin, der mit seinen federnden Schritten die Anhöhe hinter sich ließ. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Jin ist wirklich nicht normal.«

»Überraschung, Alter.« Ein Blick Richtung Küste sagte Yuri, dass Furfur, genau wie er, den Moment zur Erholung genutzt hatte. Die zerfetzte Gesichts- und Halspartie heilte immerhin so schnell, dass man dabei zusehen konnte. Sicher – Furfur war ranghoch, er musste extrem regenerativ sein. Toll.

Mit einem tiefen Atemzug stemmte Yuri sich vom Boden hoch. Seine Knie zitterten noch ein bisschen.

Jin geriet in Rufweite; er behielt den Dämon im Blick, der ihn grollend aus sicherer Entfernung anstarrte und nicht erfreut war über den neuen Spieler auf dem Feld. Yuri sah Jin jetzt besser: Es sah aus, als würden sogar seine Fersen beim Rennen Flammen schlagen.

Dante indes schien willens, Jin in den Schlachtplan einzubinden, denn er gab ihm ein Zeichen. Offenbar war seine anfängliche Meinung, dass Jin aus Kämpfen fernzuhalten sei, allein durch die Tatsache, dass dieser Ifrit gebändigt hatte, gründlich revidiert worden.

Jin erreichte sie und kam mit einem tiefen Luftholen zum Stehen. Seine schwarzen Haarsträhnen klebten ihm an Stirn und Schläfen, und bei jedem seiner deutlichen Atemzüge sah Yuri, wie sich unter dem Hemd die Muskeln wölbten. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz, etwas von innen Glühendes, äußerst Waches. »Wie ist der Plan?«, fragte er.

»Ziemlich einfach«, antwortete Dante und deutete auf Furfurs weißleuchtende Gestalt. »Ich rechts, Yuri links, du hinten
 

Falls sie geglaubt hatten, dass Furfur ihren Angriff stoisch abwarten würde, dann hatten sie sich getäuscht. Der Höllenhirsch war in Bewegung, noch ehe sie sich irgendwie positionieren konnten. Er wollte nicht länger mit ihnen Katz-und-Maus spielen, hatte sein eigenes Spiel satt, seit er Dantes Schwert und Yuris Schlagklingen geschmeckt hatte. Jetzt wollte er kurzen Prozess mit ihnen machen.

Mit einem kräftigen Flügelstoß griff er Yuri an, peitschte sein Geweih nach ihm. Yuri ließ sich fallen – zu viel mehr hatte er auch keine Kraft – und geriet unter die Hufe, was ihnen letztlich Beiden nicht gut tat: Ehe Yuri einen der Vorderläufe mit den Klingen ganz abtrennen konnte, rammte Furfur ihm die Hinterhufe in die Leber und sprang davon. Yuri war schwindelig vor Schmerzen, und das Blut, das ihm auf Gesicht und Brust getropft war, roch fürchterlich.

Es half nichts, er musste wieder hoch. Auch wenn er ewig zu brauchen schien.

Währenddessen legte sich das Vieh mit Dante an, kassierte aber nur einen frischen Schwerthieb mitten zwischen die greifenden Affenarme. Sofort stürzte es wieder davon.

Wenn sie nur seine Flügel zerstören könnten … oder ihn in eine Art Begrenzung locken, wo er nicht einfach hakenschlagend in jede beliebige Richtung abhauen konnte …

Als Furfur in seiner blinden Wut glaubte, auch noch bei Jin austeilen zu können, war er komplett an der falschen Adresse. Jin ließ den Angriff auf sich zukommen und wich ihm so spielend leicht aus, als könne er in die Zukunft sehen. Ständig sah er dem Biest in die Augen; anders als die Anderen hatte er auf den ersten Blick erkannt, wo Furfurs Schwachstelle war. Richtig, sein präzises analytisches Denken war gedrillt durch jahrelange Quälerei, die sein Großvater Training genannt hatte. Furfurs krustiges Geweih berührte Jin nicht, aber als er selbst eine Lücke entdeckte und sofort nutzte, saß der Treffer.

Yuri kannte Ifrit. Er hatte ihn als Fusionsseele besessen, damals.

Der glühende Schuppenpanzer über Jins Faust zertrümmerte die Hälfte des Hirschschädels und setzte das Geweih lodernd in Brand. Furfur bäumte sich auf und schrie, schrie so laut, dass die Erde bebte und Yuri beinahe selbst zu schreien anfangen wollte, so hilflos war er gegen die plötzliche Gewalt des Lärms.

Der Schrei endete abrupt, als Rebellion wie ein Bumerang geflogen kam und mit einem ekligen Rrrratsch die zottige Kehle durchtrennte.

Jetzt war es vorbei.

Zumindest hatte Yuri das geglaubt.

Furfur drehte sich und floh. Er stob davon, blutend, brüllend, Hals über Kopf, genau Richtung Clarach.

Yuri sah, wie Dante sein Schwert wieder auffing und dem Dämon nachjagte. Jin folgte ihm, kaum langsamer. Sein eiserner Körper kannte keine Ermüdung.

Doch sie würden es niemals schaffen.
 

Yuri rannte dem dämonischen Tross etwa zweihundert Meter nach, dann hielt er an und stützte die Hände auf die Knie. Seine Muskeln zitterten wieder, und das flaue Gefühl in seinem Magen war kein gutes Zeichen. Trotzdem hatte er jetzt keine Wahl. Furfur würde in Clarach hineinkrachen wie ein Felsbrocken in einen Ameisenhaufen, und wenn sie noch irgendjemanden dort retten wollten, dann musste Yuri zu Hilfe kommen und sich weiter erschöpfen.

Na gut.

Mit einem tiefen Atemholen richtete er sich wieder auf, doch in diesem Moment krächzte es hinter ihm: »Yuri!«

Er drehte sich um. Roger schloss hoppelnd zu ihm auf, ein kleines Flacon schwenkend.

»Hier! Es ist der letzte Rest! Genaugenommen weiß ich nicht mal, ob er noch gut ist …«

Yuri kannte die gelbliche, ölige Flüssigkeit in dem kleinen Fläschchen und nahm es erstaunt entgegen. »Wie? Mein Traumkraut ist so gut wie alle, aber du hast noch ’ne ganze Flasche Dope?«

»Nimm es einfach!«, beharrte Roger. »Ich habe es geholt, weil ich dachte, Jin bräuchte es möglicherweise, wenn er Ifrit unterwerfen will, aber … er wollte es nicht.«

Arroganter Schnösel, dachte Yuri halbherzig, jedoch dankbar, dass Jin seine Kräfte korrekt eingeschätzt hatte. Mit den Zähnen zog er den winzigen Korken aus dem Flacon und kippte den Inhalt wie einen Kurzen hinunter. Das Konzentrat klebte im Mund, wie er es gewohnt war, und hing mit seinem unangenehmen Aroma wie von schlechtem Weißwein in seinem Rachen fest; er schluckte gegen den schalen, bitteren Geschmack an, der ihn beinahe würgen ließ. Dann endlich schoss Hitze aus seiner Mitte durch seine Glieder bis hinauf in sein Hirn. Dort entzündete sie den Funken neu, ließ seinen Verstand wieder einrasten, machte ihn klar, ließ ihn mit jedem Herzschlag die Nähe der dämonischen Seelen spüren, die in ihm lebten.

Er drehte sich um und ließ Roger stehen. Der Aufschrei seiner überanstrengten Muskeln verebbte, als er Amon freiließ. Sein Lieblingsteufel blühte auf wie dorniges Unkraut, öffnete die kräftigen Schwingen und stieß sich vom Boden ab, Furfurs Leuchten im Fokus seines rot pulsierenden Sichtfeldes.
 

Gerade stürzte der sterbende Hirsch feuerpeitschend in das Küstendorf hinein. Die ersten beiden Häuser brachen, ihre Dächer knickten ein, ihre Türen purzelten einfach aus den Rahmen. Qualmwolken schwollen an, als das brennende Geweih weitere Wände zum Einsturz brachte und Dächer entzündete.

Yuri hatte bereits mehrmals Orte abbrennen und ihre Bewohner sterben gesehen. Es jagte ihm einen Stachel ins Herz, Clarach in Flammen aufgehen zu sehen, fachte seinen Zorn auf das Monster weiter an; dann aber wurde ihm klar, dass niemand floh. Die Häuser schienen leer zu sein, keine Menschen stürzten schreiend daraus hervor. Wo waren die Bewohner?

Er hob den gehörnten Kopf, schaute Richtung Horizont und entdeckte sie. Die Gruppe befand sich einige hundert Meter weit weg auf der Flucht, hier und da stolpernd, fallend und sich wieder aufrappelnd, doch weit genug abseits von Furfurs Inferno. Zwei schwarz gekleidete Gestalten eskortierten die Menschen, eine als Führung vorne an der Spitze, eine hinten und die Langsamsten antreibend. Von hier oben waren die Beiden unschwer zu erkennen: Ihre eleganten, taillierten Kurzmäntel flatterten, ihre Schritte waren grazil und doch energisch. Hätt man sich denken können, dass sie auftauchen, dachte Yuri. Er sah, wie die Hintere der Beiden sich von der Gruppe löste und kehrt machte, zurück Richtung Clarach. Sie beschleunigte, rannte ausgreifend direkt auf den rasenden Dämon zu.

Inmitten des Dorfes überzog Furfur alles mit Flammen und Asche und schüttete sein heißes, schwefliges Blut in die Gärten aus. Der Dämon würde sterben, ja, aber er hatte fest vor, dabei so viel Schaden anzurichten wie möglich. Eine Schneise aus Trümmern riss er mitten durch den Ort, zerstampfte die Häuser, setzte alles in Brand. Yuri legte die Flügel an und ließ sich hinabstürzen. Jetzt sah er unter sich Jin, am weitesten entfernt, aber mit gleichbleibend ausgreifenden Sprüngen im Anmarsch, während seine Fäuste und Fersen rotes Feuer spuckten. Näher dran war Dante. Er hatte inzwischen sehr wohl getriggert: Seine rotgekleidete Gestalt war überlagert von einer funkelnden Dunkelheit, er rannte viel zu schnell für einen Menschen und strömte dabei Macht aus wie Furfur Angst.

Yuri war wütend. Die ganze Zeit über hatten sie sich zu dumm angestellt, den Dämon zu erledigen, und nun richtete er das Dorf zugrunde. Jetzt endlich hatten sie die Stärke, das Monster geradezu unter ihren Sohlen zu zertreten, doch jetzt war es zu spät. Yuri hasste sich dafür.

Er ging noch tiefer. Es war Zeit, Furfur den Garaus zu machen.
 

Der Hirsch schmetterte sein Geweih in ein weiteres reetgedecktes Dach. Seine Augen waren weit, rot und pupillenlos, das ekelhafte Maul offen wie ein gähnendes Loch. Die rudernden Arme rissen Mauern ein und Zäune nieder. Es genügte ihm nicht, einfach nur alles zu entflammen und niederzutrampeln. Inzwischen hatten seine Wunden zu heilen begonnen, sogar die zerschlitzte Kehle hatte aufgehört, alles mit Gummischleim vollzubluten. Doch der Schaden war angerichtet: Er würde keine weitere Attacke von Dante, Yuri oder Jin überleben.

Yuri setzte in dem Moment auf, als auch Dante Furfur einholte. Der Dämon sah sie beide und bäumte sich auf, um mit den Flammenflügeln zu schlagen; doch diesmal, inmitten von Trümmerteilen, konnte er sich nicht frei bewegen. Er stieß vor und mitten in Dantes massive Schwertklinge. Seine Flanke klaffte auf. Dantes Devil Trigger verlosch, seine dämonische Energie war für den Moment zu Ende. Auch Yuri, auf einem schwelenden Dachfürst kauernd, sammelte sich und streifte Amon von sich ab. Er brauchte die Kontrolle, unbedingt, und die Fusion hatte bereits einen Großteil seiner physischen Kraft wiederhergestellt, den er nutzen konnte.

»Links!«, rief Dante.

»Ich weiß

Diesmal würde es funktionieren.

Furfur sah sie gleichzeitig auf ihn zuspringen. Kaum zwei Sekunden lang fand er sich eingekeilt. Sekunden, die ausreichten.

Yuri schlug zu, stieß die Nachtvogelklauen tief in den rußverdreckten Pelz. Auf der anderen Seite versenkte Dante Rebellion seitlich im Brustkasten des Ungetüms.

Sie hatten ihn. Yuri empfand ein ungewohnt heftiges Gefühl von Triumph, als Furfur unter ihnen erschauderte. Blut quoll zwischen seinen verkrampften Fingern hervor, lief über die Schlagringe und in das Fell. Er wollte die Messer herausziehen –

– und es ging nicht.

Oh. Gummi …

Über seinem Kopf schlugen die segelartigen Flügel zusammen, der heiße Luftstoß versengte ihm fast das Haar. Von Furfurs anderer Seite erklang ein unwilliges Knurren, das auf Dantes identische Situation schließen ließ.

Dann ging die Reise los.
 

Phantastisch. Sie hatten ihre Klingen in Furfur gesteckt, und da steckten sie nun.

Der Dämon donnerte mit ihnen über die Ebene, hinauf zu den Klippen, und Yuri umklammerte seine Schlagringe noch fester, falls das möglich war – denn jetzt abzuspringen oder gar abzufallen war sicher keine gute Idee. Mühsam presste er die Sohlen gegen die harte Flanke. Sie war glitschig von Blut, das zu allem Überfluss auch noch an ihm zu kleben begann. Der Fahrtwind brauste ihm um die Ohren.

Aus Furfurs Brustkasten drang ein tiefes, dröhnendes Lachen. »Sohn von Sparda, Gottesschlächter … Ihr werdet mit mir sterben.«

Diesmal kam keine markige Retour von Dante.

Sie erreichten die Klippen. Yuri sah das offene Meer jenseits der schroff abfallenden Felskante glitzern.

»Selten wurde unserer Welt ein größerer Dienst erwiesen«, grollte das stinkende Biest selbstzufrieden. »Ich opfere mich für das höhere Ziel. Mein Körper wird den ganzen Ozean in Säure verwandeln.«

Na, wenn das nicht rosige Aussichten waren!

Dante auf der anderen Seite riss noch einmal an seinem Schwert, und Yuri fühlte den Körper unter sich rucken. Furfur schwankte und fing sich. Dante wiederholte das Manöver; Rebellion blieb stecken, als wäre das Fleisch aus Kunstharz, doch der Dämon geriet erneut ins Taumeln, diesmal stärker. Er drehte sich in ein paar Sprüngen auf der Stelle – Yuri hatte das Gefühl, ihm würde gleich schlecht werden – und stoppte, die Yuri-Seite zum Festland gekehrt, die Dante-Seite zum Klippenrand. Heilige Scheiße, wenn er jetzt bloß nicht das Gleichgewicht verlor und abstürzte! Wasser in Säure verwandeln? Als könnten Menschen allein nicht schon genug Umweltkatastrophen verursachen!

Furfur versuchte, sich dem Meer zuzuwenden. Dante kämpfte dagegen an wie Don Quixote gegen die Windmühlen.

Keine Chance. Furfur rammte die Hufe ins Gras und fing sich. Yuri fühlte die heißen Flügel wieder näherkommen …

… Aber dann, plötzlich, war Jin da.

Er kam die Anhöhe hinaufgestürmt, ohne sichtbare Mühe, die Augen kalt und schimmernd.

Falls Yuri je daran gezweifelt hatte, dass Jin Toshin mit bloßen Händen erschlagen hatte, so glaubte er es jetzt ganz sicher. Ganz egal, ob Jin ein Teufelsgen oder Teufelsblut hatte, er war absolut fähig, einen Teufel zu töten. Mit einem geschmeidigen Sprung griff er Furfur frontal an, die Faust mit dem flammenden Handschuh absolut präzise auf ihr Ziel gerichtet. Mit einem schrecklichen glitschigen Krachen traf Ifrit auf Furfurs Augenpartie und durchbrach den Schädel.

Blut und Knochensplitter explodierten, als hätte jemand in einem Kürbis eine Dynamitstange gezündet. Der tierische Schrei aus der Kehle des Teufels schwoll an, verlor sich jenseits der hörbaren Frequenz. Dann entwich dem Körper alle Spannung. Furfur wabbelte seitwärts wie ein Sack Schmalz, ehe seine Beine endlich einknickten. Sein Körper sank zusammen – fiel auf die Seite.

Wummmms.

Er fiel nicht von der Klippe. Doch sein letzter Flügelschlag erwischte Dante und fegte diesen an seiner Statt über den steil abfallenden Rand. Dantes überraschter Aufschrei verlor sich rasch im tobenden Wind.

Indes ragte Rebellions Klinge blutüberströmt direkt neben Yuri aus dem sich schwarz verfärbenden Körper und fiel, als das Fleisch zu Asche wurde, mit einem weichen Aufschlag längs ins Gras.

Akt XII: Aus den Tiefen - 16-3

16-3: DANTE
 

Manche Dinge gingen von Anfang an schief. Dieses auch.

Eigentlich hätten sie Furfur in einen Schuhkarton stopfen und per Express zurück in die Hölle schicken sollen. Und zwar in fünf Minuten. Sieben, vielleicht. Aber der Umstand, dass sie eine halbe Stunde oder länger wie die Idioten hinter dem manischen Rotwild hergehechelt waren, versetzte Dantes Ego einen berechtigten Arschtritt.

Yuri und er harmonierten überhaupt nicht als Tag-Team. Warum hatten sie das nie geübt? Dass Sarris ihnen früher oder später irgendwas wirklich Hässliches auf den Hals hetzen würde, hätte auf Dantes geistigem Merkblatt ganz oben stehen müssen. Aber so, wie sie sich zu zweit angestellt hatten, musste erst jemand wie Jin kommen, um – … Nun gut, Jin war kein Lappen, er war Karateka und außerdem Seine Majestät König Iron Fist von und zu Toshin-Killer, vielleicht hätte man ihn von Anfang an besser einbinden müssen. Und Ifrit … Wie das wohl ausgesehen hatte, als Jin seine Finger da reinschob und die Biester versuchten, ihn auseinander zu reißen …

All das dachte Dante, während er so stilvoll wie möglich von der Klippe fiel, das schäumende Meer dabei beobachtend, wie es immer näher kam. Die aufragenden Felsspitzen wollte er gerne vermeiden, und ja, mit einem schweren Mantel als Segel ließen sich hohe Stürze schon einigermaßen steuern. Er fragte sich nur, wie lange es dauern würde, wieder hoch zu klettern. Fliegen war keine Option: Das eiskalte Wasser würde seinen Devil Trigger erneut auf Null setzen.

Wenige Sekunden später war seine Fallzeit abgelaufen. Er erwischte mit einem Fuß die Steilkante, stieß sich von ihr ab, streckte die Hände vor und tauchte mit einem Kopfsprung in das scheißkalte Wasser ein, das sofort in jede Ritze kroch und versuchte, alle seine Muskeln zu Eis erstarren zu lassen.

Hastig ruderte er an die Oberfläche, füllte seine Lungen mit Luft und starrte blinzelnd durch die Tropfen in seinen Wimpern nach oben zum Klippenrand, von dem sein unschöner Abgang erfolgt war. Wie hoch war das – hundert Meter? Zweihundert? Oder doch nur achtzig?

Keine Ahnung.

War auch egal.

Er zog sich auf den nächstbesten aufragenden Felsen und kämpfte gegen die lähmende Kälte an. Sie würde ihn nicht umbringen, aber beim Klettern war sie nicht gerade behilflich. Und außerdem … Automatisch griff er in eins der Waffenholster und hob Ivory vor die Augen. Aus ihr lief Wasser, erst ein kleiner Strom, dann ein Tröpfeln. Großartig. Es würde eine Weile dauern, bis die beiden Mädels wieder funktionsbereit waren.

Um keine Zeit zu verschwenden, ließ er sich wieder ins Wasser gleiten – was einen Moment an Überwindung kostete – und arbeitete sich zur Felswand vor. Sie war schroff, aber unregelmäßig genug, er würde schon oben ankommen. Erstaunlich, wie warm sich die milde Winterluft anfühlte, wenn das eigene Blut dem Gefrierpunkt nahe war.

Etwas ungelenk begann er den Aufstieg. Die konstante Beanspruchung seiner Muskeln half ihm, sie wieder aufzuwärmen, und so kam er zunehmend schneller voran. Wann immer er hochschaute, sah er jemanden, der sich vorsichtig über den Rand beugte und vermutlich nach ihm Ausschau hielt. Gut so, sie warteten da oben auf ihn. Sollten bloß nicht auf die Idee kommen, wegzugehen und Hilfe zu holen oder, noch schlimmer, selbst runterzuklettern. Hoffentlich waren alle vernünftig genug dafür.

Es dauerte bestimmt zehn Minuten, bis er die Hälfte der Kletterpartie hinter sich hatte, aber dann wurde es besser. Viele kleine Vorsprünge waren hier oben grasbewachsen, sodass er besseren Halt fand. Außerdem erholte sich sein Körper zusehends von dem Kälteschock. Die letzten hundert Meter ließ er ziemlich mühelos hinter sich, in flüssigen Bewegungen wie ein Gecko an der Wand

»Los, mach schon!«, rief jemand über ihm. Es klang nach Yuri.

»Halt’s Maul«, antwortete Dante und packte endlich mit der Linken ein Büschel Gras.

»Bist du in Ordnung?«, fragte Jin, der neben Yuri stand, pflichtbewusst.

»Ja, sicher, alles cool. Hat jemand ein paar trockene Socken für mich?« Dante schwang sich über den Klippenrand, wobei er mit dem Mantel einige Tropfen auf die Umstehenden versprühte, und sah sich plötzlich einer Person gegenüber, die er an diesem Ort als allerletztes erwartet hätte.

Trish.

Ihr offenes blondes Haar flatterte wild und sah bereits aus, als hätte ein Kamm keine Chance mehr. Sie musterte ihn abschätzig, die Arme vor der Brust verschränkt. »Manchmal weiß ich nicht, ob ich dich umarmen, küssen oder schlagen soll«, stellte sie fest.

Dante breitete in einer ratlosen Geste die Arme aus. »Entscheide dich einfach.«

Sie ging auf ihn zu und legte die Arme um seinen Hals, küsste ihn auf die Wange, holte aus und schlug ihn auf selbige, ziemlich fest sogar; dann drehte sie sich um und stolzierte davon.

Er sah ihr fasziniert nach. Auf ihrem Rücken hing Sparda; das gewaltige Schwertblatt nahm die ganze Fläche ein, der Griff ragte über Trishs Scheitel hinaus. Dante fragte sich, wie sie das Ding durch die Kontrollen geschleust hatte. Irgendwie war es seltsam, das mächtige Schwert hier in Wales am Rande eines sturmumtosten Kliffs zu sehen. »Trish«, begann er etwas lahm, »was zur Hölle machst du hier?«

»Ihr habt wohl wirklich erwartet, dass wir brav zu Hause bleiben, während von euch kein einziges Lebenszeichen mehr kommt«, erwiderte sie kühl.

Dante schaute zu Jin. »Du hättest wirklich mal ans Telefon gehen können.«

»Sei besser froh«, versetzte Trish. »Wir haben das Dorf evakuiert, während ihr … Tja, ich weiß nicht, was ihr da gemacht habt, aber nach guter Arbeit sah es nicht aus.«

»Du hast auch nichts beigetragen, oder?« Er fragte sich, warum sie einander ständig beharken mussten, wenn es um die Arbeit ging. Frauen liebten das irgendwie. Der Harmonie wegen lenkte er ein: »Egal, die Sache ist erledigt.« Er drehte sich nach dem Haufen Asche um, die der kalte Winterwind schnell in alle Richtungen verteilte, und hob sein Schwert auf. Eine kurze Inspektion ergab: Keine Spur mehr von Blut oder Säure oder irgendwas an der Klinge, das Erbstück war blitzsauber. Er schob es über die Schulter dahin, wo es hingehörte.

»Dante, wir sollten …«, begann Jin und hob eine Hand; eine Hand, die noch immer in Feuer gehüllt war. Das fühlte sich nicht richtig an, jetzt, da der Kampf vorbei war.

Dante fiel ihm ins Wort und streckte fordernd die Hand aus. »Halt. Ausziehen, Kazama. Ausziehen

»Wenn er mir das in diesem Ton sagen würde, wär ich schon nackig«, bemerkte Yuri.

Etwas zögernd streifte Jin die Handschuhe ab, einen nach dem anderen, und legte sie in Dantes Hand. Aus dem Lodern wurde ein Glühen, als die dämonische Energie sich in das schuppige Material zurückzog.

»Braver Junge. Übrigens: Schöner Finisher. Aus dir wird noch ein richtiger Teufelsjäger.« Jin reagierte wie erwartet und betrachtete ihn angewidert. Kurz überlegte Dante, ob er noch etwas Anderes zu ihm sagen sollte, etwas Nettes, etwas darüber, dass er Jins Tauglichkeit zum Kampf gegen Teufel falsch eingeschätzt hatte. Doch Jin wandte bereits den Blick ab, und im Nu war sein Gesicht wieder versteinert.

Jemand Fünftes näherte sich in leichtfüßigem Laufschritt die Anhöhe hinauf. Dante sah es, als er Trishs Blick folgte. Es war natürlich Nina, und Jin ließ ein leises unwilliges Murren vernehmen, als er sie entdeckte. Die ehemalige Auftragsmörderin trug ihren schon bekannten schwarzen Wintermantel über der ansonsten hautengen Kleidung und hatte ihr Haar in weiser Voraussicht an gleich mehreren Stellen zusammengebunden. Mühelos trabte sie bergan auf die Gruppe zu, wobei ihre Schuhe – nicht ladylike, sondern Stiefel mit breiten profilierten Gummisohlen – ihr auf dem glitschigen Gras exzellenten Halt boten. Nein, sie war niemand, der unvorbereitet auf Einsätze ging.

»Hey«, grüßte sie mit ihrer tiefen, gletscherkalten Stimme, als sie die Vier erreichte. »Die Lage ist unter Kontrolle. Die Leute aus Clarach sind auf dem Weg nach Aberystwyth, man wird sie unterwegs mit Bussen einsammeln.« Mit leicht angehobenen Brauen musterte sie den rauchenden Aschehügel. »Bei euch ist offensichtlich auch alles in Ordnung.«

Dante ließ den Blick einmal an ihr hinab und wieder hinauf gleiten. Nina war immer noch ziemlich sexy, aber er würde einen Teufel tun, ihr das zu sagen. Er traute ihr nur so weit, wie er sie werfen konnte. »Ich würde eins gerne wissen«, sagte er, dabei vor allem Jin ansehend. »Wo ist Sarris jetzt?« Was auch immer passiert war, es hatte verdammt lange gedauert.

Jin sah Dante fest an, die Lippen eine schmale Linie, bevor er sagte: »Ich habe ihn ausgeliefert.«
 

Dante erwartete irgendeine nutzlose Reaktion von Yuri, mindestens einen wütenden Tritt ins Gras, doch Yuri blieb still, fast teilnahmslos. Offenbar hatte der Kampf ihn ziemlich erschöpft.

»Was heißt, du hast ihn ausgeliefert? Fang von vorne an.«

»Sarris wollte sich in dem kleinen Café auf dem Hügel verschanzen, in dem wir mit Roger waren«, berichtete Jin folgsam. »Es war leer, alle hatten den Dämon gesehen und waren geflüchtet. Ich weiß nicht, ob er – … ich denke, er wollte wieder ein Ritual anfangen.« Für einen Sekundenbruchteil wandte er den Blick ab, schaute dann aber wieder Dante an.

»Und wo hast du ihn hingebracht?«

»Zu Rhys«, erklärte Jin, ohne zu zögern. »Sapientes Gladio können ihm nichts tun ohne die Heilige Mistel.«

Das stimmte natürlich. »Und Rhys hat ihn eingesperrt, schätze ich?«

»In seinem Weinkeller.«

»Angemessener Ort.«

»Rhys hat auf seine Leute gewartet. Derweil habe ich alles, was Sarris uns abgenommen hatte, in Sicherheit gebracht. Ich weiß, unsere Hotelzimmer sind theoretisch nicht sicher, aber es gab keine Optionen. Ich habe die Sachen wirklich gut versteckt.«

»Welche genau?«, fragte Yuri mit verschränkten Armen.

»Die Peitsche, die Seiten und die Émigré-Schrift. Dabei habe ich die Handschuhe gefunden … und ich fand, dass es gut wäre, eine Waffe zu haben.«

»Jin, du hast Ifrit unterworfen!«, sagte Yuri in halb bewunderndem, halb verständnislosem Ton. »Ist dir klar, was du gemacht hast? Dante hat eingeplant, dass du in Flammen aufgehst.«

Dante hob die Schultern, weil er vermutete, dass irgendeine Reaktion von ihm erwartet wurde.

»Ich weiß«, antwortete Jin kalt. »Das ist der Grund, warum es nicht passiert ist.«

Dante fand, dass die Zeit für Ätzereien später dran war. Er war durchaus bereit, sich seinen verdienten Arschtritt abzuholen, doch jetzt hatten sie wirklich Besseres zu tun. »Nina«, wandte er sich an Jins Leibwächterin. »Kannst du dich an Rhys heften? Wenn Sapientes Gladio kommen, um sich Sarris zu holen, sollten wir das vielleicht wissen.«

Noch ehe er ganz geendet hatte, winkte Nina ab. »Die Sache ist unter Kontrolle«, belehrte sie ihn. »Sarris hat einen Tracker, und wir werden es sehen, wenn er Rhys’ Keller verlässt.« Sie hielt ihr Handy hoch – es sah, für einen Laien wie Dante, noch moderner aus als das von Jin – und tippte auf die dunkle Fläche, auf der sich in Grau Grundrisse von Straßen und Gebäuden abzeichneten: eine virtuelle Karte. In der unteren rechten Ecke leuchteten winzige Wörter und Zahlen, und etwa in der Mitte des Bildschirms blinkte gut sichtbar ein heller Punkt.

»Ihr habt Sarris auf einem Radar?«, sagte Yuri verblüfft.

»Kinderkram«, erwiderte Nina und ließ das Telefon verschwinden.

Ausgerechnet Jin sah skeptisch aus, als wäre ihm etwas aufgefallen, das allen Anderen entgangen war.

»Hat jemand Roger gesehen?«, fragte Yuri.

»Wen?«, fragte Trish.

»So ein kleiner bärtiger Kerl, der aussieht wie was, das man im Kühlschrank vergessen hat«, half ihr Dante aus.

Trish und Nina tauschten einen Blick. »So einer mit Hut und Gehstock? Den haben wir bei der Evakuierung gesehen«, erklärte Nina. »Er scheint die Dorfbewohner zu kennen. Sie nennen ihn Herrn Gilbert.«

»Oh ja. Das ist er.« Dante sah Yuris Mundwinkel zucken. Doch für Zufriedenheit war es zu früh. »He, Hyuga? Wir sollten nach deiner Zeitmaschine sehen.«

»Hmm«, nickte Yuri, und die Verwandlung seines Gesichts von Erleichterung zu tiefer Sorge war mitleiderregend.

»Vielleicht steht noch was davon, und wir können sie reparieren.« Eine recht einfallslose Bemerkung, wie Dante sich eingestand, denn auch zur ersten Reparatur des Teleporters hatte er nicht viel beigetragen.

»Ist gut«, stimmte Yuri tonlos zu.

»Wartet.« Jin ging auf Nina zu. »Zeig mir noch mal Sarris’ Position.«

Sie gehorchte. Beide starrten wortlos auf den kleinen Bildschirm, und Dante sah sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Er bewegt sich nicht«, stellte Jin fest.

»Das kann alles bedeuten«, entgegnete Nina, doch voll überzeugt klang sie nicht. »Sie könnten ihn betäubt haben, K.O. geschlagen oder sonst wie außer Gefecht gesetzt. Was kümmert es dich?«

»Warum sollten sie, wenn er eingesperrt ist?«, beharrte Jin mit dem Starrsinn des sehenden Propheten. »Wenn sie da sind, warum sollte er dann noch bei Rhys sein?«

Dante sah ein, dass die Einwände berechtigt waren. Die Indizien sprachen dafür, dass sie Sarris wieder einmal unterschätzt hatten und dass er nicht bei Rhys war, sondern nur der Peilsender. Eigentlich hätte das von Anfang an klar sein müssen. Dante kannte Sarris seit vielen Jahren, der war kein Vollpfosten, niemand, der sich gerne aufs Kreuz legen ließ. Anderen einen Schritt voraus zu sein, war für ihn immer wichtig gewesen.

Dennoch war Sarris im Moment nicht die höchste Priorität. Was auch immer Sapientes Gladio mit ihm vorhatten oder schon gemacht hatten, es gab jetzt Wichtigeres. »Wir kümmern uns später um ihn«, entschied Dante und sah aus dem Augenwinkel, dass Yuri sofort auf seiner Seite war. Von hoher Dringlichkeit war nicht nur, dass sie den vermutlich zerlegten Teleporter wieder zusammenbastelten, sondern auch, dass sie ins Warme kamen. Seit Furfurs Tod hatte sich der Erdboden wieder abzukühlen begonnen, und Dante spürte den Windchill immer stärker, da er von Kopf bis Fuß nass war. Auch Jin hatte leicht zu zittern begonnen, hatte er doch nichts auf der Haut außer einem Hemd und Schweiß.
 

Wieder in die halb zusammengeschmolzene Erdhöhle zu kriechen, entpuppte sich allerdings als dämliche Idee. Die Gänge waren eingesunken und kaum noch betretbar – bestenfalls konnte man sich auf allen Vieren noch irgendwie hindurch zwängen –, und noch dazu erfüllte sie eine beißende, massiv nach Verbranntem stinkende Luft, die kaum atembar war. Sicher, über Kälte konnte man sich hier unten nach Furfurs Auftritt noch weniger beschweren als vorher; doch es fühlte sich an, als sei all der Qualm des verdampften Wassers und des in Asche verwandelten Holzes hier unten als träge Suppe herabgesunken. Die Fünf husteten ununterbrochen, während sie die Trümmerteile durchwühlten und versuchten, das, was von Rogers Zeitmaschine übrig war, aus dem verkohlten Inventar zu bergen.

Tatsächlich war ein Großteil des Geräts noch in einem Stück. Die Emitter ließen sich einzeln nach oben ans Tageslicht durchreichen, nachdem Jin mit verkrampften Fingern ihre Kabel getrennt hatte (Dante selbst hätte keine Ahnung davon gehabt). Das Laufband war ein größeres Problem. Die Rollen, auf denen es lief, waren voller Sand und Kies und drehten sich nur unter größter Gewalt. Nun, Dante war bereit, diese Gewalt zur Verfügung zu stellen, und fand es seltsam beruhigend, sich auf diese Weise nützlich machen zu können.

Dennoch brannten seine Lungen bestialisch, als er endlich als Letzter wieder an die Erdoberfläche kroch. Diese Luft konnte nicht gesund sein. Leicht kohlemonoxidvergiftet, aber immerhin auch leidlich aufgewärmt schleppten sie die Einzelteile von Rogers Konstruktion am verwitterten Denkmal vorbei auf ein Stück Wiese, das frei von Stechginster war.

»Roger!«, rief Yuri laut über die Ebene, wobei seine Stimme mehr als mäßig angegriffen klang. »Hilf uns, deinen Kram wieder aufzubauen!«

Dante betrachtete den Haufen aus Metallteilen und Kabelsalat, der zwischen ihnen im Dreck lag. Jeder Idiot sah, dass das Ding nicht mehr funktionieren konnte.

Yuri rief noch zweimal heiser Rogers Namen, doch der kleine Mönch tauchte nicht auf. Jin und Trish sahen stumm den Teleporter an, während Nina in Hab-Acht-Stellung, beinahe lauernd, über die Ebene starrte. Am Horizont kroch zwischen dunklen Wolken die Dämmerung heran.

»Der Tracker bewegt sich«, sagte Nina plötzlich, auf das Telefon schauend. »Er verlässt das Black Raven Richtung Promenade. Entweder haben sie jetzt Sarris aus dem Keller geholt, tot oder bewusstlos –«

»– oder sie haben endlich entdeckt, dass er nicht dort ist«, endete Trish.

Dante entschied sich noch im gleichen Moment dafür, dass Trish diejenige war, die richtig lag.

Ohne jedes Vorzeichen ging Jin plötzlich in die Knie. Er stemmte die Handflächen in den Erdboden und biss die Zähne zusammen, doch es war unverkennbar, dass in ihm keine Kraft für Widerstand war. Seine Reserven waren aufgebraucht.

Yuri reagierte und wollte die Arme um ihn werfen – ein beschützendes, aber unüberlegtes Manöver –, doch Jin stieß ihn machtvoll von sich, während er auf die Füße sprang, und nur einen Moment später raste Devil Jin flügelschlagend Richtung Himmel. Wo zum Teufel kam der her, ohne Auslöser? Dante verstand gar nichts mehr. Automatisch korrigierte er seine Fußstellung, sodass die heiße Welle aus Energie, die die Transformation über die Umstehenden hinwegrollen ließ, ihn nicht auf die Bretter schickte.

»Was zum – !«, schrie Yuri auf.

Trish und Nina, die sich instinktiv geduckt hatten, folgten der dunklen geflügelten Kreatur nicht weniger fassungslos mit den Blicken. Umso größer wurde auch Dantes Verblüffung, als Devil Jin sich nach einem hohen Bogen wieder steil zur Erde stürzen ließ, um in einiger Entfernung am Fuße der Anhöhe zu landen. Dort, wo eine Gestalt im Gras kauerte.

Also doch.

Dante hörte Yuri fluchen, und das war das Unflätigste, das er je von ihm gehört hatte.

Sarris hockte halb auf allen Vieren, den Anorak offen und flatternd, einen Arm entblößt – einen Arm, um dessen Ellenbeuge ein blutiger Stofffetzen gewickelt war. Bahnen von getrocknetem Blut zogen sich von der verbundenen Wunde bis zum Handgelenk. Sarris war blass und hatte sichtlich Mühe, nicht zur Seite zu kippen. Für Dante war sofort klar, wie er seinen Verfolgern entwischt war.

Devil Jin stand aufrecht neben Sarris’ kauernder Gestalt, die Flügel über dem Rücken gefaltet, und betrachtete den geschwächten Menschen geringschätzig. Doch anstatt ihn mit einem Tritt oder Schlag zu töten, sprach der Dämon zu ihm.

Dante hörte nicht, was; dazu waren die beiden zu weit weg, und der Wind trug die Worte fort. Was er aber auf dem Boden vor Sarris sah, waren Dinge, die er dank ihrer eindeutigen Formen gut erkennen konnte: ein Ziegenschädel, ein offenes Buch – und das Émigré-Manuskript. Wie um alles in der Welt hatte er das ganze verdammte Zeug wieder an sich gebracht? Hörte das denn niemals auf?

Sarris erwiderte unhörbar etwas auf Devil Jins Anrede – offenbar etwas, das dieser nicht hören wollte, denn daraufhin packte der Teufel den Mann im Nacken und schüttelte ihn einmal kräftig wie ein Hund ein Kaninchen. Sarris stöhnte so laut auf, dass es bis zu den Anderen hörbar war.

Das reichte jetzt, entschied Dante. Worüber auch immer die Beiden sich da austauschten, das Wetter war es nicht. Er setzte sich in Bewegung, eine Hand am Pistolenholster, und der Wind fuhr schneidend unter seinen klammen Mantel, als er beschleunigte.

»Tu es JETZT!«, war das Erste, das Dante akustisch verstehen konnte. Es kam als tiefes Grollen von Devil Jin, ein verzerrtes, überlagertes Echo von Jins eigener Stimme.

Sarris keuchte auf, stützte sich mit dem gesunden Arm im Gras ab und griff mit dem anderen, das Gesicht schmerzverzerrt, unter die Jacke. Zitternd holte er noch etwas hervor. Dante wusste, dass es die vierzehn Seiten waren, noch ehe er sie sehen konnte.

»Es ist alles vorbereitet«, sagte Sarris kraftlos zu Devil Jin, die sich nähernden Gegenspieler nicht beachtend. »Ihr Leid … genügt. Fordere deinen Blutzoll …«

Dante erreichte das Duo und zog Ebony, noch ehe er zum Stehen kam. »Hier wird gar nichts gefordert. Du, verzieh dich.«

Devil Jin kräuselte spöttisch die Lippen auf diesen Befehl hin, doch im gleichen Moment umrundete Trish die Beiden in elegantem Bogen, und zack, lag Sparda an Devil Jins Kehle. Dessen Grinsen verschwand, und er fletschte die Zähne. So wenig Dantes Erscheinung ihn jetzt noch einschüchterte: Spardas legendäre Klinge war ein anderes Kaliber.

Sarris stöhnte leise. Sein Atem klang rasselnd. Dante kniete sich zu ihm und drückte ihm Ebonys Lauf an die Schläfe. Er staunte selbst, wie wenig er zögerte.

»Oh«, keuchte Sarris und erbebte. »Das kenne ich noch nicht von dir.«

»Das mussten viele kennen lernen in letzter Zeit. Nicht zuletzt deine Schuld.« Dante strich über den Abzug, sodass er ganz leise klickte. »Wie bist du rausgekommen?«

»Die Frage stellt sich wohl kaum«, erwiderte Sarris müde. »Du weißt, was man mit Blut alles von da unten heraufholen kann. Ich habe … viel geopfert.« Seine fahle Blässe und das unregelmäßige Zittern kennzeichneten diese Aussage als die Wahrheit. »Es kamen viele von ihnen. Aber auch der Orden kam … Mitglieder, die ich seit Jahren nicht gesehen habe. Sie waren auch im Seaside, weißt du … Haben die Leitung bedroht und das ganze Hotel auf den Kopf stellen lassen. Sie dachten, ihr versteckt die Heilige Mistel.« Ein schwaches Lächeln verzerrte Sarris’ Gesicht. »Aber sie fanden nur die anderen Dinge. Nun, ich kann sie gebrauchen. Ich konnte ihnen alles abnehmen, als die Dämonen sich auf sie stürzten. Aber … es wird sie nicht lange aufhalten. Das sind alles Männer mit großem Wissen über dunkle Mächte …«

»Ich fand Männerbünde schon immer sinnlos. Was machen die den ganzen Tag ohne Frauen?« Dante schnalzte mit der Zunge und nahm die Pistole weg. »Andere Frage …« Und diese interessierte ihn besonders, weshalb er Sarris’ Kinn packte und ihm fest in die Augen sah. »Sieh dich an, alter Freund. Du bist erledigt, und du weißt es. Was willst du jetzt noch? Warum glaubst du, dass du hier noch irgendwas rausholen kannst?« Sein Blick wanderte hinauf zu Devil Jin, dessen stolze, gehörnte Gestalt unbeweglich über ihnen aufragte.

Sarris schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe es dir schon tausendmal erklärt, Dante. Nichts hat sich geändert. Deine Frage bestätigt mich darin, dass ich … dich wohl aufgeben muss.« Sein wässriger, umherirrender Blick fokussierte sich, wurde jäh noch einmal hart und durchdringend. »Ich gebe meine letzte Kraft, um dich loszuwerden

In diesem Moment ging der Ziegenschädel, der zwischen ihnen im Gras lag, mit einem Wuuuusch in blaue Flammen auf. Das Knochengebilde mit den leeren Augenhöhlen erhob sich flackernd über den Erdboden. Automatisch griff Dante danach und wurde von der schwarzmagischen Barriere so heftig zurückgestoßen, dass es ihn rücklings ins Gras beförderte.

Im gleichen Moment glommen unter ihm helle Linien auf. Feine Strahlen aus Licht rannen durch den Erdboden und begannen die Umgebung gespenstisch zu erhellen. Verblüfft betrachtete Dante die Formen, die sie zeichneten, fühlte, dass die leuchtenden Stellen unter seinem Körper keinerlei Wärme abgaben.

Was zur Hölle war das?

Sarris begann zu lachen, japsend und kraftlos, doch irrsinnig, wie jemand, der zusieht, wie sein letztes Bisschen Verstand sich in Nichts auflöst. Der brennende Schädel schwebte, von den blauen Flammen umtanzt, Funken verstreuend und weit außer Reichweite durch die Luft.

Devil Jin, der den Moment ausnutzte, stieß Trishs Klinge von sich und stob in die Luft hinauf. Trish zog ihre Pistolen und feuerte auf ihn. Noch ehe Dante merkte, was er tat, war er in den Dauerbeschuss mit eingestiegen, Ebony und Ivory urplötzlich in den Fäusten, noch immer auf dem Rücken liegend. Gemeinsam übersäten sie die Kreatur mit Blei. Es nützte nichts: Devil Jin blockte die Kugeln mit wilden Flügelschlägen, als bestünden die schwarzen Federn aus Eisen. Nur wenige erreichten seinen Körper und rissen kleine, blutende Wunden. Immerhin konnte er nicht weiterfliegen – der Kugelhagel beschäftigte ihn so sehr, dass er weder steuern noch aufsteigen konnte, und tatsächlich zwang der Beschuss ihn zusehends wieder Richtung Erde.

Als Dante nur noch nutzloses Klicken aus seinen Waffen hörte, ließ er in routinierter Bewegung die Magazine herausfallen und hatte in Sekundenbruchteilen neue eingesetzt. Von wegen, nicht nachladen. Überall im Gras um ihn herum und auch auf seiner Brust lagen Patronenhülsen, und als er wieder zu feuern begann, gesellten sich fleißig weitere dazu.

Devil Jin sank zurück auf die Wiese und vergrößerte die Distanz zu seinen Gegnern in einer Mischung aus Rennen und Springen, wie ein Geier mit lahmem Flügel. Gleich würden sie ihn aus dem Fokus verlieren.

Das hier war sinnlos. Dante sprang auf die Füße, schüttelte die leeren Geschosse ab und steckte die Pistolen weg. Trish sah zu ihm – wie immer wartete sie auf ein Zeichen von ihm, eine halb telepathische Übereinkunft –, doch er hatte nichts für sie. Stattdessen sah er über die Schulter.

Yuri stand in einiger Entfernung, starr wie sein eigenes Denkmal. Seine Fäuste hingen hilflos herab, als gäbe es nichts, das er tun konnte.

Dabei war Yuri der Einzige, der hier noch irgendwas tun konnte.

Dante sah wieder zu Trish. Er winkte ihr mit zwei Fingern und lief auf sie zu, und gleichzeitig riss er das Schwert vom Rücken, weil Devil Jin bereits wieder im Sturzflug auf ihn niederging. Die Begegnung mit Rebellion vermied der Dämon erwartungsgemäß und drehte mühelos ab, die Flügel zusammenschlagend und seitwärts wieder auffächernd. Dante hieb nur ein paar Federn ab, ehe er wieder weg war, aber darauf kam es gerade nicht an. Im nächsten Moment war Trish bei ihm.

»Plan?«

»Einfacher Plan«, erklärte er ihr. »Hol ihn runter. Mir egal wie, aber er muss auf die Erde. Nur eine Sekunde, das reicht.« Er klopfte ihr auf die Schulter, machte kehrt und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. »Oh, Trish? Bitte jetzt

Die leuchtenden Linien im Gras gefielen ihm nicht.
 

Yuri sah aus, als wollte er umdrehen und wegrennen, als Dante auf ihn zulief; doch er blieb, wo er war, sein Blick immer noch entsetzt und leer zugleich.

Dante verlor keine Zeit, sondern packte ihn an den Schultern und drehte ihn grob in die Richtung, in der Trish soeben eine Salve paralysierender Stromschläge in Devil Jins Richtung feuerte.

»Du weißt hoffentlich, was du zu tun hast.«

Yuri sagte nichts.

»Das, was du schon längst hättest tun sollen.« Dante versetzte dem Harmonixer einen Stoß in den Rücken, der ihn unfreiwillig vorwärts schickte. »Los, Hyuga. Hol ihn dir

Und jetzt gehorchte Yuri. Er lief weiter, begann zu rennen.

Nur einen Steinwurf weit weg ließ Devil Jin sich mit halb gelähmten Flügelschlägen ins Gras sinken, um einen Moment lang Kraft zu sammeln. Seine hell glühenden Augen fixierten Trish boshaft; auch sie musste erst wieder auftanken, hatte kurz von ihm abgelassen.

Yuri rannte so schnell, als wolle er den kauernden Dämon über den Haufen rennen. Mit einer Hand griff er unter sein Shirt und holte den seltsamen Stein heraus, der um seinen Hals lag; das Ding pulsierte grellrot im Rhythmus seiner Herzschläge. Es war ein Katalysator, begriff Dante. Yuri brauchte das Periapt, weil er die wirkenden Kräfte ansonsten nicht aushalten würde.

Dann sah er zu, wie die Beiden aufeinander krachten.

Yuris Augen färbten sich pechschwarz, und diese Schwärze lief über, strömte über seinen ganzen Körper, als er Devil Jin ansprang und sich in einer fatalen Umarmung um ihn warf. Licht hüllte sie beide ein, ein Licht, das aus dem Nichts zu kommen schien, und darin verschmolzen die Beiden zu einer einzigen, unförmigen Gestalt. Energie strömte aus dem Lichtbündel, fühlbar bis in den Boden unter Dantes Füßen. Die schweren Wolken kräuselten sich über dem Ort, zogen sich bedrohlich über ihnen zusammen. Dann – mit einem Krachen, als schlüge der Blitz in einen Baum ein – fuhr etwas mitten hinein in die dunkle Masse und spaltete sie.

Dante sah eine menschliche Gestalt – Jin – schlaff zu Boden fallen. Die andere – riesig, geflügelt, schwarz wie die Nacht – erhob sich über ihr, richtete sich auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der Dantes Ohren bluten ließ.

Es war passiert. Was auch immer Dante für die Lösung all ihrer Probleme gehalten hatte, war passiert.

Das Monster stieß sich ab und flog auf. Es war größer als Devil Jin, kräftiger, eine fellbewachsene, schwarzhäutige Kreatur, deren Umrisse mit jeder Bewegung verschwammen, als bewege sich ein Teil von ihr außerhalb der bekannten Dimensionen.

Dante sah den langsamen, kraftvollen Flügelschlägen zu – und hatte das Gefühl, dass etwas ganz und gar nicht richtig war.

Akt XIII - Der verbotene Ort: 17-1

17-1: JIN
 

Jins verschütteter Verstand erhob sich aus der Dunkelheit.

Er wusste nicht, wo er war. Dieser Ort fühlte sich unwirklich, falsch an. Diffuse Dunkelheit umgab ihn, Schatten umglitten ihn wie ein dunkler Schleier, in dem er sich verheddert hatte. Nicht einmal sein Körper fühlte sich real an. Er sah an sich hinunter, konnte alles sehen – das halb aufgerissene, schweißfeuchte Hemd, die schlammverkrusteten Schuhe, in die sich die Nässe hinaufgezogen hatte – alles war, wie es sein sollte. Und fühlte sich doch nicht so an.

Er wusste, wann er sich zuletzt so gefühlt hatte: in seinem Traum. Erst in dem, den ihm Azazel gezeigt hatte, dann in dem, in dem er sich selbst und Yuri hatte sterben sehen. Vielleicht wäre es ein und derselbe Traum gewesen, am Ende. Vielleicht ging hier alles zu Ende.

Jäh teilte sich die Finsternis. Jin sah, wie sich Schemen aus dem Grau erhoben, niedrige, reglose Umrisse. Und dann wusste er, wo er war.

Noch ehe die Grabsteine in einem Licht, für das es keine Quelle gab, vollständig sichtbar wurden, spürte Jin Yuris Präsenz auf sich herabsinken. Er war an einem Ort, an den er nicht gehörte; er war in eine Privatsphäre eingedrungen, das schlimmste Verbrechen einem Anderen gegenüber; er sah das Innerste, Böseste und Verletzlichste eines Menschen zugleich. Seine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Er gehörte hier nicht hin. Und doch war er hier – auf dem Friedhof, wo Yuri die Seelen seiner erschlagenen Feinde begrub, damit sie ihn nicht hinunter in die Hölle zogen.

Als er die stummen, gespenstischen Reihen der Gräber umwanderte, entdeckte er in der Ferne einen kleineren, sich deutlich abhebenden Stein und ging auf ihn zu. Auf den übrigen glommen unleserliche Runen, sie trugen Spuren von Verwitterung und sogar Krallenspuren an den Kanten; doch dieser kleine Grabstein war unversehrt, hell, oben gerundet, fast freundlich in seiner stillen Erscheinung. Auf ihm stand: Ruhe in Frieden, Alice Elliot.

Jin spürte eine tiefe Trauer von sich Besitz ergreifen. Sie wallte von unten herauf und vereinnahmte ihn so sehr, dass er beide Hände vor die Augen schlug, die sich so schnell mit Tränen füllten, dass schon das erste Blinzeln sie zum Überlaufen brachte. Alice lag hier begraben, weil Yuri selbst ihren Tod verursacht hatte. Wann immer er den Weg zu seiner Reinigung antrat, musste er an ihrem Grab vorübergehen, diesem Zeugnis seines Versagens, sie zu beschützen. Zu schützen vor seiner eigenen dunklen Macht.

Jin nahm sich zusammen und schob das fremde Gefühl von sich. Zu weinen war nicht üblich für ihn. Es war passiert, weil diese Erkenntnis ihn unvorbereitet getroffen hatte, doch der Moment war schnell vorüber. Er selbst wusste schon lange nicht mehr, was Liebe war; er hatte sie jetzt nur gefühlt, weil dies hier nicht sein Erleben war. Oder … nicht nur seines. Er ließ den Hemdärmel die unwillkommene Nässe aufnehmen und setzte seinen Weg fort. Im Vorbeigehen berührte er den kleinen Stein behutsam, und er war warm unter seinen Fingerspitzen.

Vor ihm tauchte ein neues ursprungsloses Licht auf. Ein Licht, das ein Rondell aus verschlossenen Türen beschien. Dunkel und bedrohlich umkreisten sie den Raum, aus dem es keinen Weg hinaus zu geben schien. In der Mitte – im Zentrum des sonderbaren Lichtscheins – ragte ein Baum auf. Er schälte sich nur langsam aus dem Nichts, doch je näher Jin kam, desto klarer wurde seine Form, die zerfurchte Rinde, das Fehlen einer Astkrone. Der Stamm war riesig, in der Basis breit wie ein Mammutbaum, und eine senkrechte Mulde schien ihn fast in zwei Hälften zu teilen. Jin hörte ein leises, verzerrtes Lachen aus dieser Mulde. Ein Lachen, das irrsinnig klang, jedoch seltsam vertraut war, weil er die Stimme dahinter kannte. Tapfer beschleunigte er seinen Schritt, sodass die abgewandte Seite des Baumes in Sicht kam – und dort war Yuri. Er lehnte rücklings am Stamm, mitten in der Furche, die Arme nach hinten gestreckt, als wollte er den Baum rückwärts umarmen. Sein Kopf war vornüber gebeugt, und seine Schultern bebten unter dem gequälten, verstörenden Lachen.

Vorsichtig sprach Jin ihn an: »Yuri?« Er überlegte, wann er ihn zuletzt bei seinem Namen genannt hatte. Vielleicht noch nie.

Yuri hob den Kopf. Er schien nicht allzu überrascht, Jin zu sehen. »Oh, da bist du ja! Was sagst du hierzu? Was sagst du dazu, dass du hier bist?« Seine Augen glitzerten.

Wie in Trance ging Jin weiter auf den Baum zu. »Du hast … meine Seele an deine …«

»Ja!«, sagte Yuri voll irrsinniger Begeisterung und klammerte sich weiter an die zerfurchte Rinde hinter seinem Rücken. »Ja! Es ist das erste Mal, dass ich das ohne fremde Hilfe geschafft habe! Und das ist der Weg, auf dem ich Alice retten werde. Indem ich sie und mich hierher bringe. Wenn der Gott des Todes kommt, um sie zu holen … dann werde ich ihm in die Eier treten.« Er kicherte. »Das werde ich machen.«

»Yuri …«

»Ja, ich hab deine Seele hierhergeholt, gern geschehen, fühl dich wie zu Hause.« Erneut brach Yuri in Gelächter aus, das jedoch schnell müde verebbte. »Tut mir Leid, Jin … Du ahnst nicht, was für ein Durchbruch das für mich ist.«

»Yuri, Alice ist tot«, sagte Jin hart. »Wir haben andere Probleme, jetzt in diesem Moment!«

»Sie wird erst an dem Tag tot sein, an dem ich nicht zurückkehre. Und ich werde zurückgehen. Ich werde sie holen.«

»Yuri«, wiederholte Jin ungeduldig und fasste ihn an der Schulter. Erst da sah er, dass Yuris Arm sich nicht von dem Stamm lösen ließ. Verblüfft folgte er den gestreckten Fingern mit dem Blick und sah, was dort war: Ketten. Mehrere blau glänzende Eisenketten fesselten Yuri an den Baum, liefen über seine Mitte und um seine Handgelenke. »… Aber … Was …«

Yuri lachte unglücklich. »Oh, ja … Die kennst du, oder?«

Natürlich kannte Jin diese Ketten. Sie waren ihm beschrieben worden, aber er hatte sie auch selbst gesehen – als er Devil Jin gesehen hatte, als unsichtbarer, ohnmächtiger Zuschauer. Es waren die Ketten, die Devil Jin seit seinem ersten Amoklauf immer trug. Jene unwirklichen Fesseln, die ins Nichts führten, als hielten sie den Dämon an einem unbekannten Ort im Jenseits fest. »Aber – warum trägst du sie? Was soll das bedeuten?« Zorn wallte in Jin auf. Zorn darüber, noch immer keine Kontrolle zu haben, keine Antworten zu finden. Er saß hier offenbar fest, in Yuris persönlicher Hölle, und ausgerechnet Yuri konnte ihn nicht führen. Wer, zum Teufel, sollte es sonst tun?

Yuri hob den Kopf. »Guck mal nach oben«, sagte er ernst.

Jin folgte seinem Blick. Ihn schauderte, als er sah, was den Schatten über Yuri warf, was dort über ihnen aus dem Stamm wuchs – nicht etwa nackte Äste, wie er angenommen hatte, sondern – und er glaubte, dass es sich erst jetzt klar für seine Augen herauskristallisierte – ein Körper. Yuris Körper, ein zweiter. Schattenumwabert ragte die Gestalt aus dem Stamm, bis zum Nabel im Holz versunken, stumm und völlig reglos. Dieser Mensch war Yuris Ebenbild, doch seine Augen waren geschlossen, die Lippen farblos, das Haar hing herab, von einem kaum fühlbaren Atem sacht bewegt. Er schlief.

»Was ist das?«, hörte Jin sich tonlos fragen.

»Keine Ahnung.« Doch Yuri log, denn er fügte vorsichtig hinzu: »Ich glaube, das hier ist … mein … Seelenbaum.« Unverwandt starrte er nach oben, ins Gesicht seines schlafenden zweiten Ichs. »Er ist hier, seit ich mit der Mistel verflucht wurde.«

Jin wollte es nicht ansehen. Er wollte nichts von dem hier ansehen. In seinen Muskeln fühlte er immer wieder feine Erschütterungen, als zupfte etwas an seinen Nervenenden – Bewegungen, die jemand anders für ihn ausführte. Mit trockener Kehle fragte er: »Du bist mit Devil fusioniert, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Yuri matt.

»Aber du … kontrollierst ihn nicht.«

»Nein.« Schwach bewegte Yuri die Schultern, chancenlos gegen den Halt der protestierend knirschenden Ketten. »Jedes Monster, mit dem ich fusionieren will, muss ich zuerst unterwerfen. Geht aber nicht, wie du siehst. Ich bin der Letzte, der hier irgendwas kontrollieren kann.«

»Aber dann müssen wir irgendwas tun! Wo bin ich währenddessen?«

»Du liegst irgendwo nutzlos in der Gegend. Dein Körper, meine ich. Du bist weggetreten, so wie ich immer, wenn ich hier bin.«

»Dann lass mich gehen!«

»Ich kann nicht«, sagte Yuri nachdrücklich. »Devil klebt nicht nur an deinem Körper, er klebt auch an deinem Geist! Ihr seid nicht trennbar, nicht so. Ich bin ja nicht mit dir fusioniert, und trotzdem bist du derjenige, der hier die Macht hat, nicht ich!«

Jin starrte ihn an. »Die Macht?«

Yuri riss an seinen Ketten. »Du hast mich gefesselt, Mann – nicht Devil, nicht Azazel – du
 

Jin brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. Das ergab keinen Sinn.

Wieder fühlte er das Aufflackern von Wahrnehmungen, die von außen hereindrangen. Devil kämpfte – er war ohne Kontrolle, wie immer, niemand hinderte ihn an seinem Toben.

»Du … kannst Devil nicht unterwerfen, weil ich dich daran hindere?«

»Richtig!«, sagte Yuri mit verbissener Geduld. »Merkst du nicht, was sein Körper macht? Was mein Körper macht? Du bist immer noch mit ihm verbunden, du erhältst das Ganze aufrecht, weil alles, was du hier siehst, aus meinem Geist in deinen fließt. Gruselig, was? Wir sind eine Seelensuppe, du und ich. Und du hältst mich gefangen, weil du –« Seine Stimme wurde plötzlich leiser und schwerfällig. »– weil du mir nicht vertraust.«

Jin fühlte Angst nach seinem Herzen greifen. Dieselbe Angst wie immer. Ihr Name war Ohmacht. »Was meinst du damit? Was soll ich tun, damit du freikommst?«

»Einfach aufhören, dich vor mir zu fürchten.« Yuri sprach wie zu einem dummen Kind.

»Ich weiß nicht, wie!«

»Das ist ein Problem.«

»Wo ist Devils Seele, die wir unterwerfen müssen? Sein Geist? Wo ist … er

»Dreh dich um.«

Jin gehorchte. Vor ihm, dem gefesselten Yuri gegenüber, erhob sich die größte Tür von allen im Raum: ein hohe, zweiflüglige Doppeltür. Sie ähnelte auf groteske Weise der Tür zum Devil May Cry, nur düsterer, wie ein unheimlicher Zwilling. Alles, was du hier siehst, erschaffst du selbst … Jin erinnerte sich an die irrationale Angst, die Devil damals vor Dante empfunden hatte.

»Du kennst diese Tür, nicht wahr?«, wandte sich Jin wieder an Yuri. »Sie sieht anders aus, aber du bist schon durchgegangen.«

Yuri nickte ernsthaft. »Hinter ihr hatte ich den Seraphischen Glanz eingesperrt. So lange, bis ich durchgegangen bin und mich ihm gestellt habe. Diese Tür ist die stärkste von allen. Sie wird dich zu Devil bringen, wenn du es willst. Hinter dieser Tür kannst du dem Dämon, der dich quält, in einem fairen Kampf gegenüber treten.« Leiser, fast flüsternd, ergänzte er: »Aber manchmal … manchmal bist der Dämon du selbst. Deine eigene Angst, der du Gestalt geben kannst … und musst, um sie kleinzukriegen.«

Jin wusste nicht, ob er verstand, was Yuri damit meinte. Was genau erwartete ihn hinter dieser Tür? Devils wahre Seele, oder … nur ein Schatten davon, sein eigener, in Form gegossener Alptraum?

»Beides«, sagte Yuri leise. »Beides.«

Jin merkte, dass seine Hand an seinem Hemdkragen zog. Seine Kleidung fühlte sich plötzlich zu eng an.

»Was passiert, wenn ich verliere?«, fragte er. »Sterbe ich?«

»Nein. Das ist kein Kampf auf Leben und Tod, Jin. Es ist ein mentaler Kampf. Ein Kampf der Willenskraft, ein Kampf um die Oberhand. Wenn du verlierst, dann … wirst du nicht tot sein, aber … es wird dir dreckig gehen.« Yuri betrachtete ihn nachdenklich. »Das sind Wunden der anderen Art. Aber auch die heilen wieder, irgendwann.«

»Was nützt mir das?«, fauchte Jin. »Devil läuft Amok, jetzt gerade. Besiegt er mich, wird er für ziemlich lange Zeit freie Bahn haben, ist es nicht so?«

Yuri schwieg, die Augen abgewandt. »Mein Plan«, begann er dann, »war, dass wir gemeinsam gegen ihn kämpfen. Das, was ich mit Alice vorhabe, wollte ich auch mit dir machen. Ein Tag-Team-Match, sozusagen … Hätte bestimmt besser geklappt als mit Dante vorhin.« Seine Mundwinkel zuckten im Anflug eines traurigen Lächelns. »Aber nein, du lässt nicht zu, dass ich eingreife.« Er hob die Schultern, die Ketten rasselten leise. »Damit ist mein Plan im Arsch. Ich hab nicht eingeplant, dass wir verlieren, Jin. Dass du verlierst.«
 

Jin fühlte ein Schaudern durch seine Glieder laufen, als er sich wieder der monströsen Doppeltür zuwandte. Von ihr ging ein Schrecken aus, den er nur aus seinen Träumen kannte, denjenigen, die regelmäßig Devil getriggert hatten. Als er die Hände zu Fäusten ballte, waren sie kalt. Das Frösteln ließ die feinen Härchen auf seinen Armen sich aufrichten.

»Jin«, sagte Yuri hinter ihm. »Ich hab beschissenes Zeug gelabert, damals. Hab so getan, als würdest du’s nicht hinkriegen, wärst nicht stark genug, als gäb’s keine Hoffnung für dich, und so.«

»Wahrscheinlich hattest du Recht«, entgegnete Jin teilnahmslos. Er drehte sich nicht um.

»Nein, eben nicht. Das war Schwachsinn. Du hast Toshin getötet. Du hast Furfur getötet. Bestimmt wollte Dante dich verarschen, als er das gesagt hat, aber du bist ein Dämonenjäger. Was sollte an Devil anders sein? Wenn du ihn jetzt vor dir siehst, ist er nicht mehr in deinem Kopf. Du kannst ihm einfach deine Faust in die Fresse donnern. Die Faust, mit der du dieses Tekken-Turnier gewonnen hast! Du bist der fähigste Martial-Arts-Kämpfer der Welt, du hast irgendwo ’ne Urkunde, wo das draufsteht! Devil ist nur ein Ding in deinem Kopf. Erledige ihn! Du hast jetzt die Gelegenheit dazu, es gibt nur diese Art und Weise, die Sache zu beenden!« Yuri holte tief Luft. »Mach die verdammte Tür auf, Jin.«

Jin starrte auf den Türspalt. Millimeter für Millimeter wurde er breiter, eine schwarze Spalte, doch plötzlich drang Licht hindurch. Jins Herz begann schnell und hart zu pochen. »Ich habe keine Waffe«, flüsterte er, die nackten Fäuste verkrampft.

»Doch, doch. Deine Vernunft.«

Jin schloss die Augen und öffnete sie wieder.

Dann glitt die riesige Tür geräuschlos vor ihm auf.
 

Er hatte Dunkelheit erwartet, doch was er sah, war Licht.

Blätter rauschten und raschelten, als er über die Türschwelle auf die Waldlichtung trat. Sanft glitten die Sonnenstrahlen durch das satte Grün, Vogelstimmen erfüllten die frühlingshafte Luft mit einem Klangteppich, der Jins Herz vertraut war.

Atemlos stand er auf der Türschwelle.

»Was … ist das hier … und wo

Yuri hinter ihm antwortete ruhig: »Das ist meine Heimat. Katsuragi, der Wald des Windes.«

»Katsuragi.« Jin ließ den Blick schweifen und nahm dabei ehrfürchtig die schlichte Schönheit des Ortes auf. Er hatte nicht gewusst, dass auch Yuri ein Kind der Wälder war; er hatte es nie erwähnt. »Es ist, als … würde ich es kennen, aber ich war noch nie hier. Es sieht ganz anders aus Yakushima.« Und dennoch war etwas im Rauschen des Windes und im sanften Flattern der Blätter, das zu seinem Herzen sprach, zu einem Teil davon, den er in der letzten Zeit kaum noch wahrgenommen hatte. In einem Traum, dachte er, war ich hier …

»Geh weiter«, ermunterte ihn Yuri.

Jin ging. Beherzt trat er vorwärts, dorthin, wo die dicht stehenden Bäume sich zu teilen schienen. Dort hielt er abrupt an.

Mitten auf der Lichtung stand seine Mutter. Ihre dunklen Augen ruhten ruhig auf ihm, als er auf sie zuhielt. Diesmal blendete ihre Anwesenheit ihn nicht; er wusste, dass sie noch immer bei ihm war und ihn behütete, dass ihr Blut, das er geerbt hatte, das Kazama-Blut, seine Seele all die Jahre lang vor Devils Zugriff geschützt hatte. Seine Mutter war der Grund, warum er nicht längst ein Monster war wie sein Vater.

»Auch das ist eine Eigenart dieses Ortes, nicht wahr?«, hörte er sich sagen.

»Aber ja.« Sie lächelte wissend.

»Wem ist Yuri hier begegnet? Wer hat die Hand über ihn gehalten, als er gegen den Seraphim kämpfte?«

»Sein Vater«, antwortete Jun Kazama. »Jinpachiro Hyuga.«

Jin verstand. Er nickte.

»Du weißt, warum ich hier bin – an einem Ort, an den ich nicht gehöre.«

»Du gehörst an diesen Ort«, erwiderte Jin. »Ich erschaffe diesen Ort.« Er hob die Hand und berührte eines der sonnenwarmen Blätter. »Yuris Kopf ist der Ort, an den ich nicht gehöre. Er stellt ihn mir zur Verfügung, damit ich mich Devil stellen kann.«

Jun öffnete ihre Arme, und das Licht malte Kreise auf ihre weiße Haut. »Ich kann dir nicht helfen, Devil zu unterwerfen«, sagte sie sanft. »Ich kann dich nur testen. Deine Stärke, deinen Willen. Ich kann dich nicht auf das vorbereiten, was geschehen wird.«

»Du bist ein Filter in meinem Verstand«, stellte Jin fest. »Ein Filter, den ich überwinden muss, um zu dem vorzudringen, das … mich wirklich zerstören kann.«

»Bist du bereit dazu?«

»Welche Wahl habe ich?«

Sie antwortete nicht; sie blickte nur stumm, und dann schloss sie ihre Hände zu Fäusten und hob sie vor die Brust.
 

Jin erinnerte sich nicht mehr an seinen letzten Trainingskampf gegen seine Mutter. Es war zu lange her, die Erinnerung tief begraben, vom Trauma verschüttet.

Und doch wusste er, wie sie ihn angreifen würde. Wusste, wie sie ihre Füße stellte, ahnte jede ihrer geschmeidigen Bewegungen. Er war noch ein Junge gewesen damals: fünfzehn, halbstark, nicht größer als sie, mit schlaksigen Gliedmaßen und zu viel ungerichteter Kraft hinter jeder seiner Aktionen. Nun war er erwachsen. Er war größer, muskulöser, durchgymnastiziert und voll kontrolliert. Er lenkte ihre Schläge ab, als wären sie Federn, die auf ihn zuschwebten. Jun war schnell, behände wie eine weiße Füchsin, doch er kannte sie. Wäre sie noch am Leben, wäre es sicher anders – dann hätte sie sich ebenso weiterentwickelt und verändert wie er –, doch sie war es nicht; die Jun Kazama, gegen die er kämpfte, war Teil seiner Erinnerung. Er dominierte dieses Duell. Auch wenn sie ihn gelegentlich traf, richteten ihre Treffer keinen Schaden an. Der Schmerz war weich und vergänglich. Unermüdlich wehrte er sie ab, ihre fast perfekte Deckung scharf beobachtend. Der Kazama-Stil war ein defensiver Kampfstil; sie kämpfte nicht offensiv, nicht aggressiv. Er jedoch hatte von Heihachi gelernt, Verteidigung in Angriff zu verwandeln. Das Einzige, was er tun musste, war, diese Technik gegen sie einzusetzen – gegen seine Mutter, die ihm nichts mehr beibringen konnte, nicht damals und nicht heute. Kein Zaudern hielt ihn auf. Er durchbrach ihre Deckung, doch anstatt sie ins Gesicht zu schlagen, was der nächste logische Zug gewesen wäre, stieß er sie hart gegen die Brust, dicht unter dem Schlüsselbein. Die Wucht schleuderte sie rücklings zu Boden.

Er sah, wie sie mühsam Luft holte und den Oberkörper aufrichtete. Schatten spielten auf ihrer weißen Bluse, Schatten, die sich mit ihrem angestrengten Atem bewegten. Endlich schüttelte sie langsam den Kopf.

»Es gibt nichts mehr für mich zu tun«, sagte sie zärtlich, doch zugleich bedauernd. »Den nächsten Schritt musst du allein gehen, Jin. Wie Oberst Jinpachiro den Weg für Yuri freigemacht hat, werde ich deinen für dich freimachen.« Sie stand auf – kein Blatt, kein Staubkorn haftete an ihr – und sah ihm fest in die Augen. »Geh, Jin.« Dann begann ihre Gestalt sich zu verändern.

Dunkelheit senkte sich über den Wald. Ein kalter Wind ließ das Blattwerk erzittern.

Jun Kazamas weiß leuchtende Erscheinung verwandelte sich, während es um sie herum immer finsterer wurde. Ihre Augen glühten auf, das Einzige, was die Schatten noch durchleuchtete; dann wurden die Umrisse wieder klar, und eine vertraute, große, kräftige Gestalt schälte sich aus der Finsternis. Schwarze Flügel öffneten sich und legten sich dann über dem Rücken zusammen.

Erst glaubte Jin, es wäre Devil. Der Dämon in seiner Reinform, das, was Devil wirklich war.

Dann jedoch erkannte er die menschliche Gestalt. Den muskulösen Rumpf, den schwarzen, charakteristischen Haarschopf. Da glaubte er, es wäre Kazuya, sein Vater, in seiner eigenen, schrecklichen Transformation.

Doch als auch dieses Trugbild abfiel, sah Jin endlich, wem er wirklich gegenüber stand: Was er für Kazuyas Konturen gehalten hatte, waren seine eigenen. Devil Jin war zerzaust und schmutzig, er trug Jins nasse, halb zerfetzte Kleidung; alles war identisch, wie bei einem grotesk verzerrten, grausigen Spiegelbild.

Zum ersten Mal begriff Jin, wie unfassbar ähnlich er seinem Vater sah.

Devil Jin zog die Lippen auseinander und grinste ihn spitzzähnig an. Ja, er war unverkennbar, sein Angst erweckendes Antlitz ganz und gar dasselbe: die Hörner, die zackigen schwarzen Linien auf der Brust, die schwarz befiederten, bläulich schimmernden Flügel … Alles war, wie Jin es aus seinen Alpträumen kannte. Nur ein Detail fehlte, und das war die schwere Kette, die ehemals um Devil Jins Hüften gelegen hatte.

»Hast du erwartet, sie könnte mir hier etwas anhaben?«, fragte sein teuflisches Alter Ego. »Hier gibt es nichts, das mich fesselt.« Er fuhr sich mit einer langen, blassen Zunge über die Lippen. Seine krallenbewehrten Hände öffneten sich, und Licht begann in ihnen zu pulsieren. Gleichzeitig leuchtete unheilbringend das dritte Auge auf seiner Stirn auf. »Willkommen in der Hölle, Jin Kazama. Fühle den Zorn des Teufels.«

Akt XIII - Der verbotene Ort: 17-2

17-2: DANTE
 

Dante wurde klar, dass Yuri Devil keinesfalls gebändigt hatte. Er erkannte es in dem Moment, als die schwarzbepelzte Abnormität unmittelbar vor ihm landete, mit einem Aufschlag, der den ganzen Cardigan Bay erbeben ließ.

Der namenlose Teufel richtete seine muskulöse Gestalt auf, und sein seltsam zerfasernder Umriss verdunkelte das schwindende Tageslicht wie eine Sonnenfinsternis.

Dante rührte sich angesichts der drohenden Erscheinung keinen Zoll vom Fleck. »Rate mal: Was hat Hörner und nervt?«

Devil funkelte ihn mit seinen kohleglimmenden Augen an; noch war das dritte auf seiner Stirn geschlossen. »Ich habe dein anmaßendes Verhalten viel zu lange geduldet, Sohn von Sparda.«

»Das sagen alle vorher. Jeder kennt den Namen meines Vaters, aber das hält keinen davon ab, sich mit mir anzulegen.« Dante zeigte ihm seine leeren Hände. »Und in deinem Fall kommt dazu, dass du meinen Vater nicht mal kennst.«

»Ah, aber du meinen auch nicht«, antwortete Devil geschmeidig und zog amüsiert die Lippen über seinen spitzen Zähnen zurück. »Von wem wir abstammen, ist ohne Bedeutung. Lass uns kämpfen, Dante. Du und ich.«

Es gab kaum etwas, das Dante gerade lieber tun wollte. Auch er hatte den Mätzchen dieses Ungetüms lange genug zugesehen, hatte toleriert, wie es Jin quälte – ohne eine Aussicht, die Beiden voneinander zu trennen. Nun waren sie getrennt.

Trotzdem konnte er den Dämon nicht töten, immer noch nicht. Denn jetzt war es nicht mehr Jin, sondern Yuri, den er besetzte. Im Grunde hatte die Situation sich nicht so gravierend geändert; immer noch musste Dante gewissermaßen mit einer Hand voll Stecknadeln gegen einen voll bewaffneten Gegner in die Schlacht ziehen.

Nun gut, ganz so dramatisch war die Sache nicht. Devil war kein übermächtiger Gegner; es gab keine übermächtigen Gegner mehr für Dante, seit Mundus besiegt und verbannt war. Devil war höchstens lästig. Dante hatte ihn schon bei ihrer ersten Begegnung, als der Dämon noch in Jin gesteckt hatte, gegen eine Wand geschmettert und dadurch vertrieben. Warum sollte das nicht wieder funktionieren?

Weil es hier keine Wand GIBT, wandte seine innere Stimme ein.

Gutes Argument.

»Na schön, du alter Ziegenbock. Ich hoffe, du hast heute nichts weiter vor.«

Devil grollte ihn höhnisch an, die dunklen Züge zu einem Grinsen verzerrt, dann stieß er sich wieder mühelos vom Boden ab und fegte dicht über der Ebene dahin wie eine scharfe Bö, ehe er sich hoch in die Luft schraubte und mit erregtem Gelächter, das bis unten zu hören war, in den Wolken verschwand.
 

Währenddessen waren Trish und Nina zu der Stelle gelaufen, wo Jin immer noch reglos im Gras lag. Es erschien Dante absolut logisch, dass Jin bei der Verschmelzung von Yuri mit Devil gewissermaßen … übrig blieb, aber eigentlich hatte er erwartet, dass Jin irgendwie … wach sein würde. Wach und hilfreich, sobald er entdeckte, dass er frei von Devil war. Falls er frei von Devil war. War er das? Wenn ja, warum stand er nicht auf? Zu erwarten wäre, dass er sich freute (sofern Jin so was wie Freude empfinden und ausdrücken konnte) und anschließend dazu beitrug, seinen vormaligen Peiniger in Schach zu halten, während Yuri … was auch immer tat. Nun, auch von Yuri hatte Dante irgendwie Anderes erwartet.

Er hörte die fernen, fast exaltierten Flügelschläge, doch sein Blick hing weiter an der Stelle, wo Nina und Trish sich ratlos über Jin beugten.

Mit einem unwilligen Seufzen gab Dante seinem Pflichtgefühl nach und lief auf sie zu. Devil war nicht zu sehen, aber zu hören. Er wartete nur auf einen günstigen Moment, um sich wie ein Adler auf die Feinde hinunterfallen zu lassen. Wahrscheinlich hielt er sich für besonders raffiniert.

Während Dante lief, erkannte er endlich, worauf er lief. Die Linien aus Licht, die die ganze Ebene überzogen, formten etwas, das ihm gar nicht gefiel: einen riesigen Bannkreis.

Na großartig …

»Was ist mit ihm?«, fragte Dante ungeduldig, als er bei dem Trio ankam.

Jin war bewusstlos, wie so oft in sehr unpassenden Momenten, und Nina hatte soeben fachmännisch seine blasse Stirn befühlt und den Puls geprüft. »Er ist offenbar ziemlich weit weg«, antwortete die Irin düster. »Keine Reaktion auf irgendwelche Reize. Er atmet, aber das ist auch alles, was er tut. Basale Reflexe. Man könnte sagen, er ist … nicht dort drin.« Um das zu demonstrieren, zog sie ganz vorsichtig mit der vom Handschuh befreiten Fingerspitze Jins rechtes Augenlid über dem Glaskörper zurück; die Pupille war starr und bis zum Anschlag geweitet. »Das«, begann Nina bedeutsam, »sieht man normalerweise nur bei –«

»Toten«, endete Dante, trat zurück und schaute nach oben. Irgendwo zwischen den sich immer drohender zusammenziehenden Wolken hallte Devils Gelächter von unsichtbaren Wänden wider. »Seht mal seinen Arm an … Ist das Zeichen noch da?« Er wandte nicht den Blick vom Himmel ab.

»Ja«, bestätigte Trish. »Es ist noch da.«

»Dann sind er und Devil noch nicht getrennt. Physisch vielleicht …«

»Was zum Teufel hat der Russe gemacht?«, knurrte Nina. »Das hätte anders laufen sollen!«

Ja, hätte es. Dante war weit tiefer beunruhigt, als er die Frauen merken ließ. Wenn er Pläne machte – was selten der Fall war, da er sein Leben im Energiesparmodus zu leben pflegte –, dann waren sie in aller Regel nicht bescheuert, sondern gingen glänzend auf. Yuri hätte Devil packen, von Jin trennen und unterwerfen sollen. Wo war diese einfache Rechnung bloß fehlgeschlagen?

Endlich kam Devil herunter. Nur ein leises Pfeifen kündigte seinen Sturzflug an, sonst war sein Flügelschlag lautlos wie der eines Nachtgreifvogels. Immer stärker sank die Dunkelheit auf die Ebene nieder, das Zwielicht kroch in jeden Winkel. Der Dämon war nichts als ein schwarzer Schatten vor einer grauen Kulisse.

Dante war klar, was er zu tun hatte. Devil Saures zu geben verbot sich mehr denn je, stattdessen würde er ihn hinhalten müssen, Yuri mehr Zeit verschaffen. Was auch immer für ein Kampf in diesem verzerrten, schattenhaften Körper tobte, zu zweit würden Jin und Yuri ihn schon gewinnen.

Das zumindest war der Plan gewesen. Der Plan. Die ganze Zeit.

Devil stürzte sich auf ihn.

Dante ließ ihn kommen; erst kurz vor dem Zusammenstoß mit den Klauen sprang er ab, hoch, mit Rebellion einen weiten Bogen über seinem Scheitel beschreibend. Er spürte, wie die Klinge in Fleisch drang und ein dünner Guss heißen Blutes auf ihn nieder regnete, doch allzu mühelos glitt das Schwertblatt wieder aus der Wunde, stieß nicht auf Knochen, nicht auf Sehnen. Devil schoss flach davon; der große Muskel seines Oberschenkels war verwundet, doch das brachte ihn nicht aus der Balance. Trotz seiner Größe und seines Gewichts bewegte er sich so behände in der Luft wie ein Hai im Ozean. Er flog eine scharfe Wende und kehrte zurück, und diesmal erwischte Dante ihn nicht, sondern wurde von einem Flügel hart zu Boden gestoßen. Sofort war er wieder auf den Füßen, doch Devils Silhouette war schon nicht mehr in Sicht.

»Komm her!«, rief Dante ihm befehlend nach. »Komm her

Sein Wunsch wurde augenblicklich erfüllt. Der geflügelte Schatten stieß auf ihn nieder, griff erneut aus der Luft an. Den Fehler, in die Klinge hineinzufliegen, machte er nicht noch einmal; stattdessen nutzte er den Umstand, dass Dante im Dunkeln nicht besser sehen konnte als jeder andere Mensch, und natürlich den enormen Vorteil, dass er verdammt noch mal fliegen konnte. Dante war sicher, ein so großes, nahes Ziel auch in Bewegung nicht verfehlen zu können, und weigerte sich zu begreifen, dass das dennoch passierte; denn als er nach einem derben Rundumschlag um sich schaute, rieselten zwar Federn und Fell zur Erde, doch die bekannte warme Nässe von Blut blieb aus.

Auch bei den nächsten beiden Vorstößen änderte sich nichts. Devils Taktik blieb dieselbe: Er attackierte Dante von oben und brachte sich danach so schnell in Sicherheit, dass Dante, der auf der Erde bleiben musste, ins Leere hieb.

Beim fünften Angriff gelang es Devil, Dante ein zweites Mal zu Boden zu rammen, sodass dessen Knie und Ellenbogen sich tief in den Schlamm bohrten.

»Okay, jetzt reicht’s«, befand Dante, sprang wieder auf, schüttelte den Dreck ab und schob das lehmverschmierte Schwert über die Schulter. Wenn Devil die Zermürbetaktik spielte, warum nicht mit einsteigen? Er griff in die Holster und zog Ebony und Ivory.

»Du hältst das alles nur für ein weiteres deiner Abenteuer, nicht wahr?«, schnurrte der Teufel, der direkt über Dante schwebte, kaum eine Mannshöhe entfernt. »Aber ich werde kein Teil der Geschichten werden, die sie über dich erzählen, Sohn von Sparda.«

Dante sah träge nach oben. »Wenn du weiter so viel schwätzt, stirbst du schon im Vorwort.«

Devil lachte schrill, und als wollte er diese Drohung auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, stürzte er sich direkt aufs Neue von oben auf Dante. Seine Flügel schlugen geschmeidig; die Schnittwunde im Bein hatte bereits zu bluten aufgehört. Dante wich mit einem Satz nach rückwärts aus, fand Halt auf dem morastigen Gras und nahm das Monster sofort unter Beschuss. Das würde ihm Beine machen: Während Devil steuerte oder angriff, konnte er die Kugeln nicht abfangen. Mal sehen, wie lange das gut ging – Dante hatte nicht mehr endlos viel Munition, jedenfalls nicht von den schwarzen, freundlichen Patronen. Doch es sollte genügen, Devil mit etwas Blei zu spicken. Jeder Treffer ließ Dantes Adrenalinpegel steigen – und wenn es genug war, dann …

… ja, dann würde er sich in einen ebenbürtigen Gegner verwandeln und Devil in einen Luftkampf verwickeln. Das war der neue Plan. Das würde hinhauen. Anders als Yuri fürchtete Dante seine übermenschlichen Fähigkeiten nicht, im Gegenteil: Er hatte schon vor Urzeiten seinen Frieden mit seiner teuflischen Seite gemacht.

Devil litt unter den Einschlägen der Kugeln wie ein Nackter unter einem Wespenschwarm. Er wand sich in der Luft, strauchelte immer wieder, knurrte und schlug um sich. Immer deutlicher zwang ihn Dantes Gewalt zum Landen. Der Schaden würde nicht von Dauer sein: Devil war zu stark, um durch gewöhnliche Bleiprojektile schwere Wunden davonzutragen, das hatte er bereits demonstriert. Doch darum ging es auch nicht. Es ging ausschließlich darum, dämonische Energie in Dantes Blut anzureichern.

Als Devil endlich zu Boden sank und die Flügel um sich zu schloss, um die Stiche der Kugeln abzuwehren und sich zu regenerieren, griff Dante ihn sofort frontal an. Es waren vielleicht zweihundert Fuß, die er im Sprint zurücklegte, die Hand schon um Rebellions Griff geschlossen; doch kurz bevor er den kauernden Dämon erreichte, stieß sich dieser wieder ab und entkam. Obwohl sein unscharf erscheinendes Fell an jeder Körperpartie von trocknendem Blut verklebt war, zeigte er keine Anzeichen einer Bleivergiftung, die seine Koordination oder Ausdauer schwächen könnte. Zu dumm, jedoch erwartbar: Ohne seine ungeheuren Kräfte hätte Devil niemals Jins Widerstand immer und immer wieder brechen können. Jin war viel, viel stärker als vermutet, das wusste Dante mittlerweile; also musste selbiges auch für Devil gelten.

Plötzlich durchzuckte mit schwerem Krachen ein Blitz die sich ausbreitende Finsternis. Trish mischte sich in den Kampf ein. Sie lenkte ihre eigene angereicherte Energie in Form lähmender Stromschläge in Devils wabernde Gestalt, was diesen rasch wieder zu Boden zwang.

»Funktioniert beim zweiten Mal immer noch«, kommentierte Trish, als sie neben Dante sprang, die linke Hand weiter vorgestreckt, mit der rechten ihren Mantel ins Gras werfend. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich mitmache?«

»Nicht nötig«, behauptete Dante. »Ich halte ihn nur hin, bis Yuri endlich seinen Job macht.«

»Dein Vertrauen in allen Ehren, aber ehrlich gesagt sehe ich nicht, dass er irgendeinen Job macht.«

Devil wich in weiten Sätzen vor Trishs Dauerfeuer zurück. Nun, da das Licht der Blitze ihn nicht mehr erreichte, war er für Dante kaum noch zu sehen.

»Schnapp ihn dir«, sagte Trish. »Bühne frei.«

Dante zögerte. Er hatte die nötige Energie akkumuliert, doch … »Ich darf ihn nicht umbringen«, wich er aus.

»Natürlich nicht. Mach ihn kampfunfähig. Trenn sie.« Trish ließ die Hände sinken und atmete tief durch. Ihre Energie war für den Moment verbraucht, ihre Fingerspitzen zitterten kaum merklich. Ihr Gesicht verschwamm vor ihm in der Dunkelheit. Nur ihre leuchtend blauen Augen waren klar und kühl; die Augen seiner Mutter. »Dante, Yuri schafft es nicht.«

Er starrte sie an, unwillig. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ein siebenhundert Pfund schweres Motorrad nach ihm geworfen; nun stand sie, wie so oft, im Kampf neben ihm und erklärte ihm, wie die Welt funktionierte.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie ungeduldig. »Wenn du Devil erledigst und die Fusion trennst, ist Jins Chance, dass Yuri diesen Kampf für ihn gewinnt, verpasst.«

»Kommt hin.« Er wandte den Blick ab, fast trotzig.

Andere Frauen hätten dem Helden nun etwas Tröstendes, Unnötiges gesagt, ihm die Schulter getätschelt, seine Umsichtigkeit und sein gutes Herz gelobt, ihm vielleicht auf mirakulöse Weise die Entscheidung abgenommen …

Nicht Trish. »Mach, was du willst«, sagte sie, ließ ihn stehen und lief voraus. Sie konnte Devil ebenso wenig sehen, aber fühlen, und während ihrer forschen Schritte suchten ihre scharfen Sinne die nähere Umgebung nach ihm ab, die Pistolen schussbereit.

Dante stieß ein Murren aus. Also gut – dann wurde es jetzt wohl Zeit, Devil kaltzustellen. Was auch immer im Inneren des Teufels vorging, das Risiko, ihn nicht von Yuri zu trennen, war zu groß. Denn wenn Yuri verlor … nur angenommen, das passierte … und Jins seltsam komatöser, entseelter Zustand …

… Nein, er musste das verhindern.

Dante visierte jene Stelle in der Dunkelheit an, in der Devil lauern musste, spannte seine Muskeln und ließ das Feuer in sich auflodern. Ließ sich vereinnahmen von dämonischer Stärke, deren Quell sein eigenes rasendes Herz war. Seine Gestalt veränderte sich, als der Teufel in ihm dominierte. Jäh wurde die schattenumwölkte Dunkelheit taghell.

Doch dann war Devil plötzlich –

– hinter ihm.

»Das wird dir nichts nützen!«, fauchte er, und Dante fühlte seine heiße Pranke auf dem Scheitel, und dann – dann befiel ihn eine so extreme, lähmende Schwäche, dass seine Knie unter ihm nachgaben.

Der Moment dauerte nicht lange, nicht länger als eine Sekunde, dann kehrte die Wärme sofort in seine Finger- und Zehenspitzen zurück; doch alle dämonische Energie war fort, verflossen, als hätte ihr jemand den Stöpsel gezogen. Oder als hätte sie ihm jemand … ausgesaugt.

Devil entfernte sich mit tiefem, schmetterndem Gelächter. Dante sah ihn, als Trish einen einzigen, schwachen Blitz warf, um ihn sichtbar zu machen. Seine Wunden, die Rebellion ihm beigebracht hatte, regenerierten sich nun binnen Sekunden.

Alles klar: Die übliche Taktik mittels Devil Trigger fiel aus. Dante würde weiter als Mensch kämpfen müssen, ob er wollte oder nicht. Das Ärgerliche daran war, dass er es hätte wissen müssen: Jin hatte den Anderen klar gemacht, dass Devil dämonische Energie anderer Quellen zu absorbieren pflegte, indem er nur die Hand darauf legte – im Falle von Menschen war das Zentrum des chis der Schädel, das Hirn. Als wäre Jins Warnung nicht genug gewesen, war Yuri genau das gleiche passiert, als er versucht hatte, Devil in Fusionsgestalt beizukommen. Devil hatte ihm das Monster, mit dem er verschmolzen war, regelrecht aus dem Körper gesaugt, was Yuri keine andere Wahl gelassen hatte, als sie Beide im Atlantik zu versenken.

Dantes Gedanken mündeten dort, wo sie immer mündeten, wenn er einen schweren Treffer kassiert hatte: Er hatte seinen Gegner unterschätzt. Das geschah mit erschreckender Regelmäßigkeit. Wie ein Naturgesetz, das immer wieder erbarmungslos zuschlug und dabei »Quod erat demonstrandum!« schrie.

Mit einem langen, mürrischen Seufzen beobachtete er den Himmel, entdeckte Devil nicht und drehte sich skeptisch nach dem Grüppchen um Jin um. An ihm schien der Dämon kein Interesse zu haben. Warum sollte er auch ein Interesse daran haben, seinem Wirtskörper zu schaden? Nein, er suchte das Duell mit Dante, weil er überzeugt war, ihn loswerden zu müssen, damit Azazel an die Macht gelangen konnte. Wahrscheinlich stimmte das sogar.

Aber das konnte er sich schön in den Pelz schmieren.

»Wenn du meinst, dein Erbe gegen mich einsetzen zu können, irrst du dich. Versuch es, so oft du willst.«

Dante ließ das Schwert einmal rund um sich schnellen, traf den geflügelten Schatten an der Schulter (vermutlich) und erfreute sich an dem schrillen Aufschrei. Wenn hier einer den Anderen aufstachelte, dann war er das. »Ist das alles, was du kannst? Von hinten angreifen und dann abhauen? Von Azazels Saat hab ich mehr erwartet.«

Die Bemerkung brachte Devil nicht von seiner bewährten Strategie ab. Er fuhr weiter seine Hit-and-Run-Taktik wie ein verdammtes Wikingerheer, während Dante ihn verwundete, wann immer es möglich war, im fliegenden Wechsel zwischen Schwert und Pistolen. Eine Weile – schwer zu sagen, wie lange tatsächlich – duellierten sie sich auf diese wenig ergiebige Weise. Trish griff ein, sobald sie konnte, doch obwohl das Monster nie einen Angriff an sie verschwendete, hatte sie eine nicht weniger schwere Zeit, ihre Energie beisammen zu halten. Elektrische Entladungen waren ihre schwersten Geschütze.

Selbstredend ließ Dante kein weiteres Mal zu, von Devil auch nur berührt zu werden. Nicht mal eine umherfliegende Feder streifte seinen Mantel, schon aus Prinzip nicht. Seine Teufelsenergie gewann er kontinuierlich zurück, und sobald er sie wieder bis zum Limit akkumuliert hatte, war er bereit für einen neuen Versuch. Viele Optionen gab es auch nicht: Er konnte Devil zwar beschäftigen, doch um ihn kampfunfähig zu machen – und es bestand allmählich kein Zweifel mehr, dass das nötig war –, musste er an Devil rankommen. Dann wäre diese Aufgabe ein Kinderspiel.

Dante sprintete los, zog das Schwert und setzte ein zweites Mal dazu an, seinen inneren Dämon freizulassen.

Devil stieß aus dem Dunkel auf ihn nieder, ehe Trishs Kugeln ihn trafen. Die Berührung dauerte nur einen so winzigen Augenblick, dass Dante sie kaum spürte – erst dann, als wieder alle verfügbare Energie aus seinem Körper verschwand und ihn umfallen ließ wie ein Stück Vieh nach dem Bolzenschuss, war ihm klar, dass wieder das gleiche passiert war wie zuvor. Er stieß sich hoch, und der Schwindel verging, doch wieder blieb er so kraftleer zurück wie beim ersten Mal, als sein Devil Trigger einfach absorbiert worden war.

Er wurde ungeduldig. Das würde nichts werden, nicht so. Ohne etwas zu sehen oder zu hören, konnte Dante diese listigen Angriffe nicht abblocken. Doch mittlerweile kannte er Devils typische Flugbahnen, hatte die Kurven und Schleifen im Licht von Trishs Blitzen gut beobachtet. Vielleicht wurde es Zeit, mal den Kopf einzusetzen.

»Trish!«, rief er seine Partnerin. »Ich brauch noch einen Blitz! Nur einen!« Er verlangte viel von ihr, das war ihm klar: Sie hatte unentwegt alle ihre Dämonenkräfte in mächtige Angriffe umgesetzt, und das ohne langfristige Wirkung, da die von Dante geraubte Kraft Devil schnell regenerieren ließ. Trotzdem ließ Trish ihn nicht im Stich: Er sah ihre von schwachem Licht umgebene Gestalt tief durchatmen, dann streckte sie die Hände vor.

Dante hob Rebellion mit beiden Händen über den Kopf.

Ein Blitz zuckte, Devil stöhnte auf und krampfte in der Luft. Er hing flatternd fast direkt über Trish. Dante verlor keine Zeit – er schleuderte das Schwert, das sich drehte wie ein Bumerang und dabei die feuchtkalte Luft sirrend in Scheiben schnitt. Mit einem Geräusch, als schlüge ein Hackmesser in einen Schweinenacken ein, traf die Klinge Devils linken Flügel knapp oberhalb des Schultergelenks. Und kappte ihn.

Federn flogen, und der Dämon stürzte ab.

Trish, keine zehn Meter entfernt, stürmte auf ihn zu wie eine Harpune, Sparda vom Rücken reißend. Doch der Schock feuerte Devils Abwehr an; er fuhr hoch, packte Trish, entriss ihr alle Kraft, die in ihr war, und warf sie von sich wie eine leere Takeaway-Tüte. Dante hörte sie durch die Zähne zischen, doch sie blieb liegen. Trish bestand aus Teufelsenergie. Für die nächsten Minuten würde sie nicht zu gebrauchen sein.

Während sein Flügel nachwuchs – Knochen, Muskeln, Federn –, wich Devils pelziger Schatten ins Dunkel zurück. Dante packte Trish unter den Schultern und zog sie … weg, er wusste gar nicht, wohin, dieses Schlachtfeld hatte keinen Rand, wo die Cheerleader saßen. Rasch entschied er, dass es das Beste wäre, sie neben Jin zu legen. Schließlich würde Devil dorthin wohlweislich keine Angriffe lenken.

Trish war schlaff wie ein Fisch.

»Wer hat ihn jetzt unterschätzt?«, raunte er ihr zu, eine Bemerkung, die sie mit einem abfälligen »Tsss!« beantwortete, ohne ihn anzusehen. »Vielleicht hat Nina ja einen Schluck heißen Tee für dich.« Nina war nicht zu sehen, und das hielt er für gar kein gutes Zeichen. Wo steckte sie? »Ich lass dich ungerne hier liegen, aber …«

»Trödel nicht rum!«, drängte Trish, als er sie abgelegt hatte. »Halt einfach die Klappe und tritt dem Biest in den Arsch, solange es nicht fliegen kann!«

Klar, das stand ganz oben auf der Prioritätenliste. Dante konnte Devil sehen: Sein nachwachsender Flügelschaft glühte, wo die Energie sich konzentrierte. Dante hielt auf dieses dunkelrote Leuchten zu. Wenn er Devil jetzt erwischte, würde ein kräftiger Schlag mit dem Klingenblatt ausreichen, um den Teufel auszuschalten und damit die missglückte Fusion zu trennen.

Und dazu war es wirklich allerhöchste Zeit.

Rebellion erhoben und siegessicher holte er Devils strauchelnde Gestalt ein. Der Dämon bewegte sich halb rennend, halb hüpfend vorwärts, um den Abstand zu Dante zu halten. Mittlerweile wuchsen die Handschwingen nach, das Gelenk bewegte sich bereits wieder und stabilisierte die wilde Flucht. Doch keine Chance: Dante war ans Laufen gewöhnt, und er war schneller.

Mit einem Satz riss er das Schwert über den Kopf und drehte es in den Fingern, um mit der flachen Seite zuzuschlagen, genau dorthin, wo die wilden Augen glühten.

»HALT!«

Er bremste mitten in der Bewegung. Es war ein zu tief verankerter Reflex, zu halten, wenn jemand »Halt!« schrie.

Er drehte den Kopf und sah Sarris über Trish knien. Eine Schlüssellampe war an seine zerfetzte Jacke geheftet und beleuchtete sein Gesicht grotesk von unten. Er bedrohte sie mit etwas, das Dante zuerst für ein Klappmesser hielt, doch schnell korrigierte sein Verstand den Irrtum: Was er da über Trishs Brust sah, war ein Ritualdolch – vermutlich derselbe, den Jin damals zu spüren bekommen hatte.

Dante schluckte das Entsetzen und schüttelte den Kopf. »Du kannst kaum noch geradesitzen und hast immer noch nicht genug, wie?«

»Ich werde es tun, Dante«, krächzte Sarris, und die kurze, ziselierte Klinge zitterte in seiner Faust.

»Seh ich nicht so. Trish sammelt gerade Energie, um dir das Knie in den Bauch zu rammen.«

»Dann sollten wir uns beeilen. Denn rammen werde ich vorher.« Der Dolch blinkte.

»Was willst du?«

»Das da.« Sarris nickte ungeduldig zu etwas, das irgendwo vor Dante im Dunkeln liegen musste.

Der Dämonenjäger machte einen Schritt vorwärts und fuhr vorsichtig mit der Sohle über das Gras. Ja, da war etwas Hartes. Er schob die Schuhspitze unter den kleinen Gegenstand, kickte ihn in die Luft und fing ihn; es war ein schwerer, metallisch glänzender Pflock mit scharfer Spitze und steifen Ranken rings um den Griff. Mist, die Heilige Mistel. Roger musste sie verloren haben.

»Wirf sie her«, verlangte Sarris.

Dante zögerte. Trish wehrte sich immer noch nicht, er konnte nicht sagen, ob ihre im Dunkel liegende Silhouette sich bereits lauernd spannte oder nicht.

»Los doch!«, keuchte Sarris und senkte die blitzende Spitze auf Trishs Halsansatz.

Dante warf die Mistel. Wenn Sarris es je ernst gemeint hatte, dann jetzt; er wollte die Strafe, die sein Geheimbund für ihn vorgesehen hatte, um jeden Preis abwenden.

Der silberne Dorn rollte vor Sarris ins Gras, und er stürzte vor und packte ihn. Danach hatte er Mühe, sich über Trish wieder aufzurichten; er war so geschwächt. Umso verblüffter sah Dante zu, wie der Dolch wieder seine drohende Position über seiner Partnerin einnahm.

Sarris atmete tief durch. »Es tut mir leid«, sagte er mit brechender Stimme. Dann stieß er zu.

Im selben Moment, in dem er die Bewegung ansetzte, tauchte Nina hinter ihm auf wie ein Racheengel. Ihre Faust traf seine Schläfe ganz nach Maß und er sackte über Trish zusammen, die ihn – plötzlich wieder halbwegs bei Kräften – von sich stieß.

»Gutes Timing«, ächzte sie. »Aber etwas früher wäre mir lieber gewesen.«

Dante kam vor den Beiden zum Stehen und sah Nina verständnislos an. »Wo zur Hölle warst du?«

»Ich musste telefonieren.«

»Nicht dein Ernst. Wen rufst du um die Zeit an, den Zimmerservice?«

Nina hob eine Braue, ihr Blick gewohnt kühl. »Ich habe euch nicht aus den Augen gelassen. Du hattest alles unter Kontrolle.«

Dante ließ die Schultern fallen. Sie hatte längst erkannt, wie sie mit ihm umgehen musste. »Was soll’s. Wo ist Roger Bacon?«

»Der erholt sich gerade irgendwo davon, dass Sarris ihn fast fünf Meter weit geworfen hat.«

Dante kniete sich in den Dreck und wand den Dolch aus Sarris’ erschlaffter Hand. »Ich erlaube mir mal, diesen Job zu übernehmen.« Er wollte das Ding in die Manteltasche stecken, zusammen mit der Mistel, die neben Sarris’ anderer Hand lag. Doch er hielt inne. Ließ intuitiv beides wieder los.

Der Bannkreis, die schwach und kalt leuchtenden Linien unter der Grasdecke, glomm mit einem Mal hell auf. Neue Wärme quoll aus der Erde.

Dante hob den Kopf und drehte sich langsam um.

Devil kam auf die Gruppe zu, in ruhigen Schritten. Er war vollständig regeneriert, und seine Gestalt leuchtete weiß und grell, während sie stärker vor dem dunklen Hintergrund zerfaserte als je zuvor. Er schien regelrecht zwischen den Dimensionen zu schweben, während das Gras sich unter seinen Füßen nicht rührte, als würde er es nicht berühren. »Die Zeit ist so gut wie um«, sagte der Dämon in seiner sonoren, zwietönenden Stimme. »Bis jetzt haben wir nur gespielt.«

Dem konnte Dante nur beipflichten, doch er hielt seine Zunge im Zaum, als er sah, wie Devils Blick auf Jin fiel, der hinter ihnen am Boden. Moment mal, Devil würde doch nicht seinen Wirt angreifen – warum sollte er? Dante erhob sich achtsam, spürte die Bewegungen neben sich und musste nicht zur Seite schauen, um zu wissen, dass die Frauen sich neben ihn gestellt hatten, Trish links, Nina rechts. Gemeinsam schirmten sie Jin vor Devil ab.

Devil sah es, und seine Fratze teilte sich zu einem Grinsen. Das Leuchten wurde stärker, pulsierte nun auf und ab durch den Erdboden und zugleich durch den dunklen geflügelten Körper, als wären sie eine Einheit. Devil lachte. Ein Geräusch, das Dante auf den Tod nicht ausstehen konnte.

»Was – !«, setzte Nina fauchend an, doch ein Geräusch ließ sie alle herumfahren.

Sarris, der entkräftet, fast reglos neben Jin gelegen hatte, betäubt von Ninas zielsicherem Treffer, war von dem Leuchten ebenfalls eingehüllt worden. Nun rappelte seine geisterhafte Gestalt sich auf und schloss wie in Trance die kreideweißen Finger um den Griff des Ritualdolchs.

Ehe irgendjemand eingreifen konnte, rammte Sarris die Klinge mit erschreckender Stärke in Jins Oberarm – mitten in das schwarzgezackte Teufelsmal.

Ninas Reaktion kam zu spät. Sie stieß Sarris brutal beiseite, der liegenblieb, als hätte er das Bewusstsein niemals wiedererlangt. Dante rührte sich nicht; es nützte nichts mehr, sich zu rühren. Er sah die Wunde an, aus der schwarzes Blut quoll wie aus einem Zimmerspringbrunnen. Er sah zu Devil, der noch immer lachte und dessen Silhouette nun jäh klarer wurde, sich aus der Undefiniertheit hervormaterialisierte. Hinter ihm knisterte und bebte die Luft.

Sarris’ Ritual war abgeschlossen. Dante dachte an den blau brennenden Ziegenschädel, der im Wind umherwirbelte, befallen von etwas Unirdischem, Unsichtbaren. Jetzt war der Spaß zwangsläufig vorbei. Jetzt würde es hässlich werden – richtig hässlich.

Um sie herum knüpften sich plötzlich feine glitzernde Fäden, die im fahlen Licht materialisierten, zu einem Band zusammen. Dieses arbeitete sich zu Devil vor, spaltete sich dort in mehrere schlängelnde Enden auf, fand seine Flügel, seine prankenartigen Hände, seine mit Hornklauen bewehrten Füße, seinen fellbewachsenen, gehörnten Schädel. Aus dem anderen Ende, das bis eben ins Nichts geführt hatte, wuchs etwas hervor – ein noch größerer, noch finstererer Umriss, der binnen Sekunden turmhoch hinter dem Dämon aufragte, unbeständig flackerte und waberte. Dante sah Stacheln am ganzen Körper des Wesens, als wäre es in einen Echsenpanzer gehüllt, sah einen peitschenden, dornenbesetzten Echsenschwanz, Arme wie schwarzverkrustete Baumstämme – und auf dem stierartigen Nacken thronte der kaum noch mit Fleisch ummantelte Schädel einer Ziege. Dieser Schädel war real, es war der, den Sarris bereitgelegt hatte. Die einst leeren Augenhöhlen glosten rot wie Karfunkelsteine.

»Er hat es getan«, hörte Dante Trish leise neben sich sagen. »Sarris hat Azazels Geist hierher beschworen.« Was sie nicht sagte, war: Um dich loszuwerden. Und Yuri. Und Jin. Und alle, die ihn daran hindern können, sein Gefängnis unter der Wüste zu sprengen. Alle, die seinen Herrschaftsanspruch über die Unterwelt nicht anerkennen wollen.

Azazel entfesselte seine eingesperrte, festgesetzte Stärke, indem er sie durch das flackernde magische Band auf Devil übertrug. Auf seine Saat. Jenen Teil von ihm, der in Jin ebenso festsaß.

Azazel hob die Hände. Devil folgte der Bewegung wie eine Marionette.

»Spielen wir weiter?«, grollte der Dämon, und nun waren es nicht mehr zwei Stimmen, die diese Worten aussprachen, sondern drei, und eine von ihnen stammte geradewegs aus einer lichtlosen Finsternis, in der für mehr als zwei Jahrtausende Schweigen geherrscht hatte.

Akt XIII - Der verbotene Ort: 17-3

17-3: YURI
 

Yuri quälte sich.

Seine Fingerknöchel rieben sich an der Rinde des Seelenbaumes blutig, während er immer wieder hilflos an den Ketten zog und sich fast die Schultern ausrenkte.

Er wusste nicht, welcher der beiden Kämpfe, die er mit ansehen musste, schlimmer war. Devils Kampf gegen Dante fühlte er eher, als dass er ihn wirklich sehen konnte, doch gelegentlich huschten Bilder quer durch das Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und was sie zeigten, gefiel ihm nicht. Der parasitäre Dämon gab sich alle Mühe, Dante zu zermürben und seine menschlichen Schwächen auszunutzen. Dante indes scheute davor zurück, die ganz harten Geschütze aufzufahren. Zwar rechnete ihm Yuri diese Rücksichtnahme hoch an, doch wann immer er durch Devils Augen die Unentschlossenheit des Jägers sah, spürte er seine eigene Hilflosigkeit noch stärker in sich aufwallen. Mit seinem Devil Trigger hätte Dante Devil schnell schachmatt setzen können, doch gegen genau diesen Angriff war der Teufel immun: Er absorbierte die dämonische Energie, wie er es schon bei Yuri getan hatte. Und damit hatte Dante ein echtes Problem. Denn ohne seinen Devil Trigger konnte er nicht fliegen.

Yuri kniff die Augen zusammen, verscheuchte die flüchtigen Eindrücke von Dante, Trish und blitzdurchzuckter Finsternis. Viel realer und viel entscheidender als das war, was er von seiner gefesselten Position aus hinter der weit offen stehenden Doppeltür sehen konnte. Sehen musste. Die weite, leblose Fläche, auf der die Kontrahenten ihren erbitterten, alles entscheidenden Kampf ausfochten, schien näher zu rücken, wenn er sich darauf konzentrierte. Der aus dem Erdboden aufsteigende Nebel verbarg nicht genug.

Jin quälte sich noch viel mehr als er. Yuri wusste, warum: Gegen sich selbst zu kämpfen war die unangenehmste Erfahrung, die er je hatte machen müssen. Außerdem sah er, dass Devil Jin anders kämpfte als Jin, und das war vielleicht noch schlimmer. Devil Jin kopierte nicht Jins eigenen Stil, sondern verwendete Angriffe, die in Jins Repertoire nicht nur nicht vorkamen, sondern in Jin auch noch sichtbare Abscheu auslösten. Verbarg Jin auch seine Gefühle für gewöhnlich sehr gut, jetzt im Kampf war er ein offenes Buch, und Yuri beobachtete angespannt jede seiner Regungen.

Er konnte nicht sagen, wer von beiden überlegen war. Jin hatte einen guten Start hingelegt, war sein geflügeltes Ebenbild mutig angegangen, hatte dessen Deckung gleich zu Beginn mehrfach durchbrochen. Seine Angst – von der Yuri wusste, dass sie da war, weil er sie von sich selbst kannte – blieb unter Kontrolle, kam nicht an die Oberfläche. Jin war wild entschlossen, dies hier zu beenden, weil er wusste, wie verheerend die Folgen waren, wenn er verlor. Seine Angst war der Antrieb, der ihm die Kraft gab, Devil Jin immer wieder frontal anzugreifen – dieses Wesen, das wie er selbst aussah, verfälscht und entfremdet durch die bedrohlich aufragenden Hörner, die kräftigen Flügel und die Augen, die so fremd und widerwärtig waren, dass man sie nicht ansehen konnte. Jin stellte sich dieser Abnormität, deren Macht über sich er kannte. Und zweifellos gehörte er damit zu den ganz wenigen Menschen, die dazu in der Lage waren; in der Lage, gegen das zu kämpfen, was sie zutiefst fürchteten.

Doch Devil Jin war mehr als nur ein Spiegelbild, erschaffen von Jins Angst. Während die Aufmerksamkeit des Dämons draußen in der realen Welt ganz und gar Dante und Trish galt, konzentrierte ein Teil von Devils Unterbewusstsein sich darauf, die Kontrolle über Jin aufrecht zu erhalten. Devil investierte so viel Kraft, wie er entbehren konnte, in diese mentale Schlacht gegen seinen aufbegehrenden Wirt. Jin wusste das sehr genau. Spätestens seit Devil diese Art zu kämpfen verstanden und damit begonnen hatte, Jins Vorstöße zu parieren, war das Kräfteverhältnis wieder ausgeglichen. Nicht lange danach hatte auch Jins böser Zwilling angefangen auszuteilen, und er wurde immer besser darin. Jin blockte ihn nur schwerfällig, teils geradezu laienhaft, und es wurde keineswegs besser, als ihm das bewusst wurde und seine Verzweiflung wieder zu wachsen begann.

Gerade schlug Devil Jin die Flügel zusammen und stieß sich vom Boden hoch, um von schräg oben Jins Abwehr zu umgehen. Yuri verkrampfte sich aufs Neue, bis er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Jin reagierte, sprang dem Dämon entgegen und schlug dessen Faust hart zur Seite. Im gleichen Zug erwischte er Devil Jins Flügel und schleuderte ihn mit Schwung von sich. Keine Mauer, auf die das Monster prallen konnte, keine Bäume, nichts, nur Nebelschwaden. Devil Jin landete nicht sonderlich hart und war schnell wieder auf den Füßen.

Vielleicht, dachte Yuri, vielleicht konnte Jin dieses Match gewinnen. Er war dessen nicht so sicher gewesen, als ihm klar geworden war, dass er nicht eingreifen konnte, aber andererseits hatte Jin die Kraft, Teufel zu töten, mehrfach bewiesen. Yuri musste darauf vertrauen, dass Jin gewann, weil er nicht wusste, was sonst passierte. Womöglich war die Fusion andernfalls nicht mehr trennbar. Dante würde früher oder später auf die Idee kommen, Devil zu diesem Zwecke eins überzubraten statt nur Zahnstocher nach ihm zu werfen, doch … Was, wenn das nichts nützte, weil der Dämon Jin und Yuri unterjochte?

Er erinnerte sich daran, wie der Seraphische Glanz ihn vereinnahmt hatte. Wie er, gefangen in den dunklen Gedanken und Gefühlen des gottähnlichen Wesens, monatelang Landstriche zerstört und verseucht hatte. Bis Alice kam, zu ihm auf den Friedhof, um ihn zu erlösen …

Jetzt würde niemand kommen. Wenn Devil seinen Wirt erledigte, kamen Jin und Yuri womöglich nie wieder zurück an die Oberfläche.

Ein warmer Tropfen fiel von oben herab und streifte seine Wange. Er zuckte zusammen und erschauerte. Auch ohne hochzusehen in dieses wächserne Antlitz, das über ihm hing und sein eigenes war, wusste er, dass dem zweiten Ich langsam Tränen aus den geschlossenen Augen sickerten. Gott, er wollte nicht, dass dieses Ding seine Augen jemals öffnete. Er wollte es nicht.

Mit einem Donnern schickte Jin sein geflügeltes Alter Ego erneut auf die Bretter. Diesmal hatte er ihn schwer getroffen: An seiner noch immer zitternd erhobenen Faust klebte Blut. Auch Devil Jin blutete, als er flatternd wieder aufsprang, denn Jin hatte ihm tüchtig eine mitgegeben: Unterhalb des linken Horns lief aus einer Kopfwunde das schwarze Blut über die ganze Gesichtshälfte, verklebte die für Jin typischen Ponysträhnen und auch das linke Auge, das matter glomm als das andere. Auch Devil Jins rechter Flügel war verletzt. Er schlug kaum noch damit, und über dem Gelenk waren Federn und Haut abgeschabt, entblößten Knochen, Sehnen und Muskelstränge.

Jin atmete schwer. Er wirkte noch immer entsetzt, doch ein wenig, ein klein wenig stabiler. Außer seinen bloßen Fingerknöcheln blutete nichts an ihm. Er war nur massiv erschöpft.

Komm schon, erledige ihn, dachte Yuri und biss sich auf die Unterlippe, bis sie ebenfalls blutete.

Jin dachte das gleiche. Ihre Gedanken berührten sich kurz, als Jin einen Blick über die Schulter zu Yuri riskierte. Devil Jin hatte seine Abwehrposition noch nicht wiedergefunden; Zeit, diesen Moment der Schwäche auszunutzen.

Doch plötzlich wurde die Kampfstätte in ein blutrotes Licht getaucht.

Yuri spürte eine Welle aus Hitze über den Friedhof rollen, eine heiße Windwalze, die in der Realität Gräber aufgerissen und Steine umgestürzt hätte. Sein Seelenbaum erbebte, und dieses Beben tat ihm körperlich weh. Yuri knirschte mit den Zähnen und drückte das Kinn auf die Brust. Zwischen zusammengekniffenen Lidern blinzelte er zu der rotscheinenden Fläche: Jin, genauso gepeinigt, sank in die Knie. Seine Fäuste öffneten sich, die blutigen Finger gruben sich in den Erdboden.

Nur Devil Jin war aufrecht stehen geblieben, unbeeinträchtigt von der Druckwelle. Sein bösartig verzerrtes Gesicht erhellte sich zu einem nicht weniger gehässigen Lächeln. Seine Wunden begannen zu heilen.

Yuri wusste, dass etwas Furchtbares passierte, doch es gab nichts, das er tun konnte. Das Licht wurde greller, wütender, und dann – zwängte sich eine weitere Präsenz in seinen Verstand. Eine, die so groß und so abscheulich war, dass sie ihn beinahe zermalmte. Yuri riss an den Ketten, rang um Konzentration. Warmes Blut quoll aus seinen Ohren und rann seine Schläfen hinab. Dieses Wesen, dieser Dämon, drang nicht völlig in die Verbindung ein, denn sonst hätte es sie ohne Zweifel zerstört; stattdessen füllte es den Raum um Devil Jin aus, der erneut seine Gestalt zu verändern begann. Die Silhouette wurde durchscheinend, wuchs in die Höhe und in demselben Maße in die Breite. Es war ein Klotz von einem Ding, ein tierisch-stacheliger Klumpen mit muskelbeladenen, schuppenverklebten Extremitäten. Aus seinem wulstigen Nacken erhob sich ein Klumpen aus bleichem Knochen und nahm die Form eines Ziegenschädels an.

Unerwartet und sehr verzweifelt warf Jin sich diesem neuen Feind entgegen. Doch seine Faust stieß durch das wabernde Antlitz hindurch. Das Ding hob die Hand – sonst nichts – und zwang Jin wie durch einen unsichtbaren Griff wieder in die Knie. Jin keuchte und ließ den Kopf sinken.

»Scheiße«, zischte Yuri. »Oh, Scheiße

Endlich wurde ihm klar, was passiert war: Devil hatte seine Brücke zu Azazel geschlagen. Ihre Kräfte hatten sich vereinigt.
 

Jin war chancenlos. Er würde nichts ausrichten, Azazels Geist war kein Gegner, den er bekämpfen konnte. Yuri wusste, dass er kämpfen musste. Noch immer wirbelten seine Gedanken durcheinander, er konnte kaum klar sehen. Konzentration war unmöglich. Er konnte diese neue Macht, die Devil beigesprungen war, nicht aus seinem Geist vertreiben. Sie saß dort fest und drückte alles Andere an die Wand.

Seine Ohren schmerzten, seine Brust schmerzte. Die Außenwelt flackerte wieder vor ihm auf. Er sah durch die Augen des Dämons, mit dem er fusioniert war, sah hinunter auf Dante, der unverwandt zu ihm aufschaute. Im roten Licht, das das Monster ausstrahlte, war die Miene des Jägers schwer zu lesen, doch Yuri glaubte, in diesem langen Moment etwas in Dante zu sehen, was er noch nie in ihm gesehen hatte.

Einen Anflug von … Angst.

Natürlich. Azazel strömte seine Macht aus, ließ sie nicht nur durch Jins und Yuris Bewusstsein rollen, sondern auch durch das derjenigen, die Devil physisch gegenüberstanden. Am Rande seines flimmernden Blickfelds sah Yuri Trish und Nina schaudernd zurückstolpern. Sie konnten nicht anders, der Instinkt hatte übernommen. Flieht!, gebot ihnen diese übermächtige Präsenz. Dante blieb stehen und sah zu dem Monster auf. Er lief nicht weg. Er würde niemals weglaufen.

Doch Yuri sah den vor unterdrückter Angst fast wahnsinnigen Ausdruck in seinen Augen. Jin hatte sich getäuscht; er hatte behauptet, dass Dante keine Angst kannte, doch das war ein Irrtum. Dante hatte Angst gehabt, als er gegen Mundus gekämpft hatte – keine Panik, die einen dazu bringt, umzudrehen und wegzurennen, sondern Angst, das klamme Gefühl, aus der Situation nicht heil herauszukommen. Oh ja, Dante hatte diese Erfahrung ebenso gemacht wie jeder von ihnen. Wahrscheinlich hatten sich seine stählernen Eier ganz eng an seinen Körper gedrückt, so wie sich alle Organe am liebsten auf Briefmarkengröße zusammenfalten wollten. Yuri kannte das, so hatte er sich gefühlt, als er dem Metagott gegenübergestanden hatte. Vor allem aber, und das gab Yuri ein Gefühl absurder Verzweiflung, hatte Dante nicht nur Angst vor diesem Kampf, sondern auch vor sich selbst. Mundus hatte er mit der kanalisierten Macht Spardas bekämpft, und das hatte ihn in die Lage versetzt zu siegen, aber – und das sah Yuri jetzt in seinem Blick – ihn auch tief traumatisiert. Dante wusste, wie es war, die Kontrolle zu verlieren, machtlos zu sein gegenüber Kräften, die den eigenen Körper beherrschten. Genau wie Yuri, genau wie Jin war Dante diesen Kräften ausgeliefert gewesen, als ihn die mächtige Seele Spardas im Kampf gegen seinen Erzfeind beinahe vereinnahmt hatte. Sicher befürchtete er, diesmal nicht stark genug zu sein.

Yuri fühlte sich ihm mehr verbunden als je zuvor. Sie waren gar nicht so verschieden, sie drei waren nicht verschieden – sie waren gleich, verdammt, alle drei gleich.

Wieder wirbelte alles durcheinander.

Die Schwere der Ketten war plötzlich schmerzhaft wieder da, die blau glühenden Eisenglieder bohrten sich in Yuris Fleisch. Er merkte, dass er wie ein Irrer zog, sich dadurch die Schmerzen selbst zufügte. Jin war am Boden. Azazels Schatten thronte über ihm. Was machten sie da? War es wahr, was er sah – warf der Dämon Jin tatsächlich eine Schaufel vor die Füße?

Grab!

Nein, das passierte nicht wirklich. Das konnte nicht passieren. Solche Dinge wiederholten sich nicht.

Du bist auf einem Friedhof. Also grab!

»Nicht graben!«, schrie Yuri aus voller Kehle. »Nicht graben

Er sah sich selbst, wie er gegraben hatte, unermüdlich. Wie sein maskiertes zweites Ich ihn anschrie, ihn schlug und trat.

Grab weiter, du Idiot!

Jin streckte schwach die Hand nach der Schaufel aus. Als wäre sie unwiderstehlich, etwas, das er um jeden Preis haben musste. Schweiß und Blut liefen ihm in Strömen über das Gesicht und vermengten sich zu einem heißen Fluss über Hals und Brust.

»Hör auf, Jin! Nimm die Finger da weg!«

Kichernde Schatten umkreisten Yuri. Er fuhr herum, so weit er konnte; sie wichen aus, verspotteten ihn. Er biss nach ihnen. Er spuckte nach ihnen.

Wird’s bald, wirst du graben, du hilfloser Schwächling?

Nicht. Nicht graben. Nicht …

Mit einem Aufstöhnen packte Jin den Stiel der schweren Schaufel, versuchte, sie zu sich zu ziehen. Seine Augen waren schwarze Kiesel, in denen ein kleines, verzweifeltes Licht flackerte.

»Nein!«, schrie Yuri, und es tat so weh, dass er würgen musste.

Dann kam Alice.
 

Alice rüttelte an ihm. Ihre zarten weißen Hände zogen an seinem Mantel.

»Yuri, du gräbst dein eigenes Grab! Kannst du das denn nicht verstehen?«

Er sah sich, wie er herumfuhr und sie grob von sich stieß, als sie versuchte, ihn aufzuhalten. Sie fiel, blieb liegen.

Und Yuri warf die Schaufel weg.
 

Azazel drehte sich nach dem Seelenbaum um, schien erst jetzt die daran gefesselte, sich krümmende Gestalt zu bemerken.

Und Jin ließ die Schaufel los.

Die Erinnerungen, die Yuri umschwirrten und ihn zu ersticken drohten wie Leichentücher, fielen leer von ihm ab. Jin stand auf. Schwankte, fand seinen Stand. Endlich, er stand, bot dem Ungeheuer die Stirn.

Schwer atmend und mit krampfenden Gliedern stierte er Azazel an. Zwei Paar glühender Augen, die einander durchbohrten wie Speere.

»Jin!«, schrie Yuri, obwohl seine Kehle bereits nach Blut schmeckte. »Jin, du hast Toshin getötet! Du kannst auch Devil töten – du könntest sogar Azazel töten! Ich weiß es!«

Die riesige Geistergestalt mit dem Ziegenschädel drückte die Beine durch und stürzte sich auf Jin. Jin wich mit letzter Kraft aus, duckte sich unter dem nächsten Hieb der riesigen Klauenpranke weg. Sein eigener brutaler Angriff riss den Dämon aus seinem sicheren Stand. Ein Knie knickte ein. Beide Pranken kamen tief und schlugen wie Dampfhammer zu, doch Jin brachte sich rechtzeitig außer Reichweite.

Yuri spürte wieder einen Tropfen und schauderte. Unwillkürlich sah er hoch. Die geschlossenen Augen schwebten dunkel über ihm, kaum berührt von dem kränklichen roten Schein. Warum atmete dieser Körper, wenn er nicht lebte? Welche Art von Dasein spukte in dieser Hülle, jener Hülle, die Yuri geworden war, als der Fluch ihn endgültig zerfressen hatte? Er blendete die Geräusche aus. Jins Kampf, Dantes Kampf … keiner davon war Yuris Kampf, weil Yuri nicht kämpfen konnte. Doch als er sekundenlang starr in sein eigenes Gesicht hinauf blickte – ein fahles, lebloses Gesicht, ganz wie das von Alice, als er in Zürich erwacht war und sie tot an seiner Schulter vorfand –, wurde ihm mit einem Mal klar, was er falsch machte.

Dass der Tod nicht der Feind war, und erst recht nicht das Ende.

Er wusste, welches Schicksal ihn erwartete, wenn der Mistelfluch ihn holte.

Und er wusste auch, was passieren würde, wenn Azazel Jin überwältigte.

»Jin!«, rief er, nicht befehlend, nur entschlossen. »Hör endlich auf mit dem Scheiß und lass mich frei!«

Jin floh vor Azazels Angriff zur Seite. Ausweichen war alles, was er noch tun konnte. Yuri sah, dass auf der Stirn des Ziegenschädels ein drittes Auge hervortrat. Immer dunkler wurde dieser scharf umrissene rote Fleck, der sich gleich in Augenball und Pupille verwandeln würde. Azazel geriet an seine Grenzen – doch seine schlimmste Attacke würde das Blatt wenden, denn in diesem engen Raum konnte dem Angriff niemand entgehen.

»Ich weiß nicht, wie!«, rief Jin kraftlos zurück und brachte sich mit einer Seitwärtsrolle vor dem aufstampfenden Fuß in Sicherheit. Sein Haar war so voller Blut, dass es seine typische Form völlig verloren hatte.

»Red keinen Mist, das weißt du verdammt genau!«, bellte Yuri. »Falls du es immer noch nicht kapiert hast, ich bin dein Freund! Gibt’s das in deinem Wortschatz? Lässt du niemanden jemals dir helfen, nur weil dein Vater und Großvater Arschlöcher sind?«

Jin schlug mit einem Sprung nach Azazels Brust, doch der schwere Schuppenpanzer blockte ihn ab. An den Hals kam er nicht heran, das Biest war zu riesig.

»Hörst du mir zu? Haben alle Menschen verdient, dass du sie verabscheust? Auch die, die dir zigmal bewiesen haben, dass sie auf deiner Seite sind?«

Jin blieb auf den Knien; er war zu erschöpft, sich wieder aufzurichten. Azazels Schatten senkte sich über ihn.

»Kazama Jin, schieb endlich deinen Arsch hier rüber und befrei mich!«

Der wabernde Umriss des Teufels thronte über Jin und betrachtete ihn aus seinen pupillenlosen Augen. Das dritte von ihnen, der kreisrunde Rubin, öffnete sich langsam und füllte sich mit Licht.

Es würde zu spät sein. Jeden Moment war alles vorbei. Sie würden den Kampf verlieren, und dann würden die Anderen in der physischen Welt ihre Überreste zusammenkratzen.

Jin durfte nicht verlieren. Jeder Andere, aber nicht Jin.

»Jin …« Yuris Hals war eine steinige Wüste. Bald würde gar kein Ton mehr herauskommen.

Jin hob den Kopf. Sein Blick war unerwartet klar und konzentriert. Nicht gebrochen. Nicht besiegt. Er stemmte Hände und Knie auf den Boden – und sprang auf, stürmte noch einmal los. Nicht zu Azazel, sondern zu Yuri.

Seine blutbefleckten Finger krallten sich zitternd um die Ketten, die den Harmonixer hielten. Dann zog er. Schwach, denn mehr als das schaffte er nicht.

Die Ketten lösten sich wie durchtrennte Seile. Sie fielen einfach ab. Rasselnd landeten sie auf dem Boden, das blaue Leuchten erstarb, und dann lösten sie sich in flüchtigen Nebel auf.

Yuri taumelte nach vorn und blieb schief und breitbeinig vor seinem Baum stehen. Sein Herz hämmerte.

Er war frei.

Akt XIV - Am Ende: 18-1

18-1: DANTE
 

Genau wie der Kampf gegen Furfur war auch der Kampf gegen Devil zu einer Vollkatastrophe ausgeartet. Sarris hatte leider mit jedem genuschelten Wort Recht behalten: Das Ritual hatte die geistige Verbindung zwischen Devil und Azazel derart verstärkt, dass der eingesperrte Teufelsfürst sich metaphysisch in den Kampf eingemischt und die Kontrolle über Devil übernommen hatte. Er schwebte hinter ihm, durchscheinend, aber nicht weniger ekelerregend, und ihre Bewegungen waren auf groteske Weise synchronisiert – als würde Azazel jede Bewegung vorgeben und Devil sie ausführen.

Ihre Kräfte hatten sich vervielfacht. Dante spürte es. Die beiden Teufel strömten ihre Macht aus, dünsteten sie aus, weil sie so viel davon hatten, dass sie überquoll.

Als Azazel aus den Tiefen seines Gefängnisses durch dieses Chaos-Wesen sprach, bluteten Dante fast die Ohren. Die einander überlagernden Sequenzen sägten ihm tief in den Schädel.

»Du wirst hier nichts und niemanden mehr retten. Ich habe sie beide fest in meiner Gewalt. Sie werden nirgendwo mehr hingehen.«

Dante starrte auf den Ziegenschädel. Er sagte sich, dass er das Ding beobachten musste, doch es gab nichts zu beobachten. Es schwebte dort, hoch über ihm, starr und gewaltig.

»Ich kann ihn nicht freilassen, den Träger meiner Saat. Das verstehst du doch, nicht wahr, Wurm? Es ist besser, ich halte ihn für immer gefangen.«

»Ich bin’s gewohnt, dass ihr immer eure Pläne verratet, wenn ihr glaubt, dass ihr die Nase vorne habt. Was Jin betrifft: Würde ich wohl nicht anders machen. Schließlich kann er dich töten, stimmt’s, und es wäre wohl nicht mal schwierig für ihn, wenn er deine eigenen Kräfte gegen dich einsetzt.«

»NIEMAND kann mich töten!«, kreischte Azazel durch Devils Kehle, und die drei roten Augenlichter im Schädel strahlten auf.

Schon das erste Wort schnitt Dantes Hirn in zwei Teile, und er musste die Kiefer aufeinander pressen. Das tat wirklich weh. Jemand mit solch einer Sprechweise sollte besser lebenslang die Klappe halten.

»Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich habe den dunklen Stern vereinnahmt. Und mit ihm denjenigen, den sie Gottesschlächter nennen.«

»Ist wie sechs Richtige im Lotto, was?«

»Nur du stehst noch vor mir, Dante. Deine unbedeutende Existenz wird in kurzer Zeit enden. Nur ein Wimpernschlag für mich.«

»Und dann ist dein Weg frei zur Allmacht über die Unterwelt. Was hast du sonst noch für Ambitionen?«

»Alles beginnt klein und langsam. Ich habe viel Zeit, Sohn von Sparda. Es ist Äonen her, dass Mundus mich einsperrte. Eine Zeit, die du mit deinem menschlichen Verstand nicht begreifen kannst. Ich habe viel Geduld. Ich kann warten, bis du von dieser Welt vertilgt und vergessen wurdest.«
 

Was hab ich den beiden da bloß in den Kopf gesetzt?, dachte Dante, während sich sein Gehör vom jüngsten Teil des Sermons erholte. Hätte mir klar sein müssen, dass am Ende wieder ICH die Arbeit machen muss.

Trish trat hinter ihn.

»Ich bin selber Schuld, oder?«, fragte er leise.

»Ja«, antwortete sie. »Und um direkt zu sein, hast du die Beiden zum Tode verurteilt.«

Der Gedanke, dass es am Ende Yuris eigene Entscheidung gewesen war, die Fusion mit Devil einzugehen, half nicht viel. Dante hatte ihn buchstäblich in diese Sache reingeschubst. Weil er – wie immer – einen Gegner nicht ernst genug nahm. Aber was da gekrönt von einem Ziegenschädel in den Nachthimmel ragte, das war verdammt ernst.

»Ich versuch noch mal, sie zu trennen«, sagte er ohne große Hoffnung.

»Meinst du nicht, dass du das vergessen kannst?«

Er hörte ihre Furcht. Er wusste, dass Trish genauso gelitten hatte wie er. Das war es, was sie bis heute miteinander verband: das Leid.

»Ein Versuch noch«, sagte er. »Alle guten Dinge sind drei.«

Azazels Interesse an ihnen war vergangen. Er war fertig mit ihnen. Er schnaubte lang und tief, wobei die Augen des Ziegenschädels noch einmal aufglühten; dann wandte er sich langsam ab. Seine echsenartigen Füße, breit und schwer und schuppig, änderten lautlos die Richtung, und Devil, das haarige Biest, folgte der Bewegung wie ein Schatten. Das schlammige Gras schmatzte unter seinen Schritten.

Dante erlebte zum ersten Mal, dass er mitten in einem Kampf stehen gelassen wurde wie ein uninteressantes Spielzeug. Nicht mal Mundus hatte das gebracht.

Das Devil-Azazel-Ding hielt mit langsamen Schritten auf die Stelle zu, wo Sarris bleich und dem Erschöpfungstod nahe am Boden lag. Sie hatten noch eine Rechnung offen.

Mit starrer Miene griff Trish über die Schulter und zog Sparda. Das massive rote Schwertblatt glühte bei der Berührung auf, als würde es einatmen. Trish drehte das Schwert und bot Dante den Griff an. »Hier. Na los.«

Das Metall schimmerte gierig. Es zog Dantes Blick an; die extreme Macht des Schwertes streckte ihre unsichtbaren Fühler aus. Kroch auf ihn zu. Berührte sein Herz …

Dante riss den Blick los und trat zurück. »Nein.«

»Was?«

»Nein.«

Trishs Augen flackerten. »Dante.«

»Wir haben darüber geredet.«

»Haben wir nicht.«

»Doch, jetzt gerade.«

Sie starrte ihn an, als ob er sie hereinlegen wollte. »Wir haben keine Zeit für deinen Blödsinn. Nimm es.«

Dante wandte sich ab. Seine Fassade stand wieder. »Wir setzen den Alten nicht ein. Wir setzen den Alten nie wieder ein.«

»Aber –«

»Das ist eine Waffe gegen Mundus. Nicht angemessen. Azazel ist nicht Mundus, nur jemand, der gegen ihn verloren hat. Und der ein schlechter Verlierer ist.«

Trish verstand – wie Trish immer alles verstand, sowohl das, was er sagte, als auch das, was er nicht sagte.

Sie schob sich Sparda wieder auf den Rücken, ganz als wäre die Sache abgehakt, und griff in die Munitionstasche an ihrer Hüfte. »Wie wär’s dann hiermit?« Sie warf ihm ein Magazin zu.

Er fing es auf und sah rote Patronenspitzen. Panzerbrecher. »Besser«, sagte er.

Mit einer raschen Bewegung setzte er die Munition ein, doch im Moment des Einrastens trat aus dem Dunkel Nina zu ihnen. Ihr Blick war kalt und finster.

»Das wirst du sein lassen.«

»Ach so?«

»Du könntest sie damit töten. Beide

»Dann sollte ich es schnell machen, denn wenn Azazel erst merkt, dass die lästigen Menschen noch mal aufmucken wollen, wird’s schwieriger, Devil ein Loch in den Pelz zu brennen.«

Nina bleckte die Zähne. »Jins Geist steckt mit in diesem Monster! Von mir aus kannst du den Russen durchlöchern, so viel du willst, aber nicht jetzt! Wenn er stirbt, stirbt auch Jin!«

»Glaubst du, ich wüsste das nicht?« Dante drehte Ebony einmal in der Hand und hob sie hoch, um sie auf Devil zu richten, der sich in der nahen Ferne über Sarris beugte und ihnen den Rücken zuwandte. »Wenn wir die Fusion nicht trennen, sind beide verloren. Und wenn das wehtun muss, dann ist es eben so.«

»Es muss einen anderen Weg geben!«

»Dann nenn mir einen!«, gab Dante hitziger zurück als beabsichtigt. »Ich kann nur ein Loch als Lösung anbieten, und genau das ist es, was sie von mir kriegen!« Er legte auf Devil an.

»Rühr Jin nicht an!«, knurrte Nina. »Wag es nicht!«

Er ignorierte sie. Die Sicht war gut. Gerade hob Azazel den Arm, und Devil machte es nach. Sie hoben Sarris’ Oberkörper hoch, der schlaff über der krallenbewehrten Pranke hing, und ließen ihn verächtlich wieder fallen.

Guter Moment. Dante gab Druck auf den Abzug.

In diesem Moment traf ihn etwas Hartes und Spitzes in den unteren Nacken, mitten zwischen die Schulterblätter, und stieß ihn bäuchlings zu Boden. Oha, da nahm aber jemand seinen Job ernst. Nina kniete über ihm, doch er ließ nicht zu, dass sie ihm auch nur eine Millisekunde länger ihre gespornten Absätze ins Genick drückte. Er warf sich aus der Bauchlage auf den Rücken und schleuderte sie dabei von sich. Leider fing sie sich noch im Fallen und landete auf den Füßen wie eine Katze. Gott, diese Frau. Sein Gespür hatte ihn nicht getäuscht: Sie war ein übler Gegner. Er sprang auf, sie sprang auf. Wenn er nicht aufpasste, würde sie ihm die Hacken noch ganz woanders hin rammen. Er erwartete ihren Angriff, und als sie ihn anfiel, schnappte er sie. Wie etwas, das auf ihn zugeflogen kam, griff er sie aus der Luft, indem er die Arme um sie schlug. Keine Sekunde zu lange. Vergil in seiner wohlerzogenen Gentleman-Manier hätte vermutlich eingewandt, dass man Frauen nicht warf; Dante hielt davon gar nichts: Wer um eine Lektion bat, kriegte eine, Geschlecht egal.

Er warf sie. Weit. Sie machte keinen Mucks, als sie zwischen Gras und Fels aufschlug. Kein Aufkeuchen, kein Stöhnen, nicht mal ein wütendes Zischen. Profi.

Schnell fuhr er nach Azazel herum, und ja, leider hatten sie dessen Aufmerksamkeit mit dem kurzen Gerangel zurück gewonnen. Der Dämon stieß ein hohes Brüllen aus, das so viel Druck auf Dantes Ohren erzeugte, dass er ins Taumeln geriet. Einen kurzen Moment lang sah er alles doppelt; dann brach der Laut ab, als Devil Luft in seine riesigen Lungen sog. Dante zog die schwarze Pistole, zielte. Ein Loch. Nicht in die Lungen, nicht in den Bauch … am besten ins Bein. Sollte er schaffen, schließlich war es dick wie ein Baumstamm. Ein Loch ins Bein …

Hinter sich hörte er, wie Nina wieder auf ihn zurannte, viel zu schnell. Doch ihr Faustschlag gegen sein Kreuz fiel milde aus, weil die Ex-Killerin noch im selben Moment von ihm zurückgerissen wurde. Trish schlug sie nieder und stürzte sich auf sie. Nina trat aus der Rückenlage zu, wenig zimperlich direkt in die Leber, und nutzte Trishs kurze Benommenheit, um sich wieder aufzurappeln. Die beiden Blondinen taxierten einander kurz, dann ging die Schlammschlacht weiter. Als nasses, fauchendes Knäuel rollten sie durch den Modder.

Dante wünschte sich, er könnte das Spektakel etwas mehr genießen, doch dafür war die Situation denkbar ungeeignet. Trishs Eingreifen verschaffte ihm die Zeit, die er brauchte.

Ebony erfasste Devils Gestalt, während Azazels Geist sich brüllend hinter ihm aufbäumte. Der Cop Killer löste sich und krachte in den pelzigen Oberschenkel. Blutspritzend riss die Explosion einen rauchenden Krater in das Fleisch. Devil schrie mit drei Stimmen laut auf, die spitzen Zähne entblößt. Das getroffene Bein gab unter ihm nach.
 

Sie mussten auseinandergehen, sie mussten jetzt auseinander gehen. Dieser Treffer war zu vernichtend, allein der Schmerz musste Yuri bewusstlos machen und ihn zwingen, Devils Seele loszulassen.

Doch das passierte nicht.

Kein weißes Licht aus dem Himmel, keine schwarze Suppe, die alles in sich auflöste.

Er hält sie gefangen, dachte Dante. Wie er gesagt hat. Azazel hat sie beide vereinnahmt.

Devil schrie und wand sich und keuchte und sabberte, während zwischen seinen zitternden Krallenfingern dunkles Blut hervorsprudelte. Dann richtete sich Azazels Umriss hinter ihm auf, erhaben über die Qual seines Abkömmlings, und das transparente Band, das beide verknüpfte, leuchtete auf. Energie floss aus Azazels Geist in Devils Körper. Energie, die von irgendwoher kam, aus dem Erdboden unter der Wüste, aus dem eingesperrten Soma des Dämons selbst. Über seine metaphysische Gestalt versorgte Azazel Devil mit Kraft.

Dante wusste, er würde ihn niemals genug schwächen können, um sie trennen. Auch nicht mit hundert Cop Killern.

Trish tauchte wieder neben ihm auf. »Wir müssen den Anker kappen!«, rief sie, sich eine schlammige Strähne aus den Augen wischend. Sie sah aus wie nach einem Muddy Angel Run. »Es ist der Schädel!«

»Klar ist es der Schädel, kennen wir doch«, erwiderte Dante, wobei er nach Nina Ausschau hielt und sie nicht entdeckte. Er hoffte, Trish hatte ihr nicht das Genick gebrochen. »Ideen, wie wir rankommen?«

»Allerdings. Ist aber riskant.«

»Ich riskier’s.«

»Nicht für dich. Für mich.«

Er sah sie fragend an.

»Wir können beide nicht fliegen«, erklärte sie.
 

Während er Nina sehr unfreundlich geworfen hatte, würde er Trish etwas freundlicher werfen. Sie hatten das schon gemacht, das eine oder andere Mal, mit annehmbaren Resultaten – allerdings war die zu überbrückende Distanz auch nie so groß gewesen. Azazel war zwar nicht das Empire State Building, doch ein zwei-, dreistöckiges Wohnhaus hatte ungefähr seine Höhe. Und seine Breite.

Leider hatte das Gespann aus Devil und Azazel keine Lust zu warten. Wütend ob des brutalen Treffers und sichtlich entschlossen, die Sache nun zu beenden, hob Azazel einmal mehr die Hand über die brüllende Bestie, die vor der Fusion noch Devil Jin gewesen war. Und diese richtete sich auf. Das Loch in seinem Bein hatte bereits aufgehört zu bluten.

»Schnell jetzt!«, drängte Trish, Sparda in beiden Händen.

Dante umfasste ihre Hüften, und leichtfüßig sprang sie rückwärts auf seine Schultern. Ihr schlammtropfendes Gewicht fand sofort die Balance. Er bereitete sich darauf vor, ihr den nötigen Impuls zu geben.

Devil brüllte sie an und setzte sich, Azazel wie ein Kriegsbanner über ihm wallend, in Bewegung. Er polterte auf sie zu, und Dante spürte, wie Trishs geschmeidiger Leib sich bis in die Haarspitzen spannte.

Einen Moment noch.

Devil ahnte das Manöver und drückte die Beine durch, um Trish im Sprung zu begegnen. Sie musste über ihn hinweg gelangen, musste Azazels Ziegenschädel mit der Klinge treffen. Dante löste eine Hand von Trish, solange er dazu noch Zeit hatte, zog blitzschnell noch einmal Ebony und jagte Devil einen weiteren Panzerbrecher ins Bein. Diesmal ins andere. Das Monster fiel nach vorn, und von seinem Geheul wurde dem Teufelsjäger beinahe übel. Doch Dante hielt Stand. Der Weg war frei.

Trish stieß sich hart von seinen Schultern ab, und gleichzeitig schubste Dante mit beiden Händen ihr Hinterteil schräg nach oben. Kalte Wassertropfen folgten ihrer Flugbahn.

Vor ihnen senkte Azazel den Kopf, wie um ihn ihr hinzustrecken. Trish schien in Zeitlupe auf ihn zuzufliegen.

Devils drittes Auge öffnete sich glühend.

Und da begriff Dante, dass sie direkt in den Laser springen würde.
 

Vor Entsetzen hielt er die Zeit an. Es war wie ein verzweifelter Reflex.

Sein Adrenalin entleerte sich wie ein Schwall in diese eine Technik, die er als junger Hüpfer gut beherrscht hatte und die seither vor sich hingerostet war wie ein alter Rasenmäher im Dauerregen. Alle Kraft floss aus ihm heraus und tauchte die reglose Umgebung in eingefrorenes Weiß, als wäre alles zu Eis erstarrt. Trish hing in der Luft, die Klinge auf den Ziegenschädel gerichtet, unter ihr der geduckt nach oben starrende Devil, dessen drittes Auge sie fest im Visier hatte.

Dante hatte keine Kontrolle mehr über diese zehrende Fähigkeit. Das klare Bild, wie das Negativ einer Fotographie, hielt sich nur eine quälende Sekunde lang. Dann war die Energie fort, und alles ging wieder dort weiter, wo es aufgehört hatte.
 

Dante sackte auf die Knie, wie schon so oft an diesem Tag, während seine Partnerin in Devils Blaster sprang. Das Geräusch, wie ein Kauterisator, legte sich über Devils fürchterliches Geschrei. Als es Trish traf, klang es anders, für den Bruchteil eines Moments, und dann wurde die Luft schwer von dem stechenden Geruch nach verbranntem Fleisch und Leder.

Dante sah nicht, wohin Trish fiel, und war dankbar dafür.

Das Entsetzen hatte sich ganz fest um sein Herz geklammert, so fest, dass er es stolpern fühlte. Er wusste nicht, wo er Kraft hernehmen sollte. Es war, als wären alle Quellen versiegt, die seine unermüdlichen halbdämonischen Muskeln sonst speisten. Diesmal hatte er wirklich alles falsch gemacht.

Wie auch sonst wurde er ganz schnell wieder ruhig. An die Stelle seiner Fassungslosigkeit trat kurze Benommenheit, dann … Klarheit. Aber diesmal auch … Leere. Die Wahrheit war, dass er alle Optionen ausgespielt hatte – auf eine Weise, die alle seine Mitstreiter in tödliche Gefahr gebracht hatte. Sein Antrieb kehrte nicht zurück. Jeder Impuls zu handeln versiegte, ehe er sich überhaupt manifestieren konnte. Dante war körperlich unversehrt, aber geistig gelähmt.

Und deshalb blieb er, wo er war, halb am Boden, die Hände ins nasse Gras gestützt, den Blick auf die dunkle Erde unter sich gerichtet. Weil nichts, nichts mehr irgendeine Rolle spielte.

Devil kam zu ihm und kniete vor ihm nieder. Dante roch das nasse Fell und die heißen Ausdünstungen, wie von faulenden Kräutern. Der Atem der Kreatur berührte ihn. Dann streckte sich ihm eine Klauenhand entgegen, fasste ihn an der Schulter und drückte ihn seitlich nieder.

Das Schlimmste war, dass Dante nicht die Kraft fand, sich gegen diesen fast sanften Druck zu wehren. Devil rollte ihn auf den Rücken, dann stützte er beide Pranken schwer auf Dantes Brust. Seine Augen glommen so hell und vital wie immer; aus dem dritten auf seiner Stirn stiegen noch immer feine Rauchfäden auf. Azazel über ihnen schaute aus den leeren Augen des Ziegenschädels zu ihnen herab, und obwohl das nicht möglich war, sah es aus, als würde er grinsen.

Dante unternahm nichts.

Das Gefühl war das gleiche damals nach dem Kampf gegen Mundus, als der Mörder seiner Mutter besiegt war und Dante nicht mehr wusste, was er mit der Welt anfangen sollte; nur jetzt war es konzentrierter, als hätten sich all die Monate der Antriebslosigkeit auf diesen einen Moment verengt. Das Gefühl vereinnahmte ihn vollkommen.

Über das pulsierende Lichtband, das die beiden Dämonen verband, begann Devil, Dante die Energie zu entziehen. Er saugte sie aus seinem Blut, langsam, wie Farbe in Wasser sich gemächlich auf einen Sog zubewegt und dabei bunte Schleier zieht.

Azazel sammelte das Böse. Sein Geist war nur hier, weil er eine Allianz eingegangen war – weil er einen Auftrag von einem Menschen angenommen hatte. Nun war er gezwungen, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Kreiselnd sammelte sich das dunkle Licht wie ein waberndes Nebelfeld über der Stelle, an der Sarris lag. Die Bosheit, die er brauchen würde, um seine Tochter wieder zum Leben zu erwecken – sie sammelte sich um ihn wie in einem unsichtbaren Gefäß.

In Dante regte sich schwacher Widerstand. Er war nicht dazu bestimmt, derjenige zu sein, der diese gefährliche Energie zur Verfügung stellte. Es war falsch, was hier geschah. Er sollte nicht hier liegen und zulassen, dass das Leben aus ihm herausgesogen wurde.

Aber er hatte nicht mehr die Stärke und den Willen, es aufzuhalten.

Einmal hatte er in der Innenstadt gesehen, wie sie ein ausgebrochenes Pferd wieder eingefangen hatten. Einen fuchsroten Mustang, den irgendein Idiot gekauft hatte und meinte, das Wildpferd in seinen Vorgarten stellen zu müssen. Der Hengst hatte einen Zaun nach dem anderen zerlegt. Auf der Straße hatten die Cops ihn von allen Seiten mit Knüppeln eingekreist. Bestimmt zwanzig Minuten hatte sich das Vieh mit rollenden Augen immer wieder aufgebäumt, hatte nach allen Seiten ausgeschlagen, hatte einen sinnlosen Kampf gekämpft, bis die Kräfte es schließlich verließen – ganz plötzlich, als hätte es auf einmal eingesehen, dass das alles keinen Zweck hatte. Dass die Lage aussichtslos war. Manchmal waren auch Tiere weise genug, diesen Moment zu erkennen. Der nächste Schlag hatte den Mustang dazu gebracht, die Beine einzuknicken und langsam umzukippen. Männer waren auf seinen Kopf gesprungen, hatten sich auf seine Flanken gesetzt. Nicht nötig, weil das Pferd nicht mehr trat. Es lag nur noch da. Besiegt.

Dante hatte sich genauso hingelegt wie dieser Mustang. Er hatte aufgegeben, und er hatte es nicht einmal gemerkt.

Der Klumpen böser Energie, der sich über Sarris verdichtete, war zu einem großen, dunklen Knäuel angewachsen. Dante fühlte sich so schwach wie nie zuvor. Devil kniete mit seinem ganzen Gewicht auf ihm, hinderte ihn an jeder Bewegung, sogar fast am Atmen. Dante sah kaum noch etwas klar. Sein Sichtfeld flimmerte und verengte sich immer mehr. Er wusste nicht, ob er diesen Entzug seiner Lebenskraft überstehen konnte, aber es war auch … irgendwie … egal.

Oder?

War es nicht egal?

Irgendwo in ihm war eine Erinnerung an ein ähnliches Erlebnis. Irgendwann, als er ein Kind gewesen war. Offenbar hatte er damals irgendwie überlebt … sonst wäre er jetzt nicht hier, um ergeben unter Devils Pranken zu liegen wie ein Fisch, der sich fressen ließ. Irgendwie

… Irgendwas …

… regte sich plötzlich in ihm.

Es war, als hätte er letztlich so viel Kraft verloren, dass unter der Schutzschicht das nackte Leben zum Vorschein kam. Der Kern seines Seins, etwas, das absolut nicht bereit war zu erlöschen.

Das sich niemals, niemals ergeben würde.

Der Teufel in Dante rührte sich. Erst muckte er nur auf, in die Substanz getroffen, dann fletschte er die Zähne.

Egal, wie viel Energie sie ihm bereits entzogen hatten, plötzlich war da noch mehr. Endlos viel mehr. Ein unbegrenzter Vorrat, der plötzlich mit aller Macht hervorsprudelte. Sie hatten zu tief in ihm gegraben.

Kaltes, rohes Feuer jagte durch seine Adern. Mühelos stieß er Devil von seiner Brust, sprang auf und warf das Ungeheuer unter sich nieder. Dante spürte die Transformation, aber sie fühlte sich diesmal nicht fremd an. Nichts Unbekanntes, Mächtigeres übernahm ihn, sondern etwas, das aus ihm selbst kam. Mit zwei Paar Flügeln und Speeren aus rotem Licht stürmte er aufwärts und stieß Devil erneut hart zu Boden. Der Dämon grunzte zornig und rammte ihm die Klauen seiner Füße in die Seiten, doch das war egal. Dante war nicht verwundbar, nicht jetzt. Seine Haut war ein schwarzer Drachenpanzer, undurchdringbar für jedweden Angriff, für Licht, für Schatten und für Devils maßlosen Zorn.

Dante wusste, dass er nicht viel Zeit hatte. Dieser Devil Trigger war aus seiner puren Verzweiflung geboren, die stärkste Ausprägung seiner Kräfte, aber sie würde alles, was an Stärke übrig war, binnen Sekunden aufzehren.

Dante machte einen Satz über Devil, der unter ihm zappelte, und landete dort, wo Trish auf der Erde lag. Sparda, ein riesiges geschwungenes Gebilde inmitten von Dreck, bestürmte ihn mit seiner Gier. Geschmeidig ergriff Dante im Landen die Klinge und stürzte sich sofort flügelschlagend in die Luft.

Azazel sah ihn. Und jetzt hatte er Angst. Die flirrende Geistergestalt strauchelte, wollte nach rückwärts ausweichen, dem Hieb entgehen. Doch er hatte keine Chance.

Dante hob das Schwert seines Vaters über den Kopf, und in diesem Moment wuchs die Klinge mit einem Schlag auf das Zehnfache ihrer Größe an. Mit Leichtigkeit traf die gleißende Schneide auf den Ziegenschädel und spaltete ihn mitten entzwei. Das Abbild des Dämons flackerte, ächzte ersterbend, dann löste es sich auf. Die Schnur aus Licht zerfiel. Das schon beinahe mannshohe, wirbelnde Geflecht aus dämonischer Bosheit, das sich über Sarris’ Körper zusammengeballt hatte. stob auseinander, unaufhaltbar.

Und dann … Stille.

Nun war Devil allein. Und er war panisch. Er rappelte sich hektisch auf die Beine, wobei er beim Auffußen im Schlamm kaum Halt fand und lächerlich schwankte; dann machte er kehrt, wollte davonfliegen. Dante folgte ihm in geradezu absurder Schnelligkeit. Schon war er wieder direkt vor ihm, sah das dritte rote Auge hilflos flimmern.

»Ab nach Hause«, sagte Dante in einer Stimme, die diesmal seine eigene war.

Devil schnaubte. Und griff an.

Dante schlug einmal mit Sparda zu und schlitzte die Bestie von oben bis unten auf.

Akt XIV - Am Ende: 18-2

18-2: YURI
 

Yuri verlor keine Zeit. Die Ketten waren fort, und Azazel starrte ihn an wie etwas, das er noch nie gesehen hatte. Yuri trat von dem Baum weg, schüttelte die Gelenke, streckte den Rücken, bis die Wirbel knackten, und schob dann seine Finger in die Schlagringe, die natürlich da waren, wo sie sein mussten. Die Nachtvogelklauen glommen auf und pumpten ihre dunkle Energie in seine Fäuste.

Jin war neben ihm, erschöpft und schwer atmend, aber ohne jedes Zeichen von Kapitulation. Seine blutverklebten Augen waren weit offen, dunkel, bedrohlich. Yuri legte eine Hand auf die kalten, blutverschmierten Fingerknöchel des Anderen, fast intuitiv, und Jin wich der Berührung diesmal nicht aus; stattdessen schien sich irgendetwas in ihm zu entspannen. Etwas, das vorher ein verkrampfter Klumpen gewesen war. Yuri war der Herrscher dieser Welt, es gab hier nichts, das er nicht steuern konnte – nur Azazel war ein eingedrungener Fremdkörper. Ihn mussten sie loswerden. Hochkant rausschmeißen.

Jin ballte die Fäuste. Zufrieden sah Yuri, wie sie in Flammen aufloderten, als sich schwarze Drachenschuppen um sie schlossen. Ifrit war die einzige Waffe, die Jin je geführt hatte. Anscheinend hatte er Gefallen daran gefunden.

Der Ziegenschädel schien sich zu einer Grimasse zu verziehen. Schatten krochen über den bleichen Knochen, und das dritte Auge begann wieder zu leuchten.

Yuri musste mit Jin nicht reden. Was mit Dante trotz verbalem Austausch nicht funktioniert hatte, würde mit Jin absolut mühelos funktionieren. Und zwar ganz ohne Worte. Denn an diesem Ort waren sie verbunden.

Na dann, Gottesschlächter. Schlachte einen Gott.
 

Azazels massige Geistergestalt ging zum Angriff über. Die mächtigen Füße stampften und sprangen viel zu leichtfüßig. In beiden Klauenhänden bündelte er ekelerregende, gelbleuchtende Lichtklumpen, einen davon für jedes seiner Opfer.

Doch Yuri und Jin stoben ihm davon.

Yuri wich nach links aus, Jin nach rechts, und als Azazel mit einer mächtigen Bewegung die wabernden Bündel von sich stieß, schossen sie an den Fersen der beiden Männer vorüber und klatschten gegen den Seelenbaum, dem das so scheißegal war wie nur irgendwas. Yuri hätte fast gelacht. Er bremste scharf an der Seite des Monsters und rammte die glühenden Klingen in dessen Flanke, die nun keine Illusion mehr war. Stattdessen war sie hart gepanzert, zentimeterdick – doch er kam durch. Azazel schwang den Arm nach ihm, unerwartet flink, und Yuri musste sich tief ducken und beinahe lang fallen lassen. Gerade noch rechtzeitig fanden seine Sohlen auf dem Boden Halt. Über Azazels mächtige, wogende Brust hinweg sah er Jin, der eben die Faust zurückzog und sie dann gegen den stachelbewehrten Oberschenkel vorschnellen ließ. Gut so. Yuri wartete, bis Azazel aufheulte und in Jins Richtung kippte, dann packte er den baumstammdicken Arm und zog sich blitzschnell hinauf, um hochzuklettern. Es war nicht schwierig: Seine Muskeln und Sehnen waren dünn und geschmeidig und hart wie Eisen.

Das Manöver kam jedoch zu früh. Azazel warf den Kopf zurück und brüllte, seine Augen strahlten auf, dann plötzlich sein ganzer Körper – und dann schleuderte er Jin und Yuri von sich, die an ihm hingen wie Zecken, und die heiße Woge fegte sie beide am Seelenbaum vorbei ins Dunkel.

Nebeneinander liegend rappelten sie sich auf und rangen nach Atem. Azazel johlte seinen Triumph hinaus. Keuchend starrte Yuri ihn an; die riesenhafte Gestalt verzerrte sich, um dann wieder klarer und sogar farbiger zu werden. Allmählich bekam er einen Eindruck, wie Azazels wahre Gestalt aussah. Massig, stachelig, mit einer geradezu absurden Anatomie. Der Schwanz bekam Dornen wie der eines Krokodils, die Schnauze wurde lang und dünn. Noch verschwamm alles in Unwirklichkeit, doch Azazel sandte mehr und mehr Energie durch das unsichtbare Band in Devil hinein. Er wollte diese Schlacht unbedingt gewinnen. Zu viel hing für ihn davon ab. In der realen Welt prügelte er sich mit Dante, doch sein Geist hielt Yuri und Jin in Schach; er konnte sie nicht töten, doch sein Sieg würde ihren Willen brechen, sie für lange Zeit in die Schwärze verbannen. Dante indes konnte er töten – und würde er, dann läge die Allmacht für ihn so nahe wie noch nie. Er hatte jetzt die Chance, alle drei Bedrohungen, die ihm irgendwann, irgendwie gefährlich werden konnten, auf einmal zu eliminieren. Danach gab es keinen Widerstand mehr.

Yuri stöhnte auf, als die Außenwelt vor ihm aufflackerte. Blitzartig sah er durch Devils Augen, sah Dante auf dem Boden. Seine Augen waren offen, sein Blick teilnahmslos. Devils Klauen ruhten auf seiner Brust.

Scheiße.

»Er hat Dante …«

»Nein«, knurrte Jin, und seine Augen fixierten weiter das Monster. »Nein.« Er stemmte sich hoch.

Verdammt, Jin war völlig am Ende, und trotzdem krabbelte er auf die Füße wie ein Baby, das zum tausendsten Mal beim Laufenlernen auf die Schnauze gefallen war. Warum machte Dante das nicht, warum hatte er so reglos dagelegen, was zum Teufel war passiert? Yuri verstand die Welt nicht mehr, und er wusste nicht, wohin mit all den widersprüchlichen Impulsen.

Doch ein Blick auf Jin und seine unglaubliche Tapferkeit fokussierte ihn wieder. Yuri spuckte aus – ein blutiger Speichelklecks auf einem Boden aus Nichts – und kämpfte sich hoch.
 

Als Jin wieder auf Azazel zustürmte, sah Yuri seine Fersen hell aufflackern. Jin zog eine brennende Schneise nach sich. Ifrit antwortete auf seine Wut. Yuri beschleunigte, setzte sich neben ihn, und wieder trennten sie sich kurz vor Azazels Reichweite, um ihn in die Zange zu nehmen. Diesmal mussten sie ihn zu Boden bringen, wenn sie diesen Kampf noch für sich entscheiden wollten. Die Zeit lief davon. Yuri fühlte, wie allein die Präsenz des Dämons der Sünde seinen Geist zermürbte.

Diesmal war Azazels sehr viel wachsamer. Er hatte Yuris Klauen und Jins Feuerfäuste schon geschmeckt, und sofort schlug er auf die Beiden ein, als sie sich ihm näherten. Yuri wich dem Schwinger aus und zog die Messer seiner Knöchel über die schuppige Haut – nicht tief genug, nur geritzt. Zweiter Versuch – auch nicht besser. Die Haut war zu dick.

Azazels Pranke kam zurück. Nichts wie weg.

Auf der anderen Seite verschmorte Ifrits Höllenfeuer die weicheren Schuppen unter der Kniekehle. Es knisterte wie heißes Fett und stank bestialisch. Früher hatte die Realität der Kämpfe auf dem Friedhof Yuri stets in Horror versetzt: all der Schmerz, das Blut, die Brutalität, sämtlich Produkte seiner eigenen Vorstellungskraft, die ihn in die Lage versetzte, das Böse seiner Seele in Schach zu halten. Das Böse, das er immer wieder niederschlagen musste, damit es ihn nicht vereinnahmte. Ein Kampf, der nie zu Ende war.

Jin widerstand diesem Terror mit aller Macht, die er aufbringen konnte. Was auch immer er bis jetzt erlebt hatte, er war bereits so schwer gezeichnet, dass sein Verstand nicht aus den Fugen geriet, egal was hier an diesem surrealen Ort mit ihm geschah. Er war so stark, stärker vielleicht als jeder Andere, den Yuri je kennen gelernt hatte.

Wieder sammelte Azazel sein finsteres Licht um sich. Diesmal ließen sie ihn beide rechtzeitig los. Die Energie rauschte über sie hinweg, zwang sie in die Knie, aber riss sie nicht von den Füßen.

Ein kurzes Atemholen. Nicht nachlassen.

Yuri stürmte wieder vor, umklammerte den stacheligen Arm, ignorierte, dass die Dornen durch den Stoff in sein Fleisch drangen.

Der Schädel. Er musste den verfluchten Schädel erreichen.

Jin zerstörte Azazels Flanke geradezu mit dem roten Feuer. Immer wieder wich er den tretenden Füßen, den zuschlagenden Pranken aus und hieb wieder zu. Azazel hatte keine Zeit, sich auch noch um Yuri zu kümmern. Sie waren ein perfekt harmonierendes Team. Sie waren tödlich.

Azazel sank spuckend und keifend auf die Knie. Seine rote Zunge hing aus dem unwirklich flimmernden Hals, auf dem der Schädel saß, weiß leuchtend und wirklich. Yuri erklomm die Schulter des Monsters. Seine Lungen brannten.

Plötzlich warf Azazel sich zur Seite und begrub mit der anderen Schulter Jin unter sich, der schmerzerfüllt aufkeuchte. Yuri wurde über den breiten Nacken geworfen und landete ebenfalls auf dem Boden. Seine Schulterblätter schlugen hart auf und raubten ihm den Atem, und dann war Azazel über ihnen beiden. Sein mächtiger Torso drückte ihnen die Luft ab, seine massigen Arme schlugen wie Gewichte neben ihren Köpfen auf die Erde.

»Das habt ihr euch so gedacht«, grollte er, »ihr Würmer im Schlamm des Daseins. Ich zeige euch, was es heißt, mich herauszufordern!«
 

Plötzlich spürte Yuri voller Entsetzen, wie Azazel den mentalen Griff um seinen Geist verstärkte. Er drückte zu, umschlang ihn immer fester, wie eine Würgeschlange ein Kaninchen. Yuri begann zu husten und zu japsen, während gleichzeitig der Druck auf seine Brust zunahm. Seine Gedanken verloren ihren Fokus; er konnte seine Welt nicht mehr zusammenhalten; alles begann ineinander zu fließen.

Verzweiflung sprach aus diesem letzten Aufbäumen des Dämons. Yuri ahnte, dass Dante endlich begonnen hatte, sich zu wehren. Azazel wandte jetzt die letzte Energie auf, die er von seinem wahren Körper lösen konnte. Ein Funken mehr, und er würde sterben. Es war ein hohes Risiko.

Yuri konnte sich nicht bewegen. Selbst seine Zehenspitzen wurden unter dem Gewicht des Monsters taub. Der Raum begann zu verschwimmen; der Baum, die Tür, sogar die Gräber dahinter. Dann begann alles um sie herum zu schrumpfen. Wände, die es plötzlich gab, kamen näher, während alles Andere wabernd in die Ferne rückte; nicht sichtbar, doch fühlbar drängten sie unaufhaltsam heran.

Und das dritte rote Auge auf der Stirn des Ziegenschädels öffnete sich gleißend.

Yuri fühlte, wie Jin fest, fast schmerzhaft sein Handgelenk ergriff. Ifrit verbrannte es nicht, keinen von Beiden. Nur einen Wimpernschlag hielten sie die Verbindung – dann ließ Azazel sie abrupt los, richtete den Oberkörper auf, um den Laser abfeuern zu können.

Im Reflex rissen sich Yuri und Jin unter ihm frei und flohen. Doch sie konnten nirgendwo hin. Die Welt endete um sie herum, hinten, links, rechts – sie war überall zu Ende.

Azazel war vor ihnen. Der tödliche Feuerstrahl löste sich aus seiner grellroten Iris.

Sie konnten nicht ausweichen. Diesmal nicht.

Yuri spürte Jins Impuls, ihn beiseite zu stoßen, um allein die volle Wucht abzufangen. Das wirst du schön bleiben lassen, dachte er, verpasste Jin einen Kinnhaken, der diesen brutal stoppte, und stieß ihn hinter sich.

Dann traf ihn der Laser. Und fuhr einmal von oben nach unten durch seinen ganzen Leib.

Vernichtend.

Akt XIV - Am Ende: 18-3

18-3: JIN
 

Seine Faust in dem lodernden Flammenhandschuh fand ihr Ziel nur Sekundenbruchteile nachdem Yuri gefallen war. Mitten in den rauchenden Rubin rammte er die geballten Fingerknöchel, wie er es bei Furfur getan hatte, und der Knochen gab nach.

Doch es war vorbei. Egal, was Jin jetzt noch tat – Azazel hatte Yuri besiegt. Alles begann sich aufzulösen, als ihre Seelen sich voneinander trennten. Die Fusion war zerrissen.

Das Letzte, was Jin sah, war, wie Azazel wieder zu Devil wurde – das Erstaunen, der Unglauben in der schwarzen Fratze –, dann erfüllte ihn aufs Neue das Gefühl furchteinflößender Körperlosigkeit, die Empfindung zu fallen, in alle Richtungen gleichzeitig – bis er abrupt irgendwo aufschlug. Sein Geist fand den Anker wieder, zu dem er gehörte, und schoss in diesen wieder hinein, mit der Macht einer Sturmflutwelle.

Die Realität war wie ein Hammerschlag. Alles schmerzte. Er atmete hastig, jeder Zug schien Dornen in seine Körpermitte zu treiben.

Als er es endlich schaffte, die Augenlider zu heben, sah er Nina; ihr gewohnt unbewegter Blick ruhte auf ihm, argwöhnisch. Ihre Wangen waren dunkel von Schlamm, das blonde Haar dreckverklebt. Sie sah auf, als schlanke, dunkle Beine sich neben sie schleppten – Trish. Dantes Partnerin war genauso voller Matsch, ihre Kleidung war stellenweise verbrannt, das Leder rauchte über dem Ausschnitt leicht, und das Fleisch darunter … Jin hatte noch nicht die Kraft, entsetzt darüber zu sein. Wortlos streckte Nina Trish die Hand entgegen, und die schwer verletzte Dämonin nahm sie nach kurzem Zögern und ließ sich auf die Erde ziehen.

»Er ist wieder da«, stellte Trish mit Blick auf Jin erschöpft fest. Ihre strahlend blauen Augen verschwammen, als Jin mit der Müdigkeit kämpfte. »Scheint, als wäre er in Ordnung.«

Dantes Stimme meldete sich aus einiger Entfernung. Sie klang … ungewöhnlich. »Trish? … Bist du okay?«

Sie stöhnte leise. »Wie oft muss mich noch ein Blaster treffen, bis du einsiehst, dass ich das überleben kann?«

Dante sagte nichts.

»Was hast du da eigentlich gemacht, wenn ich fragen darf? Ein Nickerchen?«

Dante sagte immer noch nichts.

Jin atmete so tief ein, wie es möglich war, ohne dass er wieder ohnmächtig wurde, dann zog er die Unterarme an, um sich darauf zu stützen. Sein ganzer Körper war seltsam taub, die Muskeln gehorchten nur schwerfällig – er fragte sich, warum dann überhaupt etwas wehtun konnte.

Sofort als er sich hochzustemmen versuchte, fassten auf jeder Seite ein Paar Hände nach seinen Schultern. Die beiden Frauen stellten ihn auf die Füße und ließen ihn los, sobald sich abzeichnete, dass diese ihn tragen würden. Doch als er dann tatsächlich sein ganzes Gewicht auf seine Beine lud, raste ein Schmerz durch seine Unterschenkel bis zu den Knien und zurück. Er stöhnte auf, blieb aber stehen; die vielen Hände, bereit, ihn wieder zu halten, kamen ihm nicht zu nahe.

»Sorry«, sagte Trish. »Dante musste die roten Patronen gegen Devil einsetzen. Seine Schmerzen scheinen sich auf dich übertragen zu haben.«

Endlich kam Dante zu ihnen getrottet, trat vor Jin und betrachtete ihn von oben bis unten. Auch er sah ziemlich mitgenommen aus. »Du lebst, wie ich sehe.«

Jins Blick zuckte hoch, als auch der letzte Teil seines Verstandes wieder einrastete. »Yuri …« Er wollte losstürzen.

Dante hielt ihn am Arm fest. Gott, wie er das hasste. »Stopp, Kazama. Lass uns nach –«

»Wo ist er abgestürzt?«

»Da drüben, bei den Felsen. Konnte noch ein gutes Stück flattern, bevor –«

Jin umschloss Dantes Handgelenk mit der freien Hand so fest, dass es unmöglich nicht wehtun konnte, und löste dessen Finger von seinem Arm. Dabei sah er, dass auf diesem Devils Zeichen freigelegt war. Unverändert.

Niemand protestierte mehr, als er loslief. Sein Körper erholte sich rasant von der neuen Erfahrung, und Jin forderte von ihm Gehorsam ein. Nur Augenblicke später schlossen die anderen Drei zu ihm auf.
 

Yuri lag zwischen zwei Felsen, totenblass. Für Jins Ankunft konnte er keine Aufmerksamkeit erübrigen: In einer zitternden Hand hielt er die Taschenuhr und starrte sie mit schreckweiten Augen an. Jin konnte kaum erkennen, was ihn so entsetzte, doch dann sah er schwach die Bewegung auf dem hellen Ziffernblatt: Die Zeiger waren zu schnell. Der Sekundenzeiger raste, umrundete die Bahn so rasch immer wieder, dass der Minutenzeiger seinen Platz eingenommen hatte und in Sekunden vorrückte.

»Nein«, ächzte Yuri, »nein.« Kraftlos schlug die Uhr gegen den Felsen, einmal, noch einmal, bis Jin sich vorbeugte und seinen Arm ergriff. »Nein, bleib stehen, du Scheiß– …«

»Hör auf.«

»Meine Zeit läuft ab!«, jammerte Yuri. »Wenn sie auf zwölf landet, war alles umsonst!« Er stemmte die Hände gegen den Stein und rollte sich keuchend auf den Rücken. Sein Shirt war längs aufgetrennt, der Stoff durchtränkt von Blut.

Jin schluckte Kälte. Der Alptraum wurde wahr.

»Ich hatte keine Wahl mehr«, sagte Dante gefasst hinter ihm.

»Das warst nicht du. Es war Devils Laser.«

Unvermittelt brach Yuri in ein abgehacktes Lachen aus. »Ist mir scheißegal, wer das war. Mir läuft die Zeit davon!« Und er streckte die Hand mit der Amok laufenden Uhr nach ihnen aus.

Jin verlor keine Zeit. Er kniete sich neben Yuri, ungeachtet des Gemischs aus Schlamm und Blut, in dem er lag, schob die Arme unter ihn und hob ihn auf. Trish und Nina flankierten ihn sofort, und Dante lief voraus über das Grasland und hielt Ausschau – eine Maßnahme, die sofort belohnt wurde, denn er rief: »Roger! Wo hast du gesteckt?«

Jin sah die kleine Gestalt schemenhaft im Dunkeln näher huschen.

»Keine Zeit!«, krächzte der Mönch. »Schnell, mir nach!«

Jin umfasste Yuri fester, der schmerzerfüllt aufstöhnte, und beschleunigte mit seiner Last im Arm in den Laufschritt. Roger konnte rennen wie ein Hase.

Im Rennen beugte sich Jin über Yuris Ohr. »Warum?«

Yuri hatte ihn tatsächlich gehört. »Weil … der Fluch meine Seele auslöschen wird, egal wo, egal wann ich bin … Die Flucht hierher ist … auch nur geliehene Zeit … Was auch immer für ein Zauber mich in dieses Jahr geschossen hat, er endet jetzt, und dann ist meine Chance vertan … Verstehst du? Ich kann nur etwas ändern, wenn ich … noch mal starte …«

Jin verstand nicht. Offensichtlich war Yuri schon halb im Kreislaufschock, seine Stimme wurde dünn, seine Mimik maskenhaft, und was er sagte, ergab keinen Sinn.

»Du bist nicht böse … Azazel wird dich nie in etwas verwandeln, das du nicht bist.«

Jin antwortete nicht. Er spürte einen Stich von Schuld.

»Du musst am Leben bleiben, weil du … nämlich die … Katastrophe verhindern kannst.« Yuri hustete kurz und ließ es sofort wieder sein, weil es offenbar zu schmerzhaft war. »Jin, ich hab mich geirrt. Du bist nicht schwach. Du hast ja auch … zweimal die Welt gerettet, vor Toshin … und vor dem Geist deines Urgroßvaters. Und du wirst sie … glaub ich … noch mal retten … auch wenn der Weg dahin bestimmt scheiße ist. Das ist er immer.«

Jin hatte keine guten Erfahrungen damit gemacht, Menschen zu vertrauen. Seine jüngsten Erfahrungen in Amerika und Europa hatten dieses Bild nicht verändert; Sarris und selbst Dante hatten ihn in dieser Hinsicht erneut enttäuscht. Dass Yuri sich jetzt für ihn geopfert hatte – und ihm, wie selbstverständlich, bedingungslos vertraute –, verwirrte Jin. Er war überfordert mit diesem Verhalten, so etwas hatte er nicht kennen gelernt. Dieses seltsame Gefühl des … Angenommenseins? … war es womöglich gewesen, das die Stimme des Dämons in seinem Kopf abgeschwächt hatte, das Böse in ihm weiter unterdrückt hatte, als nach der Befreiung des Geistes aus Hon-Maru Jun Kazamas Schutz von ihm abgefallen war wie eine zerschmetterte Rüstung. Azazel hatte keinen Zugang zu Jins Moral und Überzeugungen gefunden, weil … weil Jin daran erinnert worden war, dass es Menschen gab, denen er etwas bedeutete. Erst jetzt dachte er wieder an sie; es mochten weniger sein, als er Finger an den Händen hatte, doch sie glaubten an ihn.

Schweigend trug er Yuri weiter. Er hätte ihn bis ans Ende der Welt getragen.

Yuri sagte jetzt nichts mehr. Er war mit Atmen genügend beschäftigt. Ein dunkles Rinnsal sickerte aus seinem Mundwinkel, ein Zeichen dafür, dass Blut in seine Lungen lief.

Er würde ganz sicher sterben.
 

Roger führte sie auf direktem Wege, über Felsen und durch Schlammpfützen, zurück Richtung Aberystwyth, wo auf dem Hügel vor der Seepromenade das kleine Café thronte. Das Häuschen auf der Anhöhe war nicht zu übersehen: Sein Dach stand in Flammen, und der Feuerschein erhellte die Nacht wie ein irrwitziger Leuchtturm.

Bereits von weitem war zu sehen, dass Roger am Fuße des Hügels die jämmerlichen Überreste seines Teleporters wieder aufgebaut hatte. Der kleine Mann musste schwer geschuftet haben, während der Rest von ihnen gegen Devil kämpfte, immer im Hinterkopf, dass seine Mühen vergeblich sein mochten. Sie konnten es noch schaffen. Jin sah das aufgetürmte Gerümpel in der Ferne, und er stolperte fast, als Roger vor ihm scharf bremste.

Der kleine Mann fuhr herum. »Jin! Ich habe noch eine Aufgabe für dich.«

»Was?« Das passte Jin nicht besonders. Er hatte einen sterbenden Mann auf den Armen und wollte gerade nichts mehr, als ihn in Sicherheit zu bringen.

Roger wies mit dem Gehstock auf die Hügelkuppe, wo das Caféhäuschen hell durch die Finsternis loderte wie eine Fackel. »Sarris hat sich dorthin zurückgezogen. Er ist besiegt, keine Sorge, aber er klammert sich auch jetzt noch an seine Hoffnung – und er hat noch einiges, das uns gehört.«

Jin schnaubte unwillig.

»Um die Tore der Zeit zu öffnen und Yuri dorthin zurückzuschicken, wo er hingehört, brauchen wir die Émigré-Schrift.«

»Darum kann sich Dante kümmern, er kennt Sarris persönlich.«

»Außerdem«, fuhr Roger fort, den Einwand überhörend, »hat er die vierzehn Seiten bei sich, die dringend vernichtet werden müssen, diesmal endgültig. Und er hat die Heilige Mistel.«

Jin verstand. Roger wollte nicht, dass Dante das Exorzismus-Artefakt berührte; anscheinend traute er nur Jin zu, achtsam damit umzugehen.

»Gut, ich gehe.« Jin drehte sich um; Dante war hinter ihm und streckte bereits die Arme aus, um ihm Yuris schon beinahe schlaffen Leib behutsam abzunehmen.

Sobald Jin von dem Gewicht befreit war, stürmte er vorwärts, die Anderen zurücklassend, den Hügel hinauf und geradewegs auf das kleine brennende Häuschen zu.
 

Kein Wort war darüber verloren worden, was Jin mit Sarris machen sollte. Niemand schien einen Plan für diesen bedauernswerten, fehlgeleiteten Mann zu haben. Nicht einmal Dante hatte darum gebeten, ihm zu helfen. Und Jin würde es nicht tun. Er hatte vor, Sarris seinem Schicksal zu überlassen. Es gab nichts, das er noch für ihn tun konnte oder wollte.

Als er oben ankam, sah er, dass das Dach des Cafés zwar brannte – genaugenommen nur ein Teil des Giebels –, dass das Innere des Häuschens jedoch vom Feuer nicht betroffen war. Der nächste Regen würde die Flammen bald löschen; sie stellten keine Gefahr mehr dar.

Jin schob die Tür auf. Innen roch es ein wenig verbrannt, aber nicht sehr. Die Elektrizität funktionierte nicht. Der Schein von draußen musste genügen.

Aidan Sarris saß an einem der Tische, als würde er geduldig auf eine unlängst getätigte Bestellung warten. Seine Schultern waren herabgesunken, und er schaute nicht hoch, als Jin an ihn herantrat. Er sah aus wie jemand, der nach einem langen und verlustreichen Kampf endlich eingesehen hatte, dass er besiegt war.

Unvermittelt begann er zu sprechen. »Bist du hier, um mich zu töten, Jin Kazama?«

»Nein.« Jin hatte weder Zeit noch Kraft dafür übrig. »Es gibt genug Andere, die ich töten muss. Diese Liste darf nicht noch länger werden. Ich bin hier, um die Émigré-Schrift zu holen und die gestohlenen Seiten zu vernichten.«

»Oh, und wir wissen natürlich beide, dass du das tun wirst.« Sarris schüttelte den Kopf. »Du weißt, Azazel ist und bleibt deine einzige Chance, dein Schicksal zu verändern. Ich habe verloren … aber du kannst immer noch versuchen, dein böses Blut loszuwerden.«

Jin schwieg, starrte nur auf das, was zwischen Sarris’ reglosen Händen auf der Tischplatte ruhte: die Heilige Mistel, blank glänzend in ihrer ganzen Abscheulichkeit.

Doch sie war es nicht, von der Sarris sprach.

»Tu es, Jin. Wenn das Leid auf der Welt groß genug ist, werden Zeichen erscheinen … und dann ist es an dir, Azazels Grab in der Wüste zu suchen und ihn aus den Tiefen heraufzubeschwören …«

»Gib mir die Seiten«, sagte Jin ruhig.

»Natürlich.« Sarris griff in die Tasche seiner Jacke. Sie war auf dieser Seite vom Feuer stark angesengt. »Hier.« Er legte das Bündel auf den Tisch und schob es Jin zu. »Du wirst sie brauchen.«

»Wohl kaum.« Jin schob sich die Seiten unter den Arm. »Und jetzt das Émigré-Manuskript.«

Auch dieses förderte Sarris bedächtig zutage und legte es auf den Tisch, und Jin griff fast gierig danach. Der schädelförmige Kodex schien unter seinen Fingern zu brennen.

»Warte«, sagte Sarris, als Jin schon im Begriff war, sich von ihm abzuwenden. »Eins solltest du noch wissen. In der Prophezeiung – ich weiß nicht, ob du sie kennst – heißt es, derjenige, der Azazel aus den Tiefen holt, wird ein Mann mit dem Herzen eines Dämons sein.«

Jin hielt gegen seinen Willen im Schritt inne.

»Diesen Mann wollte ich mir zunutze machen, um Selina zu holen. Ich glaubte, es wäre Dante. Ein Mann mit Dämonenblut, was läge näher? Aber als ich ihn näher kennen lernte, wurde mir klar, dass er keine Ahnung hatte, was ich von ihm wollte. Und er sabotierte meine Pläne – so hartnäckig, dass er nicht dieser Mann sein konnte. Später las ich über den Gottesschlächter, und zu viel von dem, was ich verfolgte, war mit seinem Schicksal verknüpft … Wie konnte er einen Gott erschlagen ohne Teufelskräfte? Ein Übermensch, ein ebenso guter Kandidat. Aber dann … als ich dir in der Kirche in Hallow Hills begegnete, Jin … wurde mir klar, dass du es bist. Du, der Azazels Blut trägt. Du bist das Dämonenherz, von dem die Rede war. Der dunkle Stern.« Erst jetzt sah Sarris ihn direkt an, und ein schwaches, trauriges Lächeln verzerrte seine Züge. »Seltsam, oder? Gleich mehrere kommen in Frage, bei einigen ist es überdeutlich … doch am Ende ist es der unscheinbarste von allen.«

Jin sah ihn hasserfüllt an. »Dann ist es nicht wahr, dass ich der Einzige bin, der Azazel töten kann. Das war eine Lüge.«

»Vielleicht«, sagte Sarris ruhig. »Aber du bist der einzige Mensch, der es kann. Dante zählt nicht dazu, und der Gottesschlächter sollte in der heutigen Zeit gar nicht existieren. Gut möglich also, dass jeder von euch Azazel töten könnte. Aber … du bist derjenige, der es tun sollte

Jin schüttelte den Kopf und versuchte zum zweiten Mal, sich abzuwenden. Er brauchte keine Lügen mehr.

»Du hast eine Rechnung mit Azazel offen«, fuhr Sarris fort, »die Anderen nicht. Lass dir diesen Kampf nicht wegnehmen.« Jin hörte nicht mehr zu. Nur noch aus dem Augenwinkel sah er die plötzliche Bewegung, die Sarris’ leidenschaftlichem Appell folgte. Der gebrochene Mann hatte die Heilige Mistel vom Tisch aufgehoben. »Ich dagegen … ich lebe nicht länger mit dem Schmerz.«

Jin fuhr herum. »Nein – !«

Womöglich hätte er schnell genug sein können. Hätte dazwischen greifen, Sarris’ Hand beiseite schlagen oder ihm das Artefakt entreißen können. Doch sein Wille sperrte sich. Er sah hin, hob aus Reflex die Hand – die einzige Anteilnahme, die er noch aufbringen konnte –, und war zu langsam. Die funkelnde Spitze senkte sich durch den Hemdsstoff in die Brust des Mannes. Sarris’ wusste, wie man die Mistel einsetzte, es war völlig logisch; er hätte es die ganze Zeit tun können. Jin kniff die Augen zusammen und riss beide Arme vor die Augen, als ein gleißendes Licht aus dem Dorn hervorbrach, das den ganzen Raum erfüllte.

Sekundenlang war Jin geblendet. Zitternd und mit rasendem Herzen stand er vor Sarris’ Tisch, ohne etwas zu sehen; dann drehte er um und stolperte blindlings vorwärts, dorthin, wo er die Tür vermutete, durch die er hereingekommen war. Er wollte nicht warten, bis seine Sicht sich klärte. Er wollte nicht sehen, was der Fluch mit Sarris gemacht hatte, mit einem Mann, der keinen Puffer hatte wie Yuri. Wollte nicht sehen, wie jemand aussah, dessen Seele und Erinnerungen von einer außerirdischen Substanz zerfressen wurden.

Jin floh nach draußen. Dort klammerte er sich an das Geländer und atmete ein paar Mal tief gegen die aufsteigende Übelkeit an.

Es hatte zu regnen begonnen. Kleine, dichte Tropfen fielen kalt auf seine Wangen, kühl und lindernd. Jin bezwang das Krampfen in seinen Gliedern. Seine Fassung kehrte zurück, sein Atem wurde wieder gleichmäßiger. Später würde er sich dem Entsetzen hingeben; nicht jetzt. Zeit war etwas, das weder er noch Yuri hatte.

Als er die Augen öffnete, sah er in der Ferne, verteilt auf den Felsen, viele Menschen stehen. Sie waren sämtlich dunkel gekleidet, standen feierlich dort versammelt und schienen ihn zu beobachten. Ihn – oder eher das, was gerade passiert war. Nach nur wenigen Sekunden begannen die dunklen Gestalten einander zuzunicken und sich abzuwenden. Sie hatten gesehen, was sie sehen wollten. Ihr Ziel war erreicht; sie konnten diesen Ort verlassen, in ihren gewohnten Wirkungskreis zurückkehren – und wieder das sein, was sie vor vielen Jahrzehnten gewesen waren, bevor Rasputin sich an ihre Spitze gesetzt hatte: eine friedliche, Wissen sammelnde Geheimgesellschaft.

Jin wandte den Blick nach oben. Das Feuer auf dem Dach flackerte noch schwach. Heiß genug.

Eine letzte Aufgabe war noch übrig für ihn.

Aus dem Hemdsärmel zog er das Bündel der vierzehn Seiten. Nach allem, was sie hatten überstehen müssen, waren sie ein nur noch schwer leserlicher Pergamentwust, beschrieben mit Symbolen, deren Bedeutung nie ein Mensch begreifen würde.

Jin zögerte nicht länger. Azazel lebte von der Bosheit der Menschen – wer ihn entfesseln wollte, musste der ganzen Welt Gewalt antun. Diese Seiten waren der Schlüssel zu unermesslichem Horror, zu Tod und Elend und Grauen weit jenseits davon. Azazel würde die gesamte Menschheit versklaven.

Jin drückte die Seiten fest. Er wusste, was er zu tun hatte.

Akt XV - Die Uhr des Toten: 19-1

19-1: DANTE
 

Er fühlte sich noch immer leicht benommen. In seiner Erinnerung war der Kampf gegen Devil und Azazel irgendwie surreal – wenn auch weit weniger als der gegen Mundus, der sich retrospektiv anfühlte wie ein abstraktes Gemälde –, und bis jetzt versuchte er zu begreifen, was er da in sich gefunden und erweckt hatte, während er gelähmt vor Entsetzen und völlig passiv unter Devils schwarzen Pfoten lag. Er hatte Trish vorsichtig gefragt, wie es ausgesehen hatte, und ihre simple Antwort war: »Ein bisschen wie er, aber anders.« Ein bisschen wie Sparda. Aber eben nicht wie Sparda.

Nun, der Beweis dafür, dass das alles wirklich passiert war, lag vor ihm. Yuri schaute leise zitternd mit glasigem Blick auf zu den Emittern, die Roger bereits auf ihn ausgerichtet hatte. Neben seinem Kopf ruhte die Uhr mit den irrsinnig rasenden Zeigern. Dante fand ihren Anblick überaus unangenehm.

Gerade kam Roger wieder angelaufen, kniete sich zu Yuri und stopfte ihm mehrere Hände voll Kräuter unter den Mantel, die einen benebelnden Geruch verströmten. »So, da, das wird die Blutung etwas aufhalten und die Schmerzen lindern.«

»Hmmmm«, erwiderte Yuri.

Dante sah zu der Taschenuhr und hatte nicht den Eindruck, dass sie signifikant langsamer lief. Sein Blick wanderte, wie schon mehrfach, den Hügel hinauf, wohin Jin verschwunden war. »Wie lange dauert das noch?«

»So lange, wie es eben dauert«, antwortete Roger überraschend ruhig. »Jin hat etwas zu erledigen.«

»Hoffentlich erledigt er es schnell.«

»Hab Vertrauen in ihn, Dante. Noch sind wir gut in der Zeit.«

Das klang wie ein schlechter Witz, wenn man sich Yuri ansah.

Während Dante weiterhin untätig im Gras kniete, hörte er hinter sich Trish und Nina leise miteinander reden. Es befriedigte ihn irgendwie, dass sie wieder Frieden geschlossen hatten, sobald die Situation es zuließ. Als Pragmatikerinnen konnten sie Prioritäten bestens erkennen. Von wegen, Frauen lenkten Männer mit ihren Emotionen von der Arbeit ab. Oft war es wahrscheinlich genau umgekehrt. Er wusste wirklich nicht mehr, wie er früher ohne Trish zurechtgekommen war.

Roger nahm die Taschenuhr und setzte sie in die Maschine ein, dort, wo zwischen all den Verbindungsteilen eine Art Adapter ruhte. Natürlich: Ohne die Uhr dieses schottischen Magiertypen würde der Zauber, den Roger darauf gewoben hatte, wohl kaum umkehrbar sein.

In diesem Moment wurde es auf einmal taghell auf der Ebene.

Dante riss den Blick hoch und sah einen weißen Schein aus den großen Fenstern des kleinen Cafés auf dem Hügel dringen, ein Gleißen, das noch einmal zunahm und dann abschwoll, bis die Welt um sie herum so dunkel war wie zuvor. Er blinzelte ein paar Mal. »Was war das?«

Roger wirkte unsicher, während er sich die Augen rieb. »Ich … vermute, dass …« Doch er beendete den Satz nicht.

Nur einen Moment später löste sich eine dunkle Gestalt neben der ersterbenden Flamme auf dem Dach des Häuschens und eilte den Hügel wieder herab.

»Jin kommt«, sagte Dante unnötigerweise.

»Sehr gut.« Roger wirkte erleichtert. »Yuri, mein lieber Junge … Gleich ist es geschafft.«

»Hmmmm«, machte Yuri, ohne dass sich irgendein Teil von ihm bewegte.
 

Hatte Jin auch noch erstaunlich gefasst gewirkt, während er den halbtoten Yuri bis fast hierher geschleppt hatte, so schien seine Mauer aus Unnahbarkeit nun neuen Schaden erlitten zu haben. Dante folgte forschend Jins wildem Blick, als dieser in vollem Lauf bei ihnen ankam und das Émigré-Manuskript schier von sich warf. Die fragenden Blicke, die auf ihm ruhten, erreichten ihn nicht; stattdessen kniete Jin sich wieder zu Yuri und sah dann stumm Roger an, der emsig das Buch aufsammelte und es an einer bestimmten Stelle aufschlug.

»Gut, hier haben wir es … die Tore der Zeit … ja.« Roger legte seinen Stock quer über die Seiten, um das Buch offen zu halten. »Yuri?«

»Hmmmm?«

»Ah, solange du atmest, ist mir alles Andere egal.«

»Hmmmm.«

»Können wir irgendwas tun?«, fragte Dante. Er fühlte sich eigenartig überflüssig.

»Beten, dass es funktioniert«, erwiderte Roger grimmig. Dann rieb er sich die kleinen Hände, schaute feierlich auf die offenen Seiten und setzte dann zu einer Art hohem, heiserem Beschwörungsgesang an. Es klang wie nichts, das Dante jemals gehört hatte, und er mochte den Klang von Rogers Stimme in dieser fremden Melodie überhaupt nicht. Ärgerlich rieb er sich über den Arm, als er die Gänsehaut darauf spürte. Wieder sah er zu der Taschenuhr, die in ihrer Halterung ruhte: Die Zeiger rasten unaufhaltsam, und inzwischen hatte der Stundenzeiger die Zwölf so gut wie erreicht. Yuri würde in weniger als einer Minute tot sein.

Roger beendete leise hustend die Beschwörungsformel, hob eine Art Spange vom Boden auf und schloss mit ihr das Laufband an. »Wer möchte –«

»Ich tue es«, erklärte Jin sich sofort bereit und stieg auf die schmutzige Unterlage.

»Dann lauf bitte los in drei … zwei … jetzt

Die ganze Zeit hatte Dante immer wieder Jins Mimik betrachtet. Er hatte ihn noch nie mit so wenig Maske gesehen, noch nie mit so viel Kummer auf den weichen Zügen. Als Jin zu laufen begann, veränderte sich sein Ausdruck nicht. Es war nur angemessen, dass er für Yuri auf dem Band rannte und so die Energie für dessen Rückreise lieferte. Eigentlich, das wusste Dante sicher, hasste Jin es, dass Yuri ging. Für ihn musste es sich genauso anfühlen, wie ihn zu Grabe zu tragen. Nichts von dem, was zwischen Jin und Yuri geschehen war und immer noch geschah, war Dante entgangen; er hatte es nur nie kommentiert, weil es keinen Grund dazu gab. Yuris letzte Handlung hatte bewiesen, dass er und Jin gute Freunde hätten werden können – und verdammt, wenn Jin eins auf der Welt brauchte, dann jemanden, der verstand, was er durchmachte. Doch Jin hatte es nicht zugelassen, und jetzt, wo er endlich dazu bereit war, endete ihr gemeinsamer Weg. Es war … tragisch, irgendwie. Jin hatte eine Menge Pech im Leben, mehr als er verdiente.

Dante ließ den Blick auf Jin ruhen, während dieser rannte, als ginge es um sein eigenes Leben. In den drei Emittern, die auf Yuri gerichtet waren, sammelte sich bereits ein blaues Licht.

Plötzlich gab es ein leises Zischen, dann krachte eine kleine Explosion irgendwo tief in dem Kabelhaufen, die alle zusammenzucken ließ. Das Licht in den Emittern erlosch.

»Oh nein!«, jammerte Roger. »Nein, bitte nicht!«

»Was?«, fragte Jin atemlos.

»Die Teslaspule ist durchgebrannt! Jetzt reicht die Energie nicht mehr!«

Dante stand auf. »Sag uns, was wir tun sollen.«

»Oooh, gar nichts! Es sei denn, jemand von euch kann so schnell laufen wie der Blitz

Trish zog Sparda vom Rücken und reichte es Dante mit den Worten: »Halt mal.«

Dante lächelte breit, als er das Schwert nahm. »Ich weiß nicht, was irgendjemand ohne dich tun würde.«

Trish schenkte ihm den Anflug eines Lächelns, dann tauschte sie mit Jin den Platz auf dem Laufband und setzte sich in Bewegung. Sobald das Band voll in Fahrt war, triggerte sie – und beschleunigte schier ins Unendliche. Das dichte Klicken der Bandelemente wurde zu einem hohen Summen, und kleine Blitze begannen über die Kabel zu zucken. Die Emitter füllten sich innerhalb eines Wimpernschlags mit grellem Licht.

Roger jauchzte. »Ooooh ja, das ist es! Gleich, gleich ist es so weit! Yuri – Yuri, atmest du noch?«

Es war sinnlos, diese Antwort bei Yuri zu suchen – Dantes Blick huschte wieder zu der Uhr, deren Minutenzeiger seine letzte fatale Runde drehte. Wenige Sekunden … fünf, vier, drei …

Endlich ächzten die Emitter auf und spuckten blaue Strahlen auf Yuri herab. Grelles Licht hüllte seinen Körper ein, ohne jedwede Reaktion von ihm – dann schien er sich aufzulösen, als sich der Raum um ihn herum krümmte und alles, was sich dort befand, ins Unkenntliche verzerrte. In eine andere Zeit zerrte.

Trish rannte mit glühenden Augen weiter. Ihre Fersen wirbelten immer mehr hellgelbe Blitze auf, die um ihren schlanken Leib zickzackten.

Dann – mit einem kaum zu beschreibenden, schwappenden Geräusch – war Yuri verschwunden. Und mit ihm die Taschenuhr. Nur einen Herzschlag danach schien ein Vorhang über die Stelle zu fallen, an der er gelegen hatte; es wurde dunkel, dann wieder hell, und dann war dort … nichts mehr. Nur noch ein paar welke Blätter in einer Lache aus schlammigem Blut.

Trish wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Stille hing über dem Ort.

Dante sah vorsichtig vom Einen zum Anderen. Obwohl seine Kehle trocken war, sagte er, um Leichtigkeit bemüht: »Das sind immer die schlimmsten Partygäste: Kommen zuletzt und gehen zuerst.«

Er bereute den kleinen Scherz, als er sah, dass der Schmerz in Jins Gesicht größer war als je zuvor. Der Japaner sah aus, als würde er jeden Moment selbst tot umfallen. »Hat er es geschafft?«, fragte er leise.

»Ich glaube schon«, antwortete Roger. »Als die Uhr auf Zwölf fiel, wirkte der Zauber bereits. Ich bin ziemlich sicher, dass alles gut gegangen ist.« Er versuchte zu lächeln, doch so richtig wollte es seinem runzeligen Gesicht nicht gelingen.

»Und?«, fragte Dante ihn sanft. »Bist du zufrieden damit, wie es ausgegangen ist? Du hast so lange daran gearbeitet, Yuri in diese Zeit zu holen, nur um ihn mit einer neuen Perspektive wieder wegzuschicken. Hat es sich gelohnt?«

Roger seufzte und zögerte. »Ich glaube, jetzt gerade solltest du mich das nicht fragen. Ich bin ein alter Mann, Dante … Ich habe meine Gefühle nicht mehr so gut im Griff wie unser junger Jin hier.« Er nickte freundlich in dessen Richtung. »Aber frag mich morgen, oder in einer Woche, und es wird mir besser gehen. Bald werde ich vergessen können, wie ich gelitten habe, während Yuri ohne seine Seele jeden Tag an den Klippen stand und auf das Meer starrte, ohne zu wissen, was er dort suchte …« Seine Stimme war dünn geworden, und er senkte den Kopf. »Wenn ich erreicht habe, was ich wollte … dann wird diese Erinnerung schließlich verblassen. Weil es dann … niemals geschehen ist.«

Dante sah ihn einen Moment lang an, dann wandte er den Blick ab, als Trish die Hand nach ihm ausstreckte. Gehorsam gab er ihr Sparda zurück. Er wollte es wirklich nicht mehr tragen, nie mehr. Und er hoffte, das würde er auch nicht müssen.

»Die Uhr«, begann Roger schließlich mit etwas gefestigter Stimme, »ist ein zeitsensitiver Gegenstand. Ein Zeitwandler. Stellt es euch vor wie einen Transformator, nur mit Zeit statt mit elektrischem Strom. Es gibt viele solcher Gegenstände, überall auf der Welt, oft das Ergebnis magischer Forschungen, wie im Falle von McNabb. Mit einem Zeitwandler kann man eine so simple Apparatur wie diese hier in eine Zeitmaschine verwandeln … wenn man die Émigré-Schrift korrekt einsetzt. Nur sehr wenige werden das je vermögen.« Er seufzte wieder. Dann wanderten seine kleinen glitzernden Augen in Jins Richtung. »Junger Kazama … Hast du die Seiten der Dschaizan-Abschrift dem Feuer übergeben?«

Jin nickte, etwas abwesend, als hätte die Frage ihn aus tiefen Gedanken gerissen. »Ja … natürlich.«

Roger sah ihn unverwandt an. »Wirklich, Jin? Wirklich?«

»Ja«, beteuerte Jin, nun mit einer Spur von Verärgerung. »Was sollte ich damit anfangen?«

»Nichts natürlich. Ich … nun … ja, es ist gut. Ich danke dir für deine Hilfe.«

Jin nickte wortlos. Das gleiche knappe, steife Nicken wie immer.

»Und Sarris?«, hakte Dante behutsam nach.

Über Jins Miene huschte ein Schatten. Er senkte den Blick. »Er ist … unschädlich.«

»Verstehe. Und wo ist die Heilige Mistel?«

»Sie … muss noch dort sein.«

Roger sagte: »Ich möchte, dass du sie mitnimmst.«

Jins Augen weiteten sich. »Nein. Ich gehe nicht – … ich werde sie nicht holen.«

»Ich hole sie«, erklärte Dante. Er hatte einen starken Verdacht, was passiert war. Ihm selbst behagte der Gedanke ebenfalls nicht. Sarris war ein langjähriger Bekannter für ihn gewesen, ein Vertrauter, gewissermaßen; Dante konnte nicht umhin, sich mitverantwortlich zu fühlen für das, was aus ihm geworden war. Er hatte ihm geholfen, Dämonen zu studieren, hatte ihm geholfen, seine Waffe zu meistern. Er hatte Sarris’ Wahn den Weg bereitet. Erklärend fügte er hinzu: »Ich glaube, ich schulde ihm was.«

»Sei bitte sehr, sehr vorsichtig«, mahnte Roger.

»Glaub mir, ich bin nicht scharf drauf, mich selbst ins Grab zu bringen.«

Trish suchte seinen Blick, und sie schauten sich kurz an, eine stille Übereinkunft treffend. Dann wandte Dante sich ab und ging los, ließ die Szene mit dem Teleporter, dem Blut und der Trauer hinter sich, um den Hügel zu erklimmen und ein letztes Mal nach Sarris zu sehen.
 

Wo zuvor noch ein Feuer auf dem Dach gebrannt hatte, rauchten nun nur noch ein paar Dachbalken im kalten walisischen Nieselregen.

Dante betrat das kleine Haus, in dem es ebenfalls kalt war, und blickte durch die regennasse Fensterfront, an der sie Tage zuvor ihre Espressi getrunken hatten. Am Horizont zeigte sich ein feiner heller Streifen.

Sarris saß an einem Tisch und starrte blicklos vor sich hin. Seine Arme hingen einfach an ihm herab. Als er den Kopf hob und Dante anschaute, war keine Regung in seinem Gesicht.

Dante wusste, womit er gerechnet hatte. Genau das bekam er. Der Aidan Sarris, der dort keine zwei Schritte entfernt im Dunkeln saß, war nicht mehr der Mann, den er gekannt hatte; um das zu erkennen, brauchte er keinen voll ausgeleuchteten Raum. Er sah es an der Art, wie Sarris seine Schultern hielt, sowie an den vielen kleinen Bewegungen, die ihm nie aufgefallen waren, die jedoch jetzt einfach … fehlten. Was dort saß, war kein Mensch, sondern eine Puppe. Aus Fleisch.

»Hey«, sagte Dante.

»Wer sind Sie?«, fragte eine roboterhafte Stimme.

»Nicht so wichtig. Ich wollte mich nur bei Ihnen entschuldigen.«

»Wofür?«

»Weil ich so unfreundlich war, als Sie mich um Hilfe gefragt hatten.«

Sarris starrte ihn an. In seinen Augen war nichts. »Ich kenne Sie nicht«, stellte er fest.

»Oh, wir haben uns nur flüchtig getroffen. Sie hatten mich gebeten, Ihnen suchen zu helfen. Es war ein Foto oder so, irgendwas, das Sie verloren hatten. Naja, ich war nicht besonders nett.«

Sarris sah ihn einen Moment lang an; dann blinzelte er nur verständnislos.

»Ich hätte Ihnen suchen helfen können«, erklärte Dante ihm, »aber es kam mir nicht so wichtig vor. Ich habe Ihnen nicht geholfen. Und das tut mir leid.«

»Ich erinnere mich nicht daran«, sagte Sarris. »Was auch immer das war, es spielt keine Rolle.«

»Doch, tut es. Es wird Ihnen schon wieder einfallen«, fuhr Dante fort und setzte bemüht vergnügt hinzu: »Übrigens, schreckliches Wetter draußen, nicht? Wissen Sie was, als Entschuldigung werde ich Ihnen ein Taxi rufen, das Sie nach Hause bringt.«

»Oh«, sagte Sarris. »Das wäre wirklich … sehr aufmerksam.«

»Würden Sie mir dafür Ihren Regenschirm leihen?«

»Meinen …«

»Da unten.« Dante deutete neben Sarris’ rechten Schuh, wo auf dem Boden die Heilige Mistel lag.

»Oh, natürlich …« Mit einer mechanischen Bewegung hob Sarris den Gegenstand auf und reichte ihn Dante.

»Danke. Warten Sie hier so lange, ja?«

»Ja …«

»Und leben Sie wohl.«

»Ja.«

Dante lächelte ihn an und wandte sich ab. Während er zur Tür ging, schauderte er; etwas, das ihm etwa so oft widerfuhr wie ein pünktlich zahlender Kunde.

Dieser Tag war einfach furchtbar lang gewesen. Lang … und furchtbar.

Seine Kiefer waren verkrampft, als er wieder in den Regen hinaus trat, und während er den Hügel hinabstieg, wusste er nicht genau, ob es wirklich nur Regen war, der ihm von der Nasenspitze tropfte.

Akt XV - Die Uhr des Toten: 19-2

19-2: YURI
 

Tat Sterben weh?

Yuri hatte sich diese Frage schon mehrmals in seinem Leben gestellt, genaugenommen immer dann, wenn er dem Tod geradewegs ins Antlitz sah. Und das war gar nicht so selten gewesen.

Im Moment glaubte er, dass es nicht wehtun würde. Es hatte wehgetan, als Devil ihm den Bauch aufgerissen hatte – oder Dante, oder wer es am Ende auch gewesen war –, aber inzwischen war der Schmerz irgendwie … in ihn hineingesickert, hatte sich in seinem ganzen Körper verteilt … und war nun nur noch eine dumpfe, pochende Wärme, die kaum noch unangenehm war. Der kalte, nasse Boden machte ihm nichts mehr aus; das klebrige Blut überall machte ihm nichts mehr aus; und auch die Aufregung um ihn herum machte ihm nichts mehr aus.

Er lag ruhig unter den Strahlern des Teleporters, die schwarz und stumm über ihm schwebten, und atmete langsam den schweren, süßlichen Geruch der Kräuter ein, die Roger in seine Wunde gedrückt hatte. Atmete langsam … sehr langsam … Er ertappte sich sogar, wie er sekundenlang gar nicht atmete. Auch das machte ihm nichts aus. Irgendwann gab sein Körper ihm schon den nötigen Impuls, und dann nahm er wieder einen Zug von der feuchten Luft. Und dann ließ er es wieder bleiben.

Was um ihn herum geschah, war nicht mehr besonders wichtig. Er war dankbar, dass er einfach nur hier liegen durfte und in Ruhe gelassen wurde. Seine Taschenuhr – die den Platz seiner Lebensuhr eingenommen hatte, seit er hier war – tickte nicht mehr, sondern schnurrte. Wie ein Kätzchen.

Dante war da, Jin war da … und Roger. Besonders Roger. Die besten Leute, die er hier und jetzt kriegen konnte, waren bei ihm. Es war alles gut. Er musste nicht allein sein.

Er bedauerte ein wenig, dass er sich von keinem von ihnen verabschieden konnte. Leider ging das nicht. Seine Lebenskraft reichte nicht mehr dafür. Still und mit leeren Gedanken driftete er durch die Schatten – glaubte, irgendwo in der Ferne erstes Tageslicht zu sehen, aber es konnte auch eine Halluzination sein … bis er irgendwann das heiße, schweißtreibende Licht der Strahler auf sich fühlte, das ihn ganz einhüllte. Das war nicht fremd für ihn. Zu seinen großen, schweren Schlachten war er immer mit Rogers Maschine gereist: zu Feldwebel Kato … zu Albert Simon … zu dem Gott aus den Sternen. Diese gewaltige Energie würde ihn dorthin zurückbringen, wo er hingehörte. Dorthin, wo er seine Entscheidung neu treffen musste.
 

Und seine Lebensgeister kehrten zurück. Der Moment, als seine Wunden sich schlossen, als wären sie nie da gewesen, fühlte sich an, als würde er wieder jünger werden. Doch das Gegenteil war der Fall: Er wurde älter. Fünfundzwanzig, um genau zu sein. Das Jahr war 1915. Die temporäre Krümmung, die ihn durch die Jahrzehnte schleuste, verwandelte nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Kleidung. Der braune Mantel lag wieder zusammen mit Alice’ sterblichen Überresten in einem Grab in Zürich. Und die Nachtvogelklaue war … irgendwo, wo er sie zurückgelassen hatte.

Seine Füße setzten auf festem Boden auf. Die Steinplattform. Wind rauschte ihm um die Ohren. Der Zeitsturm tobte und rüttelte an dem schwebenden Untergrund.

»Yuri!«

Er öffnete die Augen.

Und alles rastete wieder ein.

Ein scharfer Schmerz flammte in seiner Brust auf – eine wohlbekannte Pein, dort, wo der silberne Dorn der Heiligen Mistel in sein Herz gedrungen war. Automatisch presste er die Hand darauf. Sie steckte in einem schwarzen Lederhandschuh.

»Yuri!«

Karin hörte nicht auf, seinen Namen zu rufen. Er war wieder hier, an diesem schrecklichen, endgültigen Zeitpunkt, der seine Welt für immer zerreißen würde.

Doch jetzt würde er sich anders entscheiden.

»Wenn du einen Fuß hierhin gesetzt hast, kannst du nicht mehr in die Gegenwart«, hatte sein Feind im Sterben gesagt. Katos Leiche lag fast friedlich auf dem nackten, sturmumtosten Fels, wenige Schritte entfernt. »Bete … Bete, so viel du kannst … für die Welt, die du willst.«

»Die Welt, die ich will?«

»Ja … Die beste, die du dir vorstellen kannst. Dann … kannst du zurück …«

Schon begannen Yuris Gefährten im Zeitstrudel zu verschwinden. Sie alle hatten gebetet, hatten im Stillen ihre Wünsche an das Schicksal gerichtet. Die Tore der Zeit standen weit offen, für diesen einen Moment. Gleich würden sie sich für immer schließen. Gleich.

Karin blieb bei ihm, auch diesmal. Er hatte diesen Augenblick schon erlebt, bevor er sich, damals, dem Fluch ergeben hatte – und mit einer Schonfrist in die Zukunft gesandt worden war. Dorthin, wo seine Perspektive sich veränderte. Dorthin, wo er Hoffnung fand.

Seine Brust glühte. Der Fluch kam zum Ende; die Zeit war um. Die Taschenuhr, deren Zeiger sich wie wahnsinnig im Kreis gedreht hatten … Sie hatte ihm bis zuletzt genau gezeigt, wie lange der Zeitzauber ihn vor dem finalen Zuschlagen des Mistelfluches bewahren würde. Eine Verzögerung, um sein Umdenken zu ermöglichen.

»Hast du Angst?«, fragte Karin, und obwohl ihre Augen ruhig waren, sah er ihre weißen Finger zittern.

»Nein.«

»Verlierst du auch deine Erinnerungen?«

Er gab ihr dieselbe Antwort wie zuvor. »Niemals.« Und jetzt log er nicht. Jetzt sagte er die Wahrheit … wenn auch nicht auf die Weise, die sie verstand.

»Bitte, versprich es mir! Ich … will dich nicht verlieren!«

Aber das würde sie. Kein Weg führte daran vorbei.

Er nickte ihr zu.

Sie ging. Ihr Körper leuchtete und erhob sich in den kreiselnden Wind hinauf. Er wusste, wie sich das anfühlte. Doch ein zweites Mal würde er es nicht erleben.

Fest packte er ihre ausgestreckte Hand. »Karin!«

»Was?«

»Danke!«

Sie verblasste.

Nun war er allein auf der Ebene. Allein zwischen den umherwirbelnden Felsen, die wie Papierfetzen der Gewalt des heulenden Strudels folgten. Alle Anderen waren fort. Hatten ihren Wunsch gefunden. Waren abgereist in die Welt, die sie sich gewünscht hatten.

Yuri würde nicht abreisen.

»Tut mir leid. Ich kann dieses Versprechen nicht halten«, sagte er. Seine Stimme war ruhig, doch in ihm tobte es. Auf einmal wusste er nicht mehr, welches Versprechen er gemeint hatte. Das, was er Karin eben gegeben hatte – sie wiederzusehen –, oder das an Alice, damals, am Grab des Priesters. Er hatte ihr gesagt, dass ihr Tod auch seiner sein würde. Und sie hatte ihn gebeten zu leben. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, dass sein Leben ihren Tod bedeuten würde. Er hatte sich selbst versprochen, für sie weiterzuleben.

Ich kann dieses Versprechen nicht halten.

In Wirklichkeit hatte er immer nur den Tod gesucht, seit sie fort war. Es war genauso gekommen, wie er es ihr gesagt hatte. Seine Sehnsucht zu sterben hatte er zu maskieren versucht, zu verdrängen, zu begraben, zu zerstreuen; aber sie war immer da gewesen. Bei jedem Lachen mit seinen neuen Freunden, bei jedem beherzten Angriff, bei jedem Entschluss, einfach immer weiterzumachen. Sie hatte ihn immer wieder eingeholt.

Yuri schloss die Augen.

Da war ihre Stimme. Alice’ Stimme. Sie sprach zu ihm – von weit weg, aus einer nicht nur räumlichen, sondern auch zeitlichen Distanz – als blicke sie auf etwas zurück, das lange vorbei war. »Ich weiß, warum du allein zurückgeblieben bist.« Natürlich wusste sie es. Wie konnte sie irgendetwas, was in seiner Seele vorging, nicht wissen? »Du hattest Angst, dich zu verlieren. Du hast erkannt, dass der einzige Weg, deine Seele und Erinnerungen zu retten, der Tod war.« Er hielt die Augen geschlossen. Sein Herz flatterte, wie ein kleiner eingesperrter Vogel. »Die Zeit, die du mit deinen Freunden verbracht hast … deine Gefühle für den Freund, den du bekämpft hast … alle deine Erlebnisse bis zu diesem Moment … All das hat dich zu dem gemacht, was du bist … zu dem Mann, der du heute bist … ja, dem Mann, den ich kenne … dem Mann, den ich liebe.«

Endlich war es so weit. Yuri öffnete die Augen und atmete tief ein. Er lächelte.

Tat Sterben weh? Nein. Nicht sehr. Nicht so sehr wie erwartet.

Ein Felsstachel brach aus dem Gestein hervor, stieß in seinen Rücken und durchbohrte sein Herz.

Das Periapt zerbrach. Die Splitter rieselten über seine Brust. Der Atem wich aus ihm, und er wurde still. Seine Augen blieben offen. Auf seinem Gesicht würde keine Überraschung sein, kein Entsetzen. Nur Frieden. Niemand würde ihn hier jemals finden. Er würde ewig an diesem Ort liegen und träumen. Das letzte Bett, das das Schicksal ihm bereitet hatte.

Ewig.
 

»Jetzt brauchst du nicht mehr zu leiden«, flüsterte Alice’ weiche Stimme dicht an seinem Herzen. Er öffnete die Augen. In ihm waren keine Schmerzen mehr, kein Kummer. Das Leid war vorüber. »Du brauchst nicht mehr allein zu sein. Ich werde für immer an deiner Seite sein.«

Er war in seinem Seelenbaum. Er war hier – der schlafende Körper, der aus dem Stamm herauswuchs. Endlich kannte er seinen Zweck. Seine Seele, eingesperrt unter der Last des Fluches, war wieder erwacht. Und sie war frei.

Über ihm schwamm ein helles Licht, das sich öffnete wie eine Tür. Eine weiße Hand streckte sich ihm entgegen. Alice’ Hand.

»Nun werden wir zusammen sein … für immer.«

Sie schwebte ihm entgegen. Eine Gestalt aus Licht. Ihre Augen waren, wie er sie kannte: leuchtend, rein, angefüllt mit nichts als Liebe.

Ihre Hände berührten sich. Er fühlte sie. Egal, wie viel Zeit auch vergangen wäre – ihre Herzen hätten einander immer und überall erkannt.

Leicht, völlig mühelos, erhob er sich aus dem dunklen Baumstamm. Frei.

Ihr Licht verband sich mit seinem, als sie sich an ihn schmiegte. Nichts würde sie jemals wieder trennen, nicht Tod, nicht Teufel – es gab nichts mehr, das ihnen etwas antun konnte. Sie hatten alles überwunden. Alles.

Für immer, dachte er.

Akt XV - Die Uhr des Toten: 19-3

19-3: JIN
 

Vielleicht hätte er ihn anfassen sollen. Nur ein bisschen, ihm die Hand auf den Arm legen, etwas in der Art, nur als ein Zeichen für ihn, dass er nicht allein war in seinem Dämmerzustand irgendwo zwischen Leben und Tod, bis der Zeitzauber ihn einhüllte und mit sich davon riss. Aber Jin hatte nur zitternd dagestanden, aufgewühlt und selbst allein mit seinen sich hin und her windenden Gefühlen, und zugesehen, was passierte.

Und jetzt, da es vorbei war, ging es ihm nicht besser. Obwohl sie Yuri zurückgeschickt hatten, bevor er im Jahr 2008 seinen Wunden erlag, und mit ihm nun wieder alles in Ordnung sein sollte, fühlte Jin sich leer und ausgelaugt. Sowohl geistig als körperlich hatte er sich bis ins Letzte verbraucht. Er war unendlich müde. Er wollte nur schlafen. Und am besten alles vergessen, was seit seinem Aufbruch in die USA geschehen war.

Azazel vergessen. Dante vergessen, Yuri vergessen. Es konnte doch nicht so schwer sein, diese Episode seines Lebens abzuhaken wie so viele davor, die seinen endlosen Kampf gegen das Böse in ihm nur noch verschlimmert hatten.
 

Sie verabschiedeten sich undramatisch von Roger, ohne viele Worte, fast feierlich. Der kleine Mönch wirkte mitgenommen und bekümmert, doch bei ihm war der Optimismus unter der Schicht aus Trauer spürbar. Er war viele Jahrhunderte älter und hatte die Erfahrung, dass auf Regen stets Sonne folgt, so sehr verinnerlicht, wie es in einer gewöhnlichen menschlichen Zeitspanne nicht möglich war.

»Ich bestehe darauf, dass du sie mitnimmst«, beharrte er und drückte Jin das Bündel mit der Heiligen Mistel gegen den Bauch; höher reichten seine Arme nicht.

»Ich will sie nicht haben.« Jin schob das unwillkommene Geschenk mit sanfter Gewalt von sich.

»Es ist mir egal, was du willst! Du bist jetzt derjenige, der darauf aufpassen muss!«

»Wenn du glaubst, ich wüsste nicht, dass du mich deshalb losgeschickt hast, um die Émigré-Schrift von Sarris zu holen, dann irrst du dich. Du wolltest, dass ich sehe, was dieses Ding tut.«

»Wundert dich das, he? Nachdem Yuris Beispiel dir nicht gereicht hat? Mach mit ihr, was du willst, aber nimm sie mit. Lass dein Labor sie von mir aus zerlegen und studieren, falls euch das gelingt! Aber du bist der Einzige, der genug Respekt vor ihrer Macht hat, um sie zu hüten!«

Jin wollte das Artefakt, das Yuris Leben zerstört hatte, auf keinen Fall an sich nehmen. »Dante dürfte inzwischen auch genug Respekt vor ihr haben.« Dante hatte Sarris gesehen, das hatte ihm im Gesicht gestanden, als er mit der Mistel vom Hügel heruntergekommen war.

»Dante wird sie verbummeln!«, insistierte Roger. Wahrscheinlich hatte er damit Recht.

Dante sagte nichts dazu. Auch er schien kein Interesse zu haben, das Exorzismuswerkzeug zu behalten. Am Ende musste Jin sich dem Starrsinn des kleinen Mannes beugen und die Mistel nehmen, ob er wollte oder nicht. Aber er hasste sie, und er wusste, er würde sie irgendwo in einen Safe einschließen lassen und nie wieder einen Blick darauf werfen.

Dante blieb weiterhin sehr ruhig. Er schob keinen einzigen markigen Spruch nach, auch dann nicht, als Nina pragmatisch vorschlug, vor der strapazierenden Rückreise noch einmal im Seaside zu übernachten – Gangster hin oder her. Yuris Zimmer stand nun leer, und sie gingen daran vorüber, ohne einen Blick auf die dunkle Tür zu werfen.
 

Als Jin am späten Vormittag aus einem erschöpften, traumlosen Schlaf wieder zu sich kam, war der Tag kalt und nass. Er sah aus dem Fenster seines Zimmers und entdeckte, dass ein schwerer, dunkler Nebel am Himmel über der Ebene vor Clarach hing. Der ganze Cardigan Bay wirkte grau und trist, die Wellen rollten träge und fast geräuschlos den Kies hinauf und hinab.

Jin nahm eine lange, warme Dusche und fühlte seine Lebensgeister nur wenig zurückkehren. Minutenlang ließ er das Wasser tatenlos auf sich niederströmen, etwas, das er sonst nie tat, doch die Kälte, die sich in ihm festgesetzt hatte, schien ihn in diesem Moment handlungsunfähig zu machen. Er dachte daran, wie diese seltsamste aller Reisen, die er je unternommen hatte, verlaufen war: erst sein fruchtloser Besuch bei Dante, dann die erste Begegnung mit Sarris in der Kirche; der Arrest im Devil May Cry, den er sich schon bald mit Yuri teilte, wenig bequem auf dem Sofa … Damals hatte er Dantes Arroganz und Yuris dunkles chi verabscheut. Verzweifelt war er ausgebrochen und zu Sarris geflohen, in der Hoffnung, dieser könnte ihm wirklich helfen – und dann … hatten Yuri und Dante ihn dort, aus der Not, in die er sich selbst gebracht hatte, herausgeholt. Sarris als gemeinsamer Widersacher hatte sie plötzlich zu einer Einheit werden lassen. Zusammen hatten sie beschlossen, das Émigré-Manuskript in Wales zu suchen, mit Yuris vager Erinnerung als einzigem Anhaltspunkt. Jin dachte zurück an den Flug und an die Zugfahrt; die Welt war auf seltsame Weise in Ordnung gewesen, als Dante Yuri mit dem Hunde-Tranquilizer betäubt und munter hinter sich her geschleppt hatte, und der englische Kaffee war nur dazu gut gewesen, das Bannsiegel auf den Bahnschienen zu zerstören. Rogers höhlenartiger Unterschlupf, in dem sie über Sarris und seine Pläne sinniert hatten, stand in krassem Gegensatz zur Behaglichkeit dieses Hotels direkt am Meer, in das man sie unter falschen Annahmen geschickt hatte … Auf krude Weise erschien ihm vor dieser kurzen Zeit noch alles offen gewesen zu sein, ihr Ziel unerreicht und noch nicht einmal klar definiert. Diese fremde Welt, und um ihn herum diese beiden seltsamen Männer, die – genau wie Jin – mit Teufeln ihre Körper teilen konnten …

Nun hatte das alles ein Ende. Er würde wieder allein sein. Und das war gut so, denn er hatte etwas getan, das ihm weder Yuri noch Dante jemals verzeihen würden.
 

Bevor sie auscheckten, sah Jin noch einmal Yuris Zimmer durch, ob er etwas dort zurückgelassen hatte oder es irgendwie … nun, auffällig unsauber war. Er fand nichts, nur zerwühlte Laken und sämtliche Kissen am Fußende.

Dem schmierigen Hotelier dankte er für die Freundlichkeit und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Der Mann bedankte sich überschwänglich und lud die Aufbrechenden ein, jederzeit wiederzukommen – Bloß nie, dachte Jin –, doch dabei wirkte er nervös und auf der Hut. Die Durchsuchung der Räume durch Sapientes Gladio war etwas, für das er sich offensichtlich und zu Recht schämte.

Jin hatte den Anderen gegenüber nicht erwähnt, dass er Sapientes Gladio in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Er wusste, dass, selbst wenn er vorgehabt hätte, noch einmal zu Rhys zu gehen und auch ihm für seine Hilfe zu danken, der Wirt nicht zu finden sein würde.
 

Die Zugfahrt von Aberystwyth nach Birmingham wurde begleitet von dem Prasseln der Regenschauer, die über das Land zogen, und den ausdauernden, jedoch belanglosen Unterhaltungen zwischen Nina und Trish. Wann immer Jin Dante ansah, schaute der Andere aus dem Fenster und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Er döste nicht einmal; er schaute nur, sein Blick wach, aber unfokussiert. Jin hätte nie gedacht, dass der Teufelsjäger so schweigsam sein konnte. Doch anscheinend hatten sie einander einfach nichts mehr zu sagen.
 

Am Flughafen herrschte der übliche, rege Betrieb. Der Abend dämmerte schon, als sie das Gebäude betraten, das sie bei ihrer ersten Ankunft in einer völlig anderen Stimmung kennen gelernt hatten.

Vor der Departure-Tafel, auf welcher punktgenau alle dreißig Sekunden die Anzeigen umflackerten, kamen sie etwas unschlüssig zum Stehen. Ihr gemeinsamer Weg war zu Ende.

Trish schien entweder keine Lust auf Abschiede zu haben oder sie hatte zu viel Respekt vor den bevorstehenden letzten Worten der Kampfgefährten wider Willen; Jin vermutete letzteres. Jedenfalls hob sie nur die Hand und bemerkte, dass sie die Bordkarten holen und am Gate auf Dante warten würde. Dann ging sie mit einem schwer zu deutenden Blick über die Schulter davon. Jin sah, dass Nina ihr zunickte und ein Lächeln andeutete. Nina war im Lächeln genauso schlecht wie er.

»So«, sagte Dante und kreuzte die Arme vor der Brust.

Sofort brach Nina ebenfalls aus der Runde aus. »Ohne mich«, stellte sie fest. »Jin, ich bin beim Hubschrauber. Kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir nicht mehr den öffentlichen Fernverkehr nutzen.«

»Ich komme gleich«, erwiderte Jin.

Nina schnaubte und sah Dante an.

Er grinste nonchalant. »Wird nichts mit uns, oder?«

»Ich bin zehn Jahre älter als du.«

»Sieht man gar nicht.«

»Kryoschlaf sei Dank.« Wieder lächelte sie, aber es war nur ein trockenes, hartes Verziehen der Lippen. »Geh nach Hause und kümmere dich um dein Mädchen.« Damit schlenderte sie davon.

Und nun wurde die Stimmung unangenehm. Zum Glück sprach Dante sehr schnell wieder, wofür Jin ihm dankbar war.

»Tja, ich schätze, hier trennen sich unsere Wege.«

»Ich kümmere mich um eure Flüge«, sagte Jin automatisch. »Falls das nicht klar war.«

Dante kratzte sich im Nacken. »Danke. Ungeplante Reisen bringen mich meistens in gewisse Schwierigkeiten«, räumte er ein.

»Solange ich die Mishima Zaibatsu führe, wirst du keine solchen Schwierigkeiten mehr haben.«

Dante hob argwöhnisch den Blick. »Wieso das? Ich hab den Auftrag, dich von Devil zu befreien, nicht erfüllt. Du schuldest mir nichts.«

»Doch. Das tue ich.« Jin verschränkte die Arme vor der Brust, sein üblicher unbewusster Versuch, Distanz zu halten. »Du hast im Rahmen deiner Möglichkeiten alles versucht.«

»Oh je, das klingt wie aus einem schlechten Schulzeugnis.«

»Du hättest mich einfach töten können. Aber du hast mich gepflegt, bei dir untergebracht, mich nach dem Ritual gerettet und mich zuletzt auf eine Reise ans Ende der Welt begleitet. Du hast mir Rat gegeben und mich sogar mit dem Leben beschützt, als wärst du mein –« Jin stürzte ab. Er bekam das Wort nicht heraus.

»Dein Kindermädchen, ja«, ergänzte Dante. Es war nicht das Wort, das Jin im Sinn gehabt hatte, und Dante wusste das sehr gut.

»Richtig«, stimmte Jin mühsam zu. »Und nicht zuletzt … hat dein Zweifeln an mir dafür gesorgt, dass ich Dinge tue, die ich sonst vielleicht nie hätte tun können.«

Dante betrachtete ihn skeptisch, sagte aber nichts.

»Für all das bin ich dir etwas schuldig.«

»Du meinst das ernst, oder?«

»Ich habe das Tekken-Turnier gewonnen«, erinnerte Jin ihn ungeduldig. »Ich habe so viel Geld, dass ich nicht weiß, was ich damit tun soll. Ich bin niemand, der Geld für Belanglosigkeiten ausgibt, aber meine Schulden bezahle ich immer. Also heb dir deine Gutmütigkeit für deine mittellosen Kunden auf.« Er sah Dante forschend an. »Das tust du sowieso, oder?«

Dante schwieg und schaute schräg an ihm vorbei, doch dabei sah er nicht beschämt aus, sondern so stolz wie immer.

»Ich weiß, ich habe mich zeitweise … wie ein …«

»Blödsinn, Kazama. Du bist äußerst tapfer, das muss ich dir lassen.«

»Bin ich nicht. Ich hatte Angst.«

»Wenn du keine gehabt hättest, wäre es ja keine Tapferkeit.« Dante war ein Besserwisser bis zuletzt.

Für Jin bedeuteten die Worte nichts. Alles, was Dante und Yuri je zu ihm gesagt hatten, bedeutete überhaupt nichts mehr.

»Du kannst jederzeit zu Besuch kommen«, bot Dante an; doch ihnen Beiden war klar, dass das nur eine Floskel war, etwas, das zu sagen erwartet wurde, und entsprechend halbherzig hörte es sich an.

Jin schüttelte den Kopf. Er hielt nichts von leeren Nettigkeiten. »Du weißt, dass es nur einen Grund dafür geben kann, dass du und ich uns jemals wieder begegnen.«

Dante verstand und erwiderte den Blick aufrichtig. »Sicher. Wenn ich dich … erlösen muss.« Jetzt waren sie endlich ehrlich zueinander. Endlich. »In diesem Fall hoffe ich, dass wir uns niemals wiedersehen.« Dante ließ die Arme fallen, und seine letzte Geste, ehe er sich umdrehte, war ein lässiger Salut. »Leb wohl, Jin Kazama.«

»Leb wohl, Dante.«

Und dann machten sie beide kehrt und trotteten in entgegen gesetzte Richtungen davon. Sie gingen auseinander, ohne dass sich einer noch einmal nach dem Anderen umdrehte. Jin wusste, dass sie beide wussten, dass sie sich nie mehr begegnen würden – und das auch nicht wollten.

Abgesang: 20-1

20-1: YURI
 

Es war das Jahr 1913. Ein klarer, dunkler Sternenhimmel spannte sich über die südliche Mandschurei. Einsam durchmaßen Bahngleise das karge Land, ein kleines Zeichen von Zivilisation inmitten von sehr viel Nichts. Die trockenen Grashalme wippten sacht auf der trostlos anmutenden Weite, die die leeren Schienen umgab. Dann begannen in der Distanz leise Geräusche Gestalt anzunehmen.

Yuri erwachte und setzte sich ruckartig auf.

»Whoa!«, ächzte er. »Mist, ich hab fast verschlafen!«

Irgendwas stimmte nicht. Er sollte hier liegen, rücklings im Gras im Nirgendwo, oder nicht?

Nicht …?

Er krabbelte auf die Füße. Der warme Hirschledermantel fiel gegen die Rückseiten seiner Unterschenkel, als er sich streckte und umschaute. Es war noch dunkel … doch geweckt hatte ihn … dieses Geräusch

Der Zug. Richtig, auf den hatte er gewartet. Es war der Zug, der einzige; sein Stampfen kam näher, und in der Ferne erschien der kleine Lichtpunkt seines Scheinwerfers.

»Er wird gleich hier sein …«

Yuri beeilte sich. Dort drüben war schon der Haltepunkt, eine Plattform mitten im Nichts. Genauso nutzlos und verlassen wie Dovey Junction in Wales. Dort stieg nicht wirklich jemals jemand aus, oder?

Alice sprach zu ihm, während er vorwärts marschierte.

»Die Welt, für die du gebetet hast … Der Ort, an den dein Herz zurückkehrt …«

Yuri dachte darüber nach, einen Fuß vor den anderen setzend. In seinem Verstand war noch immer nicht alles wieder an seinem Platz, aber irgendwie beunruhigte ihn das nicht. Ihm war, als würde er voller Vertrauen einem Plan folgen, den er irgendwann mal ausgearbeitet und dann vergessen hatte. Mit schlafwandlerischer Sicherheit ging er weiter.

»Die Zeit, als du am glücklichsten warst. Du kannst noch einmal neu beginnen …«

Ja, natürlich konnte er neu beginnen. Darauf hatte er doch die ganze Zeit hingearbeitet, oder nicht? Er hatte doch … er war doch …

Und dann, plötzlich, kehrte alles zurück.

Alice!, dachte er aufgeregt. Ich bin in die Zukunft gereist, aber ich hatte meinen jüngeren Körper, verstehst du … ich war so alt wie damals, als du … mich verlassen hast … und ich weiß nicht, warum, aber …

»Du wusstest die ganze Zeit, dass du den Lauf der Dinge ändern kannst«, antwortete sie schlicht.

Vielleicht … aber erst diese schrägen Typen da, in der Zukunft … haben mir die Wege gezeigt. Ich weiß jetzt, was ich machen muss … Ich …

»Du bist hier, weil du es dir gewünscht hast. Du hast dich von dem Fluch befreit, der deine Seele bedrohte … Und dann konnte dein Wunsch Wahrheit werden.«

Sein Herz begann schneller zu klopfen. Es war quicklebendig, genau wie seine Seele, und jetzt füllte es sich mit Vorfreude und Abenteuerlust.

Dann legte sich dieser jüngst erwachte Teil von ihm wieder schlafen, und er vergaß, warum er hier war. Das machte nichts, wirklich nicht; irgendwo in seinem Verstand wusste er, dass er nichts falsch machen konnte. Da war irgendein Wissen in ihm – irgendeine unbewusste Erinnerung? –, das ihn begleitete, das ihm im richtigen Moment sagen würde, was zu tun war. Er hatte das dumpfe Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein … musste eine Zeit gewesen sein, in der es ihm nicht gut ging … doch jetzt fühlte er sich wohl. Sein Geist war verschwommen, doch alles war in Ordnung. Er steuerte auf etwas Gutes zu.

Yuri erreichte den Bahnsteig und atmete die kalte Nachtluft ein. Der Zug näherte sich, und er wusste, dass er mitfahren wollte. Gleich war er da: Dampfwolken stießen aus dem schwarzen Schornstein wie der Atem eines Drachen, und das Dröhnen der Getriebe rollte über die Ebene heran.

»Dieser Zug … Komisch. Ich fühle mich wieder wie ein kleines Kind.« Yuri war glücklich, obwohl er keine Ahnung hatte, warum.

Dann hielt der Zug neben ihm und öffnete die Tür.

Yuri ging an Bord, und sein Abenteuer begann.

Abgesang: 20-2

20-2: DANTE
 

Trish hatte sich den Fensterplatz gewünscht, und natürlich bekam sie ihn. Beim Start der Maschine beobachtete sie aufmerksam das Kleinerwerden der Punktlichter, die die Rollbahn säumten, und das Zurückfallen der ersten Wolkenschichten, als das Flugzeug zügig aufstieg.

Dante mochte Trishs Faszination für die simplen Dinge, etwas, das sie nie verloren hatte. Sie war nicht als Mensch geboren, konnte auf keine Kindheit zurückblicken, die sie Staunen, und auf kein Erwachsenwerden, das sie Hinnehmen gelehrt hatte. Trish fand den Himmel und die Erde und alles dazwischen noch immer spannend. Manchmal, wenn sie in Sommernächten auf dem Dach des Devil May Cry saßen, schaute sie sich stundenlang die Sterne an, die man durch die Dauerlichter der Stadt kaum sehen konnte. Dante glaubte dann, eine Art Ehrfurcht oder gar Demut in ihren unbewegten Zügen zu entdecken. Sie wussten beide, was aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht Mallet Island zusammen mit ihm verlassen hätte, um in seiner Welt zu leben.

Die Flugstunden zogen träge dahin, während unter ihnen der Atlantik peitschte. Eine unruhige schwarze Fläche ohne jede Abwechslung. Sie spiegelte in etwa wider, wie es in Dante gerade aussah.

Er fühlte sich nicht gut damit, wie die Sache ausgegangen war. Und das war nicht richtig, Gewöhnlich ließen seine Missionen, vor allem die besonders abenteuerlichen, ihn mit einer gewissen Befriedigung zurück. Doch diese hier war eben … nicht gewöhnlich.

In gewisser Weise konnte er zufrieden sein: Er war mit Verbündeten nach Wales gereist, um Sarris’ Pläne zu durchkreuzen, und das hatten sie erreicht. Yuri war wieder angemessen ins Jahr 1915 entsorgt worden und auch Jin war wohlauf – zumindest war er weder wahnsinnig geworden noch gestorben oder von Devil übernommen worden, auch wenn das nur indirekt Dante zu verdanken war.

Jedenfalls konnte er insgesamt zufrieden sein.

Aber irgendwie war er es nicht.

Er hatte Jin nicht fragen wollen, was er gesehen hatte, als Yuri mit Devil fusioniert war. Offenkundig hatten sie gekämpft: Jin hatte gesagt, Devil hätte Yuri mit dem Laser erwischt, während es in Wirklichkeit Dantes Schwertstreich gewesen war, dem Yuri seinen vorgezogenen Abschied verdankte. Im Zug hätte Dante die Gelegenheit gehabt, Jin nach Details auszufragen, und er hatte auch ernsthaft darüber nachgedacht, doch … vielleicht wollte er es auch gar nicht wirklich wissen. Und vielleicht ging es ihn auch überhaupt nichts an.

Er wusste mittlerweile, dass die Beiden etwas verband, das er nie geahnt hätte. Erst auf der Zielgeraden hatte er davon erfahren. Auf den Becher mit Tee starrend, der vor ihm auf dem Klapptischchen stand, dachte er noch einmal an die letzte Unterhaltung zurück, die er mit Roger Bacon geführt hatte …
 

Es war kurz nach Yuris Abreise gewesen. Jin stand in einiger Entfernung und redete leise mit Nina – vermutlich diskutierten sie, ob sie für ihre Rückreise und alles Weitere die Ressourcen der Mishima Zeitbatsu nutzen würden, und allgemein, wie es mit der Firma weitergehen sollte – und Trish hatte Roger versprochen, die Émigré-Schrift irgendwo in den eingestürzten, rußschwarzen Tunneln zu verstecken, wo nicht einmal er sie finden würde. Jetzt, da sie wussten, dass sich unterhalb der außerirdischen Neam-Ruinen ein Portal in die Unterwelt befand, war es umso wichtiger, diesen Ort für immer verborgen zu halten. Dante hätte sie begleitet, doch Roger hatte eingewandt, dass er vollstes Vertrauen zu Trish habe; das bedeutete, wie Dante sofort erkannte, dass der kleine Mönch auch ihm noch etwas mit auf den Weg zu geben hatte. Auch wenn es oft so aussah, als wäre Roger nur noch ein uraltes, kauziges Männlein – er tat so gut wie nichts umsonst. Auch jetzt nicht.

Zuerst gab er Dante das Henochbuch zurück.

»Ich fürchte, die Leihgebühr hab ich sowieso überschritten.« Dante betrachtete den faserigen Ledereinband. Vor allem Yuri und Jin hatten über dem Buch gebrütet, Yuri immer wieder bemüht, Jin zu trösten und seine Verbitterung zu brechen. Die Beiden, in ihrem Schicksal so ähnlich … Plötzlich merkte Dante, dass er selbst es war, der Roger etwas mitteilen wollte. »Roger … Ich glaube, ich weiß, warum dein Zauber Yuri nicht hierher nach Wales gebracht hat, wie du geplant hattest.«

Roger grinste breit. Erstaunlich, dass er überhaupt noch Zähne hatte.

Dante fuhr fort: »Wir dachten, er hätte Yuri zu mir gebracht, zum Devil May Cry, aus irgendeinem Grund. Aber das ist nicht wahr, richtig? Er hat ihn nicht zu mir gebracht, sondern zu Jin.«

Roger nickte. »Ja, ich hatte mich geirrt. Es hätte mir gleich klar sein müssen.«

»Aber warum? Der Zauber sollte Yuri zu jemandem bringen, den er kennt. Er und Jin sind doch nicht irgendwie verwandt, oder?«

»Nein, nicht in diesem Sinne. Eher … in einem spirituellen Kontext.«

»Das heißt?«

»Du weißt«, erklärte Roger feierlich, »dass es noch vor wenigen Jahrhunderten mehr Menschen wie Yuri gab. Menschen mit nur einem winzigen Tropfen Teufelsblut in den Adern, die die Kräfte erschlagener Dämonen nutzen konnten. Es gibt viele Spielarten dieser Veranlagung. Fusion ist nur eine davon, und Harmonixer werden wahnsinnig und sterben, wenn die Bürde zu groß wird.«

»Okay, aber Jin gehört nicht zu denen.«

»Langsam, Dante. Yuri ist in Katsuragi geboren, einem Dorf mitten im Wald des Windes. Dort lebte der Clan seines Vaters, deren Mitglieder mächtige Harmonixer waren. Jin, auf der anderen Seite, ist ein Spross der Kazamas, einer alten Blutlinie, die ebenfalls im Wald des Windes heimisch war. Sie tragen den Wind im Namen: kaze. Die Kazamas haben die Fähigkeit, dämonische Kräfte zu unterdrücken, auch bei anderen. Nur deshalb konnte Jin dem Teufel, der ihn besetzt, bisher widerstehen und wurde noch nicht von ihm vereinnahmt wie sein Vater. Es ist das reine Blut seiner Mutter, das ihn so lange beschützt hat. Die Kazamas waren die friedlichen Antagonisten der Harmonixer von Katsuragi. Beide Clans existierten nebeneinander und hielten ihre Kräfte im Gleichgewicht. Diese Gemeinschaft zerfiel später, als der Wald zu schwinden anfing, und das Dorf wurde im Krieg völlig zerstört … Aber noch immer zieht es die Kazamas in die dichten Wälder fernab der Zivilisation, während die Harmonixer, ohne ihre geistige Führung, irgendwann dem Wahnsinn anheim gefallen und … nun, ausgestorben sind. Wenn du Jin fragtest, würde er dir sagen, dass er den Wald liebt, weil seine Mutter ihn auch geliebt hat. Seine Seele erinnert sich noch an Katsuragi, ohne dass er jemals selbst dort war.« Roger lächelte traurig. »Der Zauber, den ich um McNabbs Uhr gewoben habe, hat Yuri zu Jin gebracht, weil … ihre Herzen einander wiedererkannt haben.«

»Das klingt ganz schön … esoterisch.« Dante ließ sich das auf der Zunge zergehen. Obwohl er selbst vermutet hatte, dass Jin das Ziel des Zaubers gewesen war und nicht er selbst, hatte er keine gute Theorie dafür gehabt. Diese jedoch fügte alles nahtlos zusammen. Nur … »Es gibt doch sicher noch andere Kazamas auf der Welt«, wandte er ein.

»Mag sein … aber ich vermute, Jins Seele war die einzige, die geantwortet hat.« Bedeutsam fügte Roger hinzu: »Eine Antwort kann auch ein Hilferuf sein.«

»Okay.« Dante zuckte die Schultern und beschloss, das als Erklärung hinzunehmen. Dass Jin und Yuri so etwas wie Brüder im Geiste waren, ergab letztendlich eine Menge Sinn. »Aber wenn Jin durch sein Kazama-Blut eigentlich einen Vorteil bei der Kontrolle von Devil haben müsste, warum funktioniert es nicht mehr? Warum hat er die Fähigkeit verloren, Devil zu kontrollieren?«

Roger hatte auch darauf eine Antwort. »Ich glaube, der Verlust dieser Fähigkeit ist durch die psychischen Traumata begründet, die er erfahren hat.«

»Also könnte er es wieder lernen.«

»Davon bin ich fest überzeugt. Aber keiner von uns kann ihm das abnehmen … egal, wie sehr er es sich wünscht. Das Teufelsgen ist seine Aufgabe allein.«

Dante lachte leise. »Teufelsgen«, sagte er und kreuzte die Arme vor der Brust. »Die Übersetzung ist wirklich Auslegungssache. Es kann auch Blut heißen. Vielleicht wäre das sogar richtiger.«

»Hehe, ja. Schön, dass du das endlich einsiehst.«

»Er hat mit Ifrit gekämpft. Nicht mal ich ignoriere das Offensichtliche.«

»Weißt du, Teufelsblut gibt es noch in vielen anderen Menschen außer dir – wenn auch dünn, sehr dünn. Trotzdem verleiht es Fähigkeiten, die vererbt werden, Fähigkeiten, die diese Menschen von anderen isolieren. Du wirst noch andere Menschen mit Teufelsblut treffen, davon bin ich überzeugt.«

Dante zweifelte nicht mehr daran. Es war, nüchtern betrachtet, sogar ziemlich wahrscheinlich.
 

Trish neben ihm wandte sich vom Anblick der grauen Wolkendecke unter ihnen ab. »He, was ist los mit dir? Warum so grüblerisch? Ich dachte, du würdest endlich mal damit aufhören. Fuchst es dich so, dass du seinen Auftrag nicht erfüllen konntest?«

»Ist immerhin das erste Mal«, gab Dante zu bedenken.

»Ist es nicht.«

Er sah schräg zu ihr hinüber. »Oooh, na schön, wenn du das zählst …«

»Meinen Auftrag an dich, Mundus zu töten.«

»Und was war mit seinem Auftrag an dich, mich zu töten?«

»Ah. Touché

Sie lächelten einander vielsagend an, und für den Moment war alles gut.
 

Irgendwann am Nachmittag hatten sie endlch auch die letzte Fahrstrecke von Eastport City aus hinter sich. Das Erste, was Dante tat – nachdem er die Tür heil gelassen hatte –, war, sich auf die Couch fallen zu lassen. Laken und Decken lagen noch auf den Polstermöbeln, unberührt, seit die Bewohner aufgebrochen waren.

Trish war ordentlicher. Sie hängte ihren Mantel auf, stellte ihre Taschen auf den Tisch und entnahm dem Steel Case, das sie über der Schulter getragen hatte (praktische Idee, fand er) vorsichtig Sparda, das in ein Flanelldeckchen gewickelt war wie ein Baby. »Muss es wieder auf den Schrank oder darf ich es endlich an die Wand hängen?«, fragte sie.

»Häng’s an die Wand.« Er sah nicht zu ihr, sondern dorthin, wo der Nagel, der die Zettel mit den artig hingekritzelten Namen Jin Kazama und Yuri Hyuga trug, im Holz steckte.

Trish folgte seinem Blick. »Soll ich das abmachen?«

»Hmm … morgen.«

Sie zuckte die Schultern. Das war es dann auch mit der Aufräumarbeit von ihrer Seite – den Rest würde er schön selbst machen dürfen.

Er rückte für sie beiseite, und sie setzte sich neben ihn.

»Ich mochte die Beiden«, sagte sie unvermittelt. »Jin war ziemlich reserviert, aber immer höflich und wenigstens ehrlich. Yuri fand ich erst etwas … schräg, um es nett zu sagen, aber eigentlich war er doch ganz süß. So zum in-die-Backe-Kneifen.«

»Ich weiß, was du meinst«, gluckste Dante.

»Was hättest du gemacht, wenn er nicht zurück gekonnt hätte? Dahin, wo er herkam?«

»Gute Frage. Langfristig hätte ich ihn nicht behalten wollen, dieser Humor ist bestimmt ansteckend.« Ernsthafter fuhr er fort: »Ich glaube, Jin hätte sich um ihn gekümmert. Ganz am Ende wäre er damit rausgerückt, dass er irgendwo, irgendwie einen Platz für ihn hat, und dann wären sie zusammen in den Sonnenuntergang geritten.«

Trish lachte leise. »Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Lass mir meine romantischen Illusionen.«

Sie beobachtete ihn einen Moment. »Du machst dir jetzt hoffentlich keine Sorgen um die Beiden.«

»Nicht wirklich. Nicht um Yuri jedenfalls, der hat’s geschafft. Ist schwerer tozukriegen als Unkraut. Aber Jin … Der versucht wirklich, ein guter Kerl zu sein, aber das Schicksal lässt ihm nicht viele Optionen.« Trocken fügte er hinzu: »Und außerdem mag er keine Pizza.«

Trish seufzte. »Wenn du wieder mal einen jungen Kollegen triffst, adoptier ihn doch.«

»Bloß nicht.« Ihr Ton hatte ihn aufmerksam werden lassen. »Trish, ich werd das Gefühl nicht los, dass du mit irgendwas unzufrieden bist.«

»Was soll’s.« Sie hob wieder die Achseln. Mit dieser Geste konnte man wirklich alles und nichts sagen, das mochte er so daran.

Endlich rückte sie an ihn heran und lehnte den Kopf an seine Schulter. Fast geistesabwesend legte er seinen Arm um sie. Er wusste nicht, warum sie jetzt so anschmiegsam war, doch es war ihm willkommen. Momente der Nähe waren selten zwischen ihnen, was kurios war, da sie beide sie wertschätzten und genossen. Es kam vor, dass sie nach einem nächtlichen Einsatz auf der Couch einschliefen, sie halb auf ihm – oder umgekehrt –, oder dass sie ihm beim Dösen oder Lesen Gesellschaft leistete, weil nicht einmal Trish den ganzen Tag aktiv sein konnte. Diese kleinen Augenblicke waren überaus angenehm. Es war die eine Sache, hin und wieder ein Mädchen im Bett zu haben, und die andere, eine Partnerin zu haben, die … da war. Bei ihm war. Die ihn manchmal scharf kritisierte, manchmal Dinge nach ihm warf, die ihm den Rücken deckte und, manchmal, ihm hinterherräumte. Und die manchmal, wie jetzt, neben ihm saß, etwas Warmes, Weiches, das nach Mandelblüten roch und ein Gefühl von Heimeligkeit und Zuhausesein ausstrahlte. In solchen Momenten war er ihr besonders dankbar dafür, dass sie da war. Sie gehörte zwar nicht in sein Bett, aber sie gehörte an seine Seite.

Doch kurz darauf erfuhr er, warum sie kuschelten.

Weil es das letzte Mal war.

Trish löste sich abrupt von ihm und stand auf. »Nein. Ich kann nicht bleiben«, sagte sie und ging zum Schreibtisch, wo die Taschen standen.

Dante sah ihr zu, verwirrt. Was sollte das bedeuten? ›Ich kann nicht bleiben‹ sagte jemand, der gerade erst gekommen war und dem eben einfiel, dass die Waschmaschine noch lief. »Was?«, fragte er lahm.

»Ich muss gehen«, antwortete sie und öffnete ihre Reisetasche.

»Wohin?«

»Ach, einfach weg. Reisen.«

Moment. Hatte der Ausflug nach Großbritannien ihr Fernweh geweckt, oder … stimmte wirklich irgendwas nicht mit ihr? Lief irgendwas Fundamentales falsch? Er beobachtete ihre zunächst noch unentschlossenen Bewegungen, als sie den Inhalt der Tasche ausräumte und andere Sachen wieder hineinräumte. »Du warst doch schon auf Reisen«, begann er erneut.

»Aber nie lange.« Frische Unterwäsche gesellte sich zu den schwarzen Oberteilen. »Ich muss allein gehen.«

»Warum?«

»Weil ich so nicht weitermachen werde, Dante.« Ihr Ton war nicht lauter oder härter geworden. Das war auch nicht nötig, denn es war alles klar genug.

Er sagte nichts weiter. Sah nur ratlos dabei zu, wie sie umpackte, und rührte sich nicht. Die Szene wirkte irgendwie surreal. Als Trish fertig war, saß er immer noch dort, die Füße auf dem Couchtisch und den rechten Arm hinter dem Nacken, während der andere, der kurz zuvor noch Trish an ihn gedrückt hatte, ohne Aufgabe auf dem Polster ruhte. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, schulterte die Tasche und ging zur Tür.

»Kommst du wieder?«

Sie beantwortete ihm die Frage nicht. Sie drehte sich nur noch einmal flüchtig um, schaute über den Rand der Brille und sagte: »Bis dann.« Sie wirkte nicht nervös, kein Stück, sondern völlig sicher, und irgendwie … erleichtert. Sie öffnete die Tür – wie leise diese Tür doch war, wenn man sie normal aufmachte, statt sie zu treten, dachte Dante – und war fort. Die Pforte schloss sich ebenso geräuschlos wieder hinter ihr.

Auf einmal war es, als wäre sie nie da gewesen.

Dante blieb sitzen. Er saß noch immer dort, unbeweglich, als eine halbe Stunde später das Telefon klinglte, weil irgendjemand seine Hilfe brauchte. Erst dann stand er langsam auf und suchte den Whisky. Er würde das Büro aufräumen, und dann würde er arbeiten.

Abgesang: 20-3

20-3: JIN
 

Nina hatte Recht behalten: Mit dem Charterflugzeug verlief die Rückreise schneller, unkomplizierter und vor allem komfortabler. Er bat Nina, ihn in dem kleinen Aufenthaltsraum allein zu lassen, sodass er mit niemandem außer sich selbst auf dem hellen Ledersofa vor dem runden Tisch sitzen und durch das Fenster den Sonnenaufgang beobachten konnte, der eben über den Ozean heraufkroch.

Doch die Farben, die langsam von Osten her den Himmel überzogen, machten keinen Unterschied. Ihr Anblick bewegte nichts in Jin. Sein Herz fühlte sich an wie versteinert.

Er hätte es wissen müssen. Schließlich war er daran gewöhnt, dass Menschen, die er mochte und denen er zu vertrauen begann, ihn rasch verließen. Nun wusste er außerdem, dass es gleichgültig war, wie stark, wild und tapfer diese Menschen waren. Sie verließen ihn ebenso. Es war ein dunkles Karma, das Jin begleitete, seit Devil in ihm erwacht war; eine Aura der immerwährenden Isolation.

Es würde nicht noch einmal passieren. Immer wieder war er darauf hereingefallen, und diesmal ganz besonders, da er geglaubt hatte, dass Menschen, denen Devil nichts anhaben konnte, genau das waren, was er gebraucht hatte. Was er gesucht hatte. Es war das letzte Mal, dass er Hoffnung geschöpft hatte. Hoffnung darauf, mit seiner Bürde nicht allein zu sein. Nie wieder würde er jemanden so dicht an sich heranlassen. Es war ohnehin umsonst. Und tat unnötig weh.

Er verstand es noch immer nicht. Warum hatte Yuri sich für ihn geopfert? Warum interessierte es ihn überhaupt, ob Jin Devil unterwerfen konnte oder nicht? Wenn Yuri die ganze Zeit gewusst hatte, dass er nicht im Jahr 2008 bleiben würde – dass die tickende Taschenuhr seinen direkten Weg in den Tod markierte –, warum hatte er so viel Mühe aufgewendet, um jemandem zu helfen, dessen Schicksal ihm völlig egal sein konnte? Mit diesem Verhalten war Jin überfordert. Zwar hatte er verstanden, dass Yuri seit Alice’ Verlust keine Angst mehr vor dem Tod hatte und dass er Jins Ängste aufgrund seiner eigenen ehrlich nachzuempfinden vermochte, aber dennoch … Hatte Yuri sich wirklich so sehr nach dem Tod gesehnt, dass er dem Schicksal derart anmaßend ins Gesicht spuckte?

Jin wandte sich vom Fenster ab. Allmählich füllte sich das Zimmer mit rotem Sonnenlicht, das fast liebkosend über die cremefarbenen Wände wanderte. Nein, es hatte keinen Sinn, sich über Yuri den Kopf zu zerbrechen. Er war fort, und Jin war zurückgeblieben mit dem, was übrig war.

Im Moment schwieg Devil. Er hatte sich nicht gerührt, seit Jin ihm auf dem Friedhof diesen empfindlichen Treffer zugefügt hatte. Und doch war ihr Kampf noch lange nicht ausgefochten. Jin wusste, dass das Monster schon bald wieder erstarken und auch Azazels dunkle Stimme in sein Unterbewusstsein zurückkehren würde. Bis dahin musste Jin getan haben, was getan werden musste. Als Einheit waren Azazel und Devil unbesiegbar. Er musste zuschlagen, solange Devil seine Wunden leckte. Denn nur dann – nur dann – konnte er dessen Kräfte gegen Azazel einsetzen. Nur dann hatte er eine Chance.

Geistesabwesend strich Jin über die rechte Seite seines stark mitgenommenen Mantels und hörte unter dem Futter die vierzehn Seiten der Dschaizan-Abschrift rascheln. Sie waren nicht im Feuer auf dem Dach des Cafés in Aberystwyth geendet, wie er versprochen hatte. Dieses Versprechen hatte er nicht halten können.

Er würde Chaos schüren.

Er würde die Ruinen und das Grab finden.

Und dann würde er Azazel herausfordern. Und wenn es nötig war, dann würde er dabei sterben.

Es war überaus beruhigend für Jin, zu wissen, dass – sollte er wider Erwarten nicht stark genug sein und stattdessen als Azazels williges Werkzeug enden, das die Welt in Asche zu verwandeln suchte – jemand da war, der ihn aufhalten und sein Dasein beenden würde. Jemand, den er kannte und schätzte. Dante würde keine Einladung zu einem Tekken-Turnier brauchen. Er würde noch nicht mal einen Auftrag brauchen. Er würde es wissen, wenn das schwarze Blut Spardas in seinen Adern ihn warnte, und dann würde er kommen und dieses riesige, hässliche Schwert in das stoßen, was dann von Jin noch übrig war.

Es war ein bedeutender Trost.
 

Bei ihrer Ankunft gewitterte es. Kalter Regen fiel, und die schwarzen Wolken flimmerten unter Flächenblitzen.

Jin trug einen neuen, makellosen schwarzen Mantel, an dem die Tropfen harmlos abperlten. Zum zweiten Mal begleitete Nina ihn bis zur schwer gesicherten Tür des Zaibatsu-Hauptgebäudes. Dieses Mal hielt Jin nicht davor an, hatte keinen Blick übrig für die Eisblumen an den Rändern der Scheiben. Stattdessen ging er sofort durch den Eingang und wurde ohne jede Nachfrage eingelassen. Scheue, untertänige Blicke folgten ihm vonseiten der Angestellten, die ihm stumm den Weg wiesen.

Jin folgte ihren Handzeichen geradewegs zum Thronsaal. Es gab keinen Grund mehr zu warten.

Der Saal war gewaltig, die Decke ein hohes Atrium wie das eines Doms. Reihen von Marmorsäulen stützten die steinernen Bögen, die sich über dem langen, mit rotem Teppich ausgelegten Mittelgang wölbten.

Unzählige Menschen füllten den Raum. Stumm standen die Männer der Tekken Force, aufgereiht wie Soldaten, dicht an dicht entlang des Wegs zum Thron, flankierten ihn völlig reglos, Sinnbilder eisenharter Disziplin. Das spärliche Licht spiegelte sich auf ihren Sonnenbrillen, ließ die makellosen Anzüge schiefergrau erscheinen. Jin ging mit ausgreifenden Schritten zwischen ihnen hindurch, ohne einen von ihnen auch nur eines Blickes zu würdigen. Als er das Ende des Weges erreichte und vor den Stufen, die zum Thron hinaufführten, stehen blieb, hoben alle Versammelten synchron die Hand und salutierten ihm.

Ohne zu zögern bestieg Jin den Thron – einen verschwenderisch mit Schnörkeln verzierten Holzstuhl mit rotem Polster und hoher Lehne – und fand ihn unerwartet bequem. Er schlug die Beine übereinander und stützte die Wange auf seine Faust, während er den Blick über die Männer schweifen ließ. Das war sie also, seine Privatarmee – oder eher ein kleiner Teil davon. Es waren kräftige, athletische Männer, sichtlich hart trainiert, bestens ausgebildet und bedingungslos gehorsam. Sie waren Heihachis Elite. Jin würde sie brauchen. Jeden Einzelnen von ihnen.

Jin wusste, was er tun musste. Yuri hatte es ihm gesagt, als Jin ihn gefragt hatte, was er für das Schlimmste hielt, das Menschen einander antun konnten. Nichts brachte mehr Chaos und Zerstörung über die Welt, nichts würde die Menschheit mehr in Leid und Verzweiflung sürzen.

Jin war ein wenig erstaunt über sich selbst, dass er nicht zitterte, nicht einmal ein wenig. Seine Finger waren auch nicht kalt. Nein, alles an ihm war warm, sein Herz schlug ruhig und sein Blick war fest. Niemand würde auch nur die leiseste Unsicherheit an ihm entdecken, wenn er befahl, einen Krieg zu beginnen.

Vielleicht mit Bomben auf Kirchen. Ja, die Vernichtung sakraler Bauten machte den Menschen am meisten Angst. Es war ein Angriff auf ihre seelische Unversehrtheit. Das würde ihnen schnell zeigen, wer und vor allem was Jin war. Sie sollten begreifen, dass er, Jin Kazama, genau das geworden war, was sie immer in ihm hatten sehen wollen: ein Monster.

Denn nur ein Monster konnte Azazel aus seinem Schlaf reißen.

Sie sollten ihn hassen, jagen und bekämpfen. Die Welt musste bluten. Und wenn sie genug geblutet hatte, würde Jin sie retten, ohne dass irgendjemand jemals davon erfuhr. Er musste Azazel töten – und wenn ihn dies sein eigenes Leben kostete, dann würde er den Tod begrüßen.

Denn jetzt hatte er nichts mehr zu verlieren.

Das macht dich dann wohl auch zu einem Teufelsjäger, sagte Dantes amüsierte Stimme in seiner Erinnerung. Du hast einen Dämon gejagt und ihn eigenhändig umgebracht, und jetzt machst du Jagd auf den nächsten.

Diese Ironie.

Jin fragte sich, ob er nicht immer nur vergeblich versucht hatte, ein Mensch zu sein. Ob sein Herz nicht schon von Anfang an das eines Dämons gewesen war.

Du, der Azazels Blut trägt. Du bist das Dämonenherz, von dem die Rede war. Der dunkle Stern.

Jin lächelte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zuletzt getan hatte. Es fühlte sich richtig an.
 

ENDE

Epilog

ZUM GELEIT
 

Die ersten konkreten Ideen zu ›Demonheart‹ muss ich 2004 oder 2005 gehabt haben. Ich hatte damals schon lange Lust darauf, irgendwas mit Jin, Dante und Yuri zu machen – wohlgemerkt, ›irgendwas‹, denn sinnvolle Ideen hatte ich keine. Glaubt es oder nicht, aber ganz am Anfang gab es nur … den Titel. Er hat sich nie geändert, auch wenn er damals noch überhaupt keine Bedeutung hatte. Erst als die ersten Leaks zu Tekken 6 an die Öffentlichkeit kamen und bekannt wurde, dass Jin sich zum Diktator und Antagonisten aufschwingen wird, geriet die Ideenmaschinerie bei mir langsam in Bewegung. Trotzdem sollte es noch viele weitere Jahre dauern, bis ich so was wie ein sinnvolles Gerüst hatte.

Im September 2013 hatte ich dann eins – dachte ich. Ich hatte die Szenen alle vorformuliert (Stephen King schreibt in ›On Writing‹, dass man das nie tun soll, aber das las ich erst 2018), und so machte ich mich an einem Abend in der Studenten-WG munter ans Werk. Ich wollte das Dings nur noch ausformulieren, ›runterschreiben‹. LOL. Hätte ich gewusst, dass das ›Runterschreiben‹ der ersten Version 6 (sechs!) f*cking Jahre dauern würde und begleitet sein würde von zigtausend Sackgassen, Major Plot Changes, monatelangen Flauten, Ideen-Flashs und Millionen Korrekturen, hätte ich mir vielleicht gesagt: ›Ey, vergiss es, den Scheiß tu ich mir nicht an.‹ Insgesamt hab ich bestimmt mehr Zeit mit Lesen der Fandom-Wikis, Anschauen von Let’s-Plays und Korrigieren der schon vorhandenen Passagen zugebracht als mit dem so euphemistisch genannten ›Runterschreiben‹. Tausend Ideen, die ich für genial, altaaaa! hielt, hab ich später verworfen. So viele angefangene Sidetracks, die wieder abgebrochen wurden (auf Wunsch kann ich gerne ein paar ›Deleted Scenes‹ liefern, davon gibt’s echt genug). Ich konnte die Geschichte nicht liegenlassen. Sie war überall dabei, wo ich war: Marburg, Berlin, München, Rothenburg, Frankfurt, Fulda, Rügen, Dublin, London (sie kam fast so viel in der Welt rum wie Yuri). Zwischenzeitlich lag sie auch hin und wieder monatelang auf Eis, entweder zugunsten anderer, kleinerer Projekte (Avengershust) oder weil ich einfach an manch einer Stelle gerade nicht wusste, wie ich logisch von A nach B komme, und gehofft habe, mich würde irgendwann schon ein Geistesblitz treffen (was natürlich nie passiert, wenn man sich nicht damit beschäftigt). Immerhin wurde meine Welt ein Stück besser, als ich mir 2017 endlich ein Netbook zulegte. Plötzlich konnte ich mich an jedem beliebigen Ort in die Geschichte einklinken – im Bus, am U-Bahnhof, auf der Parkbank, im Wartezimmer, im Pausenraum, sogar im Auto (sofern ich nicht selber fahren musste). Ich schrieb überall, und meine Lebensqualität erfuhr einen signifikanten Anstieg, kann ich euch sagen.

Auf diesem ganzen langen, laaaangen Weg verließen mich allerdings zwei Dinge nie: die Lust auf das Projekt und der Wille, es irgendwann doch noch zu beenden. Warum? Nun, es gibt Geschichten, die bricht man irgendwann ab, weil einen das Fandom einfach nicht mehr genug anspricht oder die Geschichte einem nicht mehr wirklich gefällt (ist mir beides schon passiert). Zu ›Demonheart‹ hat der Weg mich aber immer zurückgeführt. Auch wenn ich zwischendurch lange ganz andere Dinge gemacht hatte: Sobald ich irgendwann, irgendwo im Internet oder sonst wo wieder mit Tekken, Devil May Cry oder Shadow Hearts in Berührung kam (oder auch nur mit meiner Youtube-Playlist für die Geschichte, die es peinlicherweise gibt), kam die Lust wieder. Denn: Ich liebe die drei Typen einfach. Und täte ich das nicht seit dem Erscheinen von Tekken 3, DMC und SH, hätte auch der Wunsch nach einer gemeinsamen Geschichte über Jin, Dante und Yuri nicht so lange überlebt. Ich bin wirklich in alle Drei schwer verliebt, hehe. Seufz.

Nun, wenn man ein Crossover schreibt (ein ja eher unpopuläres Genre, völlig zu Recht übrigens), fühlt es sich oft an (sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben), als ob man Zutaten in einen Topf wirft, die nicht wirklich zusammenpassen, und bei denen der Reiz des Ergebnisses eher darin besteht, dass es … exotisch schmeckt, und irgendwie nach vielem auf einmal. Man KANN Schnitzel mit Obstsalat essen. Vielleicht schmeckt das sogar ganz interessant. Man isst es auf, aber hinterher denkt man: Eher nicht noch mal. Und dazu muss ich sagen, dass mich das bei ›Demonheart‹ von Anfang an geflasht hat: Für mich als Autor fühlte es sich nie ›zusammengeschmissen‹ an. Das wollte ich auch nicht, ich wollte nicht, dass jemand in einen Realitätsstrudel gezogen wird und mit einem Plopp auf dem Esszimmertisch des anderen landet, damit sie zusammen losziehen und demjenigen, der ihre Realitäten vermischt hat, in den Arsch treten. Zum Glück wurde das auch nicht von mir verlangt, da die drei Spiele ja alle (mehr oder weniger) in ›unserer Welt‹ angesiedelt sind. Noch mehr begeistert hat mich aber, wie die Kerle gleich miteinander umgegangen sind, als wäre das völlig natürlich. (Ich habe ja inzwischen auch endlich eingesehen, dass man Figuren nur bedingt steuern und einem Plot unterwerfen kann, der ihnen nicht passt; das wollte ich früher nie glauben, aber doch, die Lektion ist angekommen, danke.) In anderen Worten: Die. waren. so. SÜSS. Und bei meinen Recherchen und Faktenchecks stieß ich immer wieder auf Berührungspunkte zwischen den Plots der Spiele, Schnittstellen, die geradezu danach brüllten, zur Verzahnung der Geschichte verwendet zu werden. Warum sollte Yuri nicht von Sparda gehört haben … Warum sollte Trish nicht wissen, was ein Harmonixer ist … Warum sollte Azazel nicht Mundus’ Nebenbuhler sein … Das ist das Oberflächliche, aber darunter sind noch so verdammt viele kleine Details, die wie Zahnräder ineinander greifen und drei Geschichten, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, in demselben Universum verorten.

Wie auch immer. Ich sitze jetzt hier auf meinem Küchenfußboden, der dringend gesaugt UND gewischt werden müsste, um Viertel vor Mitternacht, und erhole mich von dem seltsamen Gefühl, soeben das Wort ›ENDE‹ unter eine Geschichte getippt zu haben, die eine ganz besondere Herzensangelegenheit für mich war und die mich so ewig lange begleitet hat wie noch niemals eine zuvor. Für dieses Erlebnis bin ich unendlich dankbar.
 

CaroZ, 4. Mai 2019


Nachwort zu diesem Kapitel:
Freut mich sehr, dass jemand bis hierher gekommen ist. Tja, wie ihr seht, sind die Kapitel immer dreiteilig, beschäftigen sich einmal mit jedem der drei Helden, in variierender Reihenfolge. Die Abschnitte können sehr kurz sein oder auch sehr lang, da ist alles dabei.
Bin gespannt, ob sich jemand auf das Crossover einlässt. Vielen Dank fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die erste Begegnung war jetzt nicht so erfolgreich. Mit schlechter Laune ist Dante kein Held der Kundenakquise, wie es scheint ...

Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Man, that escalated quickly. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Wir alle wussten, wo das enden würde. :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wird Zeit, dass auch für Yuri die Welt wieder etwas besser aussieht, was?

Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sorry für die Pause. Ich muss mich zusammenreißen und öfter posten. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke an alle, die klicken und lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen und noch eine maximal schöne Weihnachtszeit! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Einen guten Rutsch euch allen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
… Jin wird trotzdem nicht brav sein. :D
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hiernach erfahren wir dann, was Jin währenddessen treibt ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
… Na so ein Mist :P
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Für uns ist Devil Jin nicht neu, für Dante auch nicht, aber für Yuri schon. :3 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jetzt aber ab ins Bett, Jungs. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Armes Baby.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war mal wieder ein ätzend langes Kapitel ... Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bedanke mich fürs Lesen und wünsche allen frohe Ostern. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jin, du Glückskind. An dem Tag, als man dich hinterrücks zu erschießen versucht, hast du ZUFÄLLIG eine kugelsichere Weste an! Hier hat die Autorin wirklich Talent bewiesen ... *schäm*
Aber wenigstens ist Nina jetzt da. Mit Nina wird alles besser.

Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich finde ja, Ifrit wurde an Jin ziemlich gut aussehen ...
Danke fürs Lesen und ein schönes Wochenende. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir haben Jin beim Lachen erwischt! Wird das wieder passieren?
[ ] Ja [x] Nein

Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen und schöne Pfingsten! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich glaube, Jin und Walisisch werden keine Freunde, lol.
Ich bin aber froh, dass sie jetzt in Wales sind, weil hier mehr die Post abgeht.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wir haben die magische 50%-Hürde jetzt hinter uns. Wales ahoi!
Vielen Dank fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Dürfte ja nicht schwer sein zu erraten, was Jin da vermutet ...
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen, wünsche einen schönen Sonntag. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hmja ... Dann haben wir sie jetzt endlich alle am richtigen Ort. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Endlich wird die wichtigste aller Fragen mal angesprochen: Warum Azazel? Wir werden es erfahren. Mich erstaunt immer wieder, wie gut die Lore von Tekken und die von Shadow Hearts zusammenpassen.
Danke fürs Lesen und schöne Grüße aus dem Urlaub! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
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Schönes Restwochenende und danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
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Ich glaube, man sieht hier gut, wie komplex diese Yuri-Sache noch wird. Aber damit ist es auch nicht getan. Warum er hier ist und wieso, das wird sich alles noch aufklären. :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
"Lasst uns Jins Herkunft diskutieren", said no one ever.
Und ja, Dante hat subtil auf Masturbation angespielt. *hust*
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
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Gute Woche wünsche ich allen. Komplett anzeigen
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Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich komme einfach so selten zum Posten! Danke an alle fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So wird aus "Jin saves the day" ein "Yuri ruins the day" - oder nicht? Mal sehen.
Danke fürs Lesen und allen einen schönen 3. Advent! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Finally, Jin vs. Devil Jin ... Oo

Ich wünsche allen frohe Feiertage! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und ... Dante lernt Desperate Devil Trigger! Den aus DMC2, ihr wisst schon. Majin.
Danke fürs Lesen und ein schönes Restwochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Danke fürs Lesen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
... Und ich glaube, wir alle wissen, was das ist. ._.
Die ursprüngliche Plotidee (vor so 100 Jahren) war, dass Jin Sarris tötet, weil der ihn benutzt hat wie so viele andere. Das erschien mir dann aber zu sehr OOC, auch wenn Jin jetzt diese harte Wandlung durchmachen wird, die wir aus Tekken 6 kennen.

Danke an alle fürs Lesen und ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wieder so lange ... Aber jetzt haben wir es bald geschafft. Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
So, Yuri hätten wir entsorgt ... Damit haben wir nicht mehr allzu viel vor uns.
Danke fürs Lesen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen und einen guten Start in die Woche. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ihr habt es geschafft!
Ich danke allen sehr herzlich fürs Lesen und dabei Sein! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Shenduan
2021-05-08T16:43:50+00:00 08.05.2021 18:43
Ich hoffe es doch. 😊
Von:  Shenduan
2021-04-23T23:16:30+00:00 24.04.2021 01:16
Hab mal gegoogelt wie die aussehen. Japp die machen sich gut ans Jins "zarten Händchen" 😁
Antwort von:  CaroZ
24.04.2021 09:57
Jaa, und beim Schlagen kommt Feuer raus ... Feuerrrr! xD
Danke für den Kommentar <3
Von:  Shenduan
2021-04-14T07:20:39+00:00 14.04.2021 09:20
Er sollte vielleicht einen Kugelsicheren Ganzkörper Anzug tragen. XD Aber da Nina jetzt da ist kann nur alles gut werden oder?
Antwort von:  CaroZ
14.04.2021 21:43
Jaaaah! Nina ist da ja sehr erprobt und zuverlässig. xD
Danke für den Kommentar!
Von:  Shenduan
2021-03-09T15:18:54+00:00 09.03.2021 16:18
Man möchte ihn nur nehmen und ganz fest knuddeln... Alles wird wieder gut Jin 😭
Antwort von:  CaroZ
09.03.2021 18:11
Geht mir auch so! Armer Jin ...
Lieben Dank für den Kommentar!
Von:  Shenduan
2021-01-11T03:33:44+00:00 11.01.2021 04:33
Gut. Ich mag es wenn Jin unartig ist 😁
Antwort von:  CaroZ
11.01.2021 20:24
Das wird er jetzt eindeutig sein.^^
Danke fürs Kommentieren!
Von:  Shenduan
2020-12-13T00:13:38+00:00 13.12.2020 01:13
Hehe alles an was ich gerade denken kann ist, das Dante das sicher nicht passen wird wenn der gute Tropfen alle ist XD
Antwort von:  CaroZ
14.12.2020 14:48
Ach, wer weiß, ob Dante das überhaupt mitkriegt ... xD
Vielen Dank für den Kommentar, freut mich sehr, dass du noch dabei bist.^^
Viele liebe Grüße
Caro
Von:  Shenduan
2020-08-24T01:43:23+00:00 24.08.2020 03:43
Ich sage das nicht gerne mein Lieber Jin, aber vielleicht solltest du auf Dante hören und einfach da bleiben 😉
Antwort von:  CaroZ
24.08.2020 22:02
Hihi, genau! Aber wie wir wissen, hat Jin seinen eigenen Kopf und macht nicht gerne, was er soll ... :x
Danke fürs Reinschauen ^_^
Von:  Shenduan
2020-07-22T21:04:23+00:00 22.07.2020 23:04
Bah der arme Jin. Da bekomm ich direkt auch Schmerzen 😅
Antwort von:  CaroZ
23.07.2020 20:27
Hihi, danke für deinen Kommentar <3
Antwort von:  Shenduan
23.07.2020 21:55
Gerne, ich werde hier auf jeden Fall gespannt mitlesen^^


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